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Kindheit
6. Der Narr

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Ins Zimmer trat ein Mann, dem Äußeren nach etwa fünfzig Jahre alt, mit blassem, länglichem, von Pockennarben durchfurchtem Gesicht, halb grauem Haar und einem kleinen, dünnen Bärtchen. Er war so groß, daß er nicht nur den Kopf, sondern den ganzen Oberkörper bücken mußte, um die Tür zu passieren. Auf einem Auge blind, trug er halb bäurische, halb priesterliche Kleidung und hielt in der Hand einen riesigen Stab, mit dem er beim Eintritt ins Zimmer aus Leibeskräften auf den Fußboden stieß.

»Ach Vögelchen, Vögelchen! Das Weibchen härmt sich und weint, das liebe; aber die Jungen sind flügge, wollen aus dem Nest. Wird das Weibchen seine Jungen nicht wiedersehen. O weh! O weh!« schluchzte er und wischte sich richtige Tränen mit dem Rockärmel ab.

Seine Stimme klang rauh und heiser; die Bewegungen waren ungleichmäßig und seltsam; seine Rede unzusammenhängend und sinnlos; der Tonfall aber so rührend und das gelbe Gesicht so aufrichtig traurig, daß man sich bei seinem Anblick und dem Anhören eines sonderbaren, aus Mitleid, Furcht und Traurigkeit zusammengesetzten Gefühls nicht erwehren konnte. Er gebrauchte keine Fürwörter; dadurch bekamen seine einfachsten Bemerkungen einen rätselhaften, geheimnisvollen Sinn.

Das war der Narr Grischa. Er kam zur Großmutter und hatte Mama schon als kleines Kind bei ihr gesehen; er hatte sie sehr liebgewonnen und kam nun, nachdem er sie hier entdeckt, um sich über ihre »Jungen« zu freuen, so nannte er uns Kinder.

»Ah, ah!« schrie er plötzlich Karl Iwanowitsch an, der in diesem Augenblick seine blauen, gestrickten Hosenträger anlegte, die ihm in jungen Jahren eine Generalin verehrt hatte. »Du Narr, du Schaf … ziehst Hosenträger an, du Schaf!« Er riß den Mund weit auf und lachte laut.

Karl Iwanowitsch war in einer peinlichen Lage. Er wollte den Verrückten nicht anfahren; und doch war es ihm schmerzlich, in unserer Gegenwart seine Autorität untergraben zu sehen.

»Das fehlte noch,« sagte er, »geht hinunter, für euch ist hier kein Platz.«

Karl Iwanowitsch sagte das mit solchen Fehlern, und die ganze Szene war so komisch, daß wir fast losgeplatzt wären. (Wenn ich seine Worte anführe, verdrehe ich das Russische nicht, weil solche Verdrehungen mich mehr an gewöhnliche Erzählungen erinnern, die ich nicht ausführen kann, als an Karl Iwanowitsch.)

Endlich erschien der sehnlichst erwartete, pünktliche Foka, sagte: »Das Essen ist fertig«, und wir gingen nach unten. Grischa folgte uns, mit seinem Stock auf die Treppenstufen aufstoßend und allen möglichen Unsinn schwatzend.

Als wir eintraten, waren schon alle im Gastzimmer versammelt. Papa und Mama gingen Arm in Arm auf und ab und unterhielten sich leise über etwas. Maria Iwanowna saß auf einem genau rechtwinklig zum Sofa stehenden Sessel; neben ihr saß auf der einen Seite Ljubotschka, die bei unserem Anblick sofort aufsprang und uns entgegenlief, auf der anderen Katja, die gern dasselbe getan hätte, wenn es mit Mimis Anstandsregeln vereinbar gewesen wäre. So aber mußten wir erst zu ihr gehen und sagen »Bon jour, Mimi« und dann … – nein, ich weiß wirklich nicht, ob ich Katja küßte oder nicht. Ich weiß nur, daß Mimi mir bei allem hinderlich und im Wege war. In ihrer Gegenwart sprach ich niemals herzlich mit der reizenden, blonden, sauberen Katja.

Ach, wie hat diese unerträgliche Mimi mein kindliches Leben vergällt! Man brauchte nur etwas zu sagen, so begann sie auch schon mit ihrem Korrigieren und sah bald Papa, bald Mama an, um zu zeigen, daß sie auf dem Posten sei …

»Parlez donc français«, wenn man ihr zum Tort gerade gern russisch geplaudert hätte. Oder wenn einem bei Tisch etwas besonders schmeckte und man nicht gestört sein wollte, hieß es sicherlich: »Mangez donc avec du pain« oder »comment est ce que vous tenez votre fourchette?« Ach, wie war sie unerträglich! Und was ging ich sie an! Mochte sie doch ihre Mädchen unterrichten, wir hatten ja Karl Iwanowitsch dazu! Bisweilen teilte ich durchaus seinen Haß gegen »gewisse« Leute.

Ins Eßzimmer gingen die Großen vorauf, wir Kinder hinterher, was uns Gelegenheit bot, ein paar angenehme Worte zu wechseln – angenehm nur, weil man sie in Gegenwart der anderen nicht sagen konnte.

»Geht Papa auf die Jagd?«

»Ja.«

»Nimmt er euch mit?«

»Ja, zu Pferde. Und ihr?«

»Ich weiß nicht,« erwiderte Katja mit weinerlichem Gesicht.

»Das geht nicht … Aber wollen sehen.«

Man setzte sich zu Tisch. Die Suppe wurde gebracht. Grischa deklamierte von seinem Nebentisch aus, die Worte durch Schluchzen und jämmerliche Grimassen unterbrechend: »Vögelchen, Vögelchen, auf dem Grabe steht ein Stein; im Herzen ein Nagel; Taube flieg in den Himmel« usw.

Mama war seit heute morgen verstimmt. Grischas Gegenwart und Bemerkungen verstärkten diesen Zustand; obgleich sie es nicht zugab, waren Pilger und Narren ihre Schwäche. Im Grunde ihres Herzens verehrte sie Grischa und glaubte wahrscheinlich an seine Fähigkeit, die Zukunft vorauszusagen.

»Ach ja, ich habe vergessen, dich um etwas zu bitten,« sagte sie, dem Vater einen Teller mit Suppe hinreichend.

»Was denn, mein Liebling?« fragte Papa lebhaft.

»Laß, bitte, deine schrecklichen Hunde einsperren. Sie hätten den armen Grischa beinahe zerrissen, als er den Hof betrat. Ebensogut können sie sich auf die Kinder stürzen.«

Als Grischa hörte, daß von ihm die Rede war, wandte er sich zu unserem Tisch herum und zeigte kauend seine zerrissenen Rockschöße.

»Hat gehetzt … Hunde gehetzt. Sünde, große Sünde. Schlag ihn nicht Großer (so nannte er Papa). … Weshalb schlagen? Gott vergibt. Zeit ist nicht danach.«

Papa blickte ihn unverwandt und strenge an, wandte sich dann an Mama und fragte: »Was spricht er? Übersetz es mir bitte, sonst verstehe ich nichts. Vous seule avez le don de le comprendre.«

»Ich verstehe ihn,« meinte Mama lächelnd, »er erzählt, ein Jäger hätte absichtlich die Hunde auf ihn losgelassen; nun glaubt er, du würdest den Jäger dafür bestrafen und bittet, ihm zu verzeihen.«

»Ach so!« meinte Papa. »Woher weiß er denn, daß ich den Jäger bestrafen will? Vielleicht habe ich gar nicht die Absicht,« fuhr er französisch fort. »Du weißt, ich bin überhaupt kein Freund solcher Leute, aber dieser hier mißfällt mir besonders, muß ein abgefeimter Spitzbube sein.«

»Ach, sag das nicht!« unterbrach ihn Mama fast erschrocken. »Wie kannst du das wissen?«

»Nun, ich hatte, glaube ich, genügend Gelegenheit, diese Art Leute kennen zu lernen. Es kommen ja genug zu dir, alle vom selben Schlage und stets ein und dieselbe Geschichte: unbedingt vornehme Herkunft, tragen irgendein Kreuz und Leiden, nach denen niemand sie fragt. All diese Frömmelei und Scheinheiligkeit zielt nur darauf ab, leichtgläubige und schwachnervige Damen zu finden, die ihnen die dreckigen Hände küssen, sie für Propheten halten und ihnen Geld geben. All diese unverstandenen Heiligen pilgern nicht aus Liebe zu Gott, wie sie sagen, sondern aus Faulheit und gewohntem Müßiggang.«

Man sah, daß Mama in dieser Hinsicht ihre bestimmte Überzeugung hatte und nicht streiten wollte, deshalb fragte sie, um das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken, ob die Pasteten gut seien und bat, ihr eine zu reichen.

Papa dagegen wollte streiten; er nahm eine Pastete, hielt sie so weit, daß Mama sie nicht erreichen konnte, und fuhr erregt fort: »Nein, mich ärgert –« dabei schlug er mit der Gabel auf den Tisch, »wenn ich sehe, wie vernünftige und gebildete Leute donnent dans le panneau und an sie glauben wie an Heilige.«

»Gib mir doch die Pastete,« sagte Mama, etwas ungeduldig die Hand ausstreckend.

»Und man tut ganz recht,« Papa zog seine Hand noch weiter zurück, »diese Gesellschaft einzusperren. Der einzige Nutzen, den sie bringen, besteht darin, daß sie die ohnehin schwachen Nerven gewisser Personen ruinieren,« fügte er lächelnd hinzu, da er bemerkte, daß dieses Thema Mama mißfiel. Gleichzeitig reichte er ihr die Pastete.

»Ich will dir darauf nur eins erwidern,« sagte Mama. »Es fällt schwer zu glauben, daß ein Mensch, der trotz seiner sechzig Jahre beständig, Winter und Sommer, barfuß geht; der unter dem Anzug zwei Pud schwere Ketten trägt, die er nie ablegt, und der mehr als einmal das Anerbieten Mamas, bei ihr zu bleiben, abgelehnt hat (das weiß ich bestimmt) – daß ein solcher Mensch das alles aus Faulheit tun sollte. Was die Prophezeiungen anlangt,« fuhr sie nach kurzem Schweigen mit einem Seufzer fort – »je suis payée pour y croire: ich habe dir erzählt, wie Kiriuscha meinem Vater Tag und Stunde seines Endes vorausgesagt hat.«

»Ach, mein Gott, was richtest du da an!« sagte Papa, nach Mimis Seite die Hand an den Mund legend. (Wenn er diese Bewegung machte, horchte ich stets mit größter Aufmerksamkeit in Erwartung von etwas Komischem.) »Warum hast du mich an seine Beine erinnert? Jetzt kann ich nicht weiteressen.«

Das Mittagessen ging zu Ende. Ljubotschka und Katja zwinkerten mir beständig, bald in Mamas bald in Mimis Richtung zu. Dieses Zeichen bedeutete: jetzt ist Zeit zum Bitten; solch günstige Gelegenheit bietet sich sobald nicht wieder; jetzt alle zusammen. Ich stieß Wolodja an, und der faßte sich ein Herz; anfangs schüchtern, dann ziemlich bestimmt und laut sagte er: »Da wir heute fahren sollen, möchten wir gern, daß die Mädchen mit auf die Jagd kämen.« Mama sagte, sie führe selbst mit, und zur allgemeinen Freude wurde es erlaubt.

Wie schrecklich war es manchmal, mit Bitten anzufangen! Dabei schien gar nichts zu fürchten – alle waren so gut! Hatte man aber einmal angefangen, so wußte man nicht, woher auf einmal alle die Dreistigkeit kam. Selbst wenn nicht erlaubt wurde, um was man bat, stritt man bisweilen dagegen an und suchte zu beweisen, daß es eine Ungerechtigkeit sei.

Diese Schwäche, das heißt, daß mir der erste Schritt so schwer wurde, habe ich nicht nur in der Kindheit, sondern auch in reiferen Jahren an mir bemerkt. Was sage ich: diese! Nein, alle Schwächen der Kindheit sind dieselben geblieben. Der Unterschied ist nur der, daß sie andere Formen angenommen haben.

Kindheit

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