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ОглавлениеFranziska Zellweger
«Das Studium war schon immer anspruchsvoll»
Ein Interview mit Frau Dr. Johanna Margrethe Ammitzböll, Leiterin Beratungsstellen ZHAW
Im vorhergehenden Artikel weist Urs Kiener auf der Basis statistischer Daten auf eine starke Zunahme der Heterogenität der Studierenden an den Fachhochschulen hin. Im folgenden Gespräch mit Frau Ammitzböll wird der Versuch unternommen, den Auswirkungen dieser Entwicklung aus der Sicht der psychologischen Studienberatung auf den Grund zu gehen. Ihre präzisen Schilderungen geben spannende Hinweise − einerseits auf das Erleben einzelner Studierender, andererseits auf die gesellschaftlichen und organisatorischen Veränderungen im Bildungssystem. Eines sei vorweggenommen: In der Einschätzung von Frau Ammitzböll war das Studium schon immer anspruchsvoll. Allerdings liefert sie viele Hinweise auf den veränderten Leistungsdruck als eine zentrale Herausforderung für die Studierenden.
F. Zellweger (FZ): Frau Ammitzböll, welche Erfahrungen haben Sie in der Beratung von Studierenden?
J. Ammitzböll (JA): Ich bin seit dreissig Jahren am Technikum Winterthur (heute ZHAW) tätig. Zuerst war ich Dozentin für Psychologie und Lerntechnik. Im Laufe der Zeit entstand bei den Studierenden das Bedürfnis, auch persönliche Fragen zu besprechen. Daraus entwickelte sich die Beratungsstelle der Schule. Daran beteiligt war ein Team von Dozierenden − ich als externe Psychologin.
FZ: Sind Sie heute auch noch in der Lehre tätig?
JA: Ich bin bis heute im Rahmen eines Wahlfachs im Departement Technik (School of Engineering) in die Lehre involviert; ich hatte also während meiner ganzen Zeit an der heutigen ZHAW einen direkten Bezug zur Lehre und erlebte dadurch die Veränderungen der Schule über einen langen Zeitraum hinweg mit. In meinem Hauptberuf bin ich Psychotherapeutin. An der Fachhochschule bin ich denn auch hauptsächlich als unabhängige Psychologin tätig. Dabei habe ich mich im Laufe der 25 Jahre Beratungstätigkeit auf Lernstörungen und Studienprobleme spezialisiert.
FZ: Was sind aus Ihrer Sicht die konstanten Herausforderungen und Probleme der Studierenden, über 25 Jahre hinweg gesehen? Was ist gleich geblieben?
JA: Gleich geblieben sind all die Studienprobleme. Die Studierenden kommen mit dem Leistungsdruck nicht zurecht. Sie haben Schwierigkeiten, die gesetzten Lernziele zu erreichen. Prüfungsängste hindern sie, in Examenssituationen die erforderliche Leistung zu erbringen. In den Prüfungen erzielen sie dann ungenügende Noten. Gleich geblieben sind auch persönliche Problemstellungen und Kriseninterventionen.
FZ: Wann werden Kriseninterventionen nötig?
JA: Plötzlich auftretende schwierige Lebenssituationen können sie erforderlich machen. Das kann beispielsweise nach dem Ende einer Liebesbeziehung sein. Es kann sich auch um Depressionen oder Angstzustände handeln, die unmittelbar nach persönlichen Belastungssituationen auftreten. Es treten etwa akute Konflikte mit den Eltern auf, denn bei den Studierenden handelt es sich ja um Erwachsene, die vorwiegend aus finanziellen Gründen noch zu Hause wohnen. Dominant sind jedoch Leistungsprobleme – insbesondere während des Assessmentjahres, während dessen der grösste Teil der Selektion erfolgt. Die starke Konzentration der Prüfungen am Ende des Semesters kann bei Studierenden Versagensängste auslösen. Kriseninterventionen können auch bei akuten Problemen während der Ausarbeitung der Bachelorarbeit notwendig sein.
FZ: Das letzte Jahrzehnt hat viele Neuerungen gebracht. Was spüren Sie davon in Ihrem Alltag?
JA: Das Studium war schon zur Zeit des Technikums sehr anspruchsvoll. Die verschiedenen Reformen haben die Anforderungen an die Studierenden nicht einfach erhöht. Zu erwähnen sind aber einige wichtige Veränderungen. Zum einen wurden mit der Umsetzung des Bologna-Prozesses die Prüfungen ans Semesterende verlegt. Diese Verlagerung hat aus der Sicht der psychologischen Beratung die Situation der Studierenden in doppelter Weise verschärft: Zum einen ist der Prüfungsdruck heute deutlich höher, und zum anderen sind die Studierenden erst am Semesterende wirklich mit ihrer eigenen Leistungsfähigkeit konfrontiert.
FZ: Was bedeutet diese Entwicklung für Ihre Beratungstätigkeit?
JA: Heute kommen viele Studierende erst nach den ersten Modulendprüfungen in die Beratung, weil sie sich erst zu diesem Zeitpunkt eingestehen, dass sie den Anforderungen fachlich nicht entsprechen können. Diese Tatsache verschlechtert die Beratungssituation: Sie wird viel häufiger zur Krisenintervention.
FZ: Welche weiteren Veränderungen sind erfolgt?
JA: Zum Zweiten wurde im Zuge der Angleichung des Technikums an ein Hochschulstudium die Semesterwochenzahl deutlich verringert (von 19 auf 14 Wochen), ohne dass der Stoffumfang in den einzelnen Fächern wesentlich reduziert wurde. Weil im heutigen System die Module mit dem Ende des Semesters in der Regel abgeschlossen werden, fällt auch die unterrichtsfreie Zeit zwischen den Semestern als Lernzeit weg. Diese Konzentration des Lernprozesses auf eine deutlich geringere Zeitspanne führt für die Studierenden zu einem stärkeren Leistungsdruck. Nicht alle sind ihm gewachsen.
Und als Drittes führt die Verlegung der Prüfungen ans Semesterende sowie ein höheres Mass an Selbststudium dazu, dass für den Erfolg der Studierenden auch ein stärkeres Selbst- und Zeitmanagement massgeblich wird. Viele Studierende sind nur unzureichend oder überhaupt nicht auf diese Lernsituation vorbereitet. Deshalb kommen sie in Schwierigkeiten. In der Beratung können diese Probleme gut bearbeitet werden – vorausgesetzt, dass die Studierenden frühzeitig in die Beratung kommen.
FZ: Sie sprachen bisher in erster Linie vom Assessementjahr. Wie nehmen Sie die Situation im weiteren Studienverlauf wahr?
JA: Diese Verschärfung der Studiensituation gilt hauptsächlich für das erste Studienjahr. Im zweiten und dritten Studienjahr kann gegenüber der Vor-Bologna-Zeit von einer Erleichterung gesprochen werden, da hier nicht mehr jedes Semester bestanden werden muss, sondern eine bestimmte Anzahl Module. Module können bis zu einem gewissen Grade wiederholt bzw. durch andere ersetzt werden.
Eine Anmerkung sei hier noch angefügt: Es gibt ein Phänomen, das sich zu den dargelegten Punkten eher gegenläufig verhält. Ich stelle fest, dass im Vergleich zu früher mehr Studierende das Gefühl haben, dass sie neben dem Studium noch arbeiten können bzw. müssen. Das hängt zweifellos mit unzureichenden Fördermassnahmen für Studierende, aber auch mit einem neuen Selbstverständnis der jungen Erwachsenen zusammen. Jedenfalls führt diese Haltung zu Problemen, die die Studierenden dazu veranlassen, die Beratung in Anspruch zu nehmen. Die Studierenden unterschätzen den psychischen und zeitlichen Aufwand für das Studium. Sie merken dann erst nach der Hälfte des Semesters, dass sie unter Druck geraten und die Stoffmenge nicht bewältigen können.
FZ: Sie haben als Studienberaterin ursprünglich am Technikum Winterthur begonnen, also in einem traditionellen Fachhochschulbereich. Haben Sie inzwischen auch Berührungspunkte mit den neuen Fachhochschulbereichen?
JA: Beim Übergang zur Fachhochschule sind sowohl durch Fusionen als auch durch die Akademisierung von Berufsgattungen neue Bereiche zur ZHAW hinzugekommen. In der Beratungsstelle der ZHAW bin ich auch für diese zuständig. So habe ich neu u. a. Kontakte mit Studierenden aus den Studiengängen Wirtschaft, Übersetzen, Journalismus und Organisationskommunikation, Life Sciences und Facility Management sowie Gesundheit.
FZ: Stellen Sie grosse Unterschiede etwa zwischen Studierenden aus den Ingenieurwissenschaften und dem Gesundheitsbereich fest?
JA: Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Studierenden dieser beiden Departemente besteht in der Tatsache, dass der Anteil derjenigen Studierenden, die über eine gymnasiale Maturität verfügen, im Bereich Gesundheit deutlich höher ist. Das gilt etwa auch für den Studiengang Journalismus und Organisationskommunikation. In diesen beiden Studiengängen kommt noch dazu, dass der Zugang zum Studium über eine Eintrittsprüfung führt. In den Bereichen Ingenieurwissenschaften und Wirtschaft verstehen viele Studierende das Studium als eine zusätzliche Ausbildung bzw. eine Weiterbildung. Ein allfälliges Scheitern wird tendenziell nicht als Katastrophe betrachtet, weil man ja bereits über eine Ausbildung verfügt. Für Studierende mit einer gymnasialen Matur erscheint ein Scheitern verheerend zu sein, weil man dann ohne Berufsausbildung dasteht.
FZ: Stehen in der Beratung dadurch andere Fragestellungen im Zentrum?
JA: Bei Studierenden mit gymnasialer Matur stellt sich zuweilen nach einigen Wochen des Studiums die Frage, ob der eingeschlagene Weg der richtige sei oder ob nicht ein Wechsel des Studienfachs bzw. -orts sinnvoll wäre. Hier wird die Beratung tendenziell zur Berufsberatung. Die Beratungstätigkeit in den neuen Studienrichtungen wird auch dadurch verändert, dass bei diesen – im Unterschied zu denjenigen, die eine Lehre voraussetzen – längere Praktika zum Ausbildungsgang gehören. Der Praxistransfer stellt die Studierenden vor ganz neue Herausforderungen, die ebenfalls Anlass sein können, die Beratung aufzusuchen.
FZ: Sie haben eingangs geschildert, dass die Herausforderungen für die Studierenden über die Zeit recht konstant geblieben sind, etwa der Umgang mit Stress, Leistungsdruck oder die Lebenssituation junger Erwachsener. Beobachten Sie auch gesellschaftliche Entwicklungen?
JA: Diese Frage ist schwierig zu beantworten. Es kann wohl schon behauptet werden, dass bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen, so etwa der Trend zur Globalisierung, die geringere Sicherheit im Job, die hohe Mobilität oder die technische Spezialisierung, zur Folge haben, dass heute ein Lehrabschluss, z. B. im KV-Bereich, als Karrierestart nicht mehr ausreicht. Insbesondere dort, wo das Karrierebewusstsein oder der Wunsch, einmal international tätig zu werden, stärker ausgeprägt ist, scheint ein Bachelor- oder ein Masterabschluss notwendig. Falls bei den Studierenden tatsächlich ein Bewusstsein über diese Zusammenhänge vorhanden ist, steigt der Druck, im Studium erfolgreich zu sein. Zuweilen kommt dieser Druck vonseiten der Eltern. Das beobachte ich vor allem bei Studierenden mit einem Migrationshintergrund. Das grosse Ziel der Eltern ist es, dass ihre Kinder es dank einer höheren Ausbildung einmal besser haben werden, als sie es hatten. Diese Erwartungshaltung wirkt sich bewusst und unbewusst auf die Studierenden aus.
FZ: Gelegentlich hört man, Studierende verstünden sich zunehmend als Kundinnen und Kunden. Spüren Sie dies in Ihrer Beratungspraxis?
JA: Ich höre das von einzelnen Dozierenden. Im konkreten Kontakt mit den ratsuchenden Studierenden erlebe ich dies aber nicht so. Das hat wohl damit zu tun, dass diejenigen Studierenden, die die Beratung aufsuchen, zum einen wissen, dass bei ihnen eine Schwäche vorliegt, und zum anderen gerade selbst etwas dazu beitragen wollen, um die anstehenden Probleme zu bewältigen. Studierende mit einer ausgesprochenen Kundenhaltung fordern vor allem, dass die Dozierenden ihnen zu einem erfolgreichen Studium verhelfen. Von Erwartungen, dass die Dozierenden ihren Unterricht auch didaktisch angemessen gestalten sollen, höre ich in der Beratung auch. Doch schon vor dreissig Jahren waren Studierende mit der Unterrichtsweise gewisser Dozierender unzufrieden. Das war immer schon ein Thema.
FZ: Sie begleiten Studierende seit Jahren in schwierigen Situationen. Welche Empfehlungen möchten Sie vor diesem Hintergrund Dozierenden mit auf den Weg geben?
JA: Im Departement Technik habe ich immer eine humanistische Tradition erlebt – in dem Sinne, dass es sowohl der Leitung als auch den Dozierenden ein Anliegen war, dass möglichst viele Studierende, die das Studium begonnen hatten, dieses auch bestehen sollten. Nicht auf dem Weg, dass keine Leistung von ihnen verlangt wurde, sondern indem die anstehenden Probleme gelöst wurden und die individuelle Situation der Studierenden berücksichtigt wurde. Das führte zu einer sehr guten Zusammenarbeit der Departementsleitung und vieler Dozierender mit der Beratungsstelle. Ich wünsche mir, dass diese Haltung an vielen Hochschulen gepflegt wird.
Porträt: Benjamin Spenger
Alter | 23 |
Vorbildung | Lehre als Chemielaborant, Berufsmittelschule |
Hochschule | ZHAW |
Studiengang | Chemie |
Semester | 2. Semester Master |
Verfasst von Isabelle Rüedi
«Für diejenigen Jobs, die ich machen möchte, muss man einfach Chemiker sein.» Die eingeschränkte Berufsperspektive als Chemielaborant war einer der Hauptgründe für Benjamin Spenger, nach seiner Ausbildung noch ein Studium zu beginnen. Da er neben seiner Lehre bereits die BMS absolviert hatte, erfolgte sein Wechsel an die Fachhochschule nahtlos. «Es war mir wichtig, im Lerntrott zu bleiben», meint der 23-Jährige.
Als Benjamin damals seine Berufslehre beendet hatte, frustrierten ihn einerseits das tiefe Lohnniveau, andererseits sein beschränktes Wissen über die Materie. «Ich möchte verstehen, was ich mache», sagt er. Ausserdem wollte er die Freiheit haben, nicht nur nach Anweisungen eines Vorgesetzten zu arbeiten, sondern auch mal selbst etwas auszuprobieren. «Für eine Lehrmeisterausbildung fühlte ich mich damals einfach noch zu jung», erklärt der Student. Die Fachhochschule war deshalb naheliegend, zumal ihm ein universitärer Studiengang zu spezialisiert war. Auch die Wahl des Faches Chemie erfolgte aus demselben Hintergrund. «Für einen Moment habe ich überlegt, Lebensmittelwissenschaften zu studieren, aber mit Chemie stehen mir später mehr Möglichkeiten offen.»
Mit diesem Ziel vor Augen und seinem enormen Interesse an der Materie begeistert sich Benjamin immer wieder von Neuem für sein Studium. Als Analytiker ist für ihn die praktische Anwendung seines Wissens der absolute Höhepunkt. «Ich freue mich unheimlich, wenn eine Analyse genau funktioniert und brauchbare Resultate entstehen», lächelt der junge Mann. Ausserdem gefalle es ihm, dass es an seiner Hochschule so viele Gleichgesinnte gebe. Das Studium abzubrechen, sei somit für ihn nie infrage gekommen. «Wenn ich etwas angefangen habe, dann ziehe ich es auch durch.»
Trotz allem steht der angehende Chemiker seinem Studium durchaus kritisch gegenüber. Manchmal fehle es den Dozierenden an Fachwissen, was allerdings ein Problem vieler Schulen sei. «Und irgendwie kann ich es auch verstehen, es ist praktisch unmöglich, alles zu wissen», relativiert er die Situation. Was Benjamin allerdings öfter frustriert, ist das Bologna-System. Das plangerechte «Reindrücken» des Stoffes stehe unglücklicherweise oftmals über dem Lerneffekt. «Weil so viel auswendig gelernt werden muss, bietet sich leider selten die Gelegenheit, ein spannendes Thema zu vertiefen», sagt der Student.
Was nach seinem Abschluss kommt, weiss Benjamin noch nicht genau. Momentan konzentriert er sich auf seine Masterarbeit. «Es würde mich freuen, wenn sie andere zum Denken anregt», meint er. Trotzdem kann sich der Ostschweizer nicht vorstellen, eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Für ihn steht nach dem Studium das praktische Arbeiten im Vordergrund. «Ich möchte mich gerne wieder auf die Analytik konzentrieren.» Im Idealfall könne er Berufserfahrung in verschiedenen Betrieben sammeln, damit sein Lohnniveau noch mehr steigt. Auf eines freut sich Benjamin nämlich ganz besonders nach seinem Masterabschluss: «Dann verdiene ich endlich genug eigenes Geld», sagt er lachend.