Читать книгу Die Welt erklären - Tobias Eick - Страница 9
Оглавление3. Bell und Grosvenor übernehmen das sinkende Schiff
„Die Welt mit allem was in ihr ist, ist unser Thema.“
Die National Geographic Society bat Alexander Graham Bell als Schwiegersohn des verstorbenen Präsidenten Hubbard, die Übernahme des Präsidentenamtes an. Doch der 51-jährige, kräftig gebaute Bell war zunächst gar nicht überzeugt – ihn begeisterten andere Dinge.
Abb. 6: Alexander Graham Bell sollte das Präsidentenamt der National Geographic Society nach dem Tod Gardiner Greene Hubbards übernehmen.
Nachdem er mit 29 Jahren das Telefon zur Marktreife gebracht hatte, experimentierte er auf den unterschiedlichsten Gebieten. Momentan betrieb er exzessive Forschungen mit Drachen, Flugzeugen und tetraedrischen Strukturen.49 „Ich stürze mich von einer Sache in die andere und bevor ich es merke, ist der Tag vorbei.“50 Doch Gertrude Hubbard, Ehefrau des verstorbenen Präsidenten, konnte dem exzentrischen Bell schließlich das Versprechen abnehmen, das Erbe seines Schwiegervaters so bald wie möglich anzunehmen.51 Gardiner Hubbard lernte den 1847 im schottischen Edinburgh geborenen Bell durch Hubbards Tochter Mabel kennen, die durch eine Scharlacherkrankung im Alter von fünf Jahren ihr Gehör verloren hatte. Bell, der nach dem Studium der lateinischen und griechischen Sprache und dem Tod seiner beiden Brüder mit den Eltern 1870 nach Kanada übergesiedelt war, emigrierte später nach Boston. Von 1873 bis 1877 arbeitete er an der Universität von Boston als Professor für Sprechtechnik und Physiologie der Stimme. Dort gab er Mabel Hubbard private Stunden in Sprecherziehung.52
Mabel konnte bereits mit knapp 16 Jahren perfekt Lippen lesen – dank der unorthodoxen Erziehung ihrer Eltern. Lediglich ihre Aussprache sollte der damals 26-jährige Bell verbessern.
Seine Gefühle für Mabel gingen weit darüber hinaus. Zu diesem Zeitpunkt konnte er sie allerdings noch nicht eingestehen – auch, weil Mabel wesentlich jünger war als er. Daher betraute er einen Assistenten mit dem Unterricht Mabels.53 Die Hubbards überzeugte Bells Arbeit und Person dennoch dermaßen, dass sie ihn regelmäßig zum Essen einluden. An einem dieser diskussionsreichen Abende im Oktober von 1874 – Bell gab bei solchen Gelegenheiten gern seine Ideen für zukünftige Erfindungen zum Besten – fasste Hubbard den Entschluss den umtriebigen jungen Mann bei der Entwicklung eines harmonischen Telegrafen finanziell zu unterstützen, im Gegenzug für eine Beteiligung an den späteren Erträgen.54 Die langjährige Partnerschaft zwischen Bell und Hubbard nahm ihren Anfang. Ein Jahr später konnte Bell sein Empfinden für die Tochter des Protegés nicht länger verheimlichen. Glücklicherweise war auch Mabel von dem ungewöhnlichen Freigeist angetan.55 Hubbard gestattete seinem Schwiegersohn in spe jedoch nicht sofort eine Heirat mit seiner Tochter. Vielmehr verwandte er sie als Druckmittel, um die Fertigstellung des Telefons durch den unbeständigen Bell voranzutreiben: Erst wenn die Entwicklung funktioniere und patentiert war, dürfe er Mabel ehelichen.56 Eine Auseinandersetzung mit dem italo-amerikanischen Erfinder Antonio Meucci um die Urheberschaft des Telefons verzögerte die offizielle Verbindung der beiden Liebenden erheblich. Meucci hatte 1860 die von ihm konstruierte Variante einer Fernsprechapparatur der Öffentlichkeit präsentiert. Anschließend hatte er die Entwürfe an die Betreiber der ersten transkontinentalen Telegrafenlinie, der Western Union Telegraph Company, geschickt und 1871 einen Patentantrag gestellt. Finanzielle Schwierigkeiten machten es ihm jedoch unmöglich, das Patent bestätigen zu lassen, sodass die Vormerkung 1874 auslief.57
Bell war zu dieser Zeit bei der Western Union beschäftigt. Als ihm Meuccis Unterlagen in die Hände fielen, studierte er sie genau.
Meucci bekam Wind von den Vorgängen, schaltete einen Anwalt ein und verlangte Entschädigung sowie die Rückführung seiner Dokumente. Western Union stellte sich unwissend und erklärte, man hätte alle Papiere verloren. Zehn Jahre dauerte die gerichtliche Auseinandersetzung zwischen den beiden Kontrahenten, bevor das Verfahren eingestellt wurde.58 Welche Erkenntnisse Bell aus der Arbeit seines Widersachers für seine eigene Erfindung zog, ist bis heute ungeklärt. Gesichert ist, dass Hubbard 1876 Bells Entwurf eines Fernsprechers zum Patent anmeldete und den Zuschlag bekam.59 Am 8. Juli 1877 gründeten Bell und Hubbard zusammen mit ihren Partnern Thomas Sanders und Thomas Watson die Bell Telephone Company. Sie sollte zur größten Telefongesellschaft der Welt anwachsen und ihre Begründer reich und berühmt machen.60 Zwei Tage nach der Firmengründung ehelichte Bell seine Mabel und gründete mit ihr eine Familie.61
Abb. 7: Alexander Graham Bells Ehefrau Mabel Hubbard Bell in späteren Jahren, ca. 1917.
Antonio Meucci endete derweil ohne Anerkennung seiner Leistung in ärmlichen Verhältnissen. Erst am 11. Juni 2002 honorierte das US-Repräsentantenhaus posthum Meuccis Entwicklung und Verdienste rund um die Erarbeitung des Telefonapparates.62
Bell und Hubbard waren bis zu Hubbards Tod sowohl beruflich als auch privat eng verbunden. 1882 versuchten sie gar gemeinsam das gerade erst gegründete, aber schon strauchelnde Science Magazin vor dem Ruin zu bewahren. Ihr Plan misslang und bescherte Schwiegervater und Schwiegersohn einen herben finanziellen Verlust.63 Die Erfahrungen, die Bell bei der versuchten Rettung des Science Magazins sammeln konnte, sollten sich in ähnlicher Weise bei der Übernahme des Präsidentenamtes der National Geographic Society wiederholen. Nicht nur, dass die Mitgliederzahlen im ersten Jahr seiner Präsidentschaft um rund 500 zurückgingen. Die Organisation häufte in weltwirtschaftlich sehr schwierigen Zeiten auch Schulden in Höhe von 2.000 US-Dollar64 an: Im Zuge des Industrialisierungsprozesses erlebte die globale Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst eine Wachstumsphase, die durch Überspekulation und -produktion 1873 in einer Krise mündete.65 Insbesondere die Insolvenzanmeldung der US-amerikanischen Northern Pacific Railway Company im September 1873 und ihres Großaktionärs, der Bank Cooke & Co. brachten auch andere amerikanische Eisenbahngesellschaften und Banken in Bedrängnis. Die Folge war eine Panik an den Wertpapierbörsen der USA, die auf andere Teile der Erde übergriff. Die Epoche, die als Große Depression oder Große Deflation in die Geschichte einging, kennzeichnete sich durch stark variierende Konjunkturverläufe, die 1893 erneut für erhebliche Kursverluste besonders bei Eisenbahnaktien an der New York Stock Exchange sorgten und bis 1896 anhielten. Bell war sich vor diesem Hintergrund der drohenden Gefahr für die National Geographic Society bewusst und verstärkte die Werbemaßnahmen: Nur die Erhöhung der Mitgliederzahlen konnte die Einnahmen der Gesellschaft steigern. Er plädierte dafür, den Verkauf des Magazins an den Kiosken aufzugeben. Stattdessen sollte die Zeitschrift über die Mitgliedschaft bezogen werden können – und sich ausschließlich an Leser wenden, die die Gesellschaft unterstützten und an ihre Arbeit glaubten.66 Die Monatsillustrierte National Geographic Magazine müsse attraktiver werden, eine breitere Leserschaft ansprechen und nicht in den Untiefen einiger Gelehrtenhaushalte verschwinden. Denn Bell war sich sicher, dass sich ein jeder das Magazin gern ins Bücherregal stellen würde. Kurz und knapp brachte er die Situation des Fachjournals auf den Punkt: „Es war nützlich, es war wichtig, aber es hat nichts zur finanziellen Unterstützung der Gesellschaft beigetragen.“67 Ein neuer, unverbrauchter Mitarbeiter sollte frischen Wind in die Produktion bringen, um so den gewünschten Anstieg der Mitgliederzahlen zu erreichen. Bell musste nicht lange nach einer Person suchen, die seinen Anforderungen entsprach. Im Jahr von Hubbards Tod hielt der Amherst-College Professor Edwin Augustus Grosvenor, der zuvor viele Jahre Experte für Geschichte am Robert-College in Konstantinopel gewesen war, einen Vortrag auf einem der Treffen der National Geographic Society.68 Bei einer privaten Zusammenkunft berichtete er dem begeisterten Bell von seinen beiden eineiigen Zwillingssöhnen Gilbert und Edwin: Beide hatten gerade Amherst mit Magna Cum Laude absolviert und unterrichteten nun an der Englewood-Akademie für Jungen in New Jersey. Das romantische Interesse der beiden Töchter Bells, Elsie und Daisy, an den Grosvenor-Zwillingen spielte mutmaßlich ebenfalls eine Rolle bei Bells Entscheidung Grosvenor Senior im Februar 1899 einen Brief zu schreiben. Darin bot er einem von Grosvenors Söhnen die Herausgeberschaft des National Geographic Magazines an.
Gilbert hatte bereits mit seinem Vater ein zweibändiges Buch über Konstantinopel bearbeitet und war journalistisch ambitioniert. Ihn sprach die Anfrage in Besonderem an.
Abb. 8: Gilbert H. Grosvenor sollte der erste Herausgeber des National Geographic Magazines werden.
Ein Gespräch besiegelte die Zusammenarbeit zwischen Bell und dem jüngeren der beiden Grosvenor-Brüder, Gilbert, endgültig. Zum Treffen mit ihm brachte Bell Zeitschriften wie das Harper’s Weekly oder The Century mit. Sie sollten dem neuen Mitarbeiter veranschaulichen, welche Veränderungen Bell sich vorstellte:
„Die Welt und alles, was in ihr ist, ist unser Thema; und wenn wir nichts zu diesem Thema finden können, was normale Leute interessiert, sollten wir besser den Mund halten und eine streng genaue, technische, wissenschaftliche Zeitung für professionelle Geografen und Geologieexperten machen.“69
Der 23-jährige Gilbert traute sich die Aufgabe zu, betonte aber, dass dies ein langwieriger Prozess sei, auf dem er seinen eigenen Weg finden müsse. Gilbert verlangte nur 100 US-Dollar Gehalt monatlich, die Bell aus seiner eigenen Tasche bezahlte. So wurde der junge Mann zum Mitherausgeber des Magazins und ersten Vollzeit-Angestellten der Organisation.70 Der wesentlich ältere Landwirtschaftsstatistiker John Hyde bekleidete weiterhin das Amt des Herausgebers. Er sollte Gilbert Grosvenor noch einige Hindernisse in den viel versprechenden Karriereweg legen.