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Freitag

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Die See war ruhig und glatt wie ein endloser, blauer Teppich. Die Fähre glitt über die Nordsee. Vor der Abfahrt hatte ich mir noch etwas Proviant und eine lokale Zeitung gekauft und war dann recht zügig die lange Strecke von St. Ives über Exeter und die M3 nach London und hoch bis zum Fähranleger in Harwich gefahren. Jetzt lag der "Cornish Guardian" vor mir und ich trank genüßlich meinen "Gatsby", diesen herrlichen Drink mit "Southern Comfort", Lime-Juice und Ginger Ale. Warum, weiß ich nicht, aber mit einem Mal stand ihr Bild wieder vor meinen Augen. Ich sah Avivas schulterlanges, schwarzes Kraushaar im Wind wehen, ihre hohe Stirn, die hochgezogenen, langen, dunklen Augenbrauen, die großen dunkelbraunen Augen, ihre schmale Nase, den verheißungsvollen roten, feuchten Mund und ihr süßes schmales Kinn. Fast so groß wie ich, stand sie plötzlich vor mir, eines ihrer schlanken Beine leicht vorgestreckt, mit einem kurzen Schwung ihrer schmalen Hüfte unter dem schwarzen Lederminirock. Ich riß die Augen auf. Doch da war das Bild schon wieder verschwunden. Eine völlig andere junge Frau drängte sich an meinem Tisch vorbei zum Bartresen. Ich seufzte auf. Würde sie mich nie loslassen?

Gedankenverloren blätterte ich die Zeitung um. Eine kleine Meldung fing plötzlich meine Aufmerksamkeit. Unter der Rubrik "Obituaries" - Nachrufe - las ich:

Thomas Donegal, 95 Jahre alt. Er entdeckte Margret Plynchon, Cedric Walls und Vincent Brown. Heute hängen Bilder dieser Künstler in Museen von London bis Fort Worth, Texas. Stets war sein Leben darauf ausgerichtet, andere voran zu bringen, anderen zu helfen. Nachdem das Heim 1965 geschlossen wurde, dessen Leitung er nach dem Krieg in seinem Geburtsort Newlynthian an der Atlantikküste übernommen hatte, zog er nach St. Ives, wo er die Galerie “Clodgy Corner” eröffnete. Leidenschaftlich engagierte er sich bis zuletzt im Kampf gegen Kinderpornographie und Sextourismus. Neben den vielen Künstlern und Künstlerinnen, die er förderte und denen er regelmäßig Ausstellungen widmete, galt seine zweite Liebe dem Wein. In den achtziger Jahren konnte er seine Galerie zu einem der exquisitesten Weinlager in ganz Süd-England erweitern. Für seine Freunde und Kunden viel zu früh, verstarb Mr. Donegal gestern an den Folgen eines Unfalls. Seine Kunden im gesamten Königreich werden ihn und seine fachkundigen Ratschläge vermissen. Sein Neffe Timothy Moyles wird die Galerie weiter führen und versuchen, die Freunde des edlen Rebensaftes auch weiter zufrieden zu stellen.

Meine Güte, was für eine Sprache. Aber das war bei dererlei Anzeigen wohl so üblich. Ich durfte sie nicht mit den geschliffenen Nachrufen aus der "Times" oder dem "Guardian" vergleichen. Das Beste fand ich jedoch die Formulierung, daß er an den Folgen eines Unfalls gestorben sei. Das konnte alles mögliche bedeuten - vom Sturz beim Fensterputzen bis zum Autounfall. Und nur ich wußte, daß er ermordet worden war. Nein, das stimmte nicht ganz - der Mörder wußte es ebenfalls. Und niemand verdächtigte ihn, niemand verfolgte ihn. Ich merkte, wie ich im Geiste immer von "ihm" sprach. Irgendwie stand für mich fest, daß die andere Gestalt, die ich gesehen hatte, ein Mann gewesen war. Rational begründen konnte ich dies jedoch nicht. Entschlossen faltete ich die Zeitung zusammen. Es hatte keinen Zweck. Ich durfte mich da nicht hinein ziehen lassen. Ich durfte mich noch nicht einmal gedanklich damit beschäftigen. Zu Hause wartete Arbeit auf mich und der galt es, meine ganze Aufmerksamkeit zu widmen. Ich sah auf die Uhr. Es war Zeit. Ich ging ins Restaurant, wo ich einen Platz am Fenster reserviert hatte. Das reichhaltige und köstliche Buffet ließ mir das Wasser im Munde zusammen laufen. Dies würde ein herrlicher kulinarischer Schlußpunkt meines Kurzurlaubs werden.

Nach dem Essen begab ich mich in bester Stimmung auf Deck, um noch etwas Seeluft zu schnuppern, bevor ich mich in meine Kabine zurück ziehen würde. Es herrschte eine wundervoll friedliche Abendstimmung. An die Backbord-Reling gelehnt, blickte ich nach oben. Da strahlte der Mond am immer dunkler werdenden Himmel. Alle Sorgen, alles Böse, alles was mich bedrückte, war so weit weg, schien nicht mehr zu existieren. Mit einem Mal drangen Stimmen an mein Ohr. Zuerst achtete ich nicht weiter darauf. Dann aber ließ mich der Tonfall aufhorchen. Ein Mann und eine Frau sprachen miteinander. Sie schienen zu streiten. Die Stimmen, vor allem die des Mannes, kamen mir bekannt vor. Anfangs verstand ich nur vereinzelte Worte, doch dann wurde der Mann lauter.

"Gar nichts habe ich getan, wie oft soll ich das noch sagen! Du bist hysterisch."

"Sei doch nicht so laut. Jeder kann dich hören."

Unwillkürlich zog ich mich von der Reling in den Schatten zurück.

"Außer uns ist hier niemand. Und wenn du nicht sofort Ruhe gibst, werfe ich dich über Bord."

"Das würde dir nur noch mehr Ärger einbringen, als du sowieso schon bekommen wirst. Glaubst du, das bleibt jetzt unentdeckt, nachdem der alte Mann tot ist? Deine Panscherei wird uns noch einmal hinter Gittern bringen, habe ich dir immer gesagt!"

"Hör' endlich auf, mit dem blöden Geschwätz. Gar nichts wird passieren. Der junge Kerl steigt in die Verträge ein. Das habe ich sicher."

Jetzt klang die Frau wirklich hysterisch.

"Sicher - du sprichst von sicher? Du merkst gar nicht, wie sehr du dich da reingeritten hast. Die Lieferungen aus Italien und Österreich, die Besuche der Belgier - und du meinst, niemand merkt was?"

"Wenn du jetzt nicht sofort die Klappe hältst, du dämliche Ziege, dann verpasse ich dir eine. Ich hab' alles im Griff. Und jetzt brauch' ich erst mal einen Drink!"

Mit diesen Worten schien er sie stehen zu lassen, denn ich hörte Schritte. Sehen konnte ich ja nichts. Eben war noch alles friedlich und mir meine kleine Welt heil erschienen. Was für ein Trugschluß. Das kommt davon, wenn man alles einfach nur verdrängen will, dachte ich bitter. Die Ereignisse der letzten Tage standen mir erneut plastisch vor Augen. Mittlerweile hatte ich die Stimme des Mannes erkannt. Es handelte sich zweifellos um das deutsche Paar, das ich zuerst in Boscastle und dann bei seiner überhasteten Abfahrt von Tintagel Castle gesehen hatte. Ich hatte nicht weiter darüber nachdenken wollen, aber nun drängte sich die Frage geradezu auf: war dieser bullige Deutsche der Mörder des alten Donegal? Beweisen konnte ich natürlich nichts, aber der Grund schien im Weinhandel des alten Engländers zu liegen. Von Panscherei war eben die Rede gewesen, von Verträgen, die auch der Junge - offenbar dieser Neffe Timothy - einhalten würde und von Lieferungen aus Österreich, Italien und Belgien. Daß man aus Belgien auch Wein bekam, war mir neu, aber was soll's. Aber nun war ich mit meinem Latein auch schon am Ende. Nach England zurückfahren, kam für mich nicht in Frage; ich hatte wirklich eine Reihe wichtiger Termine und Sachen zu erledigen. Der deutschen Polizei erzählen, was ich wußte, war noch sinnloser. Denn was wußte ich schon wirklich? Gar nichts, bei Licht betrachtet. Im Moment hatte ich einen begründeten Verdacht, aber den konnte ich niemandem erzählen, ohne nicht Gefahr zu laufen, ausgelacht zu werden. Und dazu war die deutsche Polizei auch erst einmal überhaupt nicht zuständig. Vielleicht würden sie eine Nachricht an ihre britischen Kollegen schicken; wahrscheinlich jedoch nicht einmal das. Nein, ich würde mich beim Stand der Dinge nur absolut lächerlich machen. Und deswegen würde ich mich jetzt auch nicht einmischen, selbst wenn mir diese kurzen Gesprächsfetzen eben die Haare zu Berge hatten stehen lassen. Das war hier nicht meine Angelegenheit und ich hatte nichts damit zu tun.

Gedankenverloren stieg ich die steilen Metallstiegen wieder hinunter und machte mich auf den Weg in die Bar. Wenn ich jetzt etwas brauchte, dann war das ein Drink. Es war voll und laut. Die Bord-Band spielte und ein paar Leute tanzten. Das war nicht mein Fall. Ich würde die andere Bar, das "Admiral's Pub" aufsuchen. Gerade als ich mich umdrehte, stieß ich mit zwei Männer zusammen - einem der Ober und einem anderen Mann - und erschrak zutiefst. Es war wieder jener gräßliche Deutsche. Der Kerl verfolgte mich ja geradezu. Ich schüttelte den Kopf. Das war natürlich lächerlich, denn er wußte ja nicht, daß ich sein Gespräch belauscht hatte. Ich hörte noch, wie er dem Ober in schlechtem Englisch zurief, daß er sein Geld in der Kabine vergessen hatte und schon stürmte er an mir vorbei. Einem plötzlichen Impuls folgend, eilte ich so vorsichtig wie möglich hinter ihm her. Vielleicht konnte ich wenigstens auf diese Weise rausbekommen, wie der Kerl hieß. Nicht, daß ich damit etwas anfangen wollte, aber dann hatte dieser Mensch wenigstens einen Namen für mich. Es war gar nicht schwer, unbemerkt auf seiner Fährte zu bleiben, da ein reges Kommen und Gehen auf den Gängen herrschte und ich überhaupt nicht auffiel. Er begab sich ein Deck tiefer und hastete den schmalen Flur hinunter. Ich sah noch, wie er eine Tür aufriß und in der Kabine verschwand. Geschwind trat ich einen Schritt näher, um die Nummer der Kabine zu erkennen; es war die 5521. Gerade wollte ich mich umwenden, um zu verschwinden, damit er mich bei seinem Verlassen nicht entdeckte, als mich der Klang seiner Stimme zurückhielt.

Sie war nicht laut, aber ich konnte durch die dünne Tür hindurch jedes Wort verstehen.

"Was zum Teufel machen Sie hier in meiner Kabine?"

"Ich wollte Sie nur warnen. Und es ist besser, niemand sieht uns hier zusammen. Ihr kleines Abenteuer in England war ja recht gewagt. Trotzdem sollten Sie ihre Web-Page verändern. Man ist Ihnen auf den Fersen. Und Sie wissen, wie scharf das Internet derzeit durchforstet wird."

Die Stimme gehörte zu einem Mann und war häßlich hoch und scharf. Völlig verdattert stierte ich auf die geschlossene Tür. Bevor ich jedoch weiter überlegen konnte, wurde die Klinke nach unten gedrückt. Ich hörte gerade noch, wie der merkwürdige Besucher sagte:

"Ich gehe zuerst und dann warten Sie noch ein paar Sekunden, bevor ..."

Und schon machte ich mich aus dem Staube. Das Letzte, was ich wollte, war jetzt von einem dieser beiden erwischt oder auch nur gesehen zu werden. Hastig stürmte ich nach oben. Der Drink mußte noch einen Augenblick warten. Zuerst brauchte ich frische Luft. Heftig atmend betrat ich das Deck. In was zum Teufel war ich denn hineingeraten? Ich lehnte mich wieder an die Reling und starrte auf die Schaumkronen der Wellen, die der Bug mit seiner Fahrt bildete. Wieso würde die Homepage dieses Mannes aus Lübeck seine Panscherei verraten? Je mehr ich erfuhr, desto rätselhafter wurde mir alles. Und wer würde sich die Mühe machen, wegen einer Weinpanscherei diesem Menschen bis auf eine Fähre zu folgen, um ihn dann heimlich zu warnen? Das wirkte ja fast wie eine dieser albernen Spionage-Geschichten aus Hollywood. Wie auch immer - es war ganz bestimmt das Beste, ich ließ die Finger von der ganzen Sache. Da brauten sich irgendwelche schlimmen Geschichten zusammen und ich wollte nichts, aber auch gar nichts damit zu tun haben.

Nachdem ich mein inneres Gleichgewicht wieder halbwegs gefunden habe, überlegte ich, ob ich jetzt sofort in meine Koje schlüpfen sollte. Meine Nerven rieten mir jedoch, wenigstens noch einen Drink zu mir zu nehmen. Also ging ich ins Bord-Pub und bestellte mir einen Whisky. Zuerst wußte ich nicht, welchen ich nehmen sollte, denn Bourbon wie Jack Daniels und Jim Beam und den Kanadischen Seagrams mochte ich nicht. Auch die normalen schottischen wie Chivas Regal, Ballantine's oder Johnnie Walker schmeckten mir nicht besonders. Also wählte ich einen Glenfiddich. Bewaffnet mit dem Glas setzte ich mich in eine Ecke. Nach dem ersten Schluck schloß ich genießerisch die Augen. Ah - tat das gut. Was ich gestern erlebt und heute gehört hatte, verdrängte ich unter der Rubrik abenteuerliche Vorkommnisse während eines ansonsten erholsamen Urlaubs. Morgen abend würde ich wieder an meinem Schreibtisch sitzen und die letzten Korrekturen an meinem Manuskript über Gruppenverhalten in Betrieben mit verschiedenen Management-Strukturen vornehmen. Das Buch sollte Ende des Jahres erscheinen und da gab es noch eine Reihe zu tun. Eine Stimme riß mich plötzlich aus meinen Gedanken. Widerstrebend öffnete ich die Augen und stierte die Person an, die vor mir stand. Die Frau hatte ein Glas in der Hand und lächelte mich an.

"Entschuldigen Sie, darf ich mich einen Moment zu Ihnen setzen?"

Ich starrte die Fremde an, ohne für einen Moment zu reagieren. Sie war groß und schlank. Ein eng anliegendes, langes Kleid betonte ihre knabenhafte Figur. Zwei große Augen in einem wunderschönen, schmalen Gesicht strahlten mich an. Ihr rotes Haar war zu einem Bubikopf geschnitten. Irgendwo hatte ich dieses traumhafte Wesen schon einmal gesehen, bildete ich mir ein. Bevor ich jedoch weiter zur Besinnung kam, hatte sie sich bereits neben mich gesetzt. Ihr Parfüm war dezent und hüllte mich doch gleichzeitig betörend ein. Bestimmt habe ich in diesem Moment nicht besonders gescheit aus der Wäsche geschaut. Sie legte mir ihre kühle Hand auf den Arm und funkelte mich an.

"Verzeihen Sie, daß ich mich nicht mehr an Ihren Namen erinnere, aber Ihr Gesicht habe ich sofort wieder erkannt. Wir haben uns in Schleswig auf der Ausstellung UROBOROS kennen gelernt. Sie standen vor Carmen Obersts Triptychon "Wiederkehr der Hingabe" und haben sich mit Carmen unterhalten. Carmen hat uns vorgestellt und wir sind dann zu meinen Bildern gegangen."

Ich versank in ihren Augen. Und jetzt erinnerte ich mich. Oh ja, ich erinnerte mich lebhaft an diese Frau. Mit einem Mal fiel mir auch ihr Name wieder ein: Sonja Reynschmitt. Pat war von einer Arbeitskollegin eingeladen worden, die wiederum mit einer der ausstellenden Künstlerinnen befreundet war. Zuerst hatte ich keinerlei Lust verspürt, da mitzugehen, hatte mich schließlich aber überreden lassen. Immerhin interessiere ich mich für zeitgenössische Kunst. Schon damals war ich von Sonja Reynschmitts Augen fasziniert gewesen. Zu jener Zeit hatte ich mich jedoch noch an die Illusion einer heilen Ehe geklammert und mir jedwelche weitergehenden Gedanken, Phantasien oder gar Gefühle gegenüber dieser Frau strikt verboten. Und nun saß sie neben mir. Endlich brachte ich so etwas wie ein Lächeln zustande.

"Natürlich erinnere ich mich noch an Sie, Frau Reynschmitt. Auch wenn es sicher schon über zehn Jahre her ist, so vergißt man eine so bezaubernde Frau doch nicht!"

Sie lachte und dieses Lachen ließ meine Haut kribbeln.

"Sie sind noch genauso charmant wie früher, Herr - "

"Dystwater, Amos Dystwater. Sagen Sie einfach Amos."

Ich weiß nicht, was mich ritt. Sie musterte mich für den Bruchteil einer Sekunde, dann nahm sie meine Hand.

"Aber nur, wenn Sie mich auch Sonja nennen."

Wir toasteten uns zu. Ich konnte meinen Blick nicht von ihr wenden. Meine Stimme klang krächzend in meinen Ohren.

"Was machst du hier auf dem Schiff?"

Meine Güte, eine blödere Frage konnte mir auch nicht einfallen. Doch sie nahm sie ganz natürlich.

"Ich bin auf der Rückreise von einem wundervollen England-Urlaub. Das hat mir neue Inspirationen gegeben. Zu Hause werde ich sie gleich versuchen, umzusetzen. Und du, warst du mit deiner Frau auch im Urlaub?"

Die Saite, die sie berührte, blieb stumm, aber die Wunde schmerzte noch. Ich mußte schlucken. Ihrem Blick sah ich an, daß sie sofort merkte, eine falsche Frage gestellt zu haben. Nur ganz leicht drückte sie meine Hand. Ich schüttelte betont gelassen den Kopf.

"Meine Frau ist vor einigen Jahren gestorben. Sie war sehr krank."

"Oh - das tut mir leid."

"Danke; ach, es ist vorbei. Und du malst immer noch diese großen Bilder ganz in Schwarz, Rot und Weiß?"

Sie sah mich ernst an und ich versuchte mühsam, mich vor ihrem Blick aus diesen tiefblauen Augen zu wappnen.

"Nein, schon eine ganze Weile nicht mehr. Ich stelle Fotocollagen zusammen, die ich übermale, um ihnen den Ausdruck zu geben, den ich in den Fotos erkannt habe."

"Das erinnert mich an Arbeiten von Andy Warhol."

Sie lachte laut auf, wobei sich zwei süße Grübchen links und rechts ihres breiten Mundes zeigten.

"Das ist ein irrer Vergleich. Aber nein, mit ihm würde ich mich nicht unbedingt messen lassen wollen. Erst einmal ist er ein Mann und zweitens bin ich noch nicht halb soweit wie er. Aber besuch' mich doch mal in meinem Atelier in Lübeck. Dann kannst du dir selbst ein Bild machen. Du sammelst doch noch immer, oder? Und wenn du mit deinem tollen Auto vorfährst, dann kann ich nachher auch damit angeben, was für reiche Kunden ich habe!"

Spitzbübisch lächelte sie mich an. Doch mit einem Mal spürte ich so etwas wie eine ganz leichte Irritation. Ich kann nicht sagen, warum, aber irgend etwas ließ mich plötzlich auf der Hut sein.

"An mein Auto erinnerst du dich auch?"

"Ich bitte Dich, Amos - allzu viele Leute fahren nicht mit solchen Nobel-Wagen bei uns durch die Landschaft. So habe ich übrigens auch gemerkt, daß du auf dem Schiff bist. Ich habe deinen Rolls-Royce in der Warteschlange vor dem Einchecken erspäht. Wenn man Wohlstand so zur Schau stellt wie du - "

Sicher, ich begriff, daß sie mich nur necken wollte, aber ich hatte keine Lust, ihr die Geschichte von der Erbschaft meines Schwiegervaters zu erzählen, die es ihm wiederum ermöglicht hatte, uns diesen Wagen vor zwölf Jahren zur Hochzeit zu schenken. Sonja bemerkte offenbar, daß ich innerlich etwas auf Distanz ging. Sie lächelte mich verheißungsvoll an.

"Wollen wir uns auf Deck noch etwas die Beine vertreten? Die Nacht ist so wundervoll mild."

Einerseits war ihr Angebot verlockend, aber ich konnte nicht, wollte nicht.

"Nimm es mir nicht übel, Sonja, aber ich bin jetzt einfach zu müde. Die Fahrt nach Harwich war sehr anstrengend und ich muß in die Falle. Aber ich verspreche dir, bald nach Lübeck zu kommen und dich zu besuchen - o.k.?!"

Sie nahm es scheinbar gelassen, äußerte noch ein paar verständnisvolle Worte, betonte, daß sie auf meinen Besuch baue und verabschiedete sich mit einem flüchtigen Kuß auf die Wange. Mein Glas war leer und ich ging in meine Kabine.

Nachdem ich geduscht und mich in die Koje gelegt hatte, konnte ich lange nicht einschlafen. Mich noch erkundigen zu wollen, wie jener gräßliche Deutsche aus Kabine 5521 hieß, hatte ich völlig vergessen. So hatte meine überraschende Begegnung mit Sonja wenigstens ein Gutes gehabt. Die "Krimi"-Geschichte war für mich erledigt. Dafür war anderes in mir aufgerissen worden. Wer weiß, möglicherweise hätte ich heute abend die Basis für ein Verhältnis legen können. Die Versuchung war groß gewesen und Sonjas Verhalten - wenn mich nicht alles täuschte - recht eindeutig. Sie schien einer näheren "Bekanntschaft" nicht abgeneigt gewesen zu sein. Doch das war mir einfach nicht möglich. Es ist nicht leicht zu beschreiben, was in mir vorging, denn es waren so viele Dinge gleichzeitig. Erneut hatte ich an diesem Abend festgestellt, daß ich immer noch jede Frau, die ich traf, ganz unwillkürlich mit Aviva verglich. War sie so schön, so klug, so unabhängig, so stolz, so liebevoll wie sie? Meistens wurde mir diese "Musterung" erst später, im Nachhinein, bewußt. Aviva war mehr als nur eine Studentin für mich gewesen. Ich glaube heute, sie war die einzige Frau, die ich je wirklich aus tiefstem Herzen geliebt habe. Und dass sie mich so einfach verlassen konnte, hatte eine tiefe Wunde in meinem Inneren hinterlassen, dessen Narbe immer noch sehr schmerzte. Ich traute meinen eigenen Gefühlen nicht mehr und wollte nicht - auch nur ansatzweise - erneut das Risiko eingehen, so auf dem Bauch zu landen. Und zwischen die Gestalten Sonjas und Avivas drängte sich unvermittelt auch noch das Gesicht Patricias. Ich sah sie einerseits im Koma liegen - so still und friedlich - und dann ihren anklagenden Blick, als unsere Ehe in die Brüche ging. Sie hatte mich wirklich geliebt - seit wir uns in einer Psychologie-Vorlesung während des Studiums in München kennen gelernt hatten. Aber meine Gefühle ihr gegenüber waren wohl eher die eines Beschützers als die eines Liebenden gewesen. Und wie hatte ich sie beschützt? Gar nicht - fallen gelassen hatte ich sie. Es schüttelte mich. Nein, ich wollte keine Frau mehr in mein Leben lassen. Entweder hatten sie mir kein Glück gebracht oder ich hatte ihr Leben ruiniert. Manchmal sehnte ich mich nach der Nähe eines Menschen, nach diesem befreienden, intimen Zusammensein, nach einem Aufwachen neben einer Frau, die ich liebte, aber ich wußte, daß ich dafür noch lange - wer weiß wie lange - nicht bereit sein würde. Mit der strengen Eigenermahnung, jetzt nur nicht in haltloses Selbstmitleid zu verfallen, bin ich dann wohl eingeschlafen.

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