Читать книгу Margarethe oder Die Schönheit der Farbe Weiß - Tobias Haarburger - Страница 4

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Kapitel 1

Margarethe befand sich in guter Stimmung, was bei ihr hieß, dass sie sich einfach nur wohlfühlte. Ihre Arbeit trat ein wenig in den Hintergrund, mehr war es eigentlich nicht, denn Margarethe kannte keine Gemütsschwankungen. Sie war konzentriert und aufmerksam. Selten, eigentlich nie empfand sie Heiterkeit, war aber auch niemals melancholisch. Nur bei einem Gedanken regte sich Wehmut bei ihr. Diese Erinnerung hatte über die Jahre allerdings nachgelassen und war inzwischen fast vergessen. – Margarethe blieb einfach immer in ausgewogener Stimmung.

An diesem Freitag, der dem Karfreitag um eine Woche vorgelagert war, fuhr sie wie gewohnt um dieselbe Zeit, es war gegen acht Uhr, aus der Tiefgarage und bog in die vierspurige Straße ein, die stadteinwärts führte.

Seit einem halben Jahr besaß sie nun schon den dunkelgrünen Mini und sie mochte diesen kleinen eleganten Wagen. Er hatte hellbraune Sitze aus Echtleder, verchromte Außenspiegel und sein Dachhimmel war mit einem Union Jack bedruckt. Da es gelegentlich vorkam, dass sie am frühen Morgen oder am Abend auf dem Weg nach Hause angerufen wurde, hatte sie eine Freisprechanlage einbauen lassen.

Margarethe trug wie an jedem Tag einen blauen Blazer und eine Hose in derselben Farbe sowie eine weiße Bluse und schwarze Schuhe mit einem leichten Absatz. Sie hatte außerdem die gelben Ohrringe angesteckt, die durch ihre grünen ananasförmigen Anhänger auf einen subtilen Humor hätten schließen lassen können, gleichwohl war es so, dass Margarethe diesen Humor nicht besaß. Sie trug die Ohrringe nur der Abwechslung halber, denn ihr war aufgefallen, dass sie seit Jahren ein und dieselben Perlenstecker trug. Diese kleine Veränderung ihres Aussehens war etwas Besonderes für sie und sie hatte einige Tage gebraucht, bis sie die auffälligen Ohrringe nach einigem Ringen ansteckte – sie mochte eigentlich keine Veränderungen. Große auffällige Ringe für die Hände, wie sie derzeit beliebt waren, hatte sie bisher nicht einmal zur Kenntnis genommen.

Als sie einige Minuten gefahren war, kam ein Anruf. Es war das Vorzimmer ihres Abteilungsleiters. Er, der Herr Abteilungsleiter, den sie im Übrigen wenig schätzte, wäre auf dem Weg zum Staatssekretär und er bitte sie, so schnell wie möglich dazuzukommen. – Sie könne in zwanzig Minuten im Ministerium sein, teilte sie der Vorzimmerdame mit.

Margarethe hatte auf einen ruhigen Tag gehofft. In der Woche vor Ostern und der Woche danach hatte sie sich freigenommen. Nach Ostern würde sie in Cambridge an einer Tagung zu Rechtsgeschichte teilnehmen, ihrer einzigen Leidenschaft. Vorher wollte sie endlich neue Möbel kaufen. Das schob sie schon seit Jahren vor sich her. – Sie lebte in einem Sammelsurium aus zumeist alten Einzelstücken, die sich seit ihren Studententagen angesammelt hatten.

Sie fragte sich, was der Zweck der Unterredung sein könnte, und rief einen Kollegen an. Er war Referatsleiter wie sie. Eigentlich hatte sie bisher kaum ein Wort mit ihm gewechselt. Eher einer Gewohnheit folgend saßen sie in der wöchentlichen Besprechung ihrer Abteilung nebeneinander. Das war alles. Für sie war er in diesem Augenblick aber so etwas wie ihre Kontaktperson im Ministerium. Sie meinte auch, sich daran erinnern zu können, dass sie einmal zusammen Kaffee getrunken hatten. Es musste vor einigen Jahren gewesen sein. Obwohl sie schon zehn Jahre als Referatsleiterin arbeitete, kannte sie die Kollegen im Ministerium höchstens aus Sitzungen oder aus dem Fahrstuhl; eine persönliche Ebene hatte sie mit niemandem aufgebaut. Sie wechselte auch nie ein privates Wort. Nach anfänglichem Raunen darüber, was mit ihr wäre, hatte man sich daran gewöhnt; sie war eben die ewige Außenseiterin, solche Menschen gab es wohl.

Der Kollege war perplex, als Margarethe anrief. Er wusste nichts, ja, er wusste rein gar nichts, wie er beteuerte. Dann herrschte Schweigen. Schließlich beendete er hastig und geradezu erschrocken das Gespräch.

Margarethe parkte vor dem Eingang des Ministeriums. Der Platz war keineswegs für diesen Zweck bestimmt, aber sie hatte es eilig.

Sie ging zügig die breite Treppe mit dem Eisengeländer hoch und eilte in das Vorzimmer des Staatssekretärs. Man ließ sie sofort eintreten.

Als sie in das Büro kam, stand der Mann höflich auf, wartete aber hinter seinem Schreibtisch, bis Margarethe auf ihn zugekommen war, um sie zu begrüßen. Er war erst seit vier Wochen in dieser Position. In der kurzen Zeit hatte er sich bereits den Ruf erworben, vollkommen ahnungslos zu sein. Man hatte ihn, einen Kommunalbeamten, auf diese wichtige Position im Ministerium berufen, die so wichtig eigentlich gar nicht war. Der Justizminister war nämlich ein alter Hase und eine Größe in der Landespolitik, der grundsätzlich alles selbst entschied. Er wollte weder einen möglichen Nachfolger noch einen Fachmann auf der anderen Seite des Flures sitzen haben. Es war im Übrigen der Wahlkreis, der dran war, eine gehobene Position zu besetzen und ein besserer, also einer, der als Kandidat überfordert war, konnte praktischerweise nicht gefunden werden.

Der Staatssekretär war zum Zeitpunkt seiner Berufung ein übervorsichtiger Dezernent, der einen recht mittelmäßigen Abschluss in Verwaltungsrecht hatte. Er beherrschte genau zwei Dinge: Erstens eine joviale im Gestus meistens übertriebene Begrüßung vorzunehmen – eine Fähigkeit, die er sich über die Jahre bei wichtigen Persönlichkeiten abgeschaut hatte – und zweitens eine Sitzung ohne jeden Beitrag von ihm für eine gewisse Zeit zu leiten. Er war wirklich die ideale Besetzung für die Vakanz. Bis auf Weiteres hörte er geflissentlich auf seine Abteilungsleiter.

Den Abteilungsleiter, der da nun vor dem Staatssekretär saß und durchaus nicht aufstand, als Margarethe eintrat, konnte sie nicht ausstehen, insofern hatte sie mit ihm eine Gemeinsamkeit. Margarethe hatte die Angewohnheit, perfekt vorbereitet in eine Besprechung zu gehen. Sie hatte, wie keine andere, das juristische Rüstzeug, um praktisch alle Sachfragen zu beurteilen. Außerdem war sie nicht verwoben in dem Geflecht aus Freundschaften und sonstigen, wie auch immer entstandenen Abhängigkeiten in den höheren Rängen des Ministeriums. Es gab Tage, da korrigierte sie den Abteilungsleiter bei jedem Punkt der Tagesordnung. Dafür ließ dieser Margarethe hin und wieder schwierige Fragen bearbeiten, weil er selbst ratlos war und sich so wenigstens ihrer Fähigkeiten bedienen konnte; die Schriftsätze und Stellungnahmen erhielten allerdings seinen Namen. Die ewigen Korrekturen, die er sich gleichwohl vor aller Augen bieten lassen musste, ertrug er indes nicht mehr; er wollte sie loswerden und die Gelegenheit war nun gekommen.

Der Staatssekretär der, weil er sowieso nichts verstand, über die Mühen eines Aktenstudiums hinwegging und die Akten, wenn es sich überhaupt ergab, demonstrativ aber recht fahrig durchblätterte, folgte wiederum grundsätzlich jedem Rat gerade dieses Abteilungsleiters. Sie waren über einige umständliche Ecken verwandt, womit die Basis eines uneingeschränkten Vertrauens bestand.

Der Staatssekretär also begrüßte Margarethe in einer für sie unverständlichen, weil überschwänglichen Art und bat sie dann mit einer servilen Geste, Platz zu nehmen. Dann schwieg er.

Der Abteilungsleiter machte sich – als Nadelstich gleich zu Anfang – nicht die Mühe, Margarethe in ihrer Funktion vorzustellen. Er war vierzig Jahre im Geschäft, wie er es nannte, und beherrschte die kleinen Gemeinheiten des Alltages perfekt. »Sie kennen bestimmt geschlossene Immobilienfonds«, begann er seine Erklärung in einer Art, als wäre er Experte auf diesem Gebiet. »Das Emissionshaus Schwarz und Schock bringt solche Fonds an den Markt. Alles andere steht in dem Dossier.« Er wies auf eine dünne Mappe, die auf dem Tisch lag. »Diese Firma ist von einem englischen Hedgefonds übernommen worden. Sie wissen, was ein Hedgefonds ist?«

Margarethe reagierte nicht auf die Provokation.

Der Abteilungsleiter wartete kurz ab und fuhr dann fort: »Unter dem Namen Schwarz und Schock sind Bankkonten auf den Cayman-Inseln in der Karibik eröffnet worden. Sie kennen die Cayman-Inseln?« Margarethe blickte zum Fenster hinaus.

»Wir wissen noch nicht, um welchen Hedgefonds es sich handelt …«

Was aber selbstverständlich die wichtigste Frage wäre, dachte Margarethe.

»… wir werden es aber bald in Erfahrung bringen«, sagte er bestimmt und ohne zu erwähnen, wie man dies zu tun gedachte. »Wir wollen, dass Sie der Sache nachgehen. Es muss davon ausgegangen werden, dass der Hedgefonds Geld aus den einzelnen Anlegerfonds abziehen und in die Karibik transferieren will. Sie werden von ihrer bisherigen Tätigkeit entbunden, sodass sie die Zeit haben, sich um den Fall zu kümmern.«

»Bitte was?« Margarethe verlor fast die Contenance, was bei ihr eigentlich nie vorkam. »Das ist überhaupt nicht mein Gebiet. Ich leite das Referat für europäisches und internationales Strafrecht. Warum kümmert sich das Wirtschaftsreferat nicht um den Fall? Warum nicht eine operative Staatsanwaltschaft? Es gibt auch eine Schwerpunktstaatsanwaltschaft für internationalen Anlagebetrug!«

»Beruhigen Sie sich«, sagte der Abteilungsleiter auf eine väterliche Art, die ihm nicht zustand. »Der Fall ist politisch brisant. Mehr kann ich dazu nicht sagen«, fügte er mit spitzem Mund hinzu. »Wir wollen das direkt unter unserer Kontrolle haben. Die Briten, die Amerikaner … Sie verstehen? Sie arbeiten sich doch schnell in neue Themen ein, dafür sind Sie doch bekannt. Ihr Referat leitet bis auf Weiteres Ihr Vertreter, machen Sie sich keine Sorgen.«

»Und was ist, wenn ich nicht weiterkomme? Wir wissen praktisch nichts. Und was heißt denn politisch brisant? Klären sie mich mal auf.« Margarethe war empört.

»Dann machen Sie eben was anderes«, antwortete der Abteilungsleiter schmunzelnd und sah zum Staatssekretär hinüber, der das Schmunzeln nachmachte. »Über die politischen Zusammenhänge können wir Ihnen leider nichts mitteilen.« Wieder sah er zum Staatssekretär und genoss seinen Triumph. »Sie berichten natürlich weiterhin an mich«, fügte er noch hinzu.

»Nein, das werde ich nicht tun. Ich berichte an den Staatssekretär, wenn das politisch so brisant ist. Wir brauchen schnelle Entscheidungen, nicht wahr, Herr Staatssekretär?«

Der Angesprochene fuhr zusammen. Musste er eine Entscheidung treffen? Er war in den letzten Momenten abwesend und stimmte Margrethe daher einfach zu. »Sie haben meine ganze Unterstützung«, sagte er frohen Mutes, das Richtige zu tun.

Damit war Margarethe den Abteilungsleiter los, was schon mal hilfreich war. »Ich berichte Ihnen jeden Freitag «, sagte sie an den Staatssekretär gewandt. »Was ist mit dem Dossier? Steht da was drin?«

Der Abteilungsleiter ärgerte sich, dass er so schnell ausgebootet worden war. Er wollte Margarethe das Leben so schwer wie möglich zu machen. Den Staatssekretär wollte er hingegen nicht blamieren, er hatte ihn ansonsten im Griff und wollte das mit einer Diskussion um die Entscheidung, die eben getroffen worden war, jetzt nicht aufs Spiel setzen. Einen kleinen Trumpf hatte er noch, den er nun ausspielte: »Das Dossier enthält den kompletten Zusammenhang«, sagte er. Das war schlechterdings eine dreiste Lüge. »Außerdem enthält es die Kontaktdaten des Sachbearbeiters bei der Bankenaufsicht. Der wird Ihnen weiterhelfen.« Er nahm die Mappe und gab sie Margarethe.

Sie sah flüchtig hinein. Sie enthielt ein Blatt Papier, das zur Hälfte beschrieben war, und eine Visitenkarte. »Ich werde mir das in Ruhe ansehen und gebe Ihnen morgen Bescheid, ob ich die Sache annehmen werde. In den nächsten zwei Wochen habe ich Urlaub.«

»Nehmen sie den Urlaub, so viel Zeit muss sein.« Der Abteilungsleiter freute sich. Ihm war es sehr recht, dass Margarethe zwei Wochen in der Sache verlieren würde.

Margarethe stand auf und verließ den Raum.

Der Abteilungsleiter war mit sich zufrieden. Trotz allem: Der erste Schritt war getan.

Als sie gegangen war, sagte er zum Staatssekretär: »Wir sagen den Briten jetzt, wir hätten unsere beste Frau darauf angesetzt. Das wollten die ja, als sie mich anriefen, und es stimmt auch, sie ist die Beste. Wenn sie was rausbekommt, ist das natürlich unser Erfolg. Sie ist aber auch wirklich ehrgeizig. Wir müssen uns in Acht nehmen. Vielleicht können wir aber auch von ihr profitieren. Sie wird allerdings nichts finden, da bin ich mir sicher«, winkte er ab. »Sie hat überhaupt keinen Ansatz und weiß nicht, wie sie vorgehen müsste. Das Emissionshaus kann uns im Übrigen egal sein.«

»Wie wichtig ist den Briten denn der Fall?«, fragte der Staatssekretär, um nur etwas zu fragen.

»Sehr wichtig. Sie wollen, dass ihre karibischen Inseln nach dem EU-Austritt ihren Status als Geldwäscheparadies behalten können. Ein Fall, dessen Spur nach Deutschland führt, gefällt ihnen nicht. Sie wollen alles unter ihrer Kontrolle behalten. Ich habe mich aber mit denen verständigt, du verstehst …«

***

Wenn Margarethe ausging, was selten vorkam, tat sie das alleine. An diesem Sonntag aber folgte sie der Einladung einer früheren Kommilitonin, die ihren vierzigsten Geburtstag feierte. Dass an sie gedacht worden war, war Zufall. Sie hatte die Kommilitonin seit Jahren nicht gesehen. Da Margarethe aber noch unter derselben Adresse wohnte, die sie gleich nach ihrer Promotion in eine damals noch geführte Liste ihres Jahrgangs eingetragen hatte, bekam sie eine Einladung.

Die Kommilitonin war überrascht, als Margarethe durch die Tür trat. Sie hatte nicht angenommen, dass Margarethe unter den Gästen sein könnte. Zu dem Fest, das von sechs Uhr abends bis zum frühen Morgen dauern sollte, wurden fast siebzig Freunde des Hauses erwartet.

Der Grund, warum Margarethe sich überhaupt auf den Weg gemacht hatte, lag in ihrem bevorstehenden Urlaub, der bei ihr eine für ihre Verhältnisse lockere Stimmung auslöste. Sie war in diesem Jahr noch nicht ausgegangen und wollte dies nun wenigstens einmal tun. Außerdem hatte sie mit höchstens fünf anderen Gästen gerechnet, von denen sie alle kennen würde. Dieser Ansturm von Menschen überraschte sie vollkommen.

Ihre Kommilitonin, eine Rechtsanwältin, erkannte sie zwar, musste aber nach ihrem Namen fragen, als sie sich begrüßten. Sie erinnerte sich schließlich und bat Margarethe, die einen hübschen Blumenstrauß übergab, an das Büffet zu gehen und sich nach ihrem Belieben unter die Gäste zu mischen. Die Gastgeberin wurde sofort wieder in Beschlag genommen und Margarethe stand alleine zwischen Flur und Wohnzimmer. Ständig kamen neue Gäste, die begleitet von kleinen Albernheiten und Gelächter ihre Geschenke übergaben.

Margarethe fühlte sich angesichts des Trubels sehr unwohl. Sie nahm sich vor, wenigstens eine halbe Stunde zu bleiben, um sich dann still und leise zu verabschieden. Sie kannte praktisch niemanden.

Als sie ins Wohnzimmer kam, aus dem eine Tür in den Garten führte, sah sie draußen einen Sandkasten. Sie ging hin und setzte sich auf den Rand. Es tat ihr gut, die unbekannte Menge hinter sich zu lassen.

Sie sah sich um und betrachtete das Anwesen. Sie war im Garten eines stattlichen Bürgerhauses. Die Familie, bei der sie zu Gast war, nutzte den Garten offensichtlich alleine, was ein ziemlicher Luxus inmitten der Stadt war.

Es schien kein Programm für die Feier zu geben. Man reichte Mobiltelefone, mutmaßlich mit Kinder- und Urlaubsfotos herum. Jemand gab den DJ und diese weitere Lärmquelle und die zunehmende Unruhe ließen Margarethe beschließen, aus der halben Stunde fünfzehn Minuten zu machen.

Da trat ein Mann auf sie zu. Er trug Jeans, die an beiden Knien eingerissen waren, ein weißes Hemd und eine etwas abgewetzte Lederjacke. Das Haar war lang und reichte bis auf die Schultern. Am linken Unterarm waren mehrere Bändchen zu sehen. Über dem Hemd trug er eine Weste. Er hatte einen Oberlippenbart und ein Dreiecksbärtchen zierte sein Kinn. Am rechten Unterarm trug er eine große Uhr. Seine Schuhe waren recht durchgelaufen und sein Hemd stand um einen Knopf zu weit offen. Außerdem roch er nach Rasierwasser. In jeder Hand hielt er ein Glas Sekt und sah Margarethe fragend an, wobei er nicht ernsthaft mit einer Absage zu rechnen schien. Er wirkte selbstsicher und authentisch auf seine Art. Margarethe ging davon aus, dass er in dieser Form der Kontaktaufnahme geübt war.

Er setzte sich neben sie und reichte ihr ein Sektglas. Sie nahm es an, ohne daraus zu trinken, sondern stellte es neben sich, auf den Rand des Sandkastens. Sie hatte nicht vor, eine Unterhaltung zu führen. Einem Mann in dieser Aufmachung konnte sie nicht ernst nehmen; für sie war er ein bunter Vogel, der sich weigerte, erwachsen zu werden.

Der Fremde sagte zunächst nichts, sonders blieb schweigend neben Margarethe sitzen, woraus sich eine leichte Spannung ergab. Dann sagt er, ihre Freundin, die Gastgeberin, habe ihn geschickt, weil sie ganz alleine hier draußen sitzen würde.

Margarethe sah ihn verwundert an, sagte aber nur: »Ach ja?« Das sollte dem Fremden klarmachen, dass sie keine Unterhaltung wünschte.

Der blieb aber einfach neben ihr sitzen. Offenbar überlegte er, was er noch sagen könnte, vermutete Margarethe. Sie sah in den Garten, der sich weit nach hinten zog und geschmackvoll angelegt war. Er hatte eine schöne Stimme, der Mann. Margarethe wandte sich ihm zu und sagte, sie würde nicht lange bleiben, sondern gleich gehen.

»Durch wen sind Sie denn hergekommen? Durch die Gastgeberin oder ihren Mann?«

»Durch sie«, antwortete Margarethe. »Wir haben zusammen studiert.« Sie spürte den Duft seines Rasierwassers. So etwas kannte sie nicht. Hatte ihre Freundin sie deshalb eingeladen, um diesen Mann kennenzulernen? Nein, sie wusste nicht das Geringste über sie und konnte nicht wissen, ob sie gebunden war. Sie wusste offenbar nicht einmal, dass sie Margarethe eingeladen hatte. Sie hatten im Übrigen überhaupt keinen Bezug mehr zueinander. Wahrscheinlich war die Behauptung, ihre Freundin habe ihn geschickt, sowieso nicht wahr.

Margarethe stand ohne weiteren Kommentar auf und ging in das Haus zurück. Sie setzte sich noch für einen Moment auf ein Sofa, das einsam im Hausflur stand.

Der Fremde folgte ihr und setzte sich neben sie.

Wie kann man nur so aufdringlich sein und sich einfach jemandem anschließen?, fragte sie sich. Sie hatte seit Jahren keine anderen Kontakte außer den beruflichen, die sie alle aus großer Distanz pflegte, wobei der Begriff Pflege unangebracht war, weil er eine aktive Handlung ihrerseits unterstellte, davon konnte jedoch keine Rede sein. Ihre Schwelle, ab wann sie sich gestört fühlte, lag sehr niedrig. Eigentlich wurde sie harsch, sobald sich ihr jemand mit einer persönlichen Intention näherte. Sie fragte sich manchmal, warum das so war, dabei war der Grund ziemlich offensichtlich. Die Frage war eher, wie sie das all die Jahre ertrug, doch diese Frage wiederum stellte sie nie beziehungsweise stellte sie sich ihr nie.

Sie verhielt sich nie anders. Sie war vollkommen alleine, beschäftigte sich alleine, ging hin und wieder alleine aus und hatte im Übrigen mit ihrem Beruf so viel zu tun, dass ihr nur selten auffiel, dass sie keine Freunde hatte. Sie liebte die Großstadt, die so ein Leben sehr einfach machte und die perfekten Bedingungen für jeden bot, der sich selbst isolierte. Es erkannte sie nie jemand, jedenfalls hatte sie es noch nie erlebt, dass jemand auf sie zukam und sagte: Hallo, Margarethe, wie geht es dir und so weiter. Es bedrängte sie niemand mit Ratschlägen, es fragte niemand, wann sie nach Hause käme – es kritisierte sie niemand: Genau das war für sie das Wichtigste, ja, eigentlich so wichtig, dass sie dem alles andere unterordnete. Ihre Wohnung hatte sie vor Jahren in einem Haus gewählt, das völlige Anonymität bot. Manchmal nahm sie die Treppe, weil ihr die Begegnungen im Fahrstuhl zu intensiv wurden. Jemand hätte sie ansprechen können, dem sie schon mehrmals begegnet war.

Sie hatte die Vorstellung von einem anderen Leben verloren, ihr Bedürfnis nach Isoliertheit hatte vollkommen Besitz von ihr ergriffen. Sie war es längst nicht mehr gewohnt, unverbindlich und freundlich auf Menschen zuzugehen, sich an ihnen zu freuen und sich für ihr Leben zu interessieren. Sie fragte nie einen Kollegen, was er im Urlaub vorhätte oder wie es den Kindern in der Schule erging, und sie gratuliert nur zum Geburtstag, wenn es gar nicht anders möglich war, weil sie sich hätte gänzlich blind stellen müssen, wenn andere unübersehbar gratulierten, sich Karten auf Tischen stapelten oder Blumen gebracht wurden.

Sie mochte den kleinen Luxus, den sie sich gönnen konnte: ihren Mini, ihre Wohnung, die ein Zimmer zu viel hatte, und dass sie manchmal einen teuren Urlaub machte, eine Kreuzfahrt oder in einem teuren Strandhotel. Urlaub bedeutete eine Erleichterung für sie, weil sie dort im Gegensatz zu ihrem Büro in der Staatsanwaltschaft niemandem begegnete. Sie pflegte dann alleine an einem Frühstückstisch zu sitzen und erfreute sich an dem Blick auf das Meer. Niemand erwartete eine Konversation und sie musste niemanden fragen, was er an diesem Tag zu tun wünschte – was für sie einem Albtraum gleichkam. Vor allem gab ihr niemand Ratschläge, was zu tun wäre oder was man unbedingt lesen müsse, und niemand kritisierte sie, wenn sie sich plötzlich zurückzog und ihre Ruhe haben wollte.

All das war das Ergebnis einer entsetzlichen Kindheit. Schon seit vielen Jahren hat Margarethe keinen Kontakt mehr zu ihrer Mutter.

Margarethes Mutter war eine fürchterliche Frau, die ihre Tochter, die sehr talentiert war, mit grundloser Kritik quälte. Das kleine Mädchen versuchte in ihrer Not auf geradezu reizender Weise alles richtig zu machen, aber vergebens …

Margarethe war eigentlich sehr stark, durfte das aber nicht sein. Andere Eltern hätten sie auf Händen getragen, von ihrer Mutter aber wurde ihr eingeredet, sie wäre einfältig. Ununterbrochen wurde sie überwacht und gemaßregelt. Sie fand nur zur Ruhe, wenn sie für sich war. Ihr Beruf war dafür eine gute Basis und sie hatte es entsprechend umgesetzt …

Sie musste aufhören, an ihre Mutter zu denken, weil sie das jedes Mal in eine Missstimmung bis hin zu Aggressionen versetzte, die man ihr ansehen konnte. Sie hatte sich eine Assoziationskette zurechtgelegt, wenn sie auf dieses Thema kam, um schnell wieder herauszukommen und nicht in eine Spirale der Erregung zu geraten, die sie selbst fürchtete.

Aber heute war das nicht nötig, denn sie wurde abgelenkt: Er heiße Serge Radetzki, sagte der Mann, der noch immer neben ihr saß, unvermittelt und fragte wie sie heiße.

Sie nannte ihm ihren Vornamen. Es war offensichtlich, dass Margarethe nicht das Gespräch aufnehmen wollte, und so erzählte er, dass er eigentlich Mathematiklehrer sei, die Schule aber nicht mochte, jetzt selbstständig arbeitete und Firmen bei ihren Konzepten für Datensicherheit beriet. Nach dieser kurzen Einführung lächelte er sie an.

Margarethe erwiderte, ihr Beruf wäre es, Fragen zu stellen, und meinte, aus einer Gleichgültigkeit heraus, er solle einmal beschreiben, was für ein Typ er sei, wohinter sich angesichts seiner Erscheinung allerdings eine subtile Provokation verbarg.

Serge lag es jedoch fern, die Frage in diesem Sinne zu verstehen, und er antwortete bereitwillig.

Margarethe fürchtete sogleich, dass die Frage auf sie zurückfallen würde und sie selbst gebeten würde, sie zu beantworten – sie wollte ihn ja eigentlich loswerden.

Serge kam aber nicht auf diese Idee. Er freute sich, dass er über sich selbst sprechen konnte, und fand im Übrigen Margarethe genauso attraktiv, wie er es vom Wohnzimmer aus beobachtet hatte. Sie war offensichtlich etwas älter als er, was ihn anspornte. Also fing er an zu erzählen, allerdings nicht, was er für ein Typ wäre – er hatte die Frage, während er Margarethe eindringlich musterte, nicht verstanden –, sondern wie er lebte. Erst mal, sagte er, lebe er von der Hand in den Mund. Er wäre zwar ganz gut vernetzt, aber es gebe viel Wettbewerb und er müsse jeden Monat sehen, dass er seine Kosten decken könne. Deshalb bewohne er ein kleines altes Haus im Taunus, das er nach und nach renovieren würde. Er mochte Blumen und hatte einen Kater, der Josef hieß und auf das Haus aufpassen würde, wenn er nicht da sei. Das Häuschen hätte nur siebzig Quadratmeter, was ihm aber ausreichen würde.

Es lag einiges Sympathische in der Beschreibung. Auch dass er so ehrlich und offen über seine Verhältnisse sprach, beeindruckte Margarethe. Sie war das aus den Verhören, die sie sonst führte, alles andere als gewohnt. Ihr eigener Lebensentwurf war gänzlich auf Sicherheit aufgebaut. – Sie fragte ihn, ob der Job als Mathematiklehrer nicht sicherer gewesen wäre.

Das schon, aber ihn hätte der Trott und jedes Jahr dasselbe durchnehmen zu müssen sehr angestrengt.

Er solle mehr über sich erzählen, bohrte Margarethe nach, deren Interesse zu ihrem eigenen Erstaunen geweckt war, welche Eigenschaften er habe, was ihn interessiere, mit was er seine Zeit verbringe. Das wären jetzt drei Fragen, sagte sie zu ihm, die würden für mindestens eine halbe Stunde reichen und dann müsste sie sowieso gehen. – Sie entwickelte zu ihrem eigenen Erstaunen so etwas wie Ironie. Sie wolle auch noch wissen, was es mit seinem Nachnamen auf sich habe … auch wenn er das wahrscheinlich oft gefragt werde, fügte sie noch hinzu.

Ja, der wäre aus Österreich. Er wisse auch, dass er von einer Nebenlinie der Radetzkies abstamme, also des großen Radetzki, des Josef Wenzel Radetzky von Radetz.

Warum er dann Serge und nicht Josef heiße, fragte Margarethe.

Weil seine Mutter Französin sei.

Margarethe fiel auf, dass Serge die meiste Zeit lächelte, während er sprach. Das gefiel ihr.

Mit was er seine freie Zeit verbringe, könne er am einfachsten beantworten, meinte er sodann. Er handle nebenher mit Kunst, gehe auf Verkaufsmessen und suche Arbeiten, die er in Kommission verkaufen könne. Das würde er über seinen Onlineshop machen. Davon würde er nicht reich, aber etwas bringe das schon ein. Ob Margarethe so eine Kunstmesse kennen würde, wollte er wissen.

»Nein«, antwortet sie kurz.

Im Moment wäre eine ganz in der Nähe, sagt er und legte einen Ton hinein, als ob er fragen würde, ob sie ihn begleiten wolle.

Margarethe ignorierte diese Andeutung, fragte aber, wo diese Messe sei, was dort ausgestellt würde und wer die Käufer wären.

Sie heiße Frankfurt Fair For Modern Art und es ginge um zeitgenössische Kunst, wie der Name schon sagen würde.

Margarethe wusste nichts darüber, fand aber Gefallen an dem Thema.

Es gehe eigentlich nur noch um die Geldanlage beim Kunstsammeln, sagte Serge. Niemand interessiere sich noch aus Leidenschaft für die Künstler, oder was sie anfertigen und ausstellen würden. Es kämen 10.000 Besucher auf die Messe.

Margarethe dachte an ihr Wohnzimmer. Sie fragte nach der Internetadresse und auch die von Serges Verkaufsseite wollte sie haben. Sie suche gerade etwas. Er wäre aber wohl kein Freund des Geldverdienens, meinte sie. Warum solle man nicht auch bei Kunst auf eine Wertsteigerung setzen? Jetzt nippte sie doch an dem Sektglas.

Serge, für den es völlig normal war, links zu sein, und der sich nicht vorstellen konnte, dass ein vernünftiger Mensch nicht an den Sozialismus glaubte, antwortete, der Neoliberalismus und der Kapitalismus machten alles kaputt, indem sie alles bewerteten und alles einem monetären Imperativ unterordneten, dabei nahm er einen tiefen Schluck aus seinem Sektglas.

»Das ist doch Nonsens«, sagte Margarethe in ihrer knappen Art, ohne weiter auf den Punkt einzugehen.

Sie schwiegen wieder.

Dann fragte Margarethe »Was ist denn das für eine Einstellung? Das sind doch leere Schlagworte – Neoliberalismus und Kapitalismus. Was für ein Wirtschaftssystem würden Sie sich denn wünschen?« Sie mochte es nicht, wenn Menschen etwas nur so dahinsagten, weil sie meinten, das würde gut ankommen. »Welche Funktion haben Banken und welche Funktion hat die Börse? Haben Sie sich das schon einmal überlegt? Haben Sie keine Kreditlinie für Ihre kleine Firma? Haben Sie Ihr Auto bar bezahlt? Was glauben Sie, wo große Pensionsfonds ihr Geld anlegen? Wie können sich Unternehmen finanzieren? Haben Sie darüber schon einmal nachgedacht?«

Sie habe eigentlich keine Zeit und keine Muße, so ein Gespräch zu führen, fügte sie hinzu und verstand selbst nicht, warum sie sich so ereiferte und im Ton vergriff. Tatsächlich war sie es schon seit langer Zeit nicht mehr gewohnt, eine harmlose Unterhaltung zu führen. Wann war es überhaupt das letzte Mal, dass sie über ein aus der Luft gegriffenes Thema sprach? Welchen Zweck hatte so eine Unterhaltung überhaupt? Sie erregte sich immer mehr, was eigentlich nicht ihre Art war. Wollte er mit ihr flirten? Glaubte er allen Ernstes, sie habe Interesse an einem Menschen wie ihm? Es wurde offensichtlich für sie, dass sie die Fähigkeit, eine harmlose Unterhaltung zu führen, verloren hatte.

Serge fühlte sich angegriffen und belehrt. Er kannte nur Menschen, die seine Meinung teilten. Was sollte er jetzt antworten? Ihm fiel die Sub-prime-Krise ein, doch er spürte, dass ihm das nicht weiterhelfen würde. Er würde gerne eine Nacht mit dieser Frau verbringen, deswegen hatte er sie angesprochen, ja, eigentlich ging es ihm nur darum. Wenn sie nur nicht diese abweisende Art hätte … Serge musste davon ausgehen, dass er nicht ihr Typ war – oder doch? Er legte sich in Beziehungen nicht gerne fest und das kam nicht bei allen Frauen gut an, bei manchen allerdings schon. Man musste sich herantasten. »Also die Sub-Prime-Krise war doch ein Auswuchs des Neoliberalismus, oder nicht?«, brachte er schließlich hervor. Er brauchte hier viel Geduld, sagte er sich. Manche Frauen ließen sich nicht einschätzen und Margarethe gehörte eindeutig in diese Kategorie.

»Sie wirken ziemlich unstet«, sagte Margarethe in diesem Augenblick zu ihm und sah ihn durchdringend an. »Ich meine Ihre Aufmachung und die Tatsache, dass Sie kein festes Einkommen haben. Fühlen Sie sich wohl dabei? Zahlen Sie in die Rentenversicherung und die Arbeitslosenversicherung ein?« Ihre Sympathie ließ nach. »Natürlich war die Sub-Prime-Krise der schlimmste Skandal der jüngsten Wirtschaftsgeschichte mit wirklich harten Konsequenzen, gerade für die Pensionsfonds und strategischen Investoren.« Sie machte eine kurze Pause, dann sagte sie: »Ich hoffe, dass Sie sich nicht für mich interessieren, das wäre vollkommen aussichtslos … Die Frage ist doch, wie der demokratische Staat auf solche Krisen reagiert, die natürlich nicht ausbleiben«, fuhr sie fort. »Man hat ja vieles geändert seither, die Baselvereinbarungen zum Beispiel und die Regelungen für das Eigenkapital der Banken.« Sie redete, als hätte sie Serge nicht gewaltig brüskiert. »Vor allem ist der Wohlstand dank des Kapitalismus auf so hohem Niveau, dass man die Schwierigkeiten auffangen konnte.«

»Ja, für einen hohen Preis«, antwortet Serge, der nicht wusste, wie ihm geschah, die Unterhaltung aber fortzusetzen versuchte. Hatte sie das eben wirklich gesagt? Er sei unstet und sie wolle nichts von ihm wissen? »Es folgte die Griechenlandkrise und jetzt haben wir keine Zinsen mehr, was sich langfristig verheerend auswirken kann«, fügte er hinzu. Hatte sie tatsächlich sein Äußeres kritisiert? Er hielt sich für sehr attraktiv und war stolz auf seinen jugendlichen Stil.

Margarethe strich sich durch das Haar und lächelte kurz.

War das Lächeln jetzt eine Entschuldigung?

»Es geht doch in der Finanzwelt, wie eigentlich bei allem in der Politik, um Stabilität, um nichts anderes. Die niedrigen Zinsen bringen Stabilität.« Margarethe erklärte noch weitere Details aus den Gegenmaßnahmen, die man nach der Bankenkrise eingeleitet hatte.

Unstet sei er? Er lebte wie alle anderen Leute, die er kannte; kinderlos und von der Hand in den Mund. Natürlich hatte er keine Sozialversicherungen. Wer brauchte das mit fünfunddreißig? Sie war wirklich seltsam, diese Frau. Sie sagte einfach, was sie dachte, auch wenn es vollkommen unpassend war. Die Zurückweisung konnte aber auch eine Einladung sein, denn sie erwähnte damit immerhin die Möglichkeit, dass er etwas von ihr wollen könnte, das hätte sie ja nicht tun müssen. Serge folgte ihrem Mund. Sie hatte einen wunderschönen Mund. Ob er sie einfach küssen sollte? Vielleicht wünschte sie sich das? Er näherte sich ihr mit seinem Kopf.

Margarethe sprang abrupt auf. Sie ging direkt zu ihrer Freundin und verabschiedet sich von ihr. Dann kehrte sie noch einmal zu Serge zurück und fragte noch einmal nach der Internetseite der Kunstmesse.

Ihr Gehen und Zurückkommen löste Verwirrung bei ihm aus. »Warum wollen Sie schon gehen?«, fragte er. »Wir könnten doch gemeinsam zu der Messe …« Er ärgerte sich im selben Moment, als er es sagte. Es klang wie ein Betteln.

»Nennen Sie mir die Internetseite der Messe und auch die von ihrem Shop. Ich sehe mir das an«, sagte Margarethe, »vielleicht melde ich mich.«

Serge notierte die URLs auf einem Stück Zeitungspapier.

Ohne zu lächeln oder irgendwie verbindlich zu sein, ließ ihn Margarethe stehen.

Margarethe stieg in ihren Mini und machte sich auf den Weg nach Hause.

Je länger sie fuhr, desto klarer wurde ihr, wie konfus sie dahergeredet hatte. Sie war sonst von großer Selbstkontrolle, blickte mit Distanz auf die Dinge und plapperte niemals drauflos. Wie hatte diese Begegnung sie so aus der Bahn werfen können? Er wollte mit ihr flirten und wahrscheinlich mehr. Sie war unfähig gewesen, das elegant abzuwehren, stattdessen kritisierte sie ihn wegen seiner Kleidung und weil er so einen haltlosen Eindruck machte. War das ihr Problem? Serge hatte sie betört, ja, so war es. Sie war seit bestimmt zehn Jahren oder länger ohne Kontakt zu einem Mann, der ihr seine Zuneigung zeigte. Das war es, was sie aus der Bahn warf.

Sie traf an der Einfahrt zur Garage ein.

Eigentlich war Serge nett und gab sich Mühe und, ja, er hatte einen Stil, der zu ihm passte. Die eingerissenen Knie wahren wohl übertrieben.

Hatte sie den Zettel eingesteckt? Ja.

Ausnahmsweise hatte sie nicht ihren blauen Blazer und die blaue Hose an. Sie trug eine dunkle Bluse mit bunten Blumenmustern und einen gelben Blazer darüber, außerdem eine Jeans mit einer hübschen silbernen Schnalle. Sie hatte sich jeweils zwei Armreifen über jedes Handgelenk gesteckt, was sie sonst niemals machte.

Wie war ihre Wirkung auf Männer? Die Frage stellte sie sich sonst nie. Sie hatte schulterlanges braunes Haar, das sich ab der Mitte wellte. Obwohl sie eher schmal war, zeigten ihr Mund und vor allem ihr Kinn ein hohes Maß an Willensstärke.

Sie trug ihre Perlenstecker und nicht die Ananasohrringe, wenigstens das. Serge würde sich nichts aus Frauen mit Perlensteckern machen. Wieso nannte sie ihn beim Vornamen und wieso beschäftigte sie sich überhaupt mit ihm? Diese alberne, kurze Begegnung …

Die Kunstmesse würde sie gerne besuchen. Sollte sie bessere alleine hingehen? Aber er kannte sicher viele Aussteller und konnte ihr helfen …

Wie wäre es, mit ihm zur Messe zu gehen? Sie hatte das Gefühl dafür, mit einem Mann zusammen zu sein, verloren. – Zu zweit sein … wie war das?

Sie würde ihn anrufen.

Margarethe setzte sich auf den abgewetzten Sessel in ihrer Küche, der einmal die Zierde eines Wohnzimmers war, und trank Tee. Dank des unausstehlichen Abteilungsleiters hatte sie es plötzlich mit einem Fachgebiet zu tun, von dem sie nichts wusste. Sie war zwar Expertin für Strafrecht, hatte sich aber in den vergangenen Jahren selbst mit diesem Gebiet nur theoretisch beschäftigt. Die Fälle aus dem grauen Finanzmarkt und Steuersachen wurden von Wirtschaftsdezernaten bearbeitet. Margarethe hatte auch kein Depot und handelte nicht mit Aktien. Sie hatte einen Sparplan für Rentenpapiere und Staatsanleihen bei einer der großen Banken, außerdem investierte sie in eine teure Wohnung in guter Lage, die sie vermietete – ihre eigene Wohnung war längst abbezahlt –; sie wollte Klarheit und Sicherheit. Das Finanzwesen fand sie schon immer dubios. Sie musste sich jetzt in kürzester Zeit einarbeiten.

Sie ging an ihr Regal und entnahm ein Standardwerk zum Handelsrecht und ein zweites für Wirtschaftsrecht. Beide Ausgaben waren zwanzig Jahre alt, die würden ihr also nichts nützen.

Sie las in beiden etwas quer herum und ging dann schlafen.

***

Am nächsten Tag, einem Montag, stand Margarethe wie gewohnt um sechs Uhr auf, machte Kaffee und begann noch im Schlafanzug eine Liste mit möglichen Quellen zusammenzustellen. Als erstes las sie eine Nomenklatur mit Fachbegriffen, die sie Börsenseiten im Internet entnahm. Es war notwendig, jeweils eigene Themenlisten für Hedgefonds und Immobilienfonds anzulegen.

Das ergab eine erste Übersicht, mit was sie es zu tun hatte, beruhigte sie aber nicht gerade. Die Materie verzweigte sich endlos. Außerdem war ihr klar, dass das alles Lehrbuchwissen war und die Realität anders aussehen würde. Alleine was ein Hedgefonds war, wurde nur allgemein erklärt.

Sie las zunächst die Stichworte auf der Seite der Frankfurter Börse. Natürlich war das nur kurz und für Laien geschrieben und sie benötigt eigentlich jemanden, der sie zielgerichtet einführte. Sie kannte aber niemanden, der infrage kam. Mit welchen Größenordnungen hatte man es bei geschlossenen Immobilienfonds zu tun? Wie waren sie organisiert, das heißt, welche Rechtsform war üblich? Wo befanden sich die Immobilen und welchen Zweck hatten diese Fonds überhaupt? Es gab anscheinend einen Zweitmarkt, auf dem Fondsanteile gehandelt wurden.

Irgendwann fragte sie sich, was die klassischen Betrugsmöglichkeiten in dieser Branche waren. Sie sah sich im Internet die Seiten von Emissionshäusern an, die geschlossene Fonds vertrieben. Es war aber merkwürdig wenig darin zu erkennen. Um welche Objekte ging es überhaupt? Die Rede war vor allem von Wertsteigerungen und versprochenen Renditen, was aber sehr allgemein und unverbindlich formuliert war. Es war jedenfalls durchweg eine technische und trockene Materie, was sie zwar aus der Juristensprache gewohnt war, aber dennoch …

Schließlich stand sie auf, zog ihre Sportsachen an und lief eine halbe Stunde ihre übliche Strecke.

Als sie zurück war, machte sie sich gleich wieder an die Arbeit. Sie las weiter in den verschiedenen Quellen. Dann nahm sie ihr Tablet und ging in der Wohnung auf und ab. Sie las auf Wikipedia: Hedgefonds sind Investmentfonds, die keinen speziellen Anlagerichtlinien unterliegen. Sie können alle Formen der Kapitalanlage nutzen. Außer in Aktien und Anleihen investieren sie auch in Währungen und Rohstoffe sowie Optionen und Futures.

Was waren Optionen und Futures? Margarethe machte eine Notiz.

Hedgefonds dürfen Leerverkäufe tätigen und auf Kredit investieren, außerdem gehen sie ein höheres Risiko als normale Investmentfonds ein. Anspruch jeder Hedgefonds-Strategie ist es, in jeder Marktphase eine Rendite zu erwirtschaften, meist durch Arbitrage aufgrund von MarktintransparenzenArbitrage lässt sich nutzen, wenn Kurse an verschiedenen Börsen, oft durch einen Zeitunterschied bedingt, nicht identisch sindDer graue Kapitalmarkt ist ein schwer abgrenzbarer unreglementierter Kapitalmarkt. Beispiele für Anlageformen im grauen Kapitalmarkt sind stille Beteiligungen, geschlossene Immobilienfonds, Grundschuldbriefbeleihungen, Kredite und außerbörsliche AktienNachteile des grauen Kapitalmarktes sind vor allem fehlende Markttransparenz und -überwachung durch ein unabhängiges Organ sowie die geringe Liquidität.

Margarethe machte noch einmal Kaffee und las weiter, dabei ging sie aus ihrem Arbeitszimmer wieder über den Flur zurück ins Wohnzimmer:

Geschlossene Investmentfonds geben eine bestimmte Zahl von Anteilen aus. Ist die festgelegte Anlagesumme erreicht, wird der Fonds geschlossen. Die Investmentgesellschaft ist nicht verpflichtet, Anteile zurückzunehmen. Lehnt die Investmentgesellschaft eine Rücknahme der Anteile ab, können Investoren ihre Anteile über die Börse veräußern.

Das war der wichtigste Punkt.

Sie fasste zusammen: In der Regel wurde für den Erwerb eines Objektes eine eigene Gesellschaft gegründet. In Deutschland war das eine GmbH. Diese Gesellschaft verwaltete die Investition. Ein Beirat von Anlegern überwachte das Emissionshaus, das in der Regel die Verwaltung übernahm. Ein Projekt konnte bis zu dreißigtausend Anleger haben, je nachdem, wie die Anteile zugeschnitten waren. Das heißt, bei zehn Objekten könnten dreihunderttausend Investoren, meist gewöhnliche kleine Anleger, beteiligt sein. Sicher investierten Anleger in mehrere Objekte. Als Investitionsobjekte dienten geschäftlich genutzte große Gebäude. Das waren Bürogebäude, Einkaufszentren, Hotels aber auch öffentliche Gebäude. Das praktische Risiko bestand darin, dass es über einen längeren Zeitraum zu Leerständen kam. War ein komplettes Stockwerk eines Bürogebäudes nicht vermietet, machte dieser Fonds Verluste. Ein weiterer wichtiger Punkt war die Reinvestition in die Instandhaltung. Das musste mit Augenmaß organisiert werden. Der Vorteil der Anleger bestand darin, dass sie ohne eigenen Aufwand eine feste Verzinsung erhielten. Die Anteile wurden in der Regel zwanzig Jahre gehalten. Die Abhängigkeit von der Verwaltung, also dem Emissionshaus, war allerdings gewaltig. In den Beiräten saßen oft Menschen, die den Finanz- und Steuerexperten der Emissionshäuser nicht gewachsen waren. Lief alles gut, bekamen die Anleger bis zu sechs Prozent Zinsen in einem Jahr. Gutachten zeigten aber, dass das selten so war. Wer seine Anteile verkaufen wollte, konnte das nur mit Abschlägen auf dem sogenannten Zweitmarkt tun. Die ganze Branche hatte einen Geschmack des Unseriösen. Vor allem waren die Fonds ideal für Geldwäsche jedweder Art; man war mit Partnern zusammen, die andere Ziele und einen großen Einfluss hatten. – Das hatte Margarethe zumindest der Fachpresse entnommen.

Sie verbrachte den ganzen Montag mit ihren theoretischen Untersuchungen und nahm hin und wieder ihre juristische Literatur zu Hilfe. Was sie im Internet fand, reichte ansonsten fürs Erste aus.

Gegen Abend rief sie Serge Radetzki an und fragte ihn, ob er mit ihr am nächsten Tag zu der Kunstmesse gehen wolle.

Serge war überrascht, freute sich aber sehr und wollte wissen, ob er Margarethe abholen solle, was sie jedoch brüsk ablehnte. Serge in ihrer Wohnung zu empfangen, war für sie undenkbar.

Sie verabredeten sich vor einem bestimmten Eingang des Messegeländes.

Was machte sie nun mit diesem Fall? Es war ein neues Gebiet. Während der letzten Jahre erledigte sie Verwaltungsaufgaben. Sie reiste ab und zu nach Brüssel und in andere Hauptstädte. Die Reisen hatte sie nie genutzt, um sich umzusehen oder mit anderen Teilnehmern der Konferenzen auszugehen, blieb auch dort die ewige Außenseiterin.

Vier Jahre lang arbeitete sie als Staatsanwältin. Die Zeit war interessanter. Sie war erst sechsundzwanzig, als sie ihren ersten Fall übernahm. Natürlich war auch dort viel Schreibarbeit, sie musste am Wochenende arbeiten und hatte Nachtdienste. Aber sie gehörte zur Speerspitze derer, die das Recht durchsetzten. Sie gehörte zu den Garanten, die dafür standen, dass die Gewaltenteilung im praktischen Recht umgesetzt wurde. Man musste schnell und flexibel sein im Strafrecht. Die Fälle waren sehr unterschiedlich. Sie hatte in kurzer Zeit in viele verschiedene Welten hineingesehen, klagte Vergewaltiger, Kinderschänder und Bankräuber an. Ohne diese Arbeit konnte ein Staatswesen nicht bestehen.

Sie war oft entsetzt darüber, was Menschen einander antun konnten, doch Margarethe hatte einen ausgeprägten Idealismus. Es ging darum, diese Menschen zum Schutz der Allgemeinheit von neuen Straftaten abzuhalten, sie zu bestrafen und zu versuchen, sie einer Resozialisierung zuzuführen. – Und es ging um Genugtuung für die Opfer, die ein Recht darauf hatten. Das war das Wichtigste für sie, das Allerwichtigste.

Die Demütigungen durch ihre Mutter kamen bei solchen Gedanken immer wieder in ihr hoch. Es hätte ihr Frieden gegeben, wenn ihre Mutter eingestanden hätte, was sie ihr antat, wenigstens einmal hätte sie sich entschuldigen können und sagen: Ich habe dir großes Leid zugefügt.

Nach vier Jahren als Staatsanwältin hatte Margarethe sich auf die Stelle einer Oberstaatsanwältin beworben. Sie bekam sie, mit nur dreißig Jahren, und wurde Referatsleiterin im Justizministerium. Sie war noch immer dort. Sie würde gerne Abteilungsleiterin oder Präsidentin eines Landgerichtes werden, aber sie wurde nie darauf angesprochen und bewarb sich deshalb auch nie.

Vielleicht war es eine Gewöhnung und nachlassender Ehrgeiz, dass sie nicht weiterkam. Sie dachte nur sehr vage daran, dass es mit ihrem sonderbaren Verhalten zu tun haben könnte. Man erwartete einen freundlichen und offenen sozialen Umgang miteinander. Je höher sie aufsteigen würde, desto mehr müsste sie den Apparat, dem sie vorstand, repräsentierten. – Und das traute man Margarethe nicht zu.

Nun ergab sich aber unerwartet die Chance, etwas Neues zu machen. Sie würde wieder operativ arbeiten und mit einer neuen Welt in Berührung kommen. Sie hätte es mit intelligenten Betrügern und nicht mit tumben Verbrechern zu tun. Es gab Tausende Anleger, die sich um ihr Geld sorgten. Sie müsste dringend handeln, wenn sie den Fall übernehmen würde.

Sie ging auf den Balkon und sah hinüber auf den Main, der still, satt und ewig gleich vorüberzog. Vor ihrem Fenster blühten Narzissen, Hyazinthen und Zierkirchen. Sie liebte diesen Blick und genoss ihn lange. Dann setzte sie sich und schrieb eine E-Mail an den Staatssekretär, den Abteilungsleiter setzte sie in CC.

***

Sie hatte ihn unstet genannt. War er das? Unstet – was für ein merkwürdiges Wort. Serge fühlte sich einfach frei.

Es rang noch jede Generation damit, ob man sich anpassen oder seinen eigenen Weg gehen sollte. Aber warum sollte man sich Verpflichtungen aussetzen, wenn es nicht notwendig war? Er lebte in einer gewissen Selbstbezogenheit, das war ihm klar. Er mochte es nicht, Verantwortung zu übernehmen, schon gar nicht für Fremde. Außerdem hatte er ja eine Verpflichtung, eine wichtige sogar, nämlich seinen Kater zu versorgen. Für den mussten Futter und Wasser bereitstehen. Das erforderte Planung und Zuverlässigkeit.

Dass er ein freier Mann war, wurde ihm schon öfter gesagt und er war stolz darauf. Serge war als Einzelkind aufgewachsen und umsorgt worden, wie es nicht besser hätte sein können. Seine Eltern waren beide Lehrer. Dreimal im Jahr vereiste man in den Urlaub, oft in die USA und einmal auch nach Japan. Als er vierzehn Jahre alt war, trennten sich seine Eltern und Serge, der an beiden sehr hing, sah seinen Vater so gut wie gar nicht mehr. Das war ein harter Einschnitt. Vielleicht war das der Grund dafür, dass es ihm so wichtig war, frei zu sein. Er hatte es bei seinem Vater beobachtet, dass man Verpflichtungen einfach ignorieren konnte. Sein Vater schien nichts besonders ernst zu nehmen. Er war mit einer neuen, einer jüngeren Frau zusammen, die er aber nach wenigen Jahren auch wieder verließ. Serge bekam das nur aus Erzählungen seiner Mutter mit. Er sah seinen Vater während der ersten Jahre überhaupt nicht mehr.

Er machte sich generell nicht so viele Gedanken über sich selbst oder sein Aufwachsen. Für ihn war es einfach nur ein Zufall, ohne eine besondere Bedeutung, dass er alleine lebte. Ganz so schlimm war es ja nicht. Er hatte sehr viele Beziehungen hinter sich und hätte er unter all diesen eine Frau gefunden, mit der es gepasst hätte, wäre es vielleicht anders gekommen. Er war aber auch erst fünfunddreißig, es war noch alles möglich. Eigentlich mochte er diese abwartende Haltung. Noch hatte er kein Gefühl für die Endlichkeit des Lebens, aber wirklich glücklich war er dabei nicht. Er spürte immer öfter, dass ihm etwas fehlte.

Er hatte Margarethe nicht die ganze Wahrheit erzählt. Man hatte ihn aus einem bestimmten Grund nicht verbeamtet, sondern ihn gebeten, den Schuldienst zu verlassen, weil es zwei konkrete Ereignisse gab: Zunächst hatte er eine Affäre mit einer Kollegin, einer verheirateten Frau, die auch noch ein Kind an der Schule hatte, was dazu beitrug, dass sich die Sache ab einem gewissen Punkt in Windeseile herumsprach. Der zweite Grund, der schwerer wog, war die Tatsache, dass er mit einer Schülerin ebenfalls in dieser Zeit eine Affäre begonnen hatte. Wenigstens war das Mädchen achtzehn, sodass man ihm rechtlich nichts anhaben konnte, aber der Schulrat setzte durch, dass er recht kurzfristig von seinen Pflichten dispensiert wurde.

Serge mochte es, ein neues Verhältnis anzufangen. Das war immer eine Zeit voller Spannung und Begierde. Auch mochte er verschiedene Typen von Frauen. Einen Altersunterschied in die eine oder andere Richtung fand er besonders anziehend. Er hielt sich für unwiderstehlich, jedenfalls fast unwiderstehlich, und es ergab sich auch meistens schnell, dass es zu einem Rendezvous kam. Er war auf mehreren Datingplattformen aktiv.

Viele Frauen waren offen, gerade wenn er ihnen andeutete, dass er nur ein Abenteuer suchte, obwohl das nicht grundsätzlich der Fall war. Es spielte aber eine Rolle, wenn er über ein Forum jemanden kennenlernte. Das erste Ziel war es, eine Frau ins Bett zu bekommen, dann sah man weiter.

Zwei Affären gleichzeitig zu haben, war allerdings schnell mit Komplikationen verbunden. Es kam vor, dass zu einer besonders ungünstigen Zeit, in der er Besuch hatte, angerufen wurde, und da die Anruferin zu dem fraglichen Zeitpunkt davon ausging, dass Serge verfügbar sein müsse, um mit ihr zu sprechen, er aber nicht abhob und sie es nach einigen Minuten wieder versuchte, dann, ungeduldig werdend, noch einmal, führte das mitunter zu eigenwilligen Erklärungen, die er sich gegenüber der anwesenden Besucherin zurechtlegen musste.

Er wäre also unstet, meinte diese Margarethe. Das konnte man als Anerkennung oder Tadel verstehen, nur eines war sicher: Diese Frau hatte ihn elektrisiert. Sie strahlte Selbstbewusstsein aus und Ordnung. Sie wusste, was richtig und was falsch war, und sie war eine starke Persönlichkeit, an der er sich aufrichten konnte. – Sie war die richtige für ihn.

Irgendwann musste seine Ziellosigkeit ein Ende haben, sagte er sich. Von seinem Beruf als Berater für Datensicherheit konnte er gerade so leben. Ein wirklich anerkannter Experte war er nicht, dazu interessierte ihn das Thema zu wenig. Diese Industrieunternehmen und kleinen unteren Behörden, für die er arbeitete, fand er entsetzlich langweilig.

Die Idee mit dem Kunsthandel war daraus geboren worden, dass er sich eine Beschäftigung suchen wollte, die ihm mehr Antrieb gab. Die Nachfrage nach bestimmten Arbeiten von Künstlern, die er nun schon seit zwei Jahren vertrat, ermunterte ihn und gab ihm Ansporn, sich für die Maler und Bildhauer einzusetzen und natürlich auch selbst davon zu profitieren. Nun war er aber noch ein Nobody und Onlineshops für Kunsthandel gab es wie Sand am Meer, aber immerhin, durch seine aufgeschlossene Art war es ihm gelungen, einen stetigen Abverkauf, wenn auch im bescheidenen Maße, hinzubekommen. Er setzte zweit- bis dreitausend Euro pro Monat um, davon blieb ihm die Hälfte.

Die Künstler, die er anbot, waren allesamt am Anfang ihrer Laufbahn. Sie hatten keine Möglichkeit irgendwo auszustellen, wenn es nicht gerade in einer Stadtbücherei sein sollte. Sein bescheidener Erfolg begründete sich darauf, dass es ihm immer wieder gelang, deren Exponate als besonders vielversprechend für junge und neue Sammler darzustellen, denn egal, wer in Kunst investierte: Sobald man ein Zertifikat der Arbeit in Händen hielt, ging es nur noch um den Wertzuwachs. Das tat er, indem er die Namen und Biografien seiner Künstler auf seiner Internetseite mit Erfolgen verband, die vorsichtig ausgedrückt recht gedehnt waren. So vergab er Kunstpreise, die er sich selbst ausdachte, und beschrieb Ausstellungen, die es nie gegeben hatte. Nicht alle Künstler machten das mit, sodass er neue Klienten zunächst vorsichtig fragte, ob sie damit einverstanden wären. Blieb aber jeglicher Erfolg aus, kamen die meisten sowieso irgendwann und baten um diese spezielle Unterstützung. Ihm war klar, dass das auf Dauer nicht gut gehen würde, aber bis dahin konnte er ja so arbeiten. Danach würde ihm schon etwas Neues einfallen. Immerhin hatte er es auf zwanzig junge Künstler gebracht, die er vertrat.

An einem Sonntag stand er normalerweise nicht vor elf Uhr auf, heute aber musste er um zehn an der Messe sein und das war in zwei Stunden. Er war sehr überrascht gewesen, als ihn Margarethe anrief. Sie sagte sogar etwas Freundliches, nämlich dass sie sich sehr freuen würde, wenn er sie begleitete. Nur abholen sollte er sie nicht. Für Serge stand fest, dass Menschen sich nur dann verabredeten, wenn sie gewisse Interessen hatten. – Er musste sich beeilen.

Margarethe oder Die Schönheit der Farbe Weiß

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