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Tobias Kaestli

Was war, ist wahr

Erlebte und erinnerte Geschichte





Erlebtes und Erinnertes

Das 20. Jahrhundert war ein «Zeitalter der Extreme», wie der englische Historiker Eric Hobsbawm sagte. Vor allem die erste Hälfte hatte es in sich: Zwei Weltkriege, Spanische Grippe, beispiellose rassistische Verbrechen, Weltwirtschaftskrise, blutige Diktaturen, Abwurf zweier Atombomben über Japan. Von solchen Ereignissen waren meine Eltern geprägt. Ich wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geboren, also in einer Zeit, die mit grossen Hoffnungen begann: Die UNO-Charta und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sollten die internationalen Beziehungen auf eine gerechte Basis stellen und damit die Welt sicherer machen; der Sicherheitsrat der UNO sollte dafür garantieren. Doch schon bald entstanden neue Spannungen, die als Kalter Krieg bezeichnet wurden; der eiserne Vorhang zwischen Ost und West wurde heruntergelassen. Und immer wieder gab es auch «heisse» Kriege. Was war die Ursache? Die menschliche Unzulänglichkeit, der Neid der Besitzlosen, die fortdauernde Ungerechtigkeit, der offensichtliche Widerspruch zwischen der politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Realität und den immer differenzierter und verbindlicher formulierten Menschenrechtsdeklarationen?

Die Wirtschaft boomte, jedenfalls in den westlichen Ländern des Nordens, aber die ehemaligen Kolonien, die nach und nach ihre politische Unabhängigkeit errungen hatten, wurden weiterhin von den Industriestaaten ausgebeutet und, wenn sie rebellierten, mit Waffengewalt in das System zurückgezwungen, das die Armen darnieder hielt und die Reichen noch reicher werden liess. Dagegen rebellierte eine kritische Jugend, zu der ich mich zählte. Schuld an dem ganzen Elend war der Kapitalismus, fanden wir, weshalb es nach unserer Meinung nicht genügte, auf politischer Ebene neue Regeln zu etablieren; das Wirtschaftssystem musste umgebaut werden. Wir waren Weltverbesserer voller Optimismus und voller Illusionen; gewaltige Frustrationen waren unausweichlich.

Als junger Student erkannte ich nur die Lügen und Vorurteile der anderen und übersah die eigene Beschränktheit und Unredlichkeit. Veränderte sich dies mit der Zeit? Lernte ich aus meinen Erfahrungen? Verhielt ich mich angemessen oder hieb ich voll daneben? Ich habe versucht, Antworten auf diese Fragen zu finden, die eigene Entwicklung und die der Gesellschaft, in der ich lebte, in den Blick zu kriegen. Habe ich dadurch mehr Klarheit gewonnen? Habe ich mich der Wahrheit angenähert?

Das Bedürfnis, aus meinem Leben zu erzählen, teile ich mit vielen anderen. Alle Menschen, nicht nur die prominenten, haben ein Recht auf ihre Autobiographie. Das eigene Leben sprachlich zu umgreifen, ist allerdings ein komplexes Problem, genau besehen eigentlich ein unmögliches Unterfangen. Denn etwas zu erzählen, bedeutet, den Anfang eines Fadens zu finden und diesem Faden zu folgen bis ans Ende, wo das Ganze überblickbar wird und einen Sinn ergibt. Doch das Leben ist nicht so, meines jedenfalls nicht, denn selbst wenn ich einen Lebensplan gehabt hätte, was ich nie hatte, hätten mich die äusseren Umstände, die zufälligen Begegnungen, die unvorhersehbaren Ereignisse vom Kurs abgebracht. Und weiterhin gibt es diese Abweichungen, so dass ich nicht weiss, wo ich am Ende landen werde. Es kommt dazu, dass ich schon immer zerspalten war und gleichzeitig verschiedenen Fäden folgte, die sich gegenseitig umschlangen. Mein Leben ist eher ein Gewirr als ein «ausgeklügelt Buch». Deshalb gerate ich beim Schreiben in ein Dilemma: Erzähle ich mein Leben in einem einzigen Spannungsbogen, mache ich es zum Roman und entferne mich weit von der Wahrheit. Beschreibe ich dagegen vor allem das zufällige Chaos, verheddere ich mich in zusammenhanglosen Details, die in ihrer Zufälligkeit keine Wahrheit enthüllen. Ich habe versucht, die Mitte zu halten, so dass das Gewirr spürbar bleibt, gleichzeitig aber ein paar Grundmuster sichtbar werden.

Autobiographien werden auch als Memoiren bezeichnet, weil sie sich auf die subjektive Erinnerung stützen. Erinnerungen sind kein direktes Abbild des wirklich Erlebten, der erlebten Wirklichkeit, sondern sie sind Erinnerungen an Erinnertes. Erinnerung baut auf Erinnerung auf, und jede neue Erinnerungsstufe ist eine Anpassung der Erinnerung an das, was mir gegenwärtig mehr Befriedigung als Schmerz verschafft. Das Gedächtnis verbirgt gnädig die unangenehmen Teile des Erinnerten und schmückt die angenehmen aus. Zudem ist es in der Lage, meinem Tun und Lassen nachträglich Sinn zu verleihen. Deshalb ist das, was ich hier aufzuschreiben gedenke, nicht identisch mit dem, was sich wirklich in meinem Leben abgespielt hat. Die Wahrheit dessen, was war, bleibt letztlich verborgen im Unbestimmten.

Seit meinem 16. Lebensjahr schreibe ich Tagebuch. Manchmal alle paar Tage, manchmal auch nur alle paar Wochen halte ich fest, was ich erlebe, welche Bücher ich lese, worüber ich nachdenke, mit wem ich worüber rede. Es sind teilweise nur kurze Notizen, oft aber auch längere Aufsätze. Insgesamt sind sie Zeugnisse einer sich ständig verändernden Weltanschauung. Was aber fange ich mit der tagebuchlosen Kindezeit an? Die Erinnerungen daran scheinen besonders präzis und detailreich zu sein. Sind sie deswegen auch wahr? Ich kann es nicht überprüfen; deshalb lasse ich es bei ein paar wenigen Hinweisen auf erstmalige und besonders starke Eindrücke bewenden und widme mich vor allem der «Zeit mit Tagebuch». Dabei ist mir bewusst, dass ich auch im Tagebuch keine direkte Abbildung des wirklich Erlebten finde, denn im Moment des Notierens ist das Erlebte auch schon Erinnerung geworden. Aber die zeitlich nahe am Erlebten formulierten Texte sind frischer und weniger stark verfälscht als die späteren Erinnerungen. Mancher Selbsttäuschung bin ich auf die Spur gekommen, indem ich das Erinnerte mit dem konfrontierte, was in meinen Tagebüchern steht.

Weit zurückreichende Erinnerungen vermischen sich unwillkürlich und unauflösbar mit späteren Erkenntnissen, die ich aus dem allgemeinen kulturellen Wissen übernommen habe. Alle Menschen, die anderen Menschen zuhören und sie zu verstehen versuchen, die vielleicht auch noch Zeitungen und Bücher lesen, ins Kino und ins Theater gehen, im Internet surfen und Radio hören, verfügen über ein derartiges Wissen. Aus ihm kristallisiert sich die persönliche Weltanschauung heraus, und diese bestimmt, wie ich die Welt sehe und erlebe und wie ich das Erlebte werte. Ich mache mir ein Bild von der Welt, bedingt durch mein Selbst, durch die Voraussetzungen, die ich mitbringe; das Bild verändert wiederum das Selbst, worauf sich mein Bild von der Welt erneut verändert. Diese Hin-und-her-Bewegung geht immer weiter. Deshalb denke ich heute von anderen Voraussetzungen aus als damals, im «Sommer meines Lebens», den ich noch einmal Revue passieren lasse. Auch durch den Rückgriff auf die Tagebücher kann ich die aktuelle Weltanschauung nicht ganz ausschalten, weshalb sich Vergangenheit und Gegenwart durchmischen. In einer Autobiographie gilt es, dies so weit wie möglich sichtbar zu machen.

Was ich aus meinem Leben erzähle, ist sowohl individuell als auch allgemein, sowohl persönlich-privat als auch Teil der Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Meine Lebensgeschichte enthält familiär bedingte Züge und ist doch vor allem zeitbedingt; sie ist typisch für einen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen und in günstigen Umständen aufgewachsenen Schweizer, der die Spannung zwischen der eigenen Privilegiertheit und der Armut und Not anderer Menschen spürt.

Was war, ist wahr

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