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Das Böse liegt hinter uns – und wo bleibt das Gute?

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1 Landleben und Leben in der Stadt

Ich war ein Nachkriegskind, doch die Zeit des Zweiten Weltkriegs reichte bis in meine Kinderzeit hinein, denn die Güterknappheit hielt noch eine Weil an. Die Lebensweise, die sich meine Eltern in den Kriegsjahren angewöhnt hatten, konnten sie nicht so rasch abstreifen. Das wusste ich damals noch nicht, denn so wie es war, war es für mich selbstverständlich: Wenn es sehr kalt war, genügte die Kohleheizung in unserer Wohnung nicht. Mama legte mir einen Seelenwärmer um die Brust, eine Art Gilet aus Wolle, und zog mir einen engen Pullover über den Kopf, so dass ich mich wie in eine Rüstung eingezwängt fühlte, denn die mit feiner Holzwolle gestreckte «Kriegswolle» machte das Kleidungsstück hart wie ein Brett. Wir assen einfache Mahlzeiten, Brot mit wenig Butter und selbstgemachter Konfitüre, Hafer- und Griessbrei, Apfelkompott, Kartoffeln, Hörnli, Gemüse, Suppe, ab und zu ein wenig Fleisch. Es war die Fortsetzung der Knappheit, wie sie in den Kriegsjahren geherrscht hatte. Die Schränke meiner Mutter waren voll von Einmachgläsern, beiseitegelegtem Silberpapier, Packpapier und gebrauchten Schnüren. Nichts, was noch brauchbar war, wurde weggeworfen. Im Hinterhof stand das Velo des Nachbarn, dessen Räder mit an die Felgen gebundenen Korkzapfen versehen waren. Es erinnerte daran, dass die Luftreifen aus Gummi während des Krieges kaum noch erhältlich oder sehr teuer gewesen waren.

Unausgesprochen lasteten schwierige Erlebnisse meiner Eltern auf unserem Familienleben. Es gab einen sechs Jahre älteren Bruder, der einen anderen Nachnamen hatte als ich. Mit ihrem ersten Mann hatte meine Mutter in Ägypten gelebt und war 1940 als Witwe mit dem eben erst zur Welt gekommenen Hans-Adam in die Schweiz zurückgekehrt. Hier heiratete sie meinen Vater; er war schon über 40 Jahre alt. Vor dem Krieg hatte er in Frankreich gearbeitet, dann nach Ausbruch des Krieges im engen Kandertal im Berner Oberland, wo er eine Kohlegrube leitete. Hilde zog mit Hans-Adam zu ihm, gebar ihm eine Tochter, meine Schwester Elisabeth. Unmittelbar nach Kriegsende zogen sie zu viert nach Biel, wo ich ein Jahr später geboren wurde.

Meine Mutter war promovierte Philologin, hatte aber nach eigenem Bekunden nichts dagegen, sich auf die Rolle als Hausfrau und Mutter zu beschränken. Sie kochte sparsam, achtete aber darauf, dass wir drei Kinder gesundes Essen bekamen. Allmählich wurde der Speiseplan vielfältiger. Eine wichtige Neuerung war die Joghurtmaschine. Den dünnen, sauren Joghurt assen wir mit Rohzucker oder mit Melasse gesüsst. Wir mussten Rüblisaft trinken, und im Winter jeden Morgen einen Löffel Lebertran herunterwürgen.

Wir wohnten am Schüssquai in einem soliden Haus im dritten Stock. Vor dem Haus war eine Strasse mit wenig Verkehr, die dem Schüsskanal entlangführte. Dort spielten wir mit dem Gummiball, warfen ihn hoch in die Luft und riefen «Uri» oder « Schwyz» oder «Unterwalden» oder «Luzern» oder «Zürich» oder «Bern» ... Jedes Kind war ein Kanton, und wenn sein Kantonsname aufgerufen wurde, musste es den Ball auffangen. Manchmal flog er über das gusseiserne Geländer in den Kanal und schwamm davon. Wir rannten hinterher, und die Schnellsten und Mutigsten kletterten die Ufermauer hinunter und fischten ihn heraus. Wir waren eine kleine Kinderbande; Kurt war unser Anführer. Er war sechs Jahre älter als ich und gab den Ton an. «Locker laufen», befahl er, und sogleich rannten wir mit hängenden und schlenkernden Armen herum. Oder er band uns an eine Wäscheleine und unternahm mit uns Klettertouren beim Pavillon Felseneck.

Mein Grossvater, Notar Werner Wyss, kaufte 1949 ein Ferienhäuschen in Magglingen, liess es im Grundbuch auf den Namen meiner Mutter eintragen. Wenige Jahre danach starb er. Das Häuschen war das Geschenk an uns; dort verbrachten wir die ganze Sommerzeit und viele Wochenenden. Heute wohne ich zusammen mit meiner Frau Annemarie in diesem inzwischen renovierten und erweiterten Haus. Wir haben zudem eine kleine Wohnung in Biel. Diese komfortable Wohnsituation entspricht dem Muster aus meiner Kindheit, das einerseits von den Erfahrungen der ländlichen Sommerfrische auf dem Berg, andererseits vom Leben unten in der Stadt geprägt war.

Es ist eine weit entfernte Zeit, und was wir erlebten und in uns aufnahmen, unterscheidet sich in manchem stark von dem, was heute unsere Enkelkinder erleben und wie sie spielen, denn sie sind beeinflusst von einer virtuellen Welt, die via Handys und Computer auf sie eindringt. Andererseits ist vieles auch gleichgeblieben. Oft staune ich darüber, wie kleine Kinder sich in ihrem kindlich-spontanen Wesen ähnlich sind und mich an meine eigene Kindheit erinnern.

Die Einschränkungen der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit gerieten allmählich in Vergessenheit. Papa verdiente mehr Geld und erhöhte das Haushaltgeld für Mama, so dass sie einen neuen Staubsauger und eine kleine Waschmaschine anschaffen konnte. Den grossen, holzbefeuerten Kessel in der Waschküche benutzte sie nicht mehr; der elektrisch angetriebene Hoover wirbelte die Wäsche automatisch herum, bis sie sauber war. Der Ofen in der Küche musste nicht mehr mit Holz vorgeheizt werden; es gab jetzt eine Gasfackel, welche die darüber geschichtete Kohle anzündete.

Die grosse Veränderung kam im Jahr 1956. Wir verliessen das Plänke-Quartier und zogen ins Madretsch-Quartier. Die Wohnung in einem neuen Mehrfamilienhaus war grösser, und das Haus hatte eine zentrale Ölheizung. Ein Radio mit eingebautem Plattenspieler stand neuerdings neben dem Esstisch. Einen Fernseher gab es nicht; dieses Wunderding konnte ich nur ab und zu im Nachbarhaus bei meinem Freund Röbi Nordmann geniessen.

1956 war der Aufstand in Ungarn, der von sowjetischen Truppen niedergeschlagen wurde. Ich war zehn Jahre alt. Meine Eltern machten ein ernstes Gesicht und versuchten, die schlimmen Nachrichten von uns fernzuhalten. Das erwies sich als unmöglich, weil überall darüber gesprochen wurde. Wir stellten in der Schule kleine Fähnchen in den ungarischen Farben her und verkauften sie. Der Erlös kam der Ungarnhilfe zugute. Es wurde eine Schweigeminute zum Gedenken an die mutigen Kämpfer für die Freiheit angekündigt. Meine Mutter nahm mich mit auf die Strasse, damit ich sehen konnte, was Solidarität bedeutet. Tatsächlich standen zum festgelegten Zeitpunkt alle Passanten auf den Trottoirs still und alle Fahrzeuge auf den Strassen hielten an. Vom Kirchturm läuteten die Glocken; es war ein feierlicher Moment. Da knatterte ein klappriger Kleinlastwagen heran. Ich winkte dem Fahrer zu, bedeutete ihm anzuhalten. Er tat es, und ich kam mir ein wenig als Freiheitsheld vor. Von nun an wusste ich, dass es einen freien Westen gab, zu dem die Schweiz gehörte, und einen unterdrückten Osten, zu dem das unglückliche Ungarn gehörte. So blinzelte ich über die bisherige Begrenzung hinaus und fühlte mich umso geborgener in meiner Heimat.

Meine Kindheit und Jugend war voller Hingabe – an die eigenen Gefühle, an die Liebe zu den Eltern und zu den Geschwistern, an die Schönheit der Welt, an den Kummer über Missgeschicke, später auch die an die pubertäre Auflehnung gegen den Vater und gleichzeitig an das drängende Gefühl der erwachenden Libido. Nach und nach empfand ich eine zunehmende Distanz gegenüber der Welt. Oft war ich unglücklich, schwankte zwischen Unsicherheit und Überheblichkeit, gewöhnte mir einen gewissen Zynismus an. Das war wohl eine Reaktion darauf, dass ich von meinem Vater oft in kränkender Art zurechtgewiesen wurde. So kam es mir jedenfalls vor, und eine besonders krasse Zurechtweisung ist mir im Gedächtnis geblieben. Es geschah, als Papa, Mama, meine beiden Geschwister und ich nach Luzern fuhren, um das neu eröffnete Verkehrshaus der Schweiz zu besuchen. Ich war 13 Jahre alt und voller Tatendrang. Als der Zug langsam in den Bahnhof Luzern einfuhr, öffnete ich die Waggontür, und noch bevor der Wagen stillstand, sprang ich auf den Perron. Wollte ich mir meine sportlichen Fähigkeiten beweisen, oder geschah es aus blosser Freude an der Bewegung oder aus Vorfreude auf das Verkehrshaus? Jedenfalls tat ich damit etwas Verbotenes. Papa bemerkte es, stieg mit verzerrtem Gesicht aus dem Zug, stürzte auf mich zu und knallte mir seinen Spazierstock auf den Hintern. Nicht genug damit, er eilte danach zum Kondukteur und rief ihm zu: Zeigen Sie diesen Jungen an, er ist vom Zug gesprungen! Der Kondukteur war ein wenig verwirrt und stotterte etwas von «nicht erlaubt», ohne die Sache allzu ernst zu nehmen. Mama versuchte zu beschwichtigen, was Papa nur noch mehr aufbrachte. Bruder und Schwester schauten beiseite, weil ihnen Papas Auftritt vor all den vorbeiströmenden Passagieren peinlich war. Ich war gedemütigt und voller Hass.

1  Gymnasium mit Goethe, Hochhuth und Brecht

Im gleichen Jahr trat ich in die Sexta des städtischen Gymnasiums ein. In der Sekundarschule hatte ich mich oft gelangweilt. War der Unterricht jetzt spannender? Im Nachvollzug der Gedanken überragender Geister sollten wir Gymnasiastinnen und Gymnasiasten uns zu guten und tüchtigen Menschen formen. «Edel sei der Mensch, hilfreich und gut», wie Goethe sagte. Dem Rektor, Dr. Heinrich Ryffel, galten die antiken Autoren immer noch als vorbildlich, und er hielt es für wichtig, sie in der Originalsprache lesen zu können. Dass es die Möglichkeit gab, eine Maturitätsprüfung ohne alte Sprachen, dafür mit mehr Mathematik, Chemie und Physik zu absolvieren, hielt er für einen Fehler. In der Quarta entschied ich mich für diesen «minderwertigen» Bildungsgang, weil ich mir vorstellte, später an der ETH zu studieren und danach das Baugeschäft meines Vaters zu übernehmen. Doch dann wurde mir bewusst, dass dieser Plan eher dem Wunsch meines Vaters als meinem eigenen entsprach. Meine Vorlieben galten der Literatur und der Geschichte. Mit Hilfe eines Einführungsbüchleins in die Schriften von Livius begann ich heimlich meinen Rückstand in Latein aufzuholen und gestand schliesslich meinem Vater, dass ich von der Realabteilung in die Literarabteilung übertreten wolle. Er versuchte, mich davon abzubringen, wobei er harsche Worte der Missbilligung äusserte. Dank der Fürsprache meiner Mutter gab er zähneknirschend nach, verhehlte aber nicht seine grosse Enttäuschung.

Viele meiner Mitschüler in der Realabteilung waren erst in der Quarta ans Gymnasium Biel gekommen und hatten vorher eine Sekundarschule ausserhalb der Stadt besucht. In der Literarabteilung dagegen waren fast alle schon in die Sexta eingetreten, hatten also das Untergymnasium durchlaufen und dort schon mit dem Lehrmittel «Roma antiqua» gearbeitet. Hier herrschte ein etwas elitärer Geist. Es gab keine grundsätzlichen Bedenken gegenüber der gymnasialen Ausbildung, während in der Realabteilung Vorbehalte immer spürbar waren. Jean-Pierre Wolf, der von der Sekundarschule Bözingen herkam, war der Meinung, der gymnasiale Unterricht sei allzu theoretisch, allzu praxisfern. Bildung sei tätige Auseinandersetzung mit der Welt; nur in der praktischen Betätigung könne man die Erfahrungen machen, durch die das theoretisch Gelernte erst konkret werde. Ich fand, er sei halt doch eher ein Sekundarschüler als ein richtiger Gymnasiast, denn mich selbst zog es weg von der Alltagserfahrung hin zu «höheren Sphären». Erst viel später, als Jean-Pierre und ich an der Uni Bern studierten und im gleichen linken Grüppchen aktiv waren, teilte ich seine Auffassung.

Als Gymnasiast wurde ich dazu angeleitet, mir das anzueignen, was man Bildung nennt. Im Literaturunterricht fand ich in verdichteter Art das, was sich mir im individuellen und im gesellschaftlichen Leben nur undeutlich offenbarte: die komplexen Beziehungsgeflechte zwischen unterschiedlichen Menschen, die Möglichkeit der Liebe trotz des Machtgefälles, die Lust am Schönen, die Trauer über Verluste. Im Geschichtsunterricht lernte ich, dass der Rückgriff auf die Vergangenheit zur Erklärung der Gegenwart beitragen kann. Im Biologie-, Chemie- und Physikunterricht bekam ich eine Ahnung von den Gesetzmässigkeiten der Natur. Schule ist Musse, sagte Dr. Heinrich Spinner, Theorie ist Gesamtschau. Natur und Lebenswelt lassen sich nicht nur als flüchtig wahrzunehmende Phänomene erleben, sie können intensiv beobachtet, benannt und schliesslich auch verstanden werden. Er war ein Schöngeist, tief interessiert an Literatur und Kunst, offen aber auch für die Erkenntnisse der Naturwissenschaft. Doch in der Literarabteilung galten Sprache, Literatur, Musik und Kunst als das eigentliche Bildungsgut; Mathematik, Physik und Chemie wurden nur nebenbei gelernt; es galt fast als anstössig, wenn sich eine oder einer von uns dafür interessierte.

Die Antike hatte – ausser für Rektor Ryffel – nicht mehr den hohen Stellenwert wie früher. Wichtiger war die deutsche Klassik mit Goethe und Schiller. «Nehmt hin die Welt!, rief Zeus von seinen Höhen / Den Menschen zu. Nehmt, sie soll euer sein! / Euch schenk ich sie zum Erb’ und ew’gen Lehen – / Doch teilt euch brüderlich darein!» Im Unterricht von Dr. Heinz Schafroth lernte ich die erhabenen Worte Schillers auswendig. Wir führten ein paar Szenen aus «Wallenstein» auf. Schillers Pathos faszinierte mich; Goethe blieb mir fremd. Heute ist es umgekehrt: Goethe schätze und bewundere ich; über Schiller würde ich lachen, fände ich seinen Lebenslauf nicht so überaus tragisch.

Schafroth machte uns wohl eher aus Pflichtgefühl denn aus echter Begeisterung mit Goethe und Schiller bekannt; wichtiger waren ihm die neuere und neuste deutsche Literatur: Kafka, Trakl, Brecht, Schnurre, Eich, Aichinger. Als «Der Stellvertreter» von Rolf Hochhuth hohe Wellen warf, befassten wir uns auch damit. Es ging um den kirchlichen Antisemitismus und um die Frage der Schuld der katholischen Kirche. Mit dem Stellvertreter war Papst Pius XII. gemeint, der zum Holocaust geschwiegen hatte. Im Februar 1964 wurde das Stück am Stadttheater Bern aufgeführt. Schaftroth bereitete uns darauf vor und organisierte den Theaterbesuch für die ganze Klasse. Ich hatte vorher das Stück gelesen. Stärker als der blosse Text beeindruckte mich die Darstellung auf der Bühne. Auf der Rückreise nach Biel sass ich mit meinem Schulfreund Andrea im gleichen Zugsabteil. Er äusserte sich kritisch: «Zu viel Effekthascherei, stellenweise allzu grobschlächtig», befand er.

«Da magst du Recht haben», meinte ich, «und dennoch finde ich das Stück sehenswert.»

«Sicher regt es zum Nachdenken an. Man könnte es aber auch auf subtilere Weise tun.»

«Warum soll es auf subtile Weise geschehen, wenn es um so krasse Dinge geht?»

«Weil sonst viele Leute gar nicht hinschauen, von Vereinfachung reden und daran erinnern, dass in der Realität alles viel komplexer und differenzierter abläuft.»

«Ich finde das Stück sehr differenziert. Ich habe begriffen, dass dieses schreckliche Kapitel der Geschichte unsere ganze heutige Geisteshaltung erklärt. Das Geschehen war komplex, aber in den Grundzügen doch auch ganz einfach: Entscheiden wir uns für das Menschliche oder für das Unmenschliche?»

«Was ist menschlich, was unmenschlich? Oft ist es nicht so einfach, das herauszufinden.»

«Im Moment des Geschehens vielleicht nicht, aber in der Rückschau klärt sich die Sache. Deshalb muss der Stückeschreiber eine klare Sprache sprechen, denn vielleicht können wir für die Zukunft etwas daraus lernen.»

«Klare Sprache und plumpe Sprache sind nicht dasselbe. Hochhuth ist nicht nur plump, sondern auch pathetisch.»

Andrea war ein ausgezeichneter Cellist, spielte sein Instrument differenziert, klar und weder plump noch übermässig pathetisch. Woher kam seine Aversion gegen das Stück? «Es geht doch um etwas ungeheuer Wichtiges», sagte ich, «und Hochhuth ist es gelungen, dies dem Publikum deutlich vor Augen zu führen.»

«Ja schon», lenkte er ein. «Aber wenn der Arzt im Stück sagt, er verbrenne jeden Tag 9000 Menschen und Gott greife nicht ein, dann ist das fast ein wenig lächerlich. Wenn ein Mensch derart pervertiert ist, dass er so handeln kann, dann denkt er sicher nicht an Gott.»

«Der Arzt spottet über den Jesuitenpater Riccardo, der sich selbst opfert und damit im Geiste Jesu zu handeln glaubt. Der Auschwitz-Arzt, der Menschen als Versuchskaninchen missbraucht, und der Priester, der sich einem christlichen Ideal verpflichtet fühlt, stehen einander direkt gegenüber. Das ist doch eine grandiose Theaterszene, auch wenn es sie im wirklichen Leben so nicht gegeben haben dürfte.»

«Ja, das fand ich auch grossartig, aber das Gerede von Gott, der nicht eingreift, fand ich irgendwie deplatziert. Wer glaubt denn heute noch an einen Gott, der das Steuerruder fest in der Hand hält, wie es im Stück heisst?»

Der Dialog steht nicht so in meinem Tagebuch; das Thema, über das wir sprachen, ist nur kurz angedeutet. Ich habe eine Rekonstruktion versucht und möglicherweise das Original verfehlt. Sicher ist aber, dass wir über Gott nachdachten. Ob lenkend oder nicht, er war uns längst nicht mehr selbstverständlich. Umso wichtiger fand ich es, die Probleme ernst zu nehmen, die uns Hochhuth so eindringlich vorführte. Das abgrundtief Böse, das mit der Naziherrschaft in die Welt gekommen war, schien mir das Wichtigste in der ganzen Geschichte seit den Anfängen der Menschheit zu sein, etwas, das wir nie vergessen durften. Wenn der Zweck der gymnasialen Bildung war, uns zum Guten, Schönen und Wahren hinzuführen, dann mussten wir uns auch der Gefahr des Bösen, Hässlichen und Unwahren bewusst werden. Unsere Lehrerinnen und Lehrer vermittelten uns eine Haltung, wonach Demokratie gut und Rassenwahn schlecht war. So etwas wie die Diktatur Hitlers dürfe es nie mehr geben, meinten sie. Bevor ich Hochhuths Stück gesehen hatte, war ich überzeugt gewesen, so etwas könne es nie mehr geben, denn wir lebten in einer zivilisierten, geordneten Welt, in der das Leben jedes Menschen geachtet wurde und in dem man sich keinesfalls von einem brüllenden politischen Führer verhetzen liess. Hochhuths Stück führte mir vor Augen, wie schwierig es unter Umständen war, das Überhandnehmen des Bösen zu verhindern.

In der gleichen Zeit, in der wir uns mit Hochhuth befassten, bereiteten wir unter Schafroths Anleitung die Aufführung des Brecht-Stücks «Furcht und Elend des Dritten Reiches» vor. Darin geht es um die Veränderungen im deutschen Alltag seit der Machtergreifung der Nazis. Im Théâtre de Poche spielten wir grobe SA-Leute, ängstliche Richter, verwirrte Schulmänner, zynische SS-Offiziere, anpasserische Hausfrauen, irregeleitete Kinder. Nur eine Rolle kam im Stück nicht vor: die des heldenhaften Widerstandskämpfers. Ich übernahm die Rolle eines SA-Schlägers und eines SS-Offiziers und spürte, wie verführerisch die Hingabe an den Hass und die Ausübung rücksichtsloser Macht sein können.

Das Theater faszinierte mich. Es war eine Möglichkeit, die eigene Welt zu erweitern. Ich erinnere mich an das Gefühl, das mich ergriff, als ich im Théâtre de Poche erstmals auf der Bühne stand. Wir hatten die Brecht-Texte zuerst für uns allein auswendig gelernt und dann im Schulzimmer wechselweise gesprochen. Jetzt also Bühnenprobe. Während des Wartens auf unseren Regisseur waren wir nicht untätig. Schnellen Schrittes gingen wir auf der Bühne hin und her und rund herum, und dabei kam mir das geflügelte Wort von den «Brettern, die die Welt bedeuten» in den Sinn, ohne zu wissen, dass es aus Schillers Gedicht «An die Freunde» stammt. Dort heisst es: «Sehn wir doch das Grosse aller Zeiten / Auf den Brettern, die die Welt bedeuten, / Sinnvoll still an uns vorübergehn.» Schiller, der Historiker, Theaterautor und Schauspieltheoretiker erfasste mit seinen Versen die Sicht des Zuschauers im Theater oder des Beobachters der Weltgeschichte. Beim Herumgehen auf der Bühne empfand ich indessen etwas anderes, nämlich die Möglichkeit, selbst tätig zu werden, selbst etwas darzustellen, selbst die Welt zu gestalten. Das Theater packte mich. «Furcht und Elend des Dritten Reichs» war nur ein Anfang.

Am Premierenabend standen am Eingang zum Theaterkeller Mitglieder der Organisation der Kommunisten der Schweiz (OKS) und verteilten Flugblätter, auf denen sie dem Publikum nicht viel mehr mitteilten als die bekannte Tatsache, dass Brecht ein Kommunist gewesen sei. Ich empfand die Flugblattaktion als Versuch, unsere Aufführung den Zielen des Kommunismus nutzbar zu machen. «In unserer ‘jugendlichen Unschuld’ hatten wir bei unserer Aufführung nicht an Politik gedacht», notierte ich im Tagebuch. Unser Deutschlehrer und Regisseur verbot den jungen Kommunisten, bei der nächsten Aufführung ihre Flugblätter noch einmal zu verteilen. Sie kamen wieder. Schafroth forderte uns auf, sie zu packen und in den Brunnen gleich gegenüber dem Eingang zum Kellertheater zu werfen. Auf dem Brunnenstock aus dem 16. Jahrhundert war sinnigerweise ein sitzender Engel zu sehen, der ein unschuldiges Lämmchen in den Armen hält und vor dem Zugriff des dahinterstehenden roten Teufels schützt. Die meisten von uns ignorierten Schafroths Aufforderung, aber ein paar besonders eifrige Mitschüler jagten in langen Sprüngen die Kellertreppe empor, ergriffen einen der Flugblattverteiler und warfen ihn in den Brunnentrog. Das fand ich etwas kindisch und nicht sehr überlegt, aber auch nicht allzu schlimm. Schafroth bekam in den folgenden Tagen mehrere Telegramme, Briefe und Telefonanrufe von empörten Linken. Konrad Aeschbacher schrieb ihm: «Gratuliere zum sichtlichen Erfolg deiner Brecht-Interpretation. Im Nazi-Deutschland begann der Gesinnungsterror auch mit Keilereien. Sieg Heil!» Das war stark, und als ich es vernahm, wurde mir ein wenig unbehaglich. Jean-Pierre Wolf, der schon vorher empört gewesen war über die Brunnen-Aktion, stellte sich vor der nächsten Aufführung auf eine Bank in der Garderobe und hielt eine Ansprache: Wir sollten alle zugeben, dass wir aus einem emotionalen Antikommunismus heraus gehandelt hätten. Die Leute hätten das Recht gehabt, Flugblätter zu verteilen. Man dürfe ihnen diese Freiheit nicht nehmen. Ich rief ihm zu, ob er denn meine, dass diejenigen, deren erklärtes Ziel es sei, die bestehende Ordnung zu zerstören, den Schutz dieser Ordnung für sich in Anspruch nehmen könnten. Er ignorierte den Einwand. Da griffen ihn Jürg Spiess und Max Benguerel mit heftigen Worten an. Er sei ein Demagoge und versuche, den Widerstand gegen den Kommunismus zu untergraben. Er gab zurück: Sie seien Rechtsextremisten. «Es gibt Regeln, die man einhalten muss, und die Kommunisten halten sich nicht daran», sagte Jürg. «Nein, nein», rief Hans Renfer, «die bestehende Ordnung kann ich auch nicht einfach so akzeptieren. Ich muss festhalten, dass es mit unserer Verwaltung schlecht bestellt ist. Allzu vieles ist faul in unserem Staat; eine Änderung von Grund auf tut not.» Einige stimmten zu, andere verwahrten sich gegen solche Ansichten. Es wurde immer lauter in der Garderobe, die Argumente verwirrten sich und etwas Unheimliches brach sich Bahn, eine triebhafte Lust, auf dem Gewohnten, dem Ordentlichen und dem Schicklichen herumzutrampeln, sich zu gebärden, als stünde eine Revolution unmittelbar bevor. Ich erschrak und mochte mich weder auf die eine noch auf die andere Seite schlagen.

Der dickliche junge Flugblattverteiler war mir, als ihn meine Schulkameraden gepackt und in den Brunnen geworfen hatten, hilflos und ängstlich vorgekommen. Er hatte mir leidgetan, denn er hatte etwas Gutes tun wollen, und wurde von uns als Feind behandelt. Andererseits fand ich, der Kommunismus sei eine üble Sache, auf die man sich keinesfalls einlassen dürfe. Doch worauf stützte sich diese Auffassung? Noch hatte ich mich nie ernsthaft mit den Grundlagen des Kommunismus auseinandergesetzt. Im Wesentlichen glaubte ich, was ich in den bürgerlichen Zeitungen las, im Radio hörte, von unseren Lehrern vernahm. Unreif war ich und keineswegs reif oder maturus, obwohl ich in Kürze das Gymnasium mit der Maturitätsprüfung abschliessen sollte.

1 Romantik und Realismus

Der Schulabgang, stellte ich mir vor, würde die grosse Befreiung sein. In den Sommerferien schrieb ich das Drehbuch zu einem Film, mit dem Titel «Le club du savoir vivre». Darin ging es um die durch Liebesdinge entfesselten Gefühle und Gedanken, die nach Verwirklichung drängten. In Beatrix hatte ich mich verliebt. Als sie mich in Magglingen besuchte, waren wir nahe daran, miteinander zu schlafen. Wir taten es nicht. Ob sie es wollte, wie gross ihre Hemmungen waren, weiss ich nicht. Ich weiss aber, dass ich plötzlich unsicher wurde, ob ich sie wirklich liebe, denn die Liebe zu einer Frau hielt ich für etwas sehr Grosses, Wichtiges, Absolutes, es musste alles stimmen, um sich ganz der Liebe hingeben zu können.

Ich las Romane von Hermann Hesse, den «Heinrich von Ofterdingen» von Novalis, den Grünen Heinrich von Gottfried Keller und die von Aniela Jaffé herausgegebene Autobiografie «Erinnerungen, Träume, Gedanken» von C. G. Jung. In jedem Menschen steckt zutiefst innen seine eigentliche Persönlichkeit, glaubte ich; sie ist versteckt und muss sich herausbilden, und zwar vorzugsweise im Zusammenspiel mit einer geliebten Frau. Da ich unsicher war, wie mein eigentliches Ich beschaffen sei, wusste ich auch nicht, welche Frau wirklich zu mir passte. Beatrix war meine erste ernsthafte Jugendliebe. Daran erinnere ich mich, aber Genaueres über meine Beziehung weiss ich nicht mehr. Da finde ich Briefe von ihr. Es sei schön, mir gehören zu dürfen, schreibt sie. Ich schreibe ins Tagebuch: «Wenn wir heiraten, dann ist es gut, wenn du mir gehören willst. Es ist ideal, wenn du dich mir unterordnest und dich meinem Einfluss aussetzt, auch wenn es falsch ist. Dann dürfen und müssen wir so ganz zusammengehören.» – Es ist mir peinlich, wenn ich das heute lese. Aber es war wohl so, und deshalb ist es wahr. Ich war noch sehr jung, 17-jährig, befangen in der Vorstellung, dass Mann und Frau eins werden wollen, wobei der Mann der Bestimmende ist, und dass dies durch eine Heirat besiegelt werden muss.

Es war ein schneearmer und sonnenreicher Winter. Einmal lag ich auf einer Bergwiese und träumte von mir selbst. Als ich den Traum aufschrieb, schilderte ich das beinahe mystische Ereignis in der distanzierenden Er-Form: «Er hatte die Augen immer noch geschlossen. Er spürte, wie ihn die Sonne warm beschien, und er wusste, dass die Schneeberge ringsherum weiss unter einem strahlend blauen Himmel lagen. Trotzdem sollte sein Traum Wirklichkeit sein. Er hatte es sich vorgestellt, wie sie oben am Hügel auftauchen, erstaunt stillstehen und dann zu ihm herunterkommen würde, nicht sehr schnell, aber auch nicht zu langsam. Im Moment, da sie sich neben ihm auf das gelbe, harte Gras setzte, hörte er es rascheln, und ohne die Augen zu öffnen, wusste er, dass sie es war. Er wusste genau, dass er sich richtig verhalten würde. Das erfüllte ihn mit einem Glücksgefühl. Er erlebte das vollkommene Glück als Wirklichkeit. Nun begann sie zu singen, jauchzend, und er fiel ein, und es ergab sich ein wunderbares Zusammenklingen. Die beiden Stimmen spielten durcheinander, miteinander und gegeneinander. Sie sangen immer schneller, bis es in ein grosses Rauschen überging. Unvermittelt brachen sie ab, genau miteinander, und er musste an sich halten, um nicht zu weinen. Er öffnete die Augen und sah, was er schon gewusst hatte: dass sie lächelte. Er setzte sich auf und sprach mit ihr. Sie vermochte ihm vollends zu zeigen, dass alles, was er sah, dachte, träumte, eine Einheit war. Er wusste, dass er jetzt für immer im vollkommenen Glück leben konnte. – Er wehrte sich noch eine Zeitlang aufzuwachen und stand dann seufzend auf.»

In mir war eine neue, überspannte Vorstellung erwacht. Ich sehnte mich nach der Geliebten, mit der ich in vollkommener Harmonie zusammen sein könnte. Sie gehört mir und ich gehöre ihr; keines muss sich dem anderen unterordnen, weil beide das Gleiche wollen. Voraussetzung ist, dass sie ihre innere Wahrheit gefunden haben und darin übereinstimmen. Wo zwei Wesen zusammenfinden, die beide die gleiche Wahrheit besitzen, stellt sich das Glück ein. Das war mein Traum. Novalis’ blaue Blume spielte unversehens mit hinein. Als Kind war mir die Geschichte des Heinrich von Ofterdingen erzählt worden, und ich rätselte immer wieder, was denn die blaue Blum bedeute, wo sie zu finden sei. Als ich nun den Roman selbst las, berührte mich das Sonett, das der Geschichte vorangestellt ist:

Du hast in mir den edeln Trieb erregt

Tief ins Gemüt der weiten Welt zu schauen;

Mit deiner Hand ergriff mich ein Vertrauen,

Das sicher mich durch alle Stürme trägt.

Mit Ahndungen hast du das Kind gepflegt,

Und zogst mit ihm durch fabelhafte Auen;

Hast, als Urbild zartgesinnter Frauen,

Des Jünglings Herz zum höchsten Schwung bewegt.

Was fesselt mich an irdische Beschwerden?

Ist nicht mein Herz und Leben ewig Dein?

Und schirmt mich Deine Liebe nicht auf Erden?

Ich darf für Dich der edlen Kunst mich weihn;

Denn du, Geliebte, willst die Muse werden,

Und stiller Schutzgeist meiner Dichtung sein.

Die schwärmerische Sprache drang in mich ein und bestimmte meine Vorstellung der Liebe zwischen Mann und Frau. Liebe ist Entrücktheit, Verschmelzung, Aufgehoben-Sein im Ganzen. So empfand ich es, wenn ich mich in einer Art Dämmerzustand befand. Im Wachzustand war ich voller Skepsis. Ich zweifelte daran, dass sich Mann und Frau so begegnen können, dass sie sich gegenseitig in ihrem Innersten erkennen. In Wirklichkeit war es doch so, dass sie sich falsche Vorstellungen von ihrem Gegenüber machen, dass sie sich in ein Phantasiegebilde verlieben. Irgendwann folgt unfehlbar die Ernüchterung. Was ich von meinen Eltern zu sehen bekam, entsprach jedenfalls nicht meinen romantischen Vorstellungen. Papa war nervös und überarbeitet. Mama versuchte sich abzugrenzen, weil sie es sonst nicht aushielt mit ihm. Er spürte die Distanz und provozierte sie, um Nähe zu erzwingen. Einmal sagte sie: «Sei doch nicht so ein Ekel!» Das verletzte ihn tief. Er verbarg die Wunde. Plötzlich aber brach es aus ihm heraus. Er schrie, weinte, und polterte mit den Fäusten auf den Tisch. Den verstörenden Vorgang schilderte ich im Tagebuch und suchte nach einer Erklärung. Papa habe eine überhöhte Meinung von sich, glaubte ich, und wenn er kritisiert werde, sei es ihm unerträglich. Er könne sich nicht selbst anschauen, habe keine Distanz zu sich selbst. «Ich glaube, wenn ich einen anderen Weg einschlage als Papa, wenn ich versuche, den Überblick nicht zu verlieren, ist es, weil ich nicht werden will wie er. Ich möchte nicht, dass ich es nicht ertragen kann, meine Fehler zu sehen. Doch die Gefahr, zu werden wie er, besteht durchaus. Als Kind weinte ich oft, weil ich mich zu wichtig nahm und glaubte, nur leben zu können, wenn ich als lieb und gut betrachtet würde.»

Innerlich stark, kritisch gegenüber mir und den anderen, gewappnet für den Kampf ums Dasein wollte ich werden. Wo sollte da die Liebe zwischen Mann und Frau noch Platz haben? Ich bin der deine und du die meine, oder umgekehrt, hatten wir in unseren pubertären Liebesbriefen geschrieben. Das war falsch. Ein Mann und eine Frau können auf Dauer nur zusammenleben, wenn beide eigenständig bleiben, ihre innere Wahrheit hüten und pflegen, sich in der Zuneigung zum anderen nicht selbst verlieren. Da war ich mir sicher. Und doch blieb die romantische Vorstellung einer allumfassenden Liebe, in der alles verschmilzt und zur harmonischen Einheit wird. Es war eine Sehnsucht, die nicht gestillt werden konnte.

Beatrix, «meine erste Erfahrung», wie ich sie später kennzeichnete, ging mit dem American Field Service für ein Jahr in die USA. Wir tauschten Briefe aus. Als sie zurückkam, war meine Liebe zu ihr erloschen. Ich hatte ein Auge auf Christine geworfen, die ein Jahr älter war als ich. Als ich ihr zufällig an der Eingangstüre zur Musikschule begegnete, zuckte ich innerlich zusammen, grüsste nur wie nebenbei und blickte ihr dabei tief in die Augen. Da sah ich oder glaubte zu sehen, wie sich ihre Pupillen weiteten und wieder verengten. Nun war ich vollends in sie verliebt und fest überzeugt, sie hege das gleiche Gefühl für mich. Wir trafen uns hie und da, gingen zusammen ins Kino. Einmal besuchte ich sie, als sie zuhause bei ihren Eltern krank im Bett lag. Mit ihrem Vater sprach ich so, als wäre er mein künftiger Schwiegervater. Christine blieb zurückhaltend.

1  Von der Wahrheit

Im September 1965 ging meine Schulzeit zu Ende. Mit einer Ausnahme bestanden alle Absolventinnen und Absolventen des deutschsprachigen Gymnasiums die Maturitätsprüfung. Es folgte ein feierlicher Akt im grossen Saal des Farelhauses. Rektor Hans Utz händigte uns in alphabetischer Reihenfolge die Zeugnisse aus. Lobend erwähnte er Lilly Spring, die in allen Fächern Bestnoten erzielt hatte. Mein Zeugnis war gut, aber nicht sehr gut. Jedenfalls eröffnete es mir die Möglichkeit, jede beliebige Studienrichtung einzuschlagen. Der Rektor verlas eine Liste mit den Angaben, die wir zu unseren Studien- und Berufsabsichten hatten machen müssen. Ich hatte angegeben, ich wolle Astronomie studieren. Das war ein wenig aus der Luft gegriffen, aber es klang interessant.

Es war Tradition, dass an den Maturitätsfeiern eine bekannte Persönlichkeit eine Rede hielt. Unser Festredner war Arnold Kübler, der Gründer und Redaktor der Kulturzeitschrift «DU», bekannt auch als Verfasser der «Öppi»-Romane. Er war klein und hatte ein seltsam entstelltes Gesicht, und doch vermochte er uns vom ersten Moment an für sich einzunehmen. In jungen Jahren war er Schauspieler gewesen, hatte auf die Theaterschminke allergisch reagiert, worauf ihm ein Arzt die Furunkel mit dem Skalpell aufgeschnitten und die Wunden danach ungenügend versorgt hatte. Die Narben zogen die Haut zusammen und liessen tiefe Gräben entstehen, die sich, während er redete, lustig in die Länge und in die Breite verzogen. Ich lauschte seinen Worten und war mit allem, was er sagte, vollkommen einverstanden. Wir sollten uns nicht fragen, meinte er, welches Studium uns später ein hohes Einkommen ermögliche; vielmehr sollten wir herausfinden, auf welchem Weg wir zu dem gelangen konnten, was uns wirklich am Herzen liege, denn nur so könnten wir unser Glück finden.

Die Astronomie war also ein Luftgespinst, und im Grunde genommen wusste ich, dass ich Phil. I studieren wollte, vorzugsweise Deutsch und Geschichte, denn im Studium der Sprache und der Literatur und in der Aneignung der Vergangenheit hoffte ich der Wahrheit und dem guten Leben auf die Spur zu kommen. Ich wollte aber nicht den Eindruck erwecken, dass ich mich bloss aus Trotz gegen Papa, der ein derartiges Studium als eine Form von Hochstapelei ansah, so entschied. Deshalb zögerte ich meinen Entscheid hinaus, tat so, als ob ich nicht wüsste, was ich wollte. Mama schickte mich zu einem Berufsberater. Der befragte mich eingehend und empfahl mir das Jus-Studium, was nicht ganz abwegig war, denn mein Grossvater mütterlicherseits war Notar gewesen. Ich diskutierte darüber mit Christoph, dem ältesten Sohn von Mamas Freundin Marianne Steinlin, der ein begeisterter Jus-Student war. Alles spreche für diese Studienrichtung, sagte er, denn das Zusammenleben in einer Gesellschaft setze voraus, dass es Regeln gebe, an die sich alle halten müssten, was aber nur möglich sei, wenn diese Regeln im Konfliktfall von Fachleuten, den Juristen, interpretiert und nach Bedarf weiterentwickelt würden. Dagegen setzte ich die Meinung, wir Menschen brauchten weniger Vorschriften und mehr Freiheit, denn nur so könne sich unsere Kreativität, unser Drang nach Wahrheit und unser Wille, Gutes zu tun, voll entwickeln.

Mein Wunsch stand fest, und Mama wusste es. Aber würde Papa einwilligen? Würde er mir ein Studium bezahlen, das er missbilligte? In den Wochen bis zum Semesterbeginn an der Uni Bern vermied ich die Auseinandersetzung mit ihm. Wahrscheinlich hatte es ihm Mama verraten, aber er sagte nichts. Ich lenkte mich ab mit Spielereien. Immer noch lockte es mich, einen Film zu machen. Ich fragte Jürg Spiess, der eine Super-8-Kamera besass, ob er mithelfen würde. Er sagte zu. Es war ein Non-sense-Film mit dem Titel «Il protagonista». Peter Meyer spielte die Hauptrolle, Jean-Pierre Wolf sorgte für die Slap-stick-Einlagen, Jürg bediente die Kamera, ich führte Regie. Eigentlich tat ich nur so als ob; der Film bestand weitgehend aus Improvisationen. Peter Meyer besorgte den Schnitt und war sehr stolz auf das Ergebnis, das wir an einer Kunstvernissage in der Galerie von Silvia Steiner vorführten. Weil das Filmmaterial alt und verdorben war, hatten die Bilder einen Grünstich. Wir behaupteten, wir hätten mit chemischen Substanzen gearbeitet, um einen Verfremdungseffekt zu erzielen. Im «Bieler Tagblatt» erhielten wir eine wohlwollende Kritik, in der das Experiment mit der grünlichen Verfärbung speziell lobend erwähnt wurde. Als Peter später unter dem Namen E. Y. Meyer als Schriftsteller bekannt wurde, besass er den Film immer noch und zeigte ihn während einer seiner Lesungen im «Zähringer» in Bern.

Wie gesagt, der Film war eine Spielerei, eine Ablenkung. Doch mir schien, ich sollte, bevor ich mein Universitätsstudium begann, mehr Klarheit darüber gewinnen, was meinen «Drang nach Wahrheit» ausmachte. Eigentlich hatte ich doch die klassischen Bildungsideale längst über Bord geworfen; das Gute, das Wahre und das Schöne waren mir verdächtig. Ich glaubte nur noch an das Nützliche. Und doch steckte der Idealismus tief in mir, und dem wollte ich auf die Spur kommen. Ich las Platons «Apologie», die grosse Verteidigungsrede des Sokrates vor dem athenischen Volksgericht. Er war angeklagt, ein Verderber der Jugend zu sein und die vom Staat angenommenen Götter abzulehnen. Dies entspreche nicht der Wahrheit, sagte Sokrates zu seinen Richtern, und er wolle der Unwahrheit der Anklage die schlichte Wahrheit entgegensetzen. Er sei kein Weiser, sondern ein Fragender, und er wisse wohl, dass er die Menschen, die er untersuche und bei denen er sehr wenig Wissen gefunden habe, verärgert und sich dadurch viele Feinde gemacht habe. Aber es sei nun mal seine Aufgabe, nach der Wahrheit zu suchen, und es sei eine wichtige Aufgabe. Dass er damit die Jugend verderbe, sei eine blosse Behauptung. Auch dazu wolle er die Wahrheit herausfinden. Das nun folgende Frage- und Antwortspiel zwischen Sokrates und seinem Ankläger Melitos gibt Platon so wieder: Wer ist es denn, der die Jugend besser macht, statt sie zu verderben, fragt Sokrates. Die Richter sind es, sagt Melitos. Alle oder nur einige, will Sokrates wissen. Alle, sagt Melitos, und ausserdem auch die Männer des Rates und letztlich alle Athener. Alle Athener also machen sie gut und edel, nur er, Sokrates verdirbt sie? Melitos bestätigt es. Sokrates konstatiert: Bestens steht es um die Jugend, wenn einer allein sie verdirbt, die andern alle aber sie zum Guten fördern. Er will nun wissen, in welcher Art er die Jugend verdirbt. Statt Melitos antworten zu lassen, gibt er selbst die Antwort: Offenbar indem ich lehre, nicht an die Götter zu glauben, sondern an allerlei Neues, Daimonisches. Ja, sagt Melitos, du glaubst nicht an die Götter. Sokrates widerspricht: Der Daimon selbst ist göttlich oder stammt zumindest von Göttern ab. Also kann ich nicht ganz gottlos sein.

Der Dialog, wie ihn Platon aufgeschrieben hat, kam mir konstruiert vor. Überzeugend daran schien mir nur, dass Sokrates sagt, er sei nicht im Besitz der Wahrheit, er suche aber danach, und das allein sei wertvoll. Doch ist es echte Wahrheitssuche, wenn Sokrates immerfort Suggestivfragen stellt und die Antworten bekommt, die er will, die seiner Argumentation dienen? Hätten nicht seine Gegner vielleicht genauso gute Argumente? Man kann alles immer von unterschiedlichen Seiten her betrachten, dachte ich, und deshalb gibt es unterschiedliche Wahrheiten.

Noch problematischer als sein Wahrheitsbegriff kam mir Sokrates’ Daimon vor. Er schildert ihn als etwas Göttliches, das uns mahnt, bei der Wahrheit zu bleiben. Bei welcher Wahrheit? Sokrates’ Daimon war für mich nichts anderes als das, was wir das Gewissen nennen, und das Gewissen bildet sich durch Erziehung und gesellschaftliche Zwänge. Nur daran glaubte ich, nicht aber an eine göttliche Stimme, die uns leitet. Seit meinem 16. Lebensjahr wollte ich ein Naturalist sein, das heisst, ich sah meine Erkenntnismöglichkeit auf Natur und Gesellschaft beschränkt, glaubte an nichts Übernatürliches, verzichtete auf Gott. Was ich im Biologie-Unterricht über den Darwinismus gehört hatte, genügte mir: Es geht ums Leben und Überleben, um den Kampf ums Dasein. Wer sich den Verhältnissen anpasst, überlebt, wer dazu nicht imstande ist, geht unter. So war ich nicht nur Naturalist, sondern auch Sozialdarwinist. Die Erkenntnisse der Verhaltensforscher Bernhard Grzimek und Konrad Lorentz übertrug ich von den Tieren auf die Menschen. Diese verstand ich besser, wenn ich das Verhalten jener verstand. Damit war ich weit entfernt von Sokrates und von der Ideenlehre Platons.

Allerdings war mein Denken wenig gefestigt. Auch später noch, als ich im Marxismus Halt zu finden glaubte, schwankte ich hin und her zwischen dem Glauben an die Wirkung von etwas Transzendentem auf uns Menschen und dem puren Naturalismus, zwischen Idealismus und Materialismus. Und damals, als ich die Apologie des Sokrates las, war ich trotz aller Skepsis versucht, auch eine andere Lesart zuzulassen. Die Künstlichkeit des Dialogs verstand ich dann nicht als Fehler des Sokrates, sondern sah dahinter den eigentlichen Autor, nämlich Platon, der etwas demonstrieren will. Und auch der Daimon kam mir nicht ganz so abwegig vor, wenn ich ihn als göttliche Mahnung verstand, nicht von der Wahrheit abzuweichen. Denn das Wahre und das Gute gehören zusammen. Beides lässt sich nicht vom Nützlichen ableiten oder als Leitlinie für nützliches Verhalten zurechtbiegen; sie sind absolut. Dem Wahren und Guten ist das Schöne beigesellt, dem sich, wie Schiller in der Nänie» sagt, Menschen und Götter unterwerfen sollten.

1 Die lieben Bücher

Kurz vor dem Beginn meines ersten Studiensemesters standen mir zwei unterschiedliche Existenzweisen deutlich vor Augen: «Wie die Ameise getrieben vom Naturgesetz ein Leben lang emsig arbeitet, kann auch der Mensch ins Leben eintauchen, entweder ohne zu wissen, dass er gar nicht frei ist, oder in einsichtiger Unterwerfung unter das Naturgesetz. Die andere Möglichkeit ist, dass er nicht eintaucht, sondern darüber schwebt und Erkenntnisse gewinnt.» Mich lockte die zweite Möglichkeit. Warum? Weil ich mich daran erinnerte, dass ich, als ich etwa 16 Jahre alt war, das Gefühl hatte, endlich zu erwachen. Mir schien, ich erkenne nun meine Umwelt, es werde mir bewusst, was menschliches Leben ist, wie der Mensch in der Welt steht, durch welche Kräfte die Gesellschaft zusammengehalten wird. Mir schien, alles hänge mit allem zusammen, und diese Einsicht machte mich glücklich. In der Schule aber erlebte ich das Gegenteil: Alles wurde zerteilt, jedes Fach stand für sich, das Dazwischenliegende blieb dunkel. Als Gymnasiast musste ich mich behaupten, die Lehrer und Lehrerinnen benoteten unsere Leistung, und die Noten gaben an, ob ich besser oder schlechter als die anderen war. Das Glücksgefühl, das aus der Erkenntnis der Zusammenhänge und aus dem Erleben des Gemeinsamen erwächst, wurde durch den öden Schulalltag verdrängt. Jetzt, da die Schulzeit zu Ende war, wollte ich es zurückholen.

Ich beschloss, keine Karriere im Sinn von materiellem Gewinn anzustreben, sondern mich auf den Weg zunehmender Erkenntnis zu begeben. Allerdings musste ich selbstkritisch feststellen, dass meine Möglichkeiten begrenzt waren, denn oft war ich zu faul, eine Sache zu Ende zu denken, oder auch einfach unfähig dazu. So tröstete ich mich damit, dass man sowieso nie endgültige Antworten finden könne. «Je weiter man sieht, desto komplizierter wird alles. Man sollte sich trotzdem immer anstrengen», notierte ich und versuchte mich so für ein intensives Studium zu motivieren. Denn ich wollte nicht wie Goethes Faust am Ende sagen müssen: «Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor!» Nein, ich gedachte, klüger zu werden, und meinte, wenn ich nur wolle, würde mir das auch gelingen. So wurde ich ein Büchernarr. Das Bücherlesen ist aber eine einsame Angelegenheit, und die andere Komponente des Glücks, die Gemeinsamkeit, litt darunter.

Das ganze Wissen war in den Büchern, glaubte ich, und diese waren dank der Erfindung des Taschenbuchs wohlfeil zu haben. Zeitweise arbeitete ich in der Taschenbuchhandlung Lüthi. Die Filialleiterin, Fräulein Mohr, hatte eine Aushilfe gesucht; Peter Meyer hatte sich gemeldet und den Job bekommen. Als er einen besseren fand, schlug er mich als seinen Nachfolger vor. Die Buchhandlung war mir von meinen häufigen Besuchen her vertraut. Immer wieder hatte es mich hingezogen zu den rororo-, dtv- und Fischer-Taschenbüchern, den Reclam-Bändchen, den englischen Penguin Books, den französischen Que sais-je? und den Livres de Poche. In einem nicht besonders grossen Raum im Erdgeschoss eines modernen Gebäudes waren sie untergebracht, ringsum von grossen Glasscheiben umgeben, so dass der Raum hell und aufklärend wirkte. Auf niedrigen Gestellen standen gut greifbar die Objekte meiner Begierde. Jetzt durfte ich also als Verkäufer statt als Kunde mit ihnen umgehen. Als ich eintrat, um mich dem blonden Fräulein Mohr als Nachfolger von Peter zu präsentieren, war sie gerade dabei, die bunten Bändchen der edition suhrkamp zu tätscheln, wie sie sagte, damit sie wieder in eine gerade Reihe zu stehen kamen. Wo zwischen ihnen eine Lücke klaffte, holte sie aus der Schublade unterhalb des Büchergestells Ersatzbändchen hervor und ordnete sie an der richtigen Stelle ein. Die Umschläge waren so nummeriert und gefärbt, dass sie, wenn die einzelnen Bändchen vollständig und fortlaufend eingeordnet waren, die Farbabfolge des Regenbogens ergaben. Das sah hübsch aus, und darauf legte Fräulein Mohr grossen Wert. Auf weitere Instruktionen verzichtete sie, bat mich einfach, allfällige Kunden zu bedienen, derweil sie kurz ins Lager im ersten Stock hinaufgehe. Ein erster Kunde trat ein. Es war ein Gymnasiast, der nach den Gedichten von Walther von der Vogelweide fragte. Ich hatte keine Mühe, das Büchlein aus der Reihe «Exempla classica» im Fischer Verlag zu finden. Der Schüler bezahlte mit einer Zehnernote. Der Preis von 4 Franken 35 Rappen war auf der Innenseite des Buchdeckels mit Bleistift angeschrieben, und diesen Betrag tippte ich in die Kasse ein, aber die Schublade mit dem Wechselgeld öffnete sich nicht. Fräulein Mohr hörte meine Hilferufe nicht, so dass ich 5 Franken und 65 Rappen aus meinem eigenen Portemonnaie hervorklauben und dem Kunden aushändigen musste. Als Fräulein Mohr endlich wieder ins Verkaufslokal trat und ich ihr das Problem schilderte, entschuldigte sie sich für das Versäumnis und erklärte mir die genaue Funktionsweise der Kasse. Zudem wies sie mich an, jedes verkaufte Buch in eine Verkaufsliste einzutragen, damit sie es nachbestellen könne. Das alles war nicht schwierig, und die Zahl der Kundinnen und Kunden hielt sich in Grenzen, so dass ich genug Zeit hatte, zwischendurch irgendein Büchlein aus einem Gestell zu ziehen und darin zu lesen. Wenn ich es wieder einordnete, tätschelte ich die Buchrücken, bis alle wieder genau auf der gleichen Linie standen.

Eines Tages trat Beatrix in die Buchhandlung. Überschwänglich begrüsste sie mich. Sie habe gehört, dass ich hier arbeite. Was sie denn für ein Buch haben möchte, fragte ich. Sie sei nicht wegen der Bücher gekommen, sondern wegen mir, sagte sie. Jetzt wurde mir ein wenig unbehaglich. Ich hatte gemeint, sie habe begriffen, dass es zwischen uns zu Ende sei. Doch offensichtlich wollte sie mehr als eine unverbindliche Konversation. Ich blieb distanziert, begann von dem Buch zu reden, in dem ich gerade gelesen hatte. Sie fragte, wie es mir gehe, was ich am Wochenende vorhabe. Darauf ging ich nicht ein, war froh, als ein Kunde eintrat, den ich sofort nach seinen Wünschen befragte. Beatrix liess ich stehen. Sie versuchte noch einmal, ein Gespräch anzuknüpfen, und als ich darauf nicht einging, verliess sie mit kurzen schnellen Schritten den Laden. Ich schaute ihr nach, hatte Bedauern mit ihr und auch ein wenig ein schlechtes Gewissen. Aber was sollte ich tun? Ich liebte Christine und nicht sie, und ich wusste, dass sie sich mit Peter Meyer eingelassen hatte, wobei ich nicht ausschloss, dass sie weniger an Peter interessiert war als er an ihr. Bald vergass ich die Episode wieder. Ich sollte Beatrix nie wiedersehen.

Ein Gewinn meiner Tätigkeit in der Buchhandlung bestand darin, dass ich nicht nur ein wenig Geld verdiente und Zeit hatte zum Lesen, sondern auch das Recht hatte, Bücher zu einem reduzierten Preis zu kaufen. Das nutzte ich aus, nahm viel mehr Bücher mit, als ich zu lesen imstande war, ging dabei sehr unsystematisch vor, griff nach einem klassischen literarischen Text, dann wieder nach etwas Modernem, manchmal versuchte ich mich an soziologischen, geschichtstheoretischen oder philosophischen Texten. Längst nicht alle las ich bis zum Ende; was mich langweilte oder was ich nicht verstand, legte ich beiseite. Auch was zuhause bei meinen Eltern herumlag, las ich zu einem guten Teil, theologische Literatur und Belletristik, die meiner Mutter gehörten, oder ökonomische und soziologische Abhandlungen, die mein Vater bestellt hatte, obwohl er kaum je die Zeit fand, sie zu lesen. Inzwischen hatte ich mich mit Papa geeinigt; er akzeptierte meine Studienwahl, und als das Semester begann, händigte er mir den Betrag für die Einschreibegebühr und ein Taschengeld aus.

Jeden Tag fuhr ich mit dem Zug von Biel nach Bern an die Uni. Im Zug traf ich andere Studierende. Jean-Pierre Wolf hatte sich an der Sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät eingeschrieben. Ich hatte gerade die «Dynamische Gesellschaft» von Richard Fritz Behrendt gelesen, und im Zug diskutierte ich mit Jean-Pierre darüber. Er äusserte sich ziemlich abwertend über Behrendt, der ein bürgerlicher Soziologe sei und davon ausgehe, dass es Klassengegensätze nicht mehr gebe oder dass sie jedenfalls keine wesentliche Rolle spielten. Linke, gesellschaftskritische Ansätze seien viel interessanter. «Ich bin froh», sagte er, «dass Behrendt von der Uni Bern weg ist und wir jetzt Urs Jaeggi haben.»

«Du kannst doch nicht einfach Teile der heutigen Soziologie von vornherein abschreiben und dich nur auf linke Soziologen einlassen», erwiderte ich.

«Warum nicht? Alles können wir sowieso nicht wissen. Wir müssen uns entscheiden, was uns wichtig ist. Ich bin parteilich, ich gehöre zur Linken.»

«Das finde ich ein wenig borniert. Als Studenten müssen wir doch offen sein, uns mit möglichst vielen Theorien auseinandersetzen.»

«Sicher, aber irgendwo müssen wir auch eine eigene Haltung haben. Es gibt keine allgemeingültige Wahrheit, aber aus meiner Perspektive, von dem her, was ich voraussetze, kann ich entscheiden, was ich gut und was ich schlecht finde. Und dass von bürgerlicher Seite aus immer wieder Lügen in die Welt gesetzt werden, die dazu dienen, gesellschaftliche Ungerechtigkeit zu kaschieren oder zu rechtfertigen, scheint mir offensichtlich.»

Darauf wusste ich nichts zu erwidern. Was Jean-Pierre sagte, imponierte mir einerseits, andererseits verursachte es mir Unbehagen. Ich versicherte mich meiner Meinung, indem ich ins Tagebuch schrieb: «Man sollte sich die Fähigkeit, zu fragen und sich nicht festzulegen, immer bewahren. Nur so kann man vermeiden, in eine Einbahnstrasse zu geraten. Armand Gatti sieht das Leben so: zuerst mehrspurig, dann durch gesellschaftliche Konventionen immer mehr verstümmelt, bis es eine Einbahnstrasse ist. Das mehrspurige Leben ist vielleicht mühsamer. Doch der Verzicht auf die Leitplanken, die Offenheit gegenüber allem, bringt einen grossen Reichtum in mein Leben. So lebt der Künstler. Das künstlerische Schaffen hilft ihm, dieses Leben zu bewältigen.»

War es mein heimlicher Wunsch, Künstler zu werden, so wie der französische Schriftsteller, Theater- und Filmregisseur Armand Gatti? Nein. Ich fand lediglich, die Künstler seien die interessanteren Menschen; mit ihnen wollte ich mich auseinandersetzen, ohne mich mit ihnen zu identifizieren. Nachdem ich Pasolinis Film «Il Vangelo secondo Matteo» gesehen hatte, dachte ich darüber nach, welche Absichten er als Regisseur hatte. Gleichzeitig fasziniert und abgestossen davon, wie er Christentum und Kommunismus miteinander verquickte, fühlte ich mich zur Frage angeregt, was eigentlich die Botschaft der Evangelien sei. «Pasolini zeigt liebevoll einzelne Menschen», notierte ich, «doch die Liebe zum Menschen muss zurückstehen hinter einem Fanatismus, der durch eine Revolution absolute Ansprüche befriedigen will. Jesus sagt: ‘Ich bringe das Schwert und nicht den Frieden.’ Er ruft zur Revolution auf. Als er stirbt, stürzen Mauern ein. So hat der Kommunist Pasolini das Evangelium verfilmt. Hat er damit die Botschaft des Rabbi Jesus anschaulich gemacht oder doch eher seine kommunistischen Ideen? Oder ging es ihm darum, die Bibel zu entlarven, die eben nicht nur eine Botschaft der Liebe ist? Gehört das Christentum in die Kategorie eines gewalttätigen Fanatismus, wie es der Kommunismus in der Zeit der Russischen Revolution war? Oder hat Pasolini die Bibel falsch verstanden? Oder wird sie von der heutigen Kirche falsch ausgelegt? Durch den Film habe ich zum ersten Mal vernommen, dass Jesus das Volk in demagogischer Art auf die Pharisäer hetzte. Diese Seite von Jesus wird von der Kirche verschwiegen, denn jetzt ist sie es, welche die bestehende Ordnung aufrechterhalten will.» – Solche Notizen verfasste ich zuhauf, und unmittelbar danach hatte ich jeweils das beglückende Gefühl, ich hätte etwas Wichtiges gelernt oder etwas diffus Gewusstes sei mir klarer geworden. Später kamen mir meine Erkenntnisse dann jeweils banal vor.

1 Universität

An meinem ersten Tag an der Uni band ich mir eine Krawatte um, weil ich meinte, das gehöre sich so für einen Studenten. Ich musste dann feststellen, dass die meisten Kommilitonen in Hemd und Pullover herumgingen. Die Studentinnen trugen hübsche Röcke oder Jupes und Blusen, ihre Haare waren toupiert. Unter einander war das förmliche «Sie» nicht mehr üblich; man duzte sich. Die Professoren aber hielten an den alten Formen fest, erschienen in Anzug und Krawatte, liessen sich mit ihrem Titel ansprechen und sprachen ihrerseits die Studentinnen mit Fräulein und die Studenten mit Herr Soundso an. Ihre Vorlesungen und Seminare kündigten sie auf handgeschriebenen Zetteln an, die im Kasten in der Eingangshalle des Hauptgebäudes der Uni mit Reissnägeln befestigt waren. Die Studierenden konnten auswählen, welche Lehrveranstaltung sie besuchen wollten; die Studienfreiheit war fast absolut. Die Universität war ähnlich strukturiert wie einst die katholische Kirche. Die Inhaber eines Lehrstuhls, die Ordinarien, standen zuoberst in der Hierarchie. Weiter unten tummelten sich Honorarprofessoren, Privatdozenten, Lehrbeauftragte, Oberassistenten, Assistenten und Hilfsassistenten. Auf allen Stufen gab es, mit wenigen Ausnahmen, keine Frauen. Die Ordinarien nahmen an den Fakultätssitzungen teil, die von einem Dekan geleitet wurden. Das Leitungsgremium der Gesamtuniversität war der Senat, dessen Vorsitzender der jährlich wechselnde Rektor war. Die Universität verstand sich als alma mater, als Nährmutter aller Wissensdurstigen, und als autonome Gelehrtenrepublik, die sich gegen staatliche Eingriffe möglichst zu schützen versuchte. Ich war stolz, zu dieser Institution gehören zu dürfen. Noch bildeten die Angehörigen der Universität eine gesellschaftliche Elite, noch zelebrierten die farbentragenden Verbindungen die alte Burschenherrlichkeit. Am Dies acadmicus erschienen die Dekane und der Rektor im Talar und die Verbindungsstudenten im Vollwichs, das heisst in Stiefeln und weissen Hosen, mit Paradeschläger, Käpi und Schärpe in den Verbindungsfarben. Das fand ich lächerlich; es wäre mir nie eingefallen, da mitzumachen. Ansonsten freute ich mich auf das Studentenleben, versprach mir viel davon.

Zu Beginn meines Studiums suchte ich mein Wissen eher zu verbreitern als zu vertiefen. Neben den Vorlesungen und Proseminaren, die zum normalen Studiengang gehörten, besuchte ich auch die Vorträge zu fächerübergreifenden Themen, die unter dem Titel Studium generale angeboten wurden. Es war der Versuch, das zu tun, was ich am Gymnasium vermisst hatte, nämlich die Lücken zwischen den verschiedenen Fachgebieten zu füllen. Besonders interessant fand ich einen Vortrag unter dem Titel «Die Auffassung vom Menschen aus der Sicht der modernen Biologie». Referent war der berühmte Basler Forscher Adolf Portmann. Den «ewigen Menschen» gebe es nicht mehr, sagte er; der Gedanke der Evolution werde in der Biologie allgemein anerkannt. Die Wissenschaft habe vor dem Menschen nicht Halt gemacht, so dass heute erwogen werde, ihn künstlich zu verändern, damit er besser in die Umwelt passe, die er selbst geschaffen habe. Durch genetische Eingriffe sollten Menschen mit wünschenswerten Eigenschaften gezüchtet werden. Das sei notwendig, sagten gewisse Utopisten, weil sich die menschliche Rasse verschlechtert habe. Schuld daran sei das Christentum, das sich mit seiner Lehre, wonach jedes menschliche Leben erhaltenswert sei, der natürlichen Auslese entgegengestellt habe. Deshalb brauche es den Menschen aus der Retorte. Portmann warnte vor solchen gut gemeinten Absichten. Genetische Experimente seien beim aktuellen Stand der Kenntnisse unverantwortlich. Der Mensch habe schon viel Unheil angerichtet mit seinen Eingriffen in die Natur, deren Folgen er nicht abschätzen konnte. Portmann sprach von der Möglichkeit, ein Ei ausserhalb des Mutterleibs zu befruchten und auch reifen zu lassen. «Was tun wir mit dem ‘Produkt’, wenn das Experiment missglückt?», fragte er. Der Naturwissenschaftler, der zunächst nur die faszinierenden neuen Möglichkeiten sehe, brauche die Hilfe der Philosophie.

Inwiefern die Philosophie hier hilfreich sein konnte, war mir nicht klar. Ich verstand, dass sich Portmann gegen den Menschen aus der Retorte wehrte, dass er die rationale Argumentation derjenigen in Frage stellte, die den besser angepassten Menschen durch genetische Veränderung erzeugen wollten. Die eugenischen Experimente, wie sie in Nazi-Deutschland betrieben worden waren, standen einem als schreckliche Abirrung der Wissenschaft vor Augen. Portmann plädierte dafür, in erster Linie Erziehung und Bildung als Mittel der Veränderung anzusehen. Dass er zudem gewillt war, die Naturwissenschaft der Philosophie unterzuordnen, überraschte mich, denn, so viel ich wusste, waren die Naturwissenschaften einer antiphilosophischen Tradition verpflichtet. Doch Portmann mit seinem ethisch geschärften Verstand sprach ihr eine neue wichtige Aufgabe zu: Weil die Naturwissenschaft nicht fähig sei, die Kritik an sich selbst in genügendem Mass zu entwickeln, weil sie alles ausprobiere, was machbar sei, und damit nicht nur Nutzen, sondern unter Umständen auch gigantischen Schaden anrichte, brauche es die Philosophie.

In meinem ersten Studiensemester interessierte ich mich vor allem für die Literaturgeschichte. Es war eher Liebhaberei als ernsthaftes Studium. Eigentlich las ich in ähnlicher Art, wie ich es schon als Gymnasiast getan hatte, ohne Plan und bestimmte Absicht Werke der Klassik, Romantik und des bürgerlichen Realismus, möglichst alles von Goethe, Novalis, Kleist und Gottfried Keller. Später kamen Büchner, Thomas Mann, Kafka, Brecht und ein wenig Hölderlin dazu. Manchmal diskutierte ich mit Peter Meyer über Texte, die er auch gelesen hatte. Er wohnte bei seinen Eltern in Nidau. In dieses Städtchen in der unmittelbaren Nachbarschaft zu Biel waren auch meine Eltern gezogen, und ich hatte mein Zimmer in ihrer Wohnung. Peter und ich wohnten also nahe beieinander, und wir sahen uns oft. Er hatte sich wie ich für das Studium der deutschen Literatur und der Geschichte entschieden, wechselte aber später zur Philosophie. Ich glaube, dass er schon damals die Absicht hatte, Schriftsteller zu werden. Jedenfalls schrieb er mehrere kurze Erzählungen. In einer dieser Erzählungen kam eine junge Frau mit rauen Händen vor. Ich wusste, dass Beatrix gemeint war. Eines Tages rief mich Frau Meyer telefonisch an und bat mich, Peter zu besuchen, denn es gehe ihm schlecht. Als ich bei Meyers ankam, vernahm ich, Beatrix habe sich das Leben genommen. Mutter Meyer, die robuste Ehefrau eines Handwerkers, sagte mir, sie verstehe nicht, weshalb Peter sich das Unglück von Beatrix so zu Herzen nehme; sie habe ja schon seit einiger Zeit einen anderen gehabt. Im Leben komme noch so vieles auf einen zu, da dürfe man sich nicht schon in jungen Jahren so herabziehen lassen. Sie fürchte fast, Peter wolle sich auch etwas antun; ich solle mit ihm reden. Er sass in seinem Zimmer und wirkte gefasst. Beatrix habe sich übernommen mit dem schönen Daniel, meinte er. Er schien zu denken, er hätte viel besser zu ihr gepasst, und wenn sie das akzeptiert hätte, wäre sie jetzt noch am Leben. Offenbar war Peter weniger über ihren Tod erschüttert als durch die Tatsache gekränkt, dass sie einen anderen vorgezogen hatte. So interpretierte ich die Situation und verdrängte meine eigenen Schuldgefühle.

Am nächsten Tag war ich wieder an der Uni. Ich fand mich ab mit der allwöchentlichen Folge von geisttötenden Vorlesungen und von Proseminaren, die dem Unterricht am Gymnasium ähnelten. Bald war für mich das erste Semester zu Ende. Ich brach vorzeitig ab, weil ich in die Rekrutenschule musste. Als ich nach 17 Wochen entlassen wurde, hatte das Sommersemester schon begonnen. Erst mein drittes Semester absolvierte ich von Anfang bis Ende und wohl auch ein wenig ernsthafter. Es war zugleich mein Auslandsemester.


1 Sit-in in Berlin

Schon als Gymnasiast schien mir Berlin, die sogenannte Frontstadt des freien Westens, etwas besonders Interessantes zu sein, und ich wollte unbedingt dorthin. Mein Bruder Hans-Adam wohnte seit einiger Zeit in Berlin Friedenau. Ich bat ihn brieflich, nach einem günstigen Zimmer Ausschau zu halten. Umgehend teilte er mit, ganz in der Nähe seiner Wohnung sein ein Zimmer frei geworden; dort könne ich unterkommen.

Die einstige Hauptstadt des Deutschen Reichs unterlag immer noch dem Vier-Mächte-Status, wie er am Ende des Zweiten Weltkriegs beschlossen worden war. Seit 1961 schied eine Mauer die drei westlichen Sektoren vom grossen sowjetischen Sektor, der das Zentrum und die östlichen Stadtteile umfasste. Westberlin war allseitig vom Staatsgebiet der DDR mit seiner scharf bewachten Grenze umgeben. Wie gestaltete sich der Alltag in einer derart abgeriegelten Stadt? Nicht nur die besondere politische Konstellation Berlins interessierte mich, sondern auch die dortige Theaterszene. Die Zeitschrift «Theater heute» stellte die Berliner Bühnen als die massgeblichen im deutschsprachigen Raum dar.

An einem sonnigen Septemberabend des Jahres 1966 bestieg ich in Frankfurt einen Zug mit vorgespannter Diesellokomotive, der nach dem Passieren der Grenze zwischen West- und Ostdeutschland mit ausgewechseltem Zugspersonal auf einem schlecht unterhaltenen Schienenstrang sehr langsam Richtung Berlin fuhr. Im Sechserabteil, in dem ich einen Platz gefunden hatte, sassen fünf sehr unterschiedliche Menschen. Vor allem erinnere ich mich an die ältere Dame, die mir direkt gegenübersass und, wie ich, in einem Buch las. Während der Grenzkontrolle – mehrere Polizisten durchstreiften das innere des Zuges, während ihre Kollegen aussen herumgingen, teilweise mit Hunden, und mit Spiegeln unter den Zug blickten – sahen wir beide auf und legten unsere Bücher beiseite. Sie lächelte mir auf sympathische Art zu. «Vous êtes Suisse?», sprach sie mich an. Ich erklärte, ich sei Student in Bern und führe nun für ein Semester nach Berlin. Sie nickte nur, fragte nicht weiter nach und erzählte ihrerseits, sie habe den über achtzigjährigen Ernest Ansermet in Genf besucht und kehre jetzt nach Warschau zurück. «Vous êtes Polonaise?», fragte ich erstaunt. Ich hatte sie für eine Französin gehalten, denn sie war sehr elegant gekleidet, mit dunkelgrünem Jupe, passender Bluse und schickem Jäckchen. An den Fingern und am linken Armgelenk glitzerte Goldschmuck. Auf meine Frage, ob sie denn auch Musikerin sei, sagte sie ein wenig kokett, sie spiele «assez bien» die Geige. Sie deutete an, dass sie in einem bekannten Orchester mitspiele, betonte aber, sie sei vor allem «professeur de Musique» und schreibe Musikkritiken, und zwar auch für westliche Publikationen. Sie gab mir ein kleines Kärtchen, auf dem Name und professioneller Titel standen, und dieses Kärtchen bewahrte ich lange Zeit auf, weil ich dachte, vielleicht würde ich irgendwann zufällig auf eine ihrer Musikkritiken stossen oder sie als Geigerin in einem Orchester entdecken. Das trat aber nie ein, und das Kärtchen ging irgendwann verloren. Mein Interesse an ihr rührte wahrscheinlich daher, dass sie in keiner Art und Weise meinen unbewussten Vorurteilen über Frauen im kommunistischen Ostblock entsprach. Sie wirkte eher aristokratisch als proletarisch, und offenbar durfte sie ungehindert ins Ausland reisen und im Ausland publizieren. Sie erzählte von diesem und jenem Musiker, von Dirigenten, die sie gut zu kennen schien, von Orchestern in Ost und West. Ich fühlte mich als kleiner Schweizer, der nicht mitreden konnte, weil er nicht einmal die zweite Landessprache richtig beherrschte und der weder von der Musik noch von Europa viel wusste. Ich hoffte, sie werde meine Unbildung nicht bemerken.

Aus meiner Pein erlöste mich der junge Mann neben mir, gross, schlank, mit braunem Teint und schwarzen Haaren. Er verstand kein Französisch und sprach Deutsch mit einem fremdländischen Akzent. Ob wir eigentlich noch in der Bundesrepublik oder schon in der DDR seien, wollte er wissen. Es war eine rhetorische Frage, denn er hatte wie wir alle bei der Grenzkontrolle seinen Pass zeigen müssen. Wir rollten jetzt über DDR-Boden, sagte ich. Da kam der Schaffner, der in einer altmodischen Reichsbahn-Uniform steckte. Barsch verlangte er die Fahrkarten. Er schien uns alle als Feinde anzusehen, besonders meinen Sitznachbarn, den er anschnauzte, weil er lange in seiner Tasche kramte, bis er sein Billett fand. Als der Schaffner ausser Hörweite war, machte ich eine Bemerkung über dessen Unfreundlichkeit. Mein Sitznachbar stimmte eifrig zu. Er halte dieses Verhalten für typisch deutsch, meinte er. Das deutsche Volk sei zwar wunderbar, habe eine grossartige kulturelle Geschichte, aber politisch sei Deutschland eine Katastrophe. In Ägypten, wo er herkomme, sei Nasser dabei, einen arabischen Sozialismus aufzubauen, und das ganze Volk stehe hinter ihm. In der DDR aber werde gegen das Volk regiert. Ulbricht werde sich nicht halten können, denn wer gegen das Volk regiere, werde früher oder später abgesetzt. Auch Erhard, der westdeutsche Bundeskanzler, habe gegen das Volk regiert und müsse deshalb die Macht abgeben. Erhard sei sicher nicht so schlimm wie Ulbricht, entgegnete ich; sein Konzept der sozialen Marktwirtschaft habe sich doch eigentlich bewährt. Marktwirtschaft sei nie sozial, meinte der Ägypter, worauf ich wissen wollte, ob Nassers Sozialismus wirklich sozial sei. In Ägypten gelte es vorerst eine Menge falscher Entwicklungen zu korrigieren, die das Erbe des Kolonialismus seien, erwiderte er spitz. Meinen Kommentar dazu schrieb ich anderntags ins Tagebuch: «Der ägyptische Student ist sehr empfindlich gegen alle sozialen Missstände in Europa; die Missstände im eigenen Land sieht er nicht. Er operiert mit Schlagworten und malt schwarz-weiss. Ich glaube, das ist typisch für Menschen aus Entwicklungsländern.» – Wie kam ich dazu, frage ich mich heute, eine solche Bemerkung zu machen, obwohl ich bis dahin nicht die geringste Erfahrung mit Menschen aus Entwicklungsländern gehabt hätte? Man könnte die Sache umkehren: Mein Eintrag im Tagebuch war typisch für einen Schweizer, der voller Vorurteile steckte.

An die drei anderen Passagiere im Abteil kann ich mich nicht erinnern; über sie steht nichts im Tagebuch. Wahrscheinlich verhielten sie sich unauffällig. Sie sassen einfach auch im Abteil, und als es dunkel wurde, halfen sie, die übereinanderliegenden Couchettes herunterzuklappen, so dass wir uns zum Schlafen betten konnten. Während der Nacht hielt der Zug immer wieder an. Als ich am Morgen erwachte, stand er still, und zwar mitten in einer weiten, flachen Landschaft. Neben dem Bahndamm ragte ein grosser Baum empor und darin war ein Spatzenschwarm versteckt, dessen Gezwitscher mich geweckt hatte. Die Mitreisenden im Abteil begannen sich auch zu regen, die Betten wurden wieder hochgeklappt und wir sassen, ohne viel zu reden, auf den einander gegenüberliegenden Bänken. Ungeduldig wartete ich darauf, dass wir endlich den Berliner Bahnhof Zoo erreichten. Dort verabschiedete ich mich von der Polin und vom Ägypter, stieg mit den anderen drei Mitreisenden aus, die schnell im Gewühl verschwanden. Mit meinem nicht allzu schweren Koffer ging ich langsam Richtung Ausgang, verliess den Bahnhof und liess meinen Blick schweifen. Viele Leute, grosse, aber wenig eindrucksvolle Gebäude, die Eisenbahnbrücke, die zum Bahnhof führte. Dahinter musste der Zoo sein. Mir schien, ich höre durch den Verkehrslärm hindurch irgendwelche Tierlaute. Die Haltestelle des gelben Doppelstockbusses, der mich nach Friedenau bringen sollte, war leicht zu finden. Die Wegbeschreibung hatte mir Hans-Adam brieflich zugestellt. An der Dickhardtstrasse läutete ich bei Ihling. Eine ältere Frau öffnete die Tür, sprach mit starkem Berliner Akzent und zeigte mir das spärlich eingerichtete Zimmer mit Blick auf den Hinterhof. Nachdem ich den Koffer ausgepackt hatte, ging ich zur nahe gelegenen Handjerystrasse, wo Hans-Adam mit seiner Frau Ursula wohnte. Er empfing mich mit blassem Gesicht und sagte, er müsse ins Spital und ich solle mitkommen; Ursula habe soeben eine Tochter geboren. So begann mein Berlin-Aufenthalt mit der Begrüssung eines neuen Menschleins, dessen Köpfchen von einem erstaunlich dichten schwarzen Haarpelz bedeckt war.

Anderntags schrieb ich mich an der Freien Universität (FU) in Berlin Dahlem ein und studierte das Vorlesungsverzeichnis. Ich wusste, dass ich mich gemäss hiesigen Gepflogenheiten vorerst verschiedenen Tutorengruppen anschliessen und mir vom jeweiligen Tutor erklären lassen sollte, welche Lehrveranstaltungen für mich vorgesehen waren. Die grosse Freiheit, die ich an der Uni Bern genossen hatte, gab es hier nicht. Ich hielt mich an die Vorgaben, besuchte die obligatorischen Proseminare und vernahm dort, welche Bücher ich als Vorbereitung zu lesen und was für schriftliche Arbeiten ich bis Ende Semester einzureichen hatte. Der Zugang zu den Forschungsseminaren war erst gestattet, wenn man die Zwischenprüfungen bestanden hatte und damit vom einführenden Grundstudium ins Hauptstudium wechselte. Mir schien, diese einschränkenden Vorschriften seien nicht angebracht. Die Tutorengruppen aber erwiesen sich als hilfreich, und zwar auch deshalb, weil man hier rasch den Kontakt zu anderen Studentinnen und Studenten fand. Was mir komisch vorkam: Solange man sich nicht näher kannte, siezte man sich.

Ich tauchte ein in die Atmosphäre einer Universität, die im Umbruch, und einer Studentenschaft, die hochgradig «politisiert» war. Die Studierenden verstanden die Universität nicht bloss als Ausbildungsstätte, sondern auch als Ort der kritischen Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und dem politischen System der Bundesrepublik Deutschland. Der Allgemeine Studentenausschuss (AStA) lehnte die vom Berliner Senat vorgeschlagenen neusten Massnahmen zur Studienreform ab, weil er darin eine unangebrachte Sparmassnahme zu erkennen glaubte, die nicht zuletzt darauf abzielte, die Uni zu entpolitisieren und die studentische Kritik zu unterbinden. Neben dem AStA gab es zahlreich politische Studentengruppen, von denen der am weitesten links stehende der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) war. Die politisch aktiven Studierenden druckten und verteilten Flugblätter, machten immer wieder auf ihre Anliegen aufmerksam. Ich war interessierter Beobachter, war aber meistens dabei, wenn eine linke Studentengruppe oder der AStA zu einer Versammlung aufriefen. So auch bei einem Sit-in in der Eingangshalle des zur FU gehörenden Henry-Ford-Baus. Wie alle anderen setzte ich mich auf den Boden, beobachtete und hörte zu. Es ging um die Grosse Koalition, um den neuen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, den einige umstandslos als Nazi bezeichneten, weil er einst Mitglied der NSDAP gewesen war, und um die Notstandsgesetze, die demnächst in Kraft gesetzt werden sollten. Nach ein paar einführenden Worten des AStA-Vorsitzenden Knut Nevermann meldete sich sogleich ein Student zu Wort, der mir schon am Institut für Geschichte als gesprächiger und politisch denkender Kommilitone aufgefallen war. Die Regierung in Bonn sei von allen guten Geistern verlassen, meinte er. Man wisse, wie Hitler das Instrument der Notverordnung zur Beerdigung der Weimarer Republik eingesetzt habe, und das dürfe sich nicht wiederholen. Er bekam Applaus. Einige Heisssporne trieben den Vergleich zwischen der Grossen Koalition und dem Naziregime auf die Spitze: Wieder einmal gehe es darum, die Linke zu zerschlagen, und die SPD gebe sich dazu her. Andere versuchten zu mässigen, aber die Stimmung war aufgeheizt. Eine Studentin in einem schwarz-weiss karierten Faltenjupe und einem weissen Rollkragenpullover erhob sich, und der AStA-Vorsitzende Knut Nevermann erteilte ihr das Wort: «Bitte, Fräulein Kuby», sagte er, wobei er verbindlich lächelte. Sie war die Tochter des Journalisten und Schriftstellers Erich Kuby, der wegen seiner linksliberalen und mit der Studentenbewegung sympathisierenden Haltung bei den Studierenden grosses Ansehen genoss.

Gabriele Kuby hatte also das Wort. Sie brachte begründete Einwände gegen die Grosse Koalition vor und meinte zu den Notstandsgesetzen, diese ermöglichten unzumutbare Eingriffe in die Grundrechte und seien deshalb abzulehnen. Ein Student in Anzug und Krawatte, der sich als Mitglied des Rings Christlich-demokratischer Studenten vorstellte, hielt dagegen: In Einzelheiten seien die Notstandsgesetze wohl kritisierbar, aber grundsätzlich sei es besser, für den Fall einer innenpolitischen Krise ein Gesetz zu haben, als zu riskieren, dass unter dem Druck der Umstände willkürlich und ohne gesetzliche Grundlage repressive Massnahmen getroffen würden. Abgesehen davon sei die Schaffung von Notstandsregelungen eine Bedingung der Alliierten, die erfüllt sein müsse, wenn die Bundesrepublik in absehbarer Zukunft die volle Souveränität erlangen wolle. Während er sprach, erhob sich ein Gemurmel, das zum lauten Protest anschwoll, und ein bärtiger Student rief laut dazwischen: «Imperialistenknecht!». Der Redner geriet aus dem Takt und verwirrte sich beim Versuch, den Unterschied zwischen den aktuellen Notstandsgesetzen und dem Artikel 48 der Weimarer Verfassung darzulegen. Ärgerlich fuhr er sich durchs Haar, wollte sich setzen, entschied sich dann aber für einen eiligen Abgang, was ihm ein Pfeifkonzert eintrug. Zu meinem eigenen Erstaunen sah ich mich in dieser Situation die Hand heben, und Nevermann erteilte mir das Wort. Ich stellte mich als Student aus Bern vor, der bei Walther Hofer studiert habe. Damit wollte ich meine Intervention legitimieren, denn der Berner Geschichtsprofessor Hofer hatte seine wissenschaftliche Karriere an der FU Berlin begonnen und sein Buch über den Nationalsozialismus war ein Standardwerk. Ich könne die besondere Problematik einer Notstandsgesetzgebung für die Bundesrepublik verstehen, sagte ich, die übertriebenen Befürchtungen aber nicht teilen. Dass ein neuer Faschismus in der Bundesrepublik drohe, sei doch aus der Luft gegriffen. Die Argumentation meines Vorredners habe viel für sich. Jedenfalls müsse ein Notstandsgesetz nicht von vornherein schlecht sein. Ich erwartete neue Protestrufe, aber erntete nur nachsichtiges Lächeln. Auch eine grosse Koalition müsse nicht von vornherein schlecht sein, setzte ich hinzu. Jetzt grinsten alle. Wir hätten in der Schweiz seit 1959 eine Allparteienregierung, und man könne wohl kaum behaupten, unser Staat sei keine Demokratie. «Eine Schokoladendemokratie, gelenkt von den Grossbanken» rief der bärtige Student. Einige lachten laut, andere riefen: «Hinsetzen!» Eingeschüchtert liess ich mich zu Boden sinken. Die Debatte ging noch eine Weile weiter, ohne dass jemand auf mein Votum Bezug genommen hätte. Als sich die Versammlung auflöste, kam Fräulein Kuby auf mich zu und teilte mir in gestelzter Sprache mit: «Was Sie zur grossen Koalition gesagt haben, war wohl partiell richtig, wenngleich insofern falsch, als die Regierungssysteme der Schweiz und der Bundesrepublik auf ganz anderen Prämissen beruhen und kaum miteinander vergleichbar sind. Sie haben in der Schweiz direktdemokratische Instrumente, die wir hier nicht haben, und deshalb brauchen wir eine parlamentarische Opposition.» Dass sie mich ansprach, brachte mich etwas aus der Fassung, und ich fand nur die schwache Entgegnung, die meisten hier Anwesenden seien doch der Meinung, die deutsche Bundesregierung sei mit oder ohne Opposition nur scheinbar demokratisch und es brauche so oder so eine ausserparlamentarische Opposition, worauf sie abschliessend meinte, das seien die Extremisten vom SDS, die so redeten, aber man müsse eben auch von einem linksliberalen Standpunkt aus die grosse Koalition bekämpfen.

Der Vorfall lehrte mich zwei Dinge, nämlich erstens, dass die Berliner Studentenbewegung keineswegs so einheitlich war, wie sie in den Medien dargestellt wurde, und zweitens, dass ich mich als Schweizer daran gewöhnen musste, von den deutschen Kommilitonen und Kommilitoninnen zwar mit Nachsicht und einer gewissen Sympathie, aber auch ein wenig von oben herab behandelt zu werden. Das war jedenfalls mein vorläufiges Fazit. Allzu lange dachte ich darüber nicht nach. Vordringlich schien mir, Berlin zu entdecken. In den nächsten Tagen streifte ich zu Fuss, per Bus, U-Bahn und Stadtbahn kreuz und quer durch die Stadt. Was mich vor allem überraschte: Die Spuren der Bombardierungen am Ende des Krieges, der ja nun mehr als zwanzig Jahre zurücklag, waren überall zu sehen. Unterbrochene Häuserzeilen, unbebaute Areale, zum Teil noch mit Schutt überhäuft, notdürftig aufgerichtete Gebäude, schiefe Trottoirs. Man musste achtgeben, wo man hintrat, denn überraschende Unebenheiten und Löcher im Asphalt waren nicht selten. Nachts waren die Strassen in den Aussenquartieren nur spärlich beleuchtet, und wenn es nieselte oder regnete, wirkte die Stadt trostlos. Lieber hielt ich mich dann in Innenräumen auf, in der schönen Bibliothek der FU oder abends in den Kinos oder Theatern in West- und Ostberlin.

1  Faust II

Das Hauptereignis der Theatersaison war «Faust II» am Schiller-Theater, inszeniert von Ernst Schröder. Er galt als einer der profiliertesten Schauspieler Deutschlands, und jetzt bewährte er sich auch als Regisseur. Was er zusammen mit seinem Dramaturgen Hans Mayer aus Goethes Faust machte, wurde von der Presse teils hoch gelobt, teils heftig getadelt, wobei der Tadel eher auf Mayer denn auf Schröder gemünzt war. Mayer sei mit seiner marxistischen Interpretation dem Stück nicht gerecht geworden, meinten einige Kritiker. Sie erinnerten daran, dass er lange in der DDR gelebt habe. Das irritierte mich. War er ein Dogmatiker, ein linientreuer Kommunist? Genaueres konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Erst Jahre später las ich einige seiner literaturwissenschaftlichen Aufsätze, und als 1982 seine Autobiografie «Ein Deutscher auf Widerruf» erschien, verschlang ich sie mit innerer Anteilnahme. Mayer war in Köln aufgewachsen, hatte Rechts- und Staatswissenschaft studiert und promovierte 1930 beim berühmten Staatsrechtler Hans Kelsen. Er trat der SPD bei und schrieb für die Zeitschrift «Der Rote Kämpfer». Nach der Machtergreifung der Nazis erhielt er Berufsverbot. Als Jude, Marxist und Homosexueller war er im NS-Staat dreifach gefährdet. Im August 1933 emigrierte er nach Frankreich und kam 1934 in die Schweiz. An der Universität Genf konnte er bei Hans Kelsen arbeiten, der ebenfalls aus Deutschland geflohen war. Dort traf er auch mit Max Horkheimer zusammen. Sein juristisches Erststudium ergänzte er durch ein literaturgeschichtliches Studium, das er mit einer Dissertation über Georg Büchner abschloss. 1942 wurde er wegen seiner Homosexualität in den Strafanstalten Witzwil und Lenzburg je sechs Monate lang eingesperrt. «Homosexuelle Kontaktnahme an öffentlichen Orten» wurde nach damaligem schweizerischem Strafrecht mit Gefängnis bestraft. Nach seiner Entlassung aus der Haft lebte er in fünf verschiedenen Arbeitslagern für Flüchtlinge und gehörte dem leitenden Ausschuss der Kulturgemeinschaft der Emigranten an. Obwohl der Schweizerische Vaterländische Verband dagegen protestierte, durfte er öffentliche Vorträge halten. Am 8. November 1945 kehrte er nach Deutschland zurück, zunächst in die amerikanische Besatzungszone. Im Einverständnis mit der US-Verwaltungsbehörde wurde er Kulturredaktor bei der Deutschen Nachrichten-Agentur. Seine Eltern waren in Auschwitz ermordet worden. Noch vor der Gründung der DDR ging er zusammen mit seinem Freund Stephan Hermlin in die sowjetische Besatzungszone und wurde Professor für Literaturwissenschaft in Leipzig. Spätestens seit 1956 kehrte er sich innerlich von der DDR ab. 1963 blieb er nach einer Vortragsreise nach Tübingen in der Bundesrepublik. Zwischen 1964 und 1967 moderierte er zusammen mit Marcel Reich-Ranicki die Radiosendung «Das literarische Kaffeehaus». 1965 bekam er eine Professur für deutsche Literatur an der Technischen Hochschule Hannover. Seine dramaturgische Arbeit für das Schiller-Theater war also nur ein Nebengleis. Nach seiner Emeritierung 1973 war er Honorarprofessor in Tübingen. Dort starb er 94-jährig.

Der Umstand, dass Mayer an der Inszenierung von Faust II mitwirkte, eröffnete mir damals einen neuen Kosmos. Der Vorwurf, er habe eine marxistische Tendenz in das Stück gebracht, liess mich darüber nachdenken, was denn eigentlich eine marxistische Interpretation von Literatur sei. Mein Interesse für Mayers Schriften hatte da seinen Ursprung. Was ich mir später an Wissen über Mayer und sein Werk aneignete und auch das, was ich über Schröder herausfand, der schon in der Nazizeit ein gefeierter Schauspieler war, beeinflusst meine Erinnerung an den Theaterabend. Um dennoch möglichst nahe an meinen ursprünglichen Eindrücken zu bleiben, zitiere ich zunächst aus dem Tagebuch: «Faust I habe ich schon als Gymnasiast gelesen, an Faust II aber habe ich mich bis jetzt nicht herangewagt. Das hole ich nun nach, um so vorbereitet die Aufführung zu besuchen. Die Lektüre ist harte Arbeit, ich habe Mühe, den Text zu verstehen. Mein allgemeiner Eindruck: In Faust II entfaltet Goethe ein Welttheater, das in einer Vielfalt unterschiedlicher Szenen die Widersprüchlichkeit menschlichen Handelns in allgemeingültiger Art veranschaulichen soll. Es geht um hohe Ideale, grossartige Errungenschaften und erotische Verführung.»

Nach dem Besuch der Vorstellung machte ich mir zunächst Gedanken über die Art, wie Schröder das Stück anschaulich machte: «Die Inszenierung auf der grossen Bühne des Schillertheaters war ein Bilderrausch, der die gesprochene Sprache manchmal fast zudeckte. In der Sequenz, in der sich die Kaiserfamilie das Techtelmechtel zwischen Paris und Helena im Zauberspiegel ansieht, überlässt es Schröder nicht dem Zuschauer, sich anhand des gesprochenen Textes den Ablauf selbst auszumalen, sondern er führt ihn filmisch vor. Die Helena, die auf der Leinwand erscheint, ist nicht identisch mit derjenigen auf der Bühne. Diese ist mager und eckig, die Film-Helena ist viel schöner; ihre üppige Figur schimmert durchs weisse Gewand, ihr schwarzes Lockenhaar spielt um die nackten Schultern, auf ihrem zierlichen Füsschen sitzt ein flatterndes Täubchen. Nach dieser erotisch aufgeladenen Szene, die mich aufs höchste erregt hat, ist mir die zweite Hälfte der Aufführung ein wenig langfädig vorgekommen; sie schleppt sich dahin bis zur Landgewinnungsszene: Faust ist jetzt ein Grossunternehmer, ein Kapitalist, der dem Teufelspakt nicht entrinnen kann. Sein Wirken erweist sich gleichzeitig als segensreich und zerstörerisch. Ich mag die Akzentuierung der negativen Folgen, wie sie diese ‘linke’ Inszenierung vornimmt, nicht so recht akzeptieren. Während der vorgängigen Textlektüre ist mir das faustische Tun als etwas Grossartiges vorgekommen. Gerade darum, weil Faust den Teufel braucht, um seine idealistischen Ziele zu erreichen, werden sie umso bedeutender. Oder haben Schröder/Mayer am Ende doch Recht? Sind die idealen Ziele eigentlich nur eine Verschleierung wirtschaftlicher Interessen? Ist in der modernen Welt die Gier nach Geld letztlich die Triebfeder allen Tuns? Ist das Ideal der Goethezeit, ‘tätig frei’ zu leben, im 20. Jahrhundert eine unverantwortliche Anmassung? Ist es im Zeitalter der Atombombe vielleicht notwendig, das Grossartige zu unterlassen? Das ‘ewig Weibliche’, das Faust am Ende des Stückes ‘hinan zieht’, empor zu den wahrhaften Idealen, wird in Schröders Inszenierung zur Orientierung an den wirklichen Bedürfnissen des alltäglichen Lebens. Das faustische Tun erscheint dagegen als gefährliche Überhebung. – Goethe so zu interpretieren, erscheint mir kühn und interessant. Andererseits frage ich mich, ob das Stück nicht dazu missbraucht wird, Zustände wie im Sozialismus zu propagieren: Sicherheit statt Freiheit! Sozialismus statt Kapitalismus! Ich komme zu keinem eindeutigen Schluss. Geht die Freiheit tatkräftiger Menschen immer auf Kosten der ‘gewöhnlichen’ Menschen? Muss man die kühnen Menschen, die vor dem Pakt mit dem Teufel nicht zurückschrecken, zurückbinden, oder führt die Beschneidung ihrer Freiheit zu einer allgemeinen Unfreiheit? Was ist Freiheit? Bedeutet sie Regel- und Zügellosigkeit? Oder ist es umgekehrt so, dass gerade das Einhalten von Spielregeln die Freiheit garantiert?»

Der Theaterabend warf in mir mehr Fragen auf, als dass er Antworten gegeben hätte. Gerade deshalb ist mir Faust II wohl wichtig geblieben. Bis heute habe ich immer wieder Passagen aus Faust II gelesen, allerdings nie mehr das ganze Stück. Die Aufführung im Schiller-Theater vor mehr als 50 Jahren hat einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Wo immer ich Verweise auf Faust II finde, interessieren sie mich. Ich will wissen, ob das Stück, wenn es erwähnt wird, richtig zitiert oder interpretiert wird, und lese nach, was Goethe wirklich geschrieben hat. Einmal brachte mich das 1985 erschienene Buch «Geld und Magie» von Hans Christoph Binswanger darauf, dass man Faust II als alchemistisches Drama lesen kann. Alchemie und Astrologie spielten schon im Volksbuch vom Doktor Faust von 1587 und auch in nachfolgenden Bearbeitungen des Faust-Stoffes eine wichtige Rolle. Für Goethe sind diese Pseudowissenschaften der Kern des Kapitalismus, sagt Binswanger. Denn was den Alchemisten nicht gelang, nämlich mit Hilfe des Steins der Weisen aus minderwertigen Stoffen Gold zu erschaffen, das gelingt den Bankiers spielend, indem sie statt Edelmetall papierene Wechsel als Zahlungsmittel einsetzen. Ihr Kreditsystem ist gleichsam die Verwandlung von Papier in Gold, was deshalb funktioniert, weil das Publikum glaubt, hinter den Papieren stünden reale Werte, und dieser Glaube wird durch eine Theorie gestützt, die nicht besser fundiert ist als irgendeine Sterndeuterei.

Tatsächlich hat Kapitalismus viel mit Magie und dem Glauben an ein Wertschöpfungswunder zu tun. Ich erinnerte mich, dass in der Inszenierung am Berliner Schillertheater auf diesen Vorgang viel Gewicht gelegt wurde. Das Papiergeld wirbelte in rauen Mengen über die Bühne, Kaiser und Hofstaat verfielen in Ekstase. Die Gier nach mehr und noch mehr war geweckt. Ist das vom Text her gerechtfertigt? Ich lese noch einmal die Szene, in der Faust die kaiserlichen Finanzen sanieren soll. Mephistopheles muss helfen, damit der Plan gelingt. Was tut er? Er begibt sich auf die kaiserliche Pfalz, schaltet dort den Hofnarren aus, drängt sich in die Nähe des Kaisers, und bietet sich als neuer Hofnarr an. Es ist Karnevalszeit, der Kaiser versucht, gute Laune zu verbreiten. Doch der Heermeister erinnert an die grossen Schwierigkeiten, die den kaiserlichen Hof plagen: Unruhe ist im Land, Gewalt und Not. Kriegerische Horden plündern die Leute aus. Der Kaiser sollte Ordnung schaffen, aber er hat kein Geld, um seine bewaffneten Truppen zu bezahlen. «Der Mietsoldat wird ungeduldig, mit Ungestüm verlangt er seinen Lohn, und wären wir ihm nichts mehr schuldig, er liefe ganz und gar davon.» Auch der Schatzmeister klagt: Man könne auf keine Verbündeten mehr zählen, weil man selbst zu schwach sei. Man habe Rechte auf Einkünfte verpfändet und könne die Pfänder nicht mehr auslösen. «Wir haben so viel Rechte hingegeben, dass uns auf nichts ein Recht mehr übrigbleibt». Der Marschalk ergänzt: «Welch Unheil muss auch ich erfahren! Wir wollen alle Tage sparen und brauchen alle Tage mehr …» Wer mehr ausgibt als er einnimmt, wird immer ärmer und schwächer. Der neue Hofnarr, Mephistopheles, sagt dem Kaiser, wie er die Finanzmisere mit Leichtigkeit überwinden könne: Im Boden des Reiches seien unzählige Schätze begraben, einerseits Rohstoffe, andererseits versteckte Wertsachen. Der Boden gehöre dem Kaiser, und die darin eingelagerten immensen Werte könne er als Garantie anbieten. Es gelte jetzt einfach Wechsel auszustellen, unterzeichnet vom Kaiser, die durch diese Bodenschätze abgesichert seien. Der Hofstaat ist skeptisch. Mephisto meint, man solle doch den Astrologen fragen, und bläst diesem ein, was er sagen soll: «Die Sonne selbst, sie ist ein lautres Gold, Merkur der Bote, dient um Gunst und Sold…» Er zählt die weiteren Planeten auf, die alle günstig stehen und schliesst: «Ja! Wenn zu Sol sich Luna fein gesellt, zum Silber Gold, dann ist es heitre Welt; das übrige ist alles zu erlangen: Paläste, Gärten, Brüstlein, rote Wangen, das alles schafft der hochgelahrte Mann, der das vermag, was unser keiner kann.» Der hochgelahrte Mann ist Faust, der die Wechsel in Umlauf bringt. Er lässt den Kanzler verkünden: «Zu wissen sei es jedem, der’s begehrt: Der Zettel hier ist tausend Kronen wert. Ihm liegt gesichert, als gewisses Pfand, Unzahl vergrabnen Guts im Kaiserland.» Die Zettel werden akzeptiert. Der Kaiser selbst staunt: «Und meinen Leuten gilt’s für gutes Gold? Dem Heer, dem Hofe genügt’s zu vollem Sold?» Ja, es genügt. Das Papier ist bequem, die Unterschrift des Kaisers und die Verheissungen des Astrologen schaffen Zuversicht und Vertrauen. Massenhaft werden die Papiere gedruckt, alle Schulden werden beglichen.

Es war nicht einfach Goethes Phantasie, welche diese Szene entstehen liess; er dachte an reale Finanzmanipulationen, wie sie vor und während seiner Lebenszeit immer wieder vorkamen. Als Geheimer Rat und zeitweiliger Staatsminister des Grossherzogs von Weimar verstand er etwas von Staatswirtschaft und Staatsfinanzen. Sein Anliegen war es, durch Beschränkung der Ausgaben und Förderung der Wirtschaft den Staatshaushalt zu sanieren. Er wählte also einen anderen Weg als der berühmte schottische Finanzjongleur John Law (1671-1729), der zu Goethes Zeiten noch als warnendes Beispiel galt. Law hatte einen Plan entwickelt, wie der durch kostspielige Kriege hochverschuldete Staat Ludwigs XIV. ohne jegliche Sparmassnahmen zu sanieren sei. Statt Gold gab er neu geschaffenes Papiergeld in Zahlung, was anfänglich funktionierte, aber schliesslich in einer finanziellen Katastrophe endete. Goethe kannte zweifellos die Aktivitäten Laws, und in Faust II stellt er den Vorgang als Werk des teuflischen Mephistopheles dar.

Im Programmheft des Schiller Theaters, das ich aufbewahrt habe, lese ich Dorothe Lohmeyers feinsinnige Interpretation von Goethes Faust. Es gehe um die Erscheinung, «die über sich hinausweist und symbolisch wird für menschliche Welt überhaupt», schrieb sie. Das war wohl richtig, aber mir scheint viel wichtiger, dass es Goethe auch um die konkreten Verhältnisse in Deutschland, um reale Geschichte, Wirtschaft und Politik ging, nicht nur um Ideen und Symbole. Er dramatisierte im Faust II aktuelle Ereignisse seiner Zeit, wenn auch im historischen Gewand. Etwas von diesen Hintergründen der Faustdichtung machte mir die Inszenierung am Schiller-Theater bewusst, und ich dachte dabei, wenn das marxistisch sei, so liesse ich mir Marxismus gerne gefallen.

1 Littérature engagée

Kurz vor Weihnachten fuhr ich in die Schweiz zu meinen Eltern. Einen Tag nach meiner Ankunft in Biel rief Laure an, meine Gotte und die Schwester meiner Mutter. Sie wollte wissen, wie es mir in Berlin ergangen sei. Ich berichtete von den Studentenprotesten, vom Theater und von meiner kleinen Nichte, die sich prächtig entwickle. Laure nahm an allem Anteil, ich merkte aber, dass sie darauf brannte, mir ihrerseits etwas zu erzählen. Sie sei bei der Verleihung des Literaturpreises der Stadt Zürich an Emil Staiger dabei gewesen, sagte sie mit einem leisen Vibrieren in der Stimme. Eigentlich sei sie nicht wegen Staiger hingegangen, sondern wegen Max Frisch, der den Preis im Vorjahr bekommen habe. «Weißt du, Frisch hat bei Staiger studiert. Ich meinte, er werde die Laudatio halten. Es kam aber Werner Weber von der NZZ und sprach seine salbungsvollen Worte. Dann betrat Staiger die Bühne und hielt eine Dankesrede, bei der mir immer unwohler wurde. Da sassen alle diese Pelzmantelweiber vom Zürichberg und applaudierten dem grossen Staiger. Und der sprach – stell dir das einmal vor – unangefochten von Entartung in der modernen Literatur! Ich war wie gelähmt, konnte nicht reagieren. Jetzt habe ich die Rede noch einmal gelesen. Sie steht heute in der NZZ. Du musst sie unbedingt lesen, es ist ein Lehrstück! Da weißt du nachher, wogegen du dich zur Wehr setzen musst.» Sie war jetzt wieder ruhig, fand sich in der Rolle einer mütterlichen Freundin, die mich, den jungen Studenten, ein wenig fördern und ermuntern wollte. «Lies die Rede, und morgen musst du dann lesen, was Hugo Leber im ‘Tages-Anzeiger’ schreibt. Er wird Staiger eine gepfefferte, hoch gescheite Antwort geben. Er hat mir erzählt, was er schreiben will. Du wirst sehen, Staiger ist erledigt!»

Ich wolle das tun, sagte ich und dankte ihr für den Hinweis. Dann gab ich den Hörer an meine Mutter weiter, die ihre Schwester begrüsste und sich nach ihrem Wohlergehen erkundigte, um dann lange still zuzuhören. Aus den Geräuschen, die aus dem Telefonhörer bis zu mir herüberdrangen, schloss ich, dass Laure mit wachsender Erregung noch einmal erzählte, was sie mir schon gesagt hatte. Mama redete ihr begütigend zu, was sie wahrscheinlich nur noch mehr aufregte, da sie doch von ihrer älteren Schwester Zustimmung und Unterstützung erwartete. Aber das gehörte eben dazu, dass die beiden bei aller Liebe und Verbundenheit von sehr unterschiedlichem Temperament waren.

Ich behändigte die NZZ, die auf dem Stubentisch lag, und blätterte nach Staigers Rede. Der Text stand unter dem Titel «Literatur und Öffentlichkeit», und ich begann aufmerksam zu lesen. Zuerst fand ich die Rede langweilig, dann aber wurde es happig: Der berühmte Professor Staiger, Lehrer und Forscher an der Universität Zürich, feinsinniger Interpret der Texte der deutschen Klassik, dessen Vorlesungen nicht nur von Studentinnen und Studenten, sondern auch von einem weiteren Publikum gebildeter oder bildungsbeflissener Damen und Herren besucht wurden, scheute sich tatsächlich nicht, in seiner Ansprache die Littérature engagée als «entartet» zu bezeichnen und ihre Vertreter, die engagierten Literaten, der Verantwortungslosigkeit zu zeihen. Wahre Literatur, sagte er, sei nur dort, wo den Ansprüchen Genüge getan werde, wie sie Schiller und Goethe gültig formuliert hätten: «Schiller gelingt es, in den ‚Briefen über die ästhetische Erziehung der Menschen’ die aller Dienstbarkeit enthobene Souveränität des Schönen mit ihrem für die Menschheit als solche unentbehrlichen Sinn in Einklang zu bringen. Und noch der späte Goethe weist sogar dem einsamsten unter den Dichtern, dem Lyriker nämlich, die Aufgabe zu, ‘den edlen Seelen vorzufühlen’, das heisst, in auserwählten Herzen die Wege des Gefühls zu bahnen und so dem bisher Unaussprechlichen zum Bewusstsein zu verhelfen.»

Was Goethe und Schiller um 1800 als Aufgabe des Dichters ansahen, galt Staiger im Jahr 1966 immer noch als Norm. Und er verurteilte diejenigen, die seiner Meinung nach die Norm verletzten: Viele moderne Schriftsteller seien von den Höhen des dichterischen Auftrags hinuntergestiegen in die schlüpfrigen Niederungen des Gemeinen und Verbrecherischen. «Man gehe die Gegenstände der neueren Romane und Bühnenstücke durch. Sie wimmeln von Psychopathen, von gemeingefährlichen Existenzen, von Scheusslichkeiten grossen Stils und ausgeklügelten Perfidien. Sie spielen in lichtscheuen Räumen und beweisen in allem, was niederträchtig ist, blühende Einbildungskraft.» Staiger nannte keine Namen, liess nur einen einzigen Schriftsteller erkennbar werden, und zwar den von mir so bewunderten Peter Weiss: «Wenn ein bekannter Dramatiker, der Auschwitz auf die Bühne bringt, in einem früher verfassten Stück mit Marquis de Sade als Helden einen Welterfolg errungen hat, so nehmen wir an, er habe hier wie dort die ungeheure Macht des Scheusslichen auf das heutige Publikum einkalkuliert und sich natürlich nicht verrechnet. Denn wenn man anfängt, nur das Ungewöhnliche, Einzigartige, Interessante als solches zu bewundern, führt der Weg unweigerlich über das Aparte, Preziöse zum Bizarren, Grotesken und weiter zum Verbrecherischen, das nicht als Widerspiel in unserer Einbildungskraft ein wohlgeratenes, höheres Dasein evoziert, das vielmehr um seiner eigenen Reize willen gekostet werden soll und meistens auch gekostet wird.» – Darauf folgte dieser Satz, der berühmt-berüchtigt werden sollte: «Wenn solche Dichter behaupten, die Kloake sei ein Bild der wahren Welt, Zuhälter, Dirnen und Säufer Repräsentanten der wahren, ungeschminkten Menschheit, so frage ich: In welchen Kreisen verkehren sie?»

Da sprach einer tapfer, wie er meinte, gegen Dekadenzerscheinungen der Gegenwart und merkte nicht, welch bedrängende Fragen die Gegenwartsliteratur stellte. Die Passage über Peter Weiss schien mir zu beweisen, dass der ältliche Herr Professor Staiger die Welt nicht mehr verstand. Ich kann nicht sagen, dass ich besonders empört war. Staigers Weltsicht war mir so fremd, dass ich eigentlich bloss mit den Schultern zuckte.

Anderntags las ich Hugo Lebers ironischen und gelehrten Kommentar im «Tages-Anzeiger». Er sagte mir nicht viel. Anders die sehr persönlich gehaltene Antwort Max Frischs, die ein paar Tage später in der «Weltwoche» erschien; sie klärte und verstärkte, was ich selbst auch empfand. Frisch schrieb seinem ehemaligen Universitätslehrer, mit dem er inzwischen per Du war: «Einmal vor Jahren hast du mich belehrt, dass dieser Brecht nur drum von ‚Epischem Theater’ schwadroniert, weil er keine richtigen Stücke zu schreiben imstande ist, und mein andrer verehrter Lehrer, Walter Muschg, hat mich anlässlich der deutschen Erstaufführung von ‚Furcht und Elend des Dritten Reiches’ ebenfalls unterrichtet, dass da von Dichtung nicht die Rede sein könne und dass unser Cabaret das besser mache.» Frisch widersprach Staiger, wo dieser meinte, die Politik habe, da zeitgebunden, nichts mit Dichtung zu tun. Er sagte klar und deutlich: «Die Naivität des apolitischen Dichters ist an diesem Platz nicht statthaft.» Staiger sei von seiner «überzeitlichen Warte aus», zielstrebig in die Irre gegangen. «Plötzlich unterscheidest du, wenn es um heutige Literatur geht, nicht einmal zwischen Autoren und sprichst ohne jeden Beleg, ohne Namen, ohne Haft, ohne Unterscheidung, als wäre das Unterscheidungsvermögen nicht gerade die Tugend, die du lehrst, eine Voraussetzung grosser Kritik.» Und ironisch setzte er hinzu: «Deine Rede, meisterlich in übernommener Sprache, wirkte befreiend: Endlich kann man wieder von Entarteter Literatur sprechen.» Damit deutete Frisch an, dass Menschen, die wie Staiger eine weltfremde Schöngeistigkeit pflegten, in ihrer Abkehr von den Problemen der Gegenwart Gefahr liefen, wie in der Zeit des Nationalsozialismus die Augen vor den Akten der Barbarei zu verschliessen, die sich direkt vor ihrer Haustür abspielten.

Die Rede Staigers und Frischs Erwiderung darauf waren für mich sehr wichtig. Ich glaubte nun zu wissen, welcher Art von Literatur ich vertrauen konnte und welcher nicht. Alles was Staiger unter dem Titel «Littérature engagée» verdammte, war für mich von nun an das Richtige und Wichtige. Literatur musste sich auf die aktuellen gesellschaftspolitischen Probleme einlassen. Dass Frisch Recht hatte und Staiger irrte, stand für mich fest. Denn es gab eine Pflicht zum Engagement, so wie es Sartre dargelegt hatte, und das galt auch für die Literatur. Aber musste dieses Engagement in der Literatur als bestimmte politische Meinung direkt zum Ausdruck kommen? Max Frisch zweifelte später daran. 1981 hielt er am City College in New York zwei Vorlesungen, in denen er sich mit den Motiven des Schriftstellers auseinandersetzte und sich dabei von einem engen Begriff der «Littérature engagée» distanzierte: «Ich sage nicht, dass Literatur nichts vermag. Ich meine: Sie vermag mehr, wenn sie nicht direkt politisch ist.» Und er fügte hinzu, dass er «heute, im Gegensatz zu früheren Jahren, eine direkt-politische Literatur für ein Missverständnis» halte.

Ich verstehe das nicht als ein Umschwenken Frischs auf die Linie Staigers, sondern als eine feine Korrektur, die gewiss auf Erfahrung und Einsicht beruhte. «Direkt politische» Literatur hat sich immer wieder als fragwürdige Propaganda erwiesen, vor allem dort, wo sich Schriftsteller einem Regime andienten und sich aus purem Opportunismus die gewünschte politische Linie zu eigen machten, wie es nicht selten in der Zeit des Nationalsozialismus und des Stalinismus geschah. Auch in freiheitlicheren gesellschaftlichen Verhältnissen kann «direkt politische» Literatur in die Irre führen, wenn ein Schriftsteller, im Glauben, der «guten Sache» zu dienen, und in der Überzeugung, die Wahrheit erkannt zu haben, mit verengtem Blick ans Werk geht, so dass er dem, was Kunst zu leisten vermag, nämlich den Horizont zu weiten, im Grunde genommen entgegenarbeitet.

1 Väter und Söhne

Zurück in Berlin widmete ich mich wieder stärker der Geschichte als der Literatur. Im Proseminar über «Bismarck und den Schleswig-Holsteinischen Krieg» ging es um die Frage, was genau die Ursache des Krieges gewesen sei, ob er zu vermeiden gewesen wäre oder ob ihn Bismarck bewusst losgetreten hatte, weil er glaubte, so seinem nationalstaatlichen Ziel näher zu kommen. Ein etwas älterer Kommilitone belebte die Diskussion durch Beiträge, die sich leicht ausserhalb dessen bewegten, was am historischen Institut der FU üblich war. Er fiel durch seine schlampige Kleidung und sein eher ungepflegtes Äusseres auf. Seine Redeweise wirkte fahrig und hatte einen spöttischen Unterton, doch seine Intelligenz überstrahlte seine irritierende Unernsthaftigkeit. Wenn man ihm genau zuhörte, merkte man, wie präzis seine Wortwahl war und wie genau die Analyse, die dahintersteckte. Er akzeptierte es prinzipiell nicht, wenn als Grund für politisches Handeln ideelle Motive genannt wurden, deckte stattdessen die «handfesten Interessen» auf. Mit grossem Fleiss suchte und fand er in den historischen Quellen Personen, Vereine und Institutionen, die Bismarck im Sinn ihrer wirtschaftlichen Eigeninteressen beeinflussten, indem sie darlegten, dass von ihren Vorschlägen eine gedeihliche wirtschaftliche Entwicklung zu erwarten sei und letztlich ganz Preussen davon profitieren würde.

Einmal während des Mittagessens in der Mensa, sprach ich ihn an. Er stellte sich als Wolfgang vor, und wir waren sofort per du. Warum er in seinem Alter – ich schätzte ihn auf dreissig – und mit seinem umfassenden Wissen noch ein Proseminar besuche, wollte ich wissen. Er habe nach dem Abitur keine Lust gehabt, an die Uni zu gehen, sagte er, sei durch die Welt getrampt, habe dies und jenes getan. Jetzt wolle er aber doch noch einen Studienabschluss machen, und da müsse er eben zuerst die Einführungsveranstaltungen besuchen. Eigentlich wollte ich mit ihm gar nicht über das Studium sprechen, sondern über den SDS, denn ich nahm an, er gehöre dazu. Er kannte alle Genossen der Führungsriege, behauptete aber, er sei selbst nicht Mitglied. Welches die Ziele dieses Vereins seien, wollte ich von ihm wissen. Er meinte, dazu gebe es widersprüchliche Meinungen. Die einen interessierten sich nur dafür, wie die technokratische Studienreform verhindert werden könne, andere wollten eine linke Uni, was immer das heisse, und die dritte Gruppe wolle den Sozialismus verwirklichen, aber nicht nach dem Muster der DDR oder der Sowjetunion. Manche stünden noch der SPD nahe, aber immer stärker dominiere die Gruppe um Rudi Dutschke, die sich als revolutionär verstehe. Sie orientiere sich einerseits an Marx, andererseits an der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, also an Adorno, Horkheimer und Marcuse, teilweise auch am viel jüngeren Habermas. Für Rudi Dutschke spiele Ernst Blochs utopisches Denken eine wichtige Rolle. Eine stringente Theorie über einen künftigen Sozialismus habe niemand. Man wisse eher, wogegen man sei als wofür. Alle seien gegen die grosse Koalition und sähen die Notwendigkeit einer ausserparlamentarischen Opposition.

Was von Dutschke zu halten sei, fragte ich weiter. Der sei ein Genie, sagte Wolfgang mit leiser Ironie in der Stimme, und er erzählte, wie der aus der DDR stammende «Studentenführer» eine Demonstration vor dem Rathaus Schöneberg wie ein Feldherr geleitet und erfolgreich durch die Polizeiketten hindurch manövriert habe. Er sei auch innerhalb des SDS umstritten; vielen sei er zu radikal. Immer wieder werde kritisiert, dass er sich zu sehr nach vorne dränge und die Aufmerksamkeit der Medien auf sich lenke. Aber der Rudi könne eben nicht anders, es sei seine Natur, er sei ein Charismatiker. Zudem sei er dank seiner intensiven Lektüre der Klassiker des Marxismus den anderen immer eine Nasenlänge voraus.

Ich machte mir eine ungefähre Vorstellung von den Auseinandersetzungen im SDS. Die unterschiedlichen Positionen konnte ich allerdings nicht einordnen, denn bis dahin hatte ich nie auch nur eine Zeile von Habermas, Bloch, Marcuse, Horkheimer oder Adorno gelesen, und vom Marxismus hatte ich nur eine vage Vorstellung. Ich wollte der Sache auf die Spur kommen und schaffte mir die von Wolfgang empfohlenen Bändchen der «edition suhrkamp» an. Immer wieder suchte ich das Gespräch mit ihm und lernte von ihm. Es waren einseitige Gespräche; ich fragte, er gab die kompetenten Antworten. Er schien aber auch an mir Gefallen zu finden, wohl deshalb, weil ich, wie er sagte, ein «harmlos republikanisch-kleinstaatliches Selbstbewusstsein» mit mir herumtrug.

Ab und zu trafen wir uns abends in einer Kneipe. Unsere Gespräche wurden persönlicher. Jetzt war er es, der Fragen stellte und wissen wollte, in welcher familiären Konstellation ich aufgewachsen und wie mein Verhältnis zu Eltern und Geschwistern sei. Ich erzählte von meinem autoritären Vater, der als nüchtern denkender Bauingenieur meinen Entscheid für das Studium der Geschichte und der Literaturgeschichte nicht billige, von meiner Mutter, die im Rahmen der reformierten Kirchgemeinde Biel in einer Frauengruppe mitmache und sich für Leute engagiere, denen es nicht so gut gehe, was mein Vater als überflüssige Sentimentalität taxiere, von meiner Schwester, die früh der Familie entflohen sei und in Triest studiere, und von meinem älteren Halbbruder, der Theologe geworden sei und also einen Beruf ausübe, der in den Augen meines Vaters reines Schmarotzertum sei. Wolfgang wollte Näheres wissen, nahm Anteil, und ich merkte, dass er das, was mir als verknorzte und belastende Familienkonstellation vorkam, als Musterfall einer normalen und gesunden Familie wertete. Einmal, als wir schon einige Gläser Bier getrunken hatten, versank er in Trübsinn, und schliesslich erzählte er mir, dass sein Vater ein SS-Offizier gewesen war. Er sei von einem französischen Gericht im Abwesenheitsverfahren zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt worden, könne aber dank besonderer Umstände unauffällig und unbehelligt als kaufmännischer Angestellter in Westdeutschland leben. Er, Wolfgang, habe den Kontakt zum Vater abgebrochen, als er gemerkt habe, dass dieser die Familie über seine Tätigkeit während des Krieges im Unklaren gelassen und belogen habe. Er habe nur gesagt, er sei bei der Polizei gewesen und habe seine Pflicht bei der Bekämpfung des Verbrechens getan. In Wirklichkeit sei er als Obersturmbannführer bei der deutschen Sicherheitspolizei in Paris gewesen, wo er unter anderem für die Internierungslager und die darin vorgekommenen Hinrichtungen verantwortlich gewesen sei und auch die Deportation der Juden aus Frankreich mit organisiert habe. Wolfgang sagte es mit kühler Distanz, aber die innere Erregung war ihm doch anzumerken. Es sei schrecklich, einer Generation anzugehören, deren Väter allesamt Verbrecher gewesen seien, meinte er. Dass sein Vater nicht nur straflos geblieben sei, sondern auch kein Unrechtsbewusstsein habe, sei für ihn unerträglich.

Eines Tages nahm mich Wolfgang zu einer Filmvorführung an der Uni mit. Der Regisseur, ein Freund Wolfgangs, gab eine kurze Einführung: Sechs ehemalige Kriegskameraden reisen 15 Jahre nach Kriegsende im VW-Bus nach Griechenland, wo sie einst als Wehrmachtsangehörige stationiert waren. Die älter und dicker gewordenen Männer wollen das Dorf wiedersehen, in dem sie seinerzeit einquartiert waren. Fröhlich und forsch fahren sie als Touristen vor, unterhalten sich jovial mit der Dorfbevölkerung. Eine alte Frau erkennt einen der ehemaligen Soldaten, der damals dabei war, als ein Grossteil der Männer aus dem Dorf als Geisseln erschossen wurden. Sie erzählt es weiter. Die Deutschen reagieren mit Unverständnis, als sich die Einheimischen plötzlich abweisend oder gar feindlich verhalten, und sie reisen Hals über Kopf ab, als einer von ihnen ermordet wird. – Ein eindrücklicher Film über die Blindheit oder Dummheit der ehemaligen Soldaten, die jetzt biedere Bürger der BRD und vereinsmeiernde Sommertouristen sind.

Das Publikum, grösstenteils kritische Studentinnen und Studenten, reagierte mit Entsetzen, hielt die Geschichte für wahr oder jedenfalls für sehr gut möglich. Viele übten scharfe Kritik an der Generation der Väter, die gewissermassen bis zur Kenntlichkeit karikiert im Film dargestellt sei. Am schärfsten äusserte sich Wolfgang. Unnachsichtig geisselte er diese «fetten Deutschen». Er hoffe nur, dass wenigstens die jüngere Generation in der Lage sei, aus der Vergangenheit die richtigen Lehren zu ziehen. Deutlich waren hinter seinen Worten Emotionen zu spüren, die er kaum zu bändigen vermochte. Eine Art Verzweiflung wehte durch den Raum, die bei anderen Zuschauern ein wütendes Echo fand, sei es in zustimmender oder heftig abweisender Art. Der Regisseur, der sich einerseits freute, dass sein Film so verstanden wurde, wie er gemeint war, wollte andererseits vermeiden, dass es zum Tumult kam, und er beruhigte die Stimmung, indem er sachlich erzählte, wie der Film gedreht worden war, wie er die Schauspieler geführt hatte, wie er mit der einheimischen Bevölkerung umgegangen war. Das Publikum wurde wieder still, und als die Veranstaltung zu Ende war, beeilten sich die meisten, nach Hause zu kommen. Ich ging mit Wolfgang in eine Kneipe, erwartete, dass er nun, seelisch aufgewühlt, mehr von seinem Vater oder von seinen Gefühlen gegenüber seinem Vater preisgeben werde. Er zog es aber vor, den kühl Überlegenen zu spielen, der sich in allgemeiner Art über die Vätergeneration ausliess, die immer noch von der eigenen Vorzüglichkeit überzeugt sei.


Was war, ist wahr

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