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4 - Pension zum Zweiten

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Die Dienstbesprechung war zuende. Zoller schaute auf die Uhr: Kurz vor zehn. Alle anliegenden Fälle waren erörtert worden, besonders die akuten. Das Landeskriminalamt beschäftigte sich mit „Delikten am Menschen“, also mit Gewaltakten gegen Leib und Leben, bis diese aufgeklärt und der Staatsanwaltschaft, bzw. der Gerichtsbarkeit überwiesen werden konnten. Zollers Arbeitszimmer lag im ersten Stock mit den Fenstern zum Hof, auf dem die zivilen Einsatzwagen geparkt waren. Drei Kastanien gaben den Fahrzeugen Schatten. Sie waren vor Jahren, als dies noch ohne Einspruch der Ämter geschehen konnte, gegen die alten Linden ausgetauscht worden, welche viele Straßen Berlins dicht bestanden und von allen Fahrzeughaltern auf den Tod gehasst waren, weil Abertausende von Blattläusen auf ihnen wohnten, die zu nichts anderem gut waren, als ihre Ausscheidungen besonders auf die Frontscheiben zu verteilen und den Fahrer nach wenigen Stunden mit einem undurchsichtig-klebrigen Film zu erfreuen. Mit den Kastanien erfreute man sich höchstens im Herbstwind eines kleinen Paukenkonzerts, wenn die Früchte sich von den Ästen lösten.


Zoller hatte die Nachricht aus München gelesen, das Vernehmungsprotokoll von Benny, den man direkt am Bahnhof abgefangen hatte und die Akten über seine Person, die in München vorlagen. Er war türkischer Abstammung, in München aufgewachsen und war als Jugendlicher aufgefallen durch kleinere Rauschgiftdelikte mit Hasch (aber wer hat das noch nicht probiert?), allerdings auch mit härteren Drogen, die man ihm zugesteckt haben sollte, genau wurde der Fall nie aufgeklärt. Benny hatte sich sexuell früh auf die maskuline Seite geschlagen und war durch Eifersuchts-Streitigkeiten und kleinere Schlägereien in die Akten geraten, weshalb er noch als Jugendlicher eine Bewährungsstrafe erhalten hatte. Es lag auch ein Bericht des ehemaligen Bewährungshelfers bei, aus dem hervorging, Benny sei ein umgänglicher, ja lustiger Geselle, allseits beliebt, neige allerdings zum Jähzorn und werde schnell rabiat. Man hatte ihn über längere Zeit betreut und habe einen positiven Einfluss seines um einige Jahre älteren Freundes, der wie er als Altenpfleger tätig war, festgestellt. Mit diesem älteren Freund war eindeutig der Tote in der Pension gemeint.

Zoller setzte sich noch einmal hin und schaute den Polizeibericht genauer durch. Da war es. Beide hatten in Pflegediensten und Kliniken festangestellt und teilweise zur Aushilfe gearbeitet und konnten theoretisch und praktisch an Digitoxin herankommen. Zoller rollte mit seinem Schreibtischstuhl einen Meter nach hinten, so dass er Blickkontakt mit dem Nebenzimmer hatte.

„Schneider, versuchen Sie, möglichst viel über den Notar herauszufinden, er war schließlich der Letzte, der ihn lebend gesehen hat.“

Schneider grunzte zustimmend.

„Wenn Wanzke kommt, kann er Ihnen ja helfen. Ich bin in der Pension, dann beim Notar.“ Zoller griff sein Jackett vom Stuhl und prüfte, ob er sein Handy einstecken hatte, blickte zum Fenster in den Hof und freute sich auf das herrliche Wetter, in das er bald treten würde und auf die Dame in der Pension, die ihn so an Eva erinnerte.

Hätte er ausschließlich die Pension zum Ziele gehabt, wäre seine Wahl auf den Bus gefallen, doch von Kreuzberg in die Bismarckstrasse am Kleinen Wannsee wäre mit den Öffentlichen sehr zeitaufwändig und so nahm er lieber in Kauf, im Auto zu schwitzen und an den tausend Ampeln auf dem Weg zu kuppeln und schalten, denn die leeren Kassen Berlins erlaubten keine Automatikgetriebe und dass sein Wagen als einziger ein Schiebedach besaß, hatte man einem außergewöhnlichen, unerforschlichen Zufall zu verdanken.


Als er die Rezeption erreichte, war sie verlassen. Er schlug spielerisch mit der flachen Hand auf die Tischklingel, wie er es oft in Filmen, besonders in Western gesehen hatte. Das ‚Bimm’ verhallte ungehört. Er schaute in das jetzt taghelle Frühstückszimmer und sein Blick blieb sekundenlang auf der roten Sitzgarnitur haften. Woher kamen nur die Herzklopfen, die er plötzlich verspürte? Die Türe hinter der Rezeption war geschlossen. Er ging darauf zu und klopfte an. Nichts.

Dann vernahm er ein Schnaufen. Es kam vom Gang, der hinter der Rezeption zu den Zimmern führte, deren eines versiegelt war. Das Schnaufen kam näher und er erblickte eine dickliche, blonde Frau mit wirren Haaren und in weißem Kittel. „Ach Jottchen, keener da? Warten se, die Olga muss gleich kommen. Wenn se sich een Augenblick jedulden würden, ick schau mal nach, wo se steckt, se kann nur drüben im Trakt sein.“ Sie rauschte an ihm vorbei. „Moment bitte, gnädige Frau!“, stoppte Zoller sie. Sie blieb stehen und lächelte ihn an: „Det hat aber lange keiner nich mehr zu mir gesagt, ick wusste doch gleich, se sind ein Mann von Welt!“ Ursula wand sich förmlich vor Freude über die Anrede.

„Jedenfalls bin ich ein Mann der Polizei“ sagte Zoller und zeigte seinen Ausweis. „Sie müssen Ursula sein.“ Er entnahm das nicht nur den Daten von Wanzke, sondern auch diesem urtümlichen Berliner Dialekt, der einen förmlich ansprang.

Sie nickte. „Ah, wegen det Geschehnis gestern Abend, aber da war doch schon det junge, schicke Frolleinchen hier und dem habe ick allet jesacht, wat ick wees.“

„So? Wie sah diese Dame denn aus?“

„Na Sie können Fragen stellen! Wie sah sie denn aus? Na ja, so rötliche Haare und ein bisken größer als wie icke.“

Zoller lächelte innerlich. „Dann ist mir schon klar, wer das war.“

„Sagen’se nur, hätt ich der nischt erzähl’n dürf’n? Und die machte doch so nen duften Eindruck uff mir!“

„Nein, nein, war schon in Ordnung. Gibt es vielleicht ein Plätzchen, wo wir ungestört reden können?“

„Gewiss doch. Visitiern wir mal die Küche.“

Sie ging vor, durch das Frühstückszimmer in die blendend aufgeräumte Küche. Zoller schmunzelte noch über die Berliner Schnauze und ihm fiel der Alt-Berliner Spruch ein, der die Berlin-übliche Verwechslung der grammatischen Fälle entzückend schildert:

»Ick liebe dir - ich liebe dich

wie's richtig heest, dat wees ick nich

und is mich ooch Pomade.

Ick lieb nich uffn ersten Fall

ick lieb nicht uffn zweeten Fall

ick liebe dir uff jeden Fall,

schenkst du mich Schokolade«

In diesem liebenswerten Dialekt war Ursula Meisterin.

„Ist nicht viel los heute und morgen. Anreise erst wieder Donnerstag. Nehmen’se doch Platz, ick werd hier mal ein bisken Ordnung machen.“

Zoller wunderte sich zwar, wo es hier an Ordnung fehlen sollte, doch er wusste, es gab Menschen, die sich nicht still hinsetzen konnten.

„Was haben Sie der jungen Dame denn erzählt?“

„Hat se Ihnen det nicht weitergegeben?“

„Nein, sie hat mich bisher nicht getroffen.“

„Ja, warten’se, wat hab ick ihr denn nu jesacht?“ Es fiel ihr wieder ein und sie erzählte ihm breiter als heute morgen Katharina, was für ein feiner Kerl der ‚Dokter’ gewesen sei. Nach einigen Minuten breitesten Berlinerischs, wie von einer Spindel abgespult, fand Zoller Gelegenheit, eine Frage an sie zu richten: „Am Abend, als dieses ‚Geschehnis’, wie Sie es nennen, stattfand, waren Sie auch im Dienst?“

„Nee, ick hatte mir noch vor sechse verflüchtigt, det heißt, ick hatte Feierabend, die Chefin hatte uns heim geschickt.“

„Was taten Sie, bevor Sie gingen?“

„Lassen se mir mal ventilieren, der Krach war gegen viere, denn kam der Rechtsverdreher, denn ging die Olga eenkoofen . . .“ man sah es ihr an, wie sie ihre Gänge in ihrem Geiste wiederholte, um den Ablauf der Zeit nachzuvollziehen, dazu heftete sie ihre Augen auf einen unbestimmten Punkt irgendwo über dem Teppichboden, dann blickte sie ihn wie erleuchtet an, „ . . . ja denn kam unser Hauser, det war viertel nach fünfe, denn war ick in de Waschküche und det Schwätzchen mit der Müllern und denn kam die Chefin und meinte, wir könnten jeh’n. Also war det so jejen halber sechse.“

„Gut.“, sagte Zoller, blickte von seinen Notizen auf und fragte: „Können Sie mir Näheres von diesem Hauser erzählen, aber kurz.“, setzte er hinzu.

„Det ist ein ganz Lieber, immer freundlich und . . .“, sie suchte nach Worten, „Wissen’se, so jemand von der alten Schule, hat mich mal die Hand geküsst!“ Sie gluckste verschämt. Zoller merkte, dass hier nicht mehr viel kommen würde und fragte gezielt: „Kamen Sie mit Mozartkugeln in Berührung?“

„Meinen Sie wegen meiner Figur? Die war vorher schon so! Det mit den Mozartkugeln hat erst der Dokter hier einjeführt, hat se ja massenweise verschlungen. Gab uns immer wat ab, hat uns sozusagen uff den Geschmack jebracht, uns anjefüttert, und denn kauften wir auch welche für ihn und für uns und so.“

Was sie mit ‚und so’ meinte, ließ sie offen.

„Was ich meine ist, haben Sie gestern irgend etwas beobachten können, was mit Mozartkugeln zu tun hatte?“

„Genau kann ick mir nicht reminiszieren, aber warten’se, als ick am Tresen war und der Hauser vorbei kam, da hab’ ick ne Schachtel liegen gesehen, sogar mit Zettel drauf mit’m Namen vom Dokter – und hab se vor dem Menschen in Sicherheit bringen wollen und sie unter den Tresen gelegt, auf die Arbeitsplatte.“

„So? Wissen Sie, woher diese Schachtel stammt, wer sie auf den Tresen gelegt haben könnte?“

„Nein, aber det hätte ja nur Benny oder die Olga gewesen können sind.“ Zoller stolperte noch über die Grammatik des Satzes. „Aber der Benny war ja schon weg!“, rekapitulierte sie. Ganz richtig, musste Zoller ihr bei der stringenten Beweisführung einräumen.

„Hatten Sie danach noch einmal Kontakt mit dem Konfekt?“

Ursula überlegte, diesmal stumm, und schüttelte mit dem Kopf. Nach einer Pause sagte sie: „Denn war ick in der Waschküche, denn kam de Chefin.“

Zoller hatte keine Fragen mehr an Sie außer der: „Wo finde ich Olga und Hauser?“

Ein Teil der Frage erübrigte sich, Olga erschien mit einem Tablett voll Frühstücksgeschirr. „Hallo“ sagte sie, „Herrenbesuch? Ursula, Ursula!“

Sie machte einen überaus vitalen Eindruck auf Zoller und wenn er sie genau besah, hatte sie nicht eine leichte Röte im Gesicht?

Ursula fuhr zusammen. „Nee, so is det nich, wie se meinen könnten, wenn se dächten, der Herr is von de -“

„Polizei“ sagte Zoller und zeigte seinen signalroten Ausweis. „Hartwig Zoller, Hauptkommissar. Ich ermittle im Falle Mandelstein.“

„Sehr angenehm, Olga Wolaniska. Junge Frau von Zeitung war heute schon da.“

Zoller überging diese Bemerkung: „Sagen Sie, wissen Sie ob Herr Hauser auf seinem Zimmer ist?“

Eine Irritation durchzuckte Olga’s Blick, oder sollte sich Zoller irren?

„Äh, ja, ich bringe gerade Fristicksgeschirr von Herrn Hauser, er ist auf Zimmer. Wollen Sie ihn jetzt befragen?“ Nun blickte sie ihm gerade in die Augen.

„Ja, ich denke, das wird das Beste sein. Vielleicht will er ja später außer Haus gehen und Sie sind sicher noch ein Weilchen da.“, lächelte er sie an. „Soll ich ihm geben Bescheid?“ Olga schien wirklich etwas verunsichert.

„Nein, nicht nötig, wenn Sie mir nur die Zimmernummer sagen.“

„Finfzehn, Numero Finfzehn!“ Sie lächelte Zoller an, als ob sie artig war, weil sie die Nummer auswendig wusste. „Sie missen in andere Trakt, über Treppenhaus gehen.“ Irgendwie machte etwas an Olgas Verhalten Zoller gespannt auf diesen geheimnisvollen Dauergast Hauser.

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