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Donnerstag

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Ich knöpfte mir den Mantel fest zu. So herrlich das Wetter gestern gewesen war, so schlecht war es heute. Der Himmel schien sich herab gesenkt zu haben. Eine dichte Wolkendecke hing über der Landschaft und ein feiner Nieselregen trübte Sicht und Stimmung. Ein heftiger Wind trieb die anflutenden Wellen gegen die Küste und ließ sie an den Felsen und Klippen aufschäumen. Dies war der letzte Tag meines zweiwöchigen Cornwall-Urlaubs und ich hatte mich entschlossen, trotz des miserablen Wetters noch mal nach Tintagel und der sagenumwobenen Schloßruine zu fahren. Auch wenn die Legende, jener mythische König Arthur wäre hier geboren und hätte auf Schloß Tintagel Hof gehalten, völliger Unsinn ist, da Arthur im 6. Jahrhundert nach Christus lebte und das Schloß zwischen 1233 und 1236 von Richard, Earl of Cornwall, erbaut worden war, regten allein die Namen Arthur und Merlin meine Phantasie an - so wie zahlreicher Besucher aus aller Welt, die hierher kamen. Heute allerdings schien ich allein mit mir und der Landschaft zu sein.

Zum einen würde die Tourismus-Saison erst in ein paar Wochen einsetzen und zum anderen war das Wetter wirklich alles andere als einladend. Den Wagen ließ ich auf dem Parkplatz unterhalb des "The Wootons" Hotels stehen, wo ich mich in gut einer Stunde wieder mit Douglas an der Bar treffen wollte. Ich zog den Reißverschluß meines dunkelgrünen Parkas bis zum Hals hoch, stülpte mir die Kapuze über mein widerborstiges, lockiges Haar und machte mich an den Abstieg zu dem Torhaus des English Heritage, der das Gelände betreute. Der junge Typ, der mir die Eintrittskarte verkaufte, zeigte sich sichtlich überrascht, heute einen Besucher der Anlage zu sehen. Auf der schmalen Landzunge, die die kleine Halbinsel mit dem Festland verband, blieb ich stehen und schaute hinab zu der Bucht, wo zu meiner Linken der Eingang zur sogenannten Höhle Merlins deutlich sichtbar war. Zur Rechten rauschte ein kleiner Wasserfall über die dunklen Felsen hinab zum Strand. Die Wellen des Meeres waren heute grau-grün und verstärkten den Eindruck einer unwirtlichen, feindlichen - fast bedrohlichen - Natur. Es schüttelte mich.

Eigentlich hatte mich gestern abend einer von Dougs Freunden auf die Idee gebracht, heute noch einmal hierher zu fahren. Er käme oft hierher und malte den Felsen, die Klippen, die Insel, die Ruinen aus allen möglichen Blickwinkeln, zu den unterschiedlichsten Tageszeiten und Lichtverhältnissen. Seine Schwärmerei war dann der Auslöser für den heutigen Ausflug gewesen. Überhaupt war die sogenannte Party bei Douglas gestern zu meiner größten Überraschung sehr nett gewesen. Ich hatte mich richtig wohl gefühlt. Zum einen hatte das an der vornehmen englischen Zurückhaltung gelegen, die ich so schätzte, und zum anderen an den Gästen. Mit seiner direkten, für mich typisch irischen Art, war Doug fast so etwas wie eine Ausnahme in jenem Kreis. Keiner hatte mich auf zurückliegende Kriminalfälle angesprochen, in die ich früher mal verwickelt gewesen war. Mal mit diesem, mal mit jenem hatte ich über alle möglichen Themen aus Politik, Geschichte und vor allem über meine Heimat Süd-Afrika geplaudert. Viele wollten wissen, wie ich die Zukunft des ANC einschätzte. Einige der Anwesenden waren schon mal im Süden Afrikas gewesen oder hatten Freunde und Bekannte in Kapstadt, Johannesburg und anderen Orten. Die Atmosphäre war gelassen, entspannt, beinahe heiter gewesen. Eine wirklich schöne Party. Ich hatte irgendwie damit gerechnet, daß mich Douglas' Freund Stephen sofort mit der Einbruchsgeschichte überfallen würde, aber selbst das war nicht geschehen. Im nachhinein kam mir dies sogar fast merkwürdig vor. Dieser Major Stephen Brantworth war mir von Doug vorgestellt worden, aber bevor ich ihn nach den Ereignissen fragen konnte, hatte er sich entschuldigt und war zur Toilette gegangen. Danach hatte ich zwar noch ein paarmal versucht, ihn in ein Gespräch über die Vorkommnisse zu verwickeln, aber jedesmal hatte er sich mir unter allen möglichen Vorwänden entzogen - mal um einen alten Bekannten schnell zu begrüßen, mal um einen neuen Drink zu holen und schließlich war er dann gegangen. Ich gebe zu, daß mir das gestern abend bei all den anderen Gästen und der zwanglosen Unterhaltung nicht weiter aufgefallen war, aber je mehr ich jetzt darüber nachdachte, desto merkwürdiger erschien mir sein Verhalten. Ich mußte nachher unbedingt Douglas darauf ansprechen.

Ich riß mich von meinen Grübeleien los und machte mich über die steile Holztreppe an den Aufstieg zur Burgruine. Der Regen hatte aufgehört. Dafür legte der Wind zu. Es wehte so heftig, daß ich mich am Holzgeländer festhalten mußte, um auf den glitschigen Stufen nicht auszurutschen. Endlich erreichte ich durch ein halbverfallenes Steintor die Reste jener einst so stolzen Burg, den Inner Ward. Ich atmete die frische Meeresluft in tiefen Zügen ein und vermeinte fast, das Gelächter der Hofdamen zu hören, die zwischen den Beeten Fangen spielten. Doch mit einem Mal war mir, als vermischten sich Traum und Realität. Ich hörte plötzlich wirklich etwas, wenn auch kein unbeschwertes Gelächter.

Ich sah auf, konnte aber weit und breit niemanden sehen. Und doch war mir, als wehte der Wind den Klang von Stimmen zu mir herüber. Die Atmosphäre an diesem Ort war eigenartig. Bildete ich mir das alles nur ein? Ich war doch allein hier oben. Immerhin war die Halbinsel an dieser Stelle so flach, daß ich leicht hätte erkennen können, wenn sich noch andere Menschen hier aufhielten. Das mußte an dem guten Wein liegen, dem ich gestern abend mehr als reichlich zugesprochen hatte. Wahrscheinlich hatte ich noch soviel Promille im Blut, daß ich Realität und Traumvorstellungen nicht klar auseinander halten konnte. Mühsam erkämpfte ich mir meinen Weg über das Gras, gegen den Wind, abseits der Touristenpfade. So gelangte ich mit einem Mal an den Klippenrand und wich zurück. Von meiner Position aus, oberhalb des Inner Ward konnte ich zurück aufs Festland blicken und damit auf den korrespondierenden Teil der alten Burganlage, den sogenannten Lower Ward. Um den Naturgewalten zu trotzen, kniete ich mich hin und schaute hinüber. Da, wo ich vom Kartenhäuschen den Aufstieg begonnen hatte, stieg eine weitere Treppe in die andere Richtung hoch, zu eben jenem Lower Ward, dessen Außenmauern noch halbwegs trutzig hochragten. Gleich unterhalb der Mauern fiel an jener Stelle der Felsen steil in die Tiefe ab. Und da sah ich sie.

Zwei Gestalten standen hoch oben auf der Mauerkrone. Ich konnte von der Entfernung und bei dem Licht nicht ausmachen, ob es sich um Männer oder Frauen handelte. Das einzige, was ich erkennen konnte, war daß eine der Figuren kleiner war, als die andere. Sie gestikulierten beide heftig und schienen gleichzeitig gegen den Sturm anzukämpfen. Plötzlich packte die größere Gestalt die kleinere, hob sie hoch und warf sie über den Rand der Klippen in die Tiefe. Mir stockte der Atem. Ich riß die Augen weit auf. Hatte ich das eben wirklich gesehen? War da jemand umgebracht worden? Eine Regenbö zwang mich für einen Moment, die Augen zu schließen und den Kopf zu senken. Als ich wieder aufblickte, sah ich niemanden mehr. Mauern, Steine und Felsen lagen verlassen da wie schon seit Jahrhunderten. Ich kauerte an meinem Platz wie gelähmt. Alles wirkte so unwirklich. Schließlich raffte ich mich auf und ging auf dem Weg zurück, auf dem ich gekommen war. Allerdings bog ich nicht zum Kartenhäuschen ab, sondern stieg die Stufen zur anderen Seite, zum Lower Ward empor, wo ich vor wenigen Augenblicken noch meinte, Zeuge eines Verbrechens gewesen zu sein. Als ich außer Atem oben anlangte, blickte ich mich nach allen Seiten um. Doch da war niemand zu sehen. Ich war offensichtlich allein hier oben. Vorsichtig näherte ich mich jener Außenmauer des Burghofes, auf der ich die beiden Gestalten im Streit zu sehen geglaubt hatte.

Der Wind frischte auf und ich hatte Angst, plötzlich auszurutschen und selbst in die Tiefe zu stürzen. Behutsam kletterte ich die Steinstufen zur Mauerkrone empor und näherte mich dem Rand. Ich ging in die Knie, um nicht von einer plötzlichen Bö erfaßt und in den Abgrund gerissen zu werden. Und da sah ich ihn. Wasser schäumte gegen einen Felsen tief, tief unter mir, wich wieder zurück und gab den Blick auf einen menschlichen Körper frei, der zwischen den Klippen hing. Wie mit einem Pfiff entwich mir der Atem. Hatte ich mich also nicht getäuscht. Ich mußte tief Luft holen. Ich leide nicht unter Asthma, aber in diesem Moment war mir, als bekäme ich keine Luft. Schnell wandte ich mich ab und schloß die Augen. Nur keine Panik jetzt, murmelte ich wie ein Mantra mehrmals vor mich hin. Was ich gesehen hatte, ging niemanden etwas an. Mit etwas Glück würde es mir gelingen, die Bilder des Sturzes und jenes schlaffen Leichnams zwischen den Klippen zu verdrängen. Morgen befände ich mich bereits auf der Heimreise und würde diese Episode tief in meinem Inneren verschließen. Sollten sich andere, Berufenere, darum kümmern.

Als ich mich erhob, merkte ich, wie wackelig meine Knie waren, wie sie zitterten. Mit aller Kraft zwang ich mich zur Ruhe und machte mich an den Abstieg. Da ich jetzt niemandem begegnen wollte, noch nicht einmal dem jungen Karten-Verkäufer, nahm ich den Pfad, der oberhalb des Ticket-Häuschens zu dem Weg führte, auf dem ich - erneut bergauf stapfend - zum Parkplatz gelangte. Es hatte wieder zu regnen begonnen, heftiger als zuvor. Der Boden wurde schlammig und rutschig. Es war empfindlich kalt geworden, doch mein Frösteln hatte andere Ursachen. Endlich erreichte ich meinen Wagen. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, daß Douglas erst in einer Viertelstunde in der Bar erscheinen würde. Aber was sollte ich im Auto warten. Und der Weg zum Hotel war zu kurz, um zu fahren - trotz des miesen Wetters. Also drehte ich mich um, um die paar Meter zum "Wootons" zu laufen. Da stieß ich hart mit jemand zusammen, der plötzlich hinter mir angerannt kam. Meine erste Reaktion war heftiger Schrecken und dann sofort Wut. Konnte diese Person nicht aufpassen und schauen, wohin er oder sie lief? Ohne stehen zu bleiben oder auch nur zu zögern, stürmte der Mann jedoch sofort weiter, an mir vorbei und zu dem Wagen, der neben meinem parkte. Bei meiner Ankunft hatte er noch nicht dagestanden. Ich starrte ihm hinterher. Erst jetzt fiel mir auf, daß es ein Mann gewesen war. Und dazu kam er mir bekannt vor. In dem Auto, einem Golf, saß noch jemand auf dem Beifahrersitz. Kaum war der Mann eingestiegen, ließ er auch schon den Motor an, setzte heftig zurück und fuhr rasch an mir vorbei. Verblüfft schaute ich hinterher. Das Kennzeichen kam aus Deutschland: HL für Lübeck. Und sofort dämmerte mir, woher ich den Mann kannte. Es war jener kräftige Deutsche aus dem Cobweb Inn in Boscastle gestern gewesen, der seine blonde Begleiterin so angeschnauzt hatte. Was sie hier gemacht hatten, war nicht schwer zu erraten - Touristen wie ich eben. Aber warum war er so gerannt, wie von Furien gehetzt? Im Lichte dessen, was ich eben dort oben auf den Klippen erlebt hatte, wollte ich lieber nicht weiter darüber nachdenken. Ich gab mir einen Ruck und hastete zu meinem Treffen mit Douglas.

Die Bar war leer. Nicht nur, daß noch keine Touristensaison herrschte, es war auch recht früh am Tag. Erneut warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr. Immerhin war es bereits zwölf Uhr dreißig, das heißt, ich konnte schon etwas zu trinken bekommen. Vorsichtig zog ich meinen tropfnassen Parka aus und hängte ihn mehr schlecht als recht über einen Stuhl beim Fenster. Ein freundlich wirkender, junger Mann schien meine Ankunft bemerkt zu haben und trat erwartungsfroh hinter den Bartresen. Ich bestellte mir, ohne groß nachzudenken, einen Lagavulin und war bei der Reaktion des Barkeepers erleichtert, daß das Hotel diese Whisky Marke führte. Es ist einer jener relativ seltenen Single Malt Whiskys von der Insel Islay der Inneren Hebriden, deren rauchig-holzigen Geschmack ich sehr mochte. Mit meinem Glas setzte ich mich an den Tisch, wo ich meinen Parka gelassen hatte und trank einen kräftigen Schluck. Sofort durchströmte mich angenehme Wärme. Mit geschlossenen Augen zog ich den Duft des Getränks ein.

"Meine Güte, du siehst ja blaß aus wie der Tod. Kein Wunder, daß du jetzt schon säufst. So schlimm ist das Wetter nun aber auch wieder nicht."

Ich riß die Augen auf und blickte in Douglas' strahlendes, rundes Gesicht. Er schüttelte den Kopf.

"Du solltest dich mal im Spiegel ansehen, alter Freund - oh, Verzeihung, aber Spiegel sind ja seit kurzem tabu bei dir."

"Hol' dir was zu trinken und quatsch kein krauses Zeug!" knurrte ich ihn an. Sofort tat es mir leid, ihn so angeblafft zu haben und ich rang mir ein Lächeln ab.

"Entschuldige, Doug, aber es war keine besonders gelungene Idee von mir, heute auf dem Felsen in den Ruinen herum zu laufen. Ich hoffe, du hattest eine angenehmere Zeit als ich."

Er blieb vor mir stehen und musterte mich für einen Moment. Ich hatte den Eindruck, daß er mir diese flüchtige Erklärung nicht abkaufte. Aber er wollte jetzt auch nicht insistieren und nickte nur.

"Ich hatte eine gute Zeit, aber jetzt brauch' ich auch erst mal was zu trinken."

Nachdem er sich mit einem Bier zu mir gesetzt hatte, starrten wir eine Weile schweigend vor uns hin. Schließlich wurde Douglas die Stille zuviel.

"Tut mir leid, die Bemerkung mit den Spiegeln. Aber du solltest dich wirklich mal sehen. Als wärst du einem Gespenst über den Weg gelaufen.."

Mühsam unterdrückte ich den Impuls, ihm von meinen Erlebnissen zu erzählen. Aber ich hatte mir geschworen, keine Silbe zu irgendwem auch immer verlauten zu lassen. Also schüttelte ich nur den Kopf.

"Es war wirklich häßlich. Der Regen ging mir fast durch bis auf die Haut und der Sturm machte ein freies Herumlaufen beinahe unmöglich. Da braucht es keine Geister, um so auszusehen wie ich."

Er sah mich an, als ahnte er, daß da mehr dahinter steckte. Dann grinste er.

"Wie kommst du bei mir zurecht, wenn du immer wieder in Spiegel kucken mußt?"

Obwohl meine Reaktion in keiner Weise bewußt war, schien mein Blick so zu sein, daß Douglas erschrocken zusammen zuckte. Ich wischte seine Worte mit einer Handbewegung weg.

"Mach' dir da mal keine Gedanken. Bei dir hängen ja genug davon herum, so daß ich gar nicht darum herum komme, immer mal wieder in einen zu blicken. Und zu Hause brauche ich einfach keinen, bis auf den kleinen Rasierspiegel im Bad. Da gibt es keine geheimnisvollen Gründe!"

Natürlich steckte mehr dahinter, aber darüber wollte ich selbst mit Doug nicht reden. Er ließ das Thema auf sich beruhen. Ich holte mir jetzt auch ein Bier und wir überlegten, was man bei dem miesen Wetter heute noch unternehmen konnte. Wir einigten uns schließlich darauf, nach Penzance zu fahren. Das war nicht so weit von St. Ives und die meisten anderen Örtlichkeiten hier entfalteten ihre malerische Wirkung erst im Sommer bei etwas besserer Witterung als heute. Außerdem verbot sich ein Ausflug zu entfernter gelegenen Zielen im Norden und Osten, da Douglas, wie er mir erzählte, für heute abend noch einen Bekannten eingeladen hatte, der erst kürzlich angefangen hatte zu malen. Jener Nahood MacLugllun - mein Gott, was für ein Name! - war vor nicht allzu langer Zeit nach St. Ives gezogen und ein Freund von Stephen. So hatte Douglas ihn auch kennen gelernt und gleich auf Anhieb gemocht. Jener MacLugllun war nun ein paar Wochen weg gewesen, heute früh zurück gekommen und mein Freund wollte unbedingt, daß ich MacLugllun auch noch kennenlernte. Zuerst aber entschieden wir uns, vor unserer Weiterfahrt schnell etwas essen. Wir wählten beide die Lamb-Pie mit Minze-Sauce, Erbsen und Pommes Frites. Es schmeckte sehr gut; besonders die Erbsen; diese tief-grünen, süßlichen, großen Erbsen liebte ich, die man in England aber nicht in Deutschland bekommt, - während ich unsere verschmähte. Dazu genehmigten wir uns noch ein Bier. Nachdem wir gegessen und ausgetrunken hatten, fuhren wir los. Da es gerade nicht regnete, gelangten wir sogar trocken zum Wagen.

Während der Fahrt hingen wir beide unseren Gedanken nach. In mir hallte dieser eigentümliche Name wieder: Nahood MacLugllun. Ein weiterer Freund von Douglas und diesem eigentümlich zugeknöpft wirkenden Stephen Brantworth. Und dann ging mir mit einem Mal wieder der gestrige Abend durch den Sinn. Ich hatte ihn genossen, aber da war auch etwas gewesen, was mir erst jetzt in der Rückbesinnung auffiel. Außer Douglas und mir waren noch 15 weitere Männer anwesend, wenn ich mich recht erinnerte. Mein erster Eindruck war gewesen, daß sich alle gut kannten und miteinander befreundet waren. Aber das konnte so nicht stimmen. Zwar ließen die Altersspanne von Mitte sechzig bis etwa Mitte achtzig, das Benehmen und die äußere Erscheinung der Anwesenden mich zuerst auf eine mehr oder weniger homogene Gruppe schließen, die sich da versammelt hatte. Je intensiver ich mir jedoch den Abend vergegenwärtigte, desto deutlich wurde mir, daß es sich um zwei Gruppen gehandelt hatte. Sieben der Anwesenden waren Maler und Galerie-Besitzer aus St. Ives gewesen. Die anderen acht, zu denen auch jener Colonel Brantworth gehörte, malten teilweise auch, aber mehr als Hobby. Es handelte sich um Rentner, ehemalige Offiziere, Kapitäne der Handelsmarine und Kaufleute, die sich in und um St. Ives niedergelassen hatten. Gesprächen konnte ich entnehmen, daß einer von ihnen in Newquay und ein anderer sogar noch weiter nördlich aus Port Isaac kam. Obwohl ich es nicht belegen konnte, war diese "Rentner"-Gruppe viel geschlossener aufgetreten, als die andere. Es war deutlich zu spüren gewesen, daß sich diese acht Männer sehr gut kannten und daß sie fast mehr als Freundschaft verband - was allerdings, vermochte ich nicht zu sagen. Hatten die anderen manchmal sogar recht lautstark miteinander und bisweilen auch mit den Rentnern kommuniziert, so hatten sich die älteren Männer streckenweise nur nonverbal ausgetauscht. Ein Wink hier, ein Heben der Augenbrauen da und schon reagierte ein anderer von ihnen - sei es, dem Betreffenden einen Drink zu holen oder sich mit ihm in eine Ecke zu setzen. Während mir das alles durch den Kopf ging, merkte ich, wie wenig faßbar meine Eindrücke waren, wie schlecht ich sie in Worte kleiden konnte und wie das meiste nur auf einem Gefühl beruhte; ein Gefühl aber, das mich aus einem mir unerklärlichen Grund beunruhigte. Ja, es war so gewesen, als verbände diese alten Männer ein Geheimnis - und kein angenehmes. Unwillkürlich mußte ich den Kopf schütteln. Meine Phantasie drohte wieder einmal, mit mir durch zu gehen.

Die Fahrt über Camelford, Wadebridge und Redruth verlief glatt und gemütlich. Douglas besaß nur einen kleinen Toyota und genoß das behagliche Reisen in meinem Luxus-Coupe. Da ich auf den breit ausgebauten Hauptstraßen fuhr, kamen wir auch schnell voran. Die engen Nebenstraßen hier mit ihren hohen Hecken und Erdwällen, die ich schon ein paarmal hatte nehmen müssen, und die so gut wie keine Sicht auf etwaig herannahenden Gegenverkehr ermöglichen, stellten für mich dagegen eine Herausforderung dar. Ich drehte das Radio an und wir ließen uns von irgendwelchen Pop-Songs berieseln. Nach etwa zwei Stunden erreichten wir die Außenbezirke von Penzance. Die Stadt ergoß sich vor unseren Augen hinunter zum Meer. Hier war das Wetter ganz anders als an der Atlantikküste im Westen. Zwischen vereinzelten Wolken am blauen Himmel leuchtete die Sonne auf uns herab. Wir mußten an einer Ampel halten. Im Radio kamen gerade die Nachrichten. Erst das Hupen der Autos hinter mir riß mich aus meiner Erstarrung. Douglas tippte mir auf den Arm.

"Ist dir schlecht, Amos?"

Ich fuhr langsam an und konnte nur den Kopf schütteln.

"Es war kein Unfall, es war Mord."

Ich sah ihn nicht an, aber spürte, wie Douglas mich anstarrte. Ich gab mir einen Ruck und fuhr bei der erstbesten Parkmöglichkeit links ran. Dann atmete ich tief durch. Meinen Vorsatz, mit niemandem über die Geschehnisse sprechen zu wollen, konnte ich einfach nicht mehr aufrecht erhalten. Ich blickte geradeaus. Meine Worte kamen stoßweise.

"Hast du das eben in den Nachrichten gehört?"

"Ja, natürlich - die übliche Scheiße. Wer kümmert sich schon darum?! Was, verdammt, ist los?"

"Ich meine, hast du das am Schluß gehört, die letzte Meldung?"

"Klar, ein alter Mann ist heute tot aufgefunden worden. Irgend so ein blöder Unfall, in - in - oh, mein Gott - in Tintagel. Er ist beim Castle die Klippen hinunter gestürzt. - Ach, du Scheiße - warst du in der Nähe? Hast du ihn gesehen?"

"Es war kein Unfall, Doug. Er ist nicht gestürzt. Ich hab' es gesehen. So deutlich, wie ich die Palmen da vorne erkennen kann. Er wurde hinunter geworfen - von einem anderen."

Für einen Augenblick herrschte Totenstille im Wagen. Es war, als habe Douglas den Atem angehalten. Als er wieder sprach, war seine Stimme ganz leise, seine Worte vorsichtig, zögerlich.

"Das Wetter war dort oben hundsmiserabel. Das hast du mir selbst gesagt. Und ich hab's ja auch bemerkt. Man konnte nicht viel sehen. Ich weiß, wie es dort oben ist, wenn die Elemente losgelassen scheinen. Die Sicht ist schlecht. Der Regen macht einen halb blind. Man hört alles mögliche, merkwürdig klingende Geräusche, die einem manchmal wie Stimmen vorkommen. Versteh' mich jetzt um Gottes Willen nicht falsch, alter Kumpel. Aber bist du dir da wirklich sicher, absolut sicher? Die Winde machen dort oben manchmal Kapriolen, sie spielen deinen Sinnen Streiche. Sie bauschen Mäntel auf, lassen sie flattern und du meinst, du siehst zwei Leute, wo doch nur einer ist. Aber - " er hob abwehrend die Hände " - wenn du absolut sicher bist, daß der alte Mann umgebracht wurde, dann müssen wir jetzt wohl oder übel zur Polizei fahren. Da hilft alles nichts."

"Nein!"

Meine Reaktion fiel offenbar lauter und wilder aus, als ich beabsichtigt hatte. Douglas jedenfalls zuckte zusammen, als hätte ich ihn geschlagen. Ich legte ihm eine Hand auf den Arm.

"Entschuldige, Doug. Ich bin überreizt. An sich wollte ich überhaupt nicht darüber sprechen - mit niemandem. Die Nachricht im Radio eben hat mich dann einfach überrumpelt. Es tut mir wirklich leid, daß ich dich angefahren habe. Aber ich werde ganz sicher nicht zur Polizei gehen. Ich weiß, was ich gesehen habe. Aber ich habe keine Beweise. Ich konnte nicht mal erkennen, ob die andere Gestalt ein Mann oder eine Frau - meinetwegen eine besonders kräftige Frau gewesen ist. Und ich weiß doch auch schon, wie die Bullen reagieren werden. Sie werden genauso Zweifel an den Tag legen wie du - nur nicht so zartfühlend und höflich wie du als Freund. Ich mache mich doch nicht lächerlich. Du hast die Meldung selbst gehört. Es gibt für die offensichtlich überhaupt keinen Zweifel an einem Unfall. Und dann kommt so ein Tourist aus Deutschland - egal wo ich geboren wurde - und tischt denen eine wilde Geschichte auf - na, die werfen mich doch hochkant aus der Wache."

Ich mußte plötzlich auflachen. Douglas sah mich von der Seite mit einem Blick an, der zeigte, daß er jetzt um meinen geistigen Gesundheitszustand zu fürchten begann. Ich stieß ihn in die Seite.

"Keine Angst, ich drehe nicht durch. Mir schoß nur der Film »Ladykillers« mit Alec Guinness durch den Kopf. Weißt du noch - die alte Lady am Anfang und am Schluß, die keiner ernst nimmt. Genauso würde es mir ergehen - nur, daß sie mich nicht so höflich anfassen würden, weil ich eben keine alte Lady bin. Und ich habe keinen Koffer mit Geld bei der Sache gefunden."

Nun mußte auch Doug laut lachen. Für einen zufällig vorbei kommenden Passanten haben wir bestimmt wie zwei dumme Schuljungen ausgesehen, wie wir da lachend im Wagen saßen. Aber Lachen befreit. So fühlten wir uns anschließend auch schon etwas besser. Ich nahm ihm noch das Versprechen ab, mit niemandem, wirklich keiner Menschenseele - egal wie gut er sie oder ihn kannte - über das zu reden oder auch nur anzudeuten, was ich ihm eben berichtet hatte. Dann fuhren wir weiter hinunter zum Hafen und parkten an der Ufer-Promenade. Douglas wollte mir unbedingt ein Antiquariat zeigen, daß mir gefallen würde. Allzuviel Zeit hatten wir jedoch nicht, damit sein Gast nachher nicht vor verschlossener Tür stehen mußte.

"Und dann gehen wir aus dem Antiquariat raus und Amos deutet auf den Laden gegenüber und ruft: »da machen sie Würste aus den Kunden!«. Nicht nur ich starre ihn entgeistert an, auch eine Frau bleibt entsetzt stehen. Amos zeigt auf ein Friseurgeschäft: »Sweeney Todd's Barber«."

"Aber ich hab' dich gleich aufgeklärt, Doug. Wissen Sie, ich hab' in New York mal dieses Musical gesehen: »Sweeney Todd« mit dem bezeichnenden Untertitel: »The Demon Barber of Fleet Street«. Angela Lansbury hat die weibliche Hauptrolle gespielt. Sie verkauft unten im Erdgeschoß des Hauses Fleischpasteten, die sie aus den Kunden herstellt, die der Friseur über ihr abmurkst. Ein herrliches Grusical! Na, ja, auf alle Fälle hat mich das Schild über dem Laden heute sofort an dieses Musical erinnert."

Wir alle lachten. Es war ein ausgesprochen gemütlicher Abend. Wir saßen in Douglas' Wohnzimmer und konnten durch das große Panorama-Fenster hinaus auf die See schauen. Allerdings war es bereits dunkel geworden und nur ab und zu blinkten in der Ferne die Positionslichter eines vorüber fahrenden Schiffes. Guter Koch, der er war, hatte Douglas uns eine köstliche Steak-and-Ale Pie bereitet, die wir bis auf den letzten Krümel verzehrt hatten. Nun saßen wir in den hohen Lehnsesseln beim Fenster, tranken Bier und rauchten. Ich hatte vor etwa einem Jahr wieder mit der Unsitte angefangen. Allerdings beschränkte sich mein Konsum meistens auf fünf bis sechs Zigaretten in den Abendstunden. Durch den aufsteigenden, bläulichen Rauch hindurch musterte ich mein Gegenüber. Dieser Nahood MacLugllun war wirklich sympathisch. Er war vor einem Monat 75 Jahre alt geworden, aber sein dichtes, dunkles Haar zeigte noch keine einzige graue Strähne. Ein Hüne von einem Mann, beeindruckten mich vor allem seine großen Hände mit den langen, feinen Fingern. Buschige Augenbrauen wölbten sich über großen, braunen Augen. Wenn er lachte, zeigte sich sein makelloses, weißes Gebiß, von dem er bereits stolz erzählt hatte, daß es immer noch seine eigenen, ursprünglichen Zähne waren. Er war hier in der Gegend aufgewachsen, hatte dann Maschinenbau-Ingenieur sowie Chemie studiert und war Zeit seines Lebens für Erdöl-Fördergesellschaften tätig gewesen - lange Jahre in Kanada und später für eine Firma namens Bechtel vor allem in den arabischen Ländern. Auf meine Frage, daß ich keine Ölgesellschaft namens Bechtel kenne, lachte er.

"Nein, die »Bechtel Group« bohrt nicht selbst nach Öl. Sie sind das führende Unternehmen im Anlage- und Pipelinebau. Außerdem sind sie äußerst aktiv in der Konstruktion von Nuklear-Anlagen."

Ich schüttelte den Kopf.

"Noch nie von denen gehört, wirklich nicht."

MacLugllun nickte ernst.

"Das ist in gewisser Weise auch der Clou, ein Teil von deren Geschäftspolitik und gleichzeitig auch mit ein Grund deren wirtschaftlichen Erfolgs. Sie wollen nicht in die Schlagzeilen. Dafür ist ihr politischer Einfluß um so größer. Seit Eisenhower haben sie einen Fuß im Weißen Haus. Erinnern Sie sich noch an Caspar Weinberger, den Verteidigungsminister unter Ronald Reagan? Oder an George Shultz, den damaligen Innenminister? Das waren beides ehemalige leitende Mitarbeiter von Bechtel. Und dahin sind sie auch nach ihrer Amtszeit wieder zurückgekehrt. Manche sagen, ohne die tatkräftige Unterstützung von Bechtel wäre Reagan niemals Gouverneur von Kalifornien und später sogar Präsident der USA geworden. Was da dran ist, weiß ich nicht. So sehr interessiere ich mich auch nicht für Politik. Aber die Bechtels waren für mich ein guter Arbeitgeber. Ich kam viel in der Welt herum. Nur nicht nach Süd-Afrika. Und da kommen Sie doch her, Amos, wie mir Douglas erzählt hat?!"

Was hatte Douglas ihm wohl alles über mich erzählt? Ich entschied mich, das Ganze behutsam anzugehen.

"Ja, ich bin in Kapstadt geboren. Aufgewachsen bin ich dann aber in Johannesburg. Mein Vater war ein erfolgreicher Architekt und hat eine Villa in dem Nobel-Vorort Melville gekauft. Da sind wir hingezogen als ich drei Jahre alt war. Aber meine Eltern lebten sich auseinander und ich bin dann nach der Scheidung mit meiner Mutter nach Deutschland gekommen."

"Ist Ihnen die Trennung schwer gefallen?"

"Von Süd-Afrika? - Ja. Ich war immerhin dreizehn und ließ eine Reihe Freunde zurück. Die Trennung meiner Eltern? - Nein. Ich hatte nie ein besonders enges oder gutes Verhältnis zu meinem Vater."

"Und wie gefällt Ihnen das Leben in Deutschland? - Entschuldigen Sie, ich will Sie nicht ausfragen, aber da ich auch ständig umhergezogen bin, interessiert mich einfach, wie es anderen dabei ergangen ist."

"Oh, das macht nichts. Ich hab' da keine Geheimnisse. In Deutschland bin ich nie so recht heimisch geworden. Vielleicht auch, weil ich gleich ins Internat kam. Das Leben ist o.k. dort, aber ich weiß nicht, ob ich da auch wirklich alt werde. Auf alle Fälle habe ich jetzt einen guten Job und kann meine Miete bezahlen. Was später mal sein wird - darüber mache ich mir heute keine Gedanken. Vielleicht ziehe ich hierher zu Douglas. St. Ives gefällt mir, muß ich sagen."

Douglas prostete mir zu.

"Hey, das ist das erste vernünftige Wort seit Ewigkeiten, das ich von dir höre. Wir suchen dir hier eine schmucke Bleibe und eine tatkräftige Haushälterin, die dich versorgt."

Ich zog die Augenbrauen hoch.

"Danke, Doug - aber ich glaube nicht, daß ich das brauche. Ich komme schon sehr gut alleine zurecht."

MacLugllun lächelte.

"Das glaube ich sofort, nachdem ich Sie nun kennen gelernt habe. Aber ganz allein - Douglas hat mir erzählt, daß Sie Witwer sind - so ganz allein ist es doch auch nichts. Ich selbst habe zwar nie geheiratet, da ich während meines Berufslebens nie Gelegenheit dazu hatte, aber jetzt bin ich doch froh, daß mir meine Schwester den Haushalt führt."

Das Thema gefiel mir nicht, aber bevor ich etwas anderes anschneiden konnte, kam mir Douglas zuvor. Er hob seine Augen in gespielter Verzückung zur Decke.

"Das ist glattes Understatement, Amos. Nahomee pflegt die beste cornische Küche weit und breit. Sie könnte bestimmt sofort in einem Fünf-Sterne-Hotel anfangen, schwöre ich dir."

MacLugllun lächelte voller Stolz.

"Douglas sagte, daß Sie morgen leider schon wieder abfahren müssen, Amos. Aber wenn Sie das nächste Mal hierher kommen - und das ist hoffentlich bald! - dann müssen Sie unbedingt zu uns zum Dinner kommen. Nahomee wird glücklich sein, für Sie - und natürlich auch Dich, Doug, alter Vielfraß! - kochen und ihre Künste zeigen zu können."

Wir mußten alle lachen. Ich bedankte mich. Für eine Weile drehte sich die Unterhaltung jetzt um Lokale in der Gegend, die mir nichts sagten. Auch wenn seine Schwester - ich mußte mal rauskriegen, woher diese merkwürdigen Vornamen Nahood und Nahomee stammten, ging mir durch den Kopf - eine so vorzügliche Köchin war, wie die beiden behaupteten, so kam Nahood doch offenbar ganz gut rum. Er kannte sogar Lokale, von denen Douglas noch nichts gehört hatte. Und das wollte etwas heißen, denn entgegen Nahoods wohl witzig gemeinter Bemerkung war mein Freund ein Gourmet und kein Gourmand. Ich betrachtete die weiß-blauen andalusischen Kacheln, mit denen Douglas den Fußboden ausgekleidet hatte, ließ meinen Blick hoch zu seinen diversen impressionistischen und abstrakten Gemälden schweifen, mit denen er scheinbar willkürlich die Wände vollgehängt hatte und schaute schließlich hinaus in die Dunkelheit. Meine Gedanken begannen zu wandern.

Offenbar schienen die beiden meine geistige Abwesenheit bemerkt zu haben, denn MacLugllun sprach mich plötzlich unvermittelt an.

"Sie malen nicht auch zufällig, Amos? Douglas hat zwar nicht davon erwähnt, aber das besagt nicht viel."

Ich schüttelte lächelnd den Kopf.

"Nein, ich habe keinerlei künstlerische Veranlagung und schon gar kein Talent zum Malen oder Zeichnen."

Douglas winkte energisch ab.

"So macht er das immer. Er meint dann, bescheiden zu sein, aber ich finde, er kokettiert damit. Talent zum Zeichnen hast du vielleicht nicht, Amos - auch wenn ich mir da gar nicht mal sicher bin - aber zu sagen, du hättest keinerlei künstlerische Ader, ist schon sehr untertrieben. Du mußt wissen, Nahood, daß Amos eine wirklich phantastische Kollektion zeitgenössischer Kunst besitzt. Er ist vielleicht kein Sammler im engeren Sinne, aber er hat ein Händchen dafür, von noch unbekannten Genies Werke zu kaufen und staunt dann selbst, wenn die ein paar Jahre später ungeheuer viel wert sind. Und dann verschenkt er ab und zu ein paar dieser Werke an Freunde zum Geburtstag oder anderen Feiern. Museen haben ihn schon gebeten, ihnen etwas aus seiner Sammlung zu verkaufen."

"Nun übertreib‘ aber nicht, Doug! Einmal hat eine kleinere Galerie bei mir angefragt. Mehr war da auch nicht. Mich fasziniert einfach diese Form des Ausdrucks. Gedanken, Gefühle, Vorstellungen - alles in eine statische Form gebracht, die nicht aus Worten besteht; den Augenblick festgehalten - oder eine Entwicklung in einen Moment gebannt. Ach, verdammt - ich weiß selbst nicht. Das klingt so furchtbar aufgeblasen, wenn ich das erklären will. Und eigentlich will ich es gar nicht erklären. Es macht mir einfach Freude. Und jetzt ist auch mein Bierglas leer, Doug und ich bin immer noch durstig."

Die beiden lachten. Douglas ging in die Küche, weitere Getränke zu holen. MacLugllun musterte mich mit einem neugierigen Ausdruck in den Augen. Als mein Freund wiederkam und uns nachgeschenkt hatte, beugte sich Nahood mit einem Mal vor, als sei ihm gerade etwas eingefallen.

"Wart Ihr eigentlich schon in der Newlyn Art Gallery? Die ist ja nicht weit von Penzance entfernt. Ich habe da erst vor zwei Wochen tolle Bilder von - "

Das Läuten des Telefons unterbrach ihn. Douglas hob entschuldigend die Hand und ging in den Flur, wo der Apparat stand. Er sprach nicht viel und die wenigen Worte waren so leise, daß wir nichts verstanden. Hauptsächlich schien er zuzuhören. Das Gespräch dauerte nicht lange. Als er wiederkam, war sein Gesicht ernst. Er trank einen Schluck Bier und sah mich dann einen Augenblick mit einem merkwürdigen Ausdruck im Gesicht an, bevor er sich an Nahood wandte.

"Wo wir eben von Sammlungen und Galerien geredet haben - hast du zufällig gehört, was heute passiert ist?"

MacLugllun sah ihn fragend an und schüttelte den Kopf. Douglas fuhr sogleich fort.

"Du kennst doch Thomas Donegal, oder? Er besitzt diese Weinhandlung mit Galerie in der Nähe des "Sloop Inn" an der Wharf. Kürzlich hat er doch ein paar Bilder von Eric Ward ausgestellt. Wir haben sie uns zusammen angeschaut und dabei auch ein paar Worte mit Eric gewechselt haben - erinnerst du dich, Nahood?"

Der Angesprochene nickte nur und wartete wie ich auf die Fortsetzung.

"Am Telefon eben, das war Russell. Sie haben Thomas Donegal heute mittag gefunden - tot. Er ist beim Tintagel Castle die Klippen runter gestürzt."

Ich saß da wie erstarrt, während mir gleichzeitig durch den Kopf schoß, daß ich mir jetzt auf keinen Fall etwas anmerken lassen durfte. Betont ruhig griff ich nach meinem Glas und trank einen Schluck Bier. MacLugllun blickte zu Boden und schüttelte den Kopf.

"Das ist ja furchtbar. Er war doch noch gar nicht so alt. Wie konnte das denn passieren?"

Douglas zuckte mit den Schultern.

"Es muß dort heute furchtbar gestürmt haben. Wahrscheinlich hat er die Balance verloren. Auf dem Weg nach Penzance haben wir sogar davon im Radio gehört, aber sie haben keinen Namen genannt und so wußten wir nicht, daß es sich um Donegal handelte."

Ich warf Douglas einen beschwörenden Blick zu, aber das war nicht nötig. Er hielt sich auch so an sein Versprechen, nichts von dem zu verraten, was ich ihm erzählt hatte. Geschickt lenkte er das Gespräch von den Ereignissen heute weg.

"Sicher, es ist immer furchtbar, wenn ein Mensch so ums Leben kommt, aber er war immerhin schon über 90 Jahre alt - da hast du dich verschätzt, Nahood. Und außerdem ist es - möge er in Frieden ruhen - um diese Galerie auch nicht besonders schade. Vielleicht macht sein Nachfolger mehr daraus."

Entrüstet fuhr MacLugllun auf.

"Wie kannst du so etwas sagen, Doug'?! Seine Weine waren die besten weit und breit!"

"Ha - seine Weine, ja! Aber die Bilder, komm, das war doch nur etwas, um die Touristen ins Geschäft zu locken. O.k., O.k. - die Ausstellung mit Erics Bildern war gut. Aber so etwas stellte doch bei ihm die absolute Ausnahme dar. In der Regel verhökerte er diese preiswerten Drucke, diese naiven Bilder von Häusern mit Katzen hier aus St. Ives. Das war nun wirklich nicht die Welt. Seine Weine, ja - die waren schon etwas Besonderes. Mal sehen, was der junge Timothy daraus macht."

Nahood schüttelte erneut den Kopf.

"Es ist einfach furchtbar. Er kannte sich doch aus. Wie konnte das nur passieren?"

"Kommt, jetzt trinken wir etwas ganz Besonderes auf Donegals Ableben. Das gehört sich so."

Douglas stand auf und ging in die Küche. MacLugllun starrte auf seine Füße. Ich sah ihn an. Merkwürdig, daß der Tod dieses alten Mannes ihm so nahe ging. Hatte er ihn näher gekannt? Mir konnte das gleich sein. Gedankenverloren kramte ich in meinen Taschen und zog eine Packung Zigaretten heraus. Gerade als ich mir eine anzünden wollte, hörte ich sie. Nach so langer Zeit, erklang sie laut und deutlich in meinem Innern, diese Stimme, die ich liebte und haßte und von der ich so inständig gehofft hatte, sie nie wieder zu vernehmen:

"Sei auf der Hut. Das Böse ist wieder nah. Es wird nach dir greifen. Schütze dich!"

Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn. Rasch blickte ich mich um, aber ganz offensichtlich hatte niemand etwas bemerkt. Natürlich nicht - außer mir konnte ja niemand diese Stimme vernehmen, diese Verbindung zu meinen Kindertagen in Süd-Afrika. Douglas kam mit einer Flasche Black Bush zurück, meinem zweitliebsten Whisky. So sehr ich mich normalerweise darüber gefreut hätte, so vergällt war plötzlich der Abend. Ich trank das Glas aus, das er mir reichte, aber ich schmeckte nichts. Würde das alles nie ein Ende finden?

Klippen der Angst

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