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2 Der einzige leere Friedhof in Syrien
ОглавлениеDer heiße Wind des späten Nachmittags strich durch die Zweige der hohen Palmen, den stummen Wächtern über den sechstausend leeren Plätzen im größten Restaurant der Welt. Zehn Meter tiefer sprühte als Markenzeichen des Hauses ein mannshohes Wasserspiel seine Fontänen in die Luft. Es sah aus wie eine flüssige Pusteblume, deren Blütenstand hin und her wogte. Sie warf ihre zarten Wasserfächer in das Becken, das mitten zwischen den Tischen stand. Wo normalerweise Tausende von Gästen Köstlichkeiten aus Indien, China, Saudi-Arabien, dem Iran und anderen Ländern des Orients genossen, verzehrten jetzt gerade einmal dreißig Stammkunden trotzig ihr Essen.
In das friedliche Rauschen der Fontänen drangen hin und wieder die Stimmen der wenigen Angestellten, die im Inneren des Gebäudes noch ihre Arbeit taten. Drinnen warfen edle Lampen ihr warmes Licht auf Wände und Deckengewölbe – vergebliche Romantik, die heute kein Liebespaar bestaunte. In der riesigen Küche schlenderten einig wenige Köche zwischen leeren Backöfen und Herden umher; normalerweise waren hier mehrere Hundert Menschen tätig. Das Klirren eines einsamen Tellers auf dem gefliesten Boden, kurz vor dem Haupteingang der Küche, echote über die zwei Hektar Tische und Stühle und riss zwei männliche Gäste kurz aus ihrem Gespräch.
Farid Assad schaute kurz in Richtung Küche, dann wieder zurück auf den Tisch, während er lächelnd das nächste Stück warmes Fladenbrot in die Schüssel mit frischem Hummus tauchte. Er schob sich das Brot andächtig zwischen die Lippen, den Geschmack genießend, dann zeigte er über die Schulter seines Freundes auf das sechs Meter hohe Schild, das jedem, der es las, verkündete: Das Restaurant „Tor zu Damaskus“ stand im Guinness-Buch der Rekorde.
„Das hier ist einfach unser Stammlokal, aber jedes Mal, wenn wir hier essen, finde ich es neu lustig, dass Leute aus der halben Welt hierherkommen, nur um anschließend sagen zu können, dass sie im größten Restaurant der Welt waren. Hier in Damaskus! Das ist doch verrückt.“
Farid brach ab, um das nächste Fladenstück in die Schüssel einzutauchen. „So wenige Gäste wie heute habe ich hier noch nie gesehen, Joseph. Aber vielleicht wäre es sogar besser, es wäre gar niemand hier. Letzte Woche tobten die Kämpfe nur eine Straße weiter.“
Pastor Joseph ließ seinen Blick über die leeren Tischreihen schweifen. Er war es gewohnt, ständig auf der Hut zu sein, aber hier in dem Restaurant schien definitiv keine Gefahr zu drohen. Gefahr herrschte draußen, wo die neueste Offensive der Freien Syrischen Armee in vollem Gange war. Joseph grinste seinen Freund an, der ihm gegenübersaß.
„Na, wenn hier einer aufpassen muss, dann doch du“, gluckste er. „Jemand, der Assad heißt, braucht bloß seinen Namen zu nennen, und ein halbes Dutzend Terroristen heben ihre Kalaschnikows!“
Farid grinste zurück und nickte. Es stimmte ja. Assad war ein gängiger Name in Syrien. Und zurzeit ein gefährlicher. Vor mehreren Monaten hatte der alawitische syrische Präsident Baschar al-Assad die syrische Armee mobilisiert, um die Hauptstadt und damit seine Herrschaft zu sichern. Aber jetzt waren mehrere Rebellengruppen, allen voran die Freie Syrische Armee, dabei, ihrem verhassten Feind eine Straße nach der anderen abzujagen.
Wenn es irgendwo einen Lichtblick in diesem Wahnsinn gab, dann war es die Tatsache, dass die Front der Sunniten zerstritten war. Wenn die diversen Milizen nicht gerade in Sichtweite der Regierungsgebäude alles kurz und klein schossen, töteten sie einander, denn jede war darauf erpicht, sich die künftige Vorherrschaft in der arabischen Welt zu sichern.
Farid war fertig mit seiner Vorspeise. Er zeigte auf seinen Teller und winkte einem Kellner zu, der nichts anderes zu tun hatte, als seine beiden Kunden im Auge zu behalten. Der Kellner verschwand in die Küche, um den nächsten Gang zu bringen.
„Joseph, hast du das mit den Soldaten aus dem Iran auch gehört? Erst diese Woche hat Teheran eine ganze neue Einheit geschickt.“
Der Pastor blies die Luft durch seine fast geschlossenen Lippen heraus und schüttelte den Kopf. Nein, das hatte er noch nicht gehört. Aber es würde passen. Da die Alawiten wie Präsident Assad Schiiten waren, konnten sie auf eine Unterstützung durch den Iran rechnen.
„Man sagt, dass Präsident Assad und die Ayatollahs Hoffnung schöpfen, und sie haben auch allen Grund dazu. Jetzt, wo die Sanktionen gelockert sind, wird der Iran genügend Geld haben, um diesen Stellvertreterkrieg jahrelang weiterzuführen.“
„Ja“, unterbrach Joseph ihn, „und unsere anderen arabischen ‚Freunde‘ können genauso lang die sunnitische Front bedienen. Auf der Straße flüstert man sich zu, dass die Sunniten sich länger halten werden als die Alawiten. Jetzt, wo auch die Iraner mitmischen, sind die Chancen für die Alawiten wieder besser.“
Farid beobachtete ein paar Sekunden die Fontänen, bevor er antwortete. „Glaubst du, dass diese Prophezeiung im Buch Jesaja sich erfüllt hat?“ Er schaute wieder seinen Lehrer im Glauben an. In einiger Entfernung sah man den Kellner, der mit einem Teller Kebabspieße aus der Küche kam.
Farids Frage war in diesen Tagen das wohl am meisten diskutierte theologische Thema unter den Christen in Damaskus. Pastor Joseph lehnte sich zurück und verschränkte nachdenklich die Arme. „‚Die Stadt Damaskus gibt es bald nicht mehr. Von ihr bleibt nur ein Trümmerhaufen übrig‘“, sagte er leise, Jesaja 17,1 zitierend. „Um ganz ehrlich zu sein, ich bin mir da nicht mehr so sicher. Aber was für eine Ironie wäre es, falls Damaskus wirklich zerstört wird und das ausgerechnet von den Arabern selbst!“
Ein ohrenzerreißender Knall. Wasser schwappte über die Ränder der Springbrunnen. Der Kellner stieß mit einem Stuhl zusammen, dass die Kebabspieße über mehrere Tische flogen. Joseph schreckte hoch und schoss nach vorne. Farid packte mit beiden Händen die Kante des Tisches, dann rutschte er von seinem Stuhl und auf die Knie, Deckung suchend. Schreie der anderen Gäste mischten sich in die Echos von der Explosion. Jetzt warf sich auch Joseph zu Boden.
Die Lichter im Restaurant flackerten, dann erloschen sie ganz. Die Gäste duckten sich verstört unter ihre Tische. Dann, in rascher Folge, drei weitere Explosionen. Neue Schreie. In das Krachen draußen mischte sich das Klirren drinnen, als Hunderte von Tellern und Tassen von ihren Regalen flogen und das Durcheinander komplett machten. Farid und Joseph zuckten zusammen, ihre Hände flogen über ihre Ohren. Dicke, schmutziggelbe Wolken aus Dreck und Staub quollen über die Mauern, hinein in den Freiluft-Speisesaal. An der Flughafenautobahn, nur ein paar Hundert Meter von dem riesigen Restaurant entfernt, hatte die Regierungsartillerie gerade ihre Gegenoffensive gegen die Kämpfer der Freien Syrischen Armee begonnen, die auf den Internationalen Flughafen vorrückten.
Dann eine unheimliche Stille, in der man nur das Rauschen – oder war es eher ein Zischen? – der Springbrunnen hörte. Farid schielte durch den gelblichen Staub, der sich langsam über das weltberühmte Lokal senkte. „Alles in Ordnung, Joseph?“
„Ich glaube schon“, erwiderte Joseph, der halb unter dem Tisch kauerte. Er richtete sich vorsichtig auf, ließ den linken Arm auf den Tisch fallen und sah seinen Freund an. „Und du hast recht gehabt: Wir wären heute besser zu Hause geblieben. Aber Gott hat gerade seine Hand über uns gehalten; es hätte schlimmer kommen können.“
„Was nicht ist, kann noch werden.“ Farid schaute zu, wie sich staubbedeckte männliche und weibliche Gäste aus ihrer Schockstarre lösten und durch den gelbbraunen Nebel langsam zu den Ausgängen gingen. „Wir sollten auch gehen.“
Joseph nickte und stand auf.
Das Restaurant „Tor zu Damaskus“, das damit warb, dass es sieben Tage in der Woche geöffnet hatte, würde heute früher schließen. Farid und Joseph hasteten zur nächstgelegenen Tür. Neben einer Anrichte, um die ein Berg zerbrochenes Geschirr lag, stand der Besitzer des Restaurants, Shaker Al Samman, und sah den davoneilenden Gästen hinterher. Mit den gelbbraunen Flecken im Haar und auf seinem Maßanzug erinnerte er Farid an eines der berühmten Puderzucker-Desserts des Hauses.
Farid ging auf Al Samman zu, während er aus seiner Jackentasche ein paar syrische Pfundnoten herauskramte. Der Restaurantbesitzer winkte ab. „Lassen Sie nur!“, rief er dem Stammgast zu. „Kommen Sie halt wieder, wenn’s wieder sicherer ist – wann immer das sein wird!“
Farid und Joseph nickten und setzten ihren Weg zum Ausgang fort. Als sie auf die Straße traten, waren die meisten anderen Gäste bereits verschwunden. Es waren keine Militärfahrzeuge zu sehen – aber auch keine Taxis. Offenbar wohnten die meisten der anderen Gäste in der Nähe und gingen zu Fuß. Zu Fuß? Dazu hatten Farid und Joseph es viel zu weit. Ihre Augen glitten über die Straße. Was nun?
Sie warteten, zwei einsame Silhouetten am Straßenrand. Fünf Minuten, zehn Minuten. Die Sonne sank unter die Dächer der Altstadt von Damaskus. Aus der Richtung des Flughafens kam ein stetiger Strom von Lieferwagen, Motorrädern und privaten Pkws. Aber kein einziges Taxi.
Es war Farid, der das Schweigen brach. „Sieht fast so aus, als ob sämtliche Taxifahrer der Stadt Lunte gerochen haben und einen Bogen um den Flughafen machen.“
Die beiden duckten sich unwillkürlich, als weiter hinten die Dämmerung von erneuten Detonationen zerrissen wurde. Sie waren aber nicht so nah wie die Explosionen, die ihr Abendessen so abrupt beendet hatten.
Farid richtete sich wieder auf, zeigte mit den Händen in die Richtung der Detonationen und murmelte: „Vielleicht erfüllt sich diese Damaskusprophezeiung ja jetzt, während wir auf ein Taxi warten.“
Plötzlich schlug Joseph mit dem Handrücken auf Farids Schulter und zeigte nach vorne. Keinen Meter entfernt kam ein grauer Hyundai Elantra mit quietschenden Reifen am Bordstein zum Stehen. Die Beifahrertür flog auf, sodass Farid unwillkürlich einen Schritt zurück machte. Sein Gehirn zählte die Einschusslöcher in der Tür. Eins, zwei drei … zehn.
„Rein mit euch!“
Jetzt erkannte Joseph den Mann, der sich da vom Fahrersitz zur Beifahrertür streckte und ihnen bedeutete, einzusteigen. Sein Freund Hanna Tarazi!
„Seid ihr die Einzigen in der Stadt, die nicht wussten, dass der Krieg heute Abend in dieses Viertel kommt?“
Die beiden stiegen hastig ein. Noch bevor sie die Türen geschlossen hatten, brauste Hanna los.
„Hanna, Mensch!“ Farid suchte sich einen bequemen Platz auf der Rückbank. „Woher wusstest du, dass wir hier sind?“
„Gar nicht. Hab euch von der übernächsten Ecke aus gesehen. Konnte nicht glauben, wie ihr hier auf dem Präsentierteller steht – ihr müsst vorsichtiger sein! Diese Gegend ist nicht gerade der richtige Ort für Abendspaziergänge.“
„Na, da ist es ja gut, dass du uns gesehen hast.“ Joseph legte den linken Arm auf die Lehne des Fahrersitzes, sodass die Hand fast Hannas Schulter berührte. „Die Taxifahrer scheinen jedenfalls Bescheid gewusst zu haben.“
Hanna schien es nicht zu hören. Er schaute kurz in den Rückspiegel, dann drehte er den Kopf so, dass er aus dem Augenwinkel seine beiden Fahrgäste auf einmal sehen konnte. „Sie haben wieder chemische Waffen dabei.“ Er verzog den Mund. „Beide Seiten! Und eingesetzt haben sollen sie sie auch schon. Die Sunniten beglücken ihre eigenen Leute damit. Was ist schon das Leben von ein paar Hundert Menschen, wenn man die Sache anschließend Baschar al-Assad in die Schuhe schieben kann? Es ist zum Kotzen, dieser Krieg!“
„Hanna, wie schaffst du es, dass du noch am Leben bist?“ Joseph sah seinen Freund an. „Du wohnst doch sozusagen im Auge des Sturms.“
„Einfach ist’s nicht, das kannst du mir glauben. Habt ihr die neuen Zierleisten an meinem Auto gesehen? Bin voll in eine Schießerei reingefahren, hab’s von beiden Seiten abgekriegt. Musste vor einer Ampel anhalten, und schon ging’s los, so plötzlich, dass ich mich nur noch ducken und beten konnte. Die Löcher rechts sind von den Alawiten, die linken von Al Kaida.“ Er schaute zurück auf die Straße.
„Allmählich frage ich mich, ob meine Familie nicht von hier verschwinden sollte.“ Hanna gestikulierte mit einer Hand in der Luft. „Die große Frage ist nur: wohin?“ Er beendete seinen Monolog und schaute kurz zu seinen Mitfahrern hin. „Wo übernachtet ihr heute Abend?“
„Ich hatte eigentlich vor, bei Joseph zu übernachten und dann morgen mit ihm nach Norden zu fahren.“ Farid beugte sich vor, zur Rückenlehne von Josephs Sitz. „Aber er wohnt im selben Viertel wie du, und es wird eine lange Nacht werden, mit dem ganzen Feuerwerk. Nicht ganz das Richtige, um auszuschlafen. Ich finde, wir sollten heute Abend noch losfahren.“
„Das ist ein Wort!“
Farid sah Hanna verdutzt an.
Der fuhr fort: „Ich fahre euch. Wird nicht einfach sein, durch die ganzen Kontrollpunkte zu kommen. Ich weiß gar nicht, ob sie überhaupt offen sind. Sieht aus, als stünden wir mal wieder an einem Scheidepunkt, wie?“ Er schaute angestrengt nach vorne auf die Straße und fügte leise hinzu: „Unser Land geht vor die Hunde.“
Mehrere Minuten lang schwiegen die drei Männer, dann fing Hanna wieder an. „Wir sollten nicht vergessen, uns auszutauschen, was es Neues gibt bei unseren neuen Freunden. Mein Wohnzimmer hat in der letzten Zeit viele fröhliche Besucher gesehen. Am schönsten sind die Gottesdienste, wenn es schon mitten in der Nacht ist.“ Er sah lächelnd zu Pastor Joseph hin. „Jesus hat unser Land nicht aufgegeben!“
Drei Stunden später rollte der Hyundai immer noch durch die Straßen von Damaskus. Es war ein komplizierter Zickzackkurs; zerbombte Straßen, riskante Kontrollpunkte und vorrückende Gruppen von Terroristen und Milizionären zwangen sie zu einigen Umwegen, um aus der Stadt hinauszukommen.
Die drei Männer hatten eine ganze Stunde in angespanntem Schweigen dagesessen, als das Piepsen von Hannas Handy sie zusammenfahren ließ.
„Habibi! Wo trefft ihr euch?“ Hanna wartete auf die Antwort. „Um Mitternacht, gleich nördlich von Damaskus? … Ja. … Ja, ich glaube, wir schaffen das!“
Er drückte mit dem Daumen die Taste, die das Gespräch beendete, und grinste seine Fahrgäste an. „Tja, Freunde, sieht so aus, als ob wir heute Abend doch in der Nähe von Damaskus bleiben. Man hat uns gerade zu einem Treffen eingeladen. Mehr kann ich euch im Augenblick nicht sagen, außer dass der Norden heute Abend ruhig zu sein scheint. Also keine Bange.“
Eine Viertelstunde nach Mitternacht hielt der Wagen vor einem verdunkelten Haus in einem nördlichen Vorort der syrischen Hauptstadt. Hanna drehte sich zu seinen Fahrgästen hin und bedeutete ihnen, leise zu sein. Sie schlossen vorsichtig die Türen des Wagens und glitten zu dem unbeleuchteten Eingang des Hauses. Hanna winkte seinen Freunden, ihm zu folgen, dann drehte er den Knauf der Tür und öffnete sie.
Drinnen war es pechschwarz. Die zugezogenen Vorhänge ließen keinen Lichtstrahl von außen in das Gebäude. Farid und Joseph blieben stehen und lauschten Hannas gedämpftem Schritt, wie er durch die Dunkelheit weiterging. Als ihre Augen sich an die Umgebung gewöhnt hatten, merkten sie, dass der Raum, in dem sie sich befanden, nicht völlig ohne Licht war. Weiter vorne leuchtete unter einer Tür ein dünner Lichtstreifen, der die Silhouette von Hannas Beinen sichtbar machte. Jetzt hörten sie, wie er einen zweiten Türknopf drehte. Ein plötzlicher goldener Schein fiel in den Flur und zeigte eine Treppe, die nach unten führte.
Die drei Männer gingen langsam die Treppe hinunter, die offenbar ins Kellergeschoss führte. Das Licht wurde heller. Am unteren Ende der Treppe öffnete Hanna die nächste Tür. Plötzlich helles Licht. Und Singen. Farid und Joseph standen wie angewurzelt da. In dem Raum hinter der Tür standen mindestens dreißig Personen Schulter an Schulter; viele hatten die Hände anbetend erhoben. Sie sangen voller Begeisterung. Farid fragte sich, was für eine Schallisolierung es war, die dafür sorgte, dass man von draußen diese wunderbare Musik nicht hören konnte.
Sie traten in den Raum. Joseph drückte Farid auf die Schulter und zeigte auf mehrere der Anwesenden. Farids Augen wurden groß, er nickte langsam. Das hier – das gab es doch nicht! Sunniten und Alawiten – ehemalige Erzfeinde – einträchtig vereint. Einige hatten einander die Hände auf die Schultern gelegt. Die meisten nickten im Takt der Musik. Und alle Gesichter strahlten.
Ein paar Straßen weiter, Richtung Süden, verbrachten Sunniten und Alawiten die Nacht damit, aufeinander zu schießen; hier waren sie einträchtig zusammen, um ihren gemeinsamen Erlöser anzubeten.
Joseph flüsterte Farid ins Ohr: „Ich fühle mich geehrt, dass ich hier sein darf.“
Farid nickte. Die beiden Männer spürten die ganze Heiligkeit dieses Augenblicks. In den Nachbarvierteln war buchstäblich die Hölle los – hier in diesem Raum war es der Himmel.
Gute dreihundert Kilometer nördlich drückte ein sunnitischer Mann, der etwas über zwanzig sein mochte, den Lauf einer halb automatischen Pistole an die Schläfe von Haytham Assad. Farids Vater war überrascht, dass die beiden Terroristen so früh bei ihm angeklopft hatten. Sie waren die Vorhut einer größeren Gruppe. Die wollen sich wohl ihre Lorbeeren sichern, bevor die erfahreneren Dschihadisten sie ihnen wegnehmen können. Der ältere Mann saß wie erstarrt. Ihm schwante das Schlimmste.
„Ich habe kein Geld, und wenn ich welches hätte, würde ich es euch nicht geben. Ich bin ein Pastor.“
„Dein Jesus ist ein Schwächling.“ Der Schweiß lief dem Eindringling über die rechte Wange. „Ihr braucht eine Lektion, du und deine christlichen Freunde.“
In einer Ecke des Wohnzimmers saß Suhad, Haythams Frau, und weinte leise vor sich hin. Sie wusste, dass in dem Mietshaus am Vormittag schon fünf Nachbarn getötet worden waren. Nur nichts tun, was diese schießfreudigen Leute provozieren konnte …
„Jesus ist alles andere als ein Schwächling.“ Haytham drehte den Kopf halb vom Lauf der Pistole weg und schielte zu dem Mann neben ihm hin.
Der Komplize, der in der Wohnungstür gestanden hatte, machte Anstalten, zu Haytham in die Mitte des Zimmers zu treten. Der Mann mit der Pistole winkte ihn mit dieser weg, dann zeigte er mit ihr zur Decke hoch. „Wenn er so mächtig war, warum ist er dann nicht vom Kreuz runtergestiegen? Sagen Sie mir das, Mr Christ!“ Er spuckte dicht an Haythams Wange vorbei.
Der Pastor sah die beiden Männer in seinem Wohnzimmer an. „Er wollte nicht vom Kreuz herabsteigen! Er kam ja in die Welt, um ans Kreuz zu gehen – um dort für meine Sünden zu bezahlen. Und für eure.“
„Meine Sünden zahl ich damit, dass ich dir ’ne Kugel in den Kopf jage!“ Der Mann mit dem verschwitzten Gesicht senkte den Lauf seiner Waffe wieder, richtete ihn auf Haythams Schläfe und drückte ab.
Auf das Singen folgte eine bewegende Fußwaschungszeremonie. Neubekehrte Christen alawitischer Herkunft stellten Wasserschüsseln auf den Boden und wuschen die Füße ihrer vormals sunnitischen Brüder und Schwestern. Farid, Joseph und mehr als einem Dutzend anderer kamen die Tränen. Dann waren die Christen sunnitischer Herkunft an der Reihe. Mehr Tränen. Ein ehemaliger Alawit küsste vor Freude aufschluchzend den Kopf des ehemaligen Sunniten, der ihm die Füße wusch. Als sie fertig waren, umarmten die beiden Männer sich weinend, sodass ihre Schultern von den Tränen nass wurden.
Farid hörte, wie ein anderer ehemaliger Sunnit die Füße eines Alawiten abtrocknete und ihm sagte: „Bitte vergib mir, wie meine Leute deine Leute behandelt haben. Jesus wusch die Füße seiner Jünger aus Liebe und Demut. Ich wasche deine in demselben Geist.“
Zwei Stunden lang ging der Anbetungsgottesdienst weiter. Als das Singen, Beten und Fußwaschen zum Ende kam, bedeutete Majeed Husain − der Bruder eines alawitischen Scheichs − der Versammlung, auf dem Fußboden Platz zu nehmen. Er selbst blieb stehen und begann: „Unser Herr hat uns heute hier zusammengebracht. Ich hatte monatelang diese Träume, die ich mir nicht erklären konnte. Ich konnte sie nicht abschütteln. Schließlich begann ich, im Neuen Testament zu lesen. Als ich zu der Stelle im Matthäusevangelium kam, wo Jesus sagt: ‚Folge mir‘, war ich sprachlos. Genau das hatte er mir in jedem meiner Träume gesagt!
Als ich Jesus in mein Herz aufnahm, füllte er es so mit Liebe, dass ich nicht mehr hassen konnte. Dann kam der Tag, wo Kamal mich zu einer Tasse Tee einlud.“ Er nickte zu einem Mann hin, der zu seiner Rechten auf dem Boden saß. „Die Einladung war ein großes Risiko für ihn.
Voller Freude entdeckte ich, dass ich nicht allein war. Auch anderen Menschen war Jesus begegnet. Viele hatten ganz ähnliche Träume gehabt wie ich.
Stellt euch das vor: Kamal aus einer sunnitischen Familie hat mich, der ich aus einer alawitischen Familie komme, zu Jesus geführt, der aus einer jüdischen Familie kam. So wurde ich ein Glied der christlichen Familie!“ Mehrere Anwesende lachten. „Was für ein großartiger Friedensplan!“
Kamal erhob sich und stellte sich neben Majeed. Der nickte und nahm Platz.
Kamal fuhr fort, wo Majeed aufgehört hatte. „Viele Jahre haben Sunniten und Alawiten Seite an Seite gelebt. Gut, wir hatten unsere Differenzen. Aber dieser Krieg hat unsere Nation auseinandergerissen. In den letzten vier Jahren habe ich mehr Tod und Zerstörung erlebt als in den vierzig Jahren meines Lebens davor. Aber Jesus liebt Syrien.“ Er schaute zu Majeed hinunter. „Majeed, mein Bruder, im vierten Kapitel des Matthäusevangeliums steht auch: ‚Und die Kunde von Jesus erscholl durch ganz Syrien.‘
Und das ist der Grund, warum wir heute hier sind. Jesus hat uns aus der Welt, aus diesem Krieg und aus unseren Familien herausgerufen, um seine Zeugen in Syrien zu sein!“ Kamal hielt inne und ließ seinen Blick langsam über die Versammlung gleiten, wobei er jedem Einzelnen in die Augen schaute. Dann fuhr er fort: „Dies wird uns das Leben kosten. Wir werden sterben müssen für die Sache Jesu. Die Jesusbotschaft ist das genaue Gegenteil von dem ethnischen und religiösen Hass, der unser Land kaputt macht.
Der Feind ist gekommen, um zu trennen und zu spalten. Wir werden ihn besiegen, indem wir zusammenstehen. Der Satan jubiliert über all den Tod um uns herum.“ Kamal lächelte. „Er glaubt, dass er gewonnen hat, aber bald wird Jesus ihn vernichten. Und Jesus wird das tun, was nur Er tun kann. Allein Jesus kann alle Stämme, Sprachen und Völker zusammenbringen. Allein Jesus kann ein Herz, das vom Hass beherrscht wird, rein machen.“
Als Kamal und Majeed fertig waren, löste sich die kleine Versammlung auf. Nacheinander, einzeln oder zu zweit, gingen die Teilnehmer still die Treppe hoch in die Dunkelheit. Es war fast drei Uhr morgens, als Hanna Farid und Joseph in ein leeres Zimmer irgendwo oben führte, wo sie die Nacht verbringen konnten. Mit tiefem Frieden im Herzen schlief Farid auf dem mit Teppichen belegten Boden ein.
Das Klingeln seines Handys weckte Farid. Er schielte zu dem fahlen Licht hin, das durch die geschlossenen Vorhänge kam. Die Sonne war noch nicht richtig aufgegangen. Er drückte die Taste, um das Gespräch entgegenzunehmen, vor dem er solche Angst hatte; gleich würde er hören, was die Terroristen in Latakia mit seinen Eltern gemacht hatten.
Die Stimme seines Vaters. Erleichterung. Im Hintergrund das Weinen seiner Mutter, während Haytham Assad ihm über die traumatische nächtliche Begegnung mit den beiden Terroristen berichtete. Der eine von ihnen hatte ihm angedroht, ihn zu töten, und direkt an seinem Kopf den Abzug einer ungeladenen Pistole gedrückt.
Terroristen der al-Nusra-Front (ein Ableger von Al Kaida) kämmten die Häuser systematisch nach „Abtrünnigen“ durch. Wer nicht bereit war, zum Islam überzutreten, indem er die Schahada2 nachsprach, musste ein hohes Kopfgeld zahlen. Konnte oder wollte er dies nicht, bekam er prompt eine Kugel in den Kopf. Die Terroristen hatten bereits eine lange Blutspur hinter sich gezogen, als sie in dem Viertel ankamen, wo Farids Eltern wohnten.
Haytham Assad erging sich nicht in Einzelheiten, aber Farid wusste auch so, wie ernst die Lage seiner Eltern war. In der Nacht, in dem wunderbaren Gottesdienst, hatte er Freudentränen geweint; jetzt, als das Gespräch beendet war, weinte er aus Angst um seinen Vater und seine Mutter.
Haytham hatte versucht, die Sache herunterzuspielen, aber Farid wusste, dass sein Vater keine Kompromisse mit den Terroristen eingehen würde. Niemals würde er seinen Glauben verraten und zum Islam übertreten. Wie oft hatte er schon davon gesprochen, für Jesus zu sterben, als ob er spürte, dass das sein Schicksal war.
Farid wischte sich die Tränen von den Wangen und holte tief Luft. Er hatte einen Entschluss gefasst. Er würde zu seinen Eltern fahren und sie in ein sicheres Haus bringen. Er würde ihnen klarmachen, dass es keine andere Wahl gab. Er schloss die Augen und betete still, dass er nicht zu spät käme. Dann drehte er sich zu Hanna und tippte ihm auf die Schulter. Hanna bewegte sich und schlug die Augen auf.
„Hanna, wir müssen fahren.“
Joseph fuhr nicht mit. Er würde schon irgendwie anders nach Hause kommen. So saßen nur Farid und Hanna in dem Auto, als es von Damaskus Richtung Norden brauste. Selbst im günstigsten Falle würde die Fahrt dreieinhalb Stunden dauern, aber zwischen Damaskus und Latakia lag Homs. Die Kontrollpunkte dort würden fast mit Sicherheit Probleme bereiten. Und dann natürlich die Kämpfe. Farid berichtete Hanna, was er über die aktuelle Lage in Homs wusste.
„Homs wird gerade belagert, aber unser Weg führt mitten durch die Stadt. Wenn wir es bis nach Homs schaffen und dann anschließend in Richtung Westen abgebogen sind, wird es wahrscheinlich kein Zurück mehr geben.“ Farid hielt inne und dachte nach. „Ich hab einen Freund in der Gegend, der bestimmt weiß, wie der neueste Stand ist. Ich ruf ihn eben mal an.“
Er holte das Telefon aus seiner Jackentasche, ging die Kurzwahlliste durch und wählte die Nummer des Freundes.
„Mosab! … Ja, mir geht’s gut. Ich bin auf dem Weg nach Latakia. Wie sieht’s gerade in Homs aus? Weißt du was?“ Hanna sah aus dem Augenwinkel, wie Farid immer blasser wurde, während er der Stimme am anderen Ende der Leitung zuhörte. Jetzt keuchte er auf.
„Nein! Das ist ja furchtbar! Wie viele? Wann?“ Farid hörte weiter zu. „Ja, Mosab. Wir werden vorsichtig sein.“
Er beendete das Gespräch und starrte sein Handy an. Schweigen; Hanna kam es wie eine halbe Ewigkeit vor. Er schaute mehrfach kurz zu seinem Freund hin. Einerseits konnte er es nicht erwarten, zu hören, was Farid gerade erfahren hatte, andererseits hatte er Angst davor.
Mehrere Minuten der Stille vergingen, in denen Farid den Blick weiter wehmütig auf das Telefon in seiner Hand gerichtet hielt, als könne es die Worte zurücknehmen, die da gerade aus ihm gedrungen waren. Dann sagte er leise: „Heute Morgen haben sie am Stadtrand von Homs sieben Männer enthauptet. Es waren alles junge Christen. Vorher haben sie sie noch gefoltert, hat Mosab gesagt.“
Er wandte den Kopf ruckartig zu Hanna. „Mosab hat auch gesagt, dass wir besser umkehren sollten.“ Er musterte das Gesicht seines Freundes; wie würde er reagieren? Aber Hanna fuhr schweigend weiter.
„Du weißt, dass ich nicht zurückkann, oder?“
Hanna warf ihm einen kurzen Blick zu. „Natürlich kannst du nicht zurück. Genauso wenig wie ich!“ Er trat das Gaspedal durch.
Zwanzig Minuten vor Homs war der Verkehr erstaunlich schwach. Farid und Hanna spekulierten, dass die Soldaten anderswo dringender gebraucht wurden und die Kontrollpunkte daher gerade nicht besetzt waren. Aber wer wusste, welche anderen Gefahren dafür vor ihnen lagen?
„Farid, kannst du beten, während ich fahre? Es ist jetzt nicht mehr weit zu dem Abzweig nach Latakia. So weit ist alles glattgelaufen, aber ich hab so ein dummes Gefühl in der Magengegend.“
Farid betete stumm um Gottes Schutz und Leitung, während seine Augen wachsam die Straße vor ihnen fixierten. Hanna betete ebenfalls und mehrere Minuten lang sagte keiner der beiden etwas.
Jetzt fuhr Hanna auf die Ringautobahn; hier begann die Strecke, die nach Westen zur Küste führte. Der Wagen verließ die Einfädelspur; vor ihnen lag ein längeres gerades Stück. Plötzlich zeigte Farid nach vorne. Ein paar Hundert Meter weiter vorne kam von rechts, über eine Wiese, vielleicht ein Dutzend Männer mit Gewehren gerannt. Jetzt leuchteten die Bremslichter mehrerer Autos vor ihnen auf. Gleichzeitig hörte man Schüsse. Farid, der sich mit den Waffen der verschiedenen Milizen etwas auskannte, erkannte die Gewehre: AS 50-Scharfschützengewehre aus britischer Herstellung. Die Männer auf der Wiese hatten angehalten und das Feuer auf die Fahrzeuge auf der Autobahn eröffnet.
Sie sahen, wie drei der Wagen vor ihnen ins Schlingern kamen und einander streiften. Ein roter Kia Rio flog nach rechts von der Straße und landete im Graben. Ein zweiter Kia rutschte seitwärts die linke Fahrspur entlang, und der dritte Wagen, ein Hyundai, schoss nach links und riss ein dort fahrendes Motorrad mit auf den Mittelstreifen.
Hanna war sofort klar: Jetzt anhalten wäre der sichere Tod. Er drückte das Gaspedal durch. Zwei weitere Autos vor ihnen wurden von den Kugeln getroffen; das eine schleuderte nach links, das andere nach rechts.
Farid ließ sich auf den Boden des Elantra fallen, während Hanna, halb auf der rechten, halb auf der linken Fahrspur, durch die Lücke schoss. Das Rattern der Schüsse wurde leiser. Die beiden Freunde sahen einander an, die Augen weit aufgerissen.
Neunzig Minuten später gingen die beiden auf Zehenspitzen die Treppe zur Wohnung von Farids Eltern hoch. Oben gebot Farid Hanna mit einem Handsignal zu warten, dann legte er sein linkes Ohr an die Tür. Er hörte nichts. Er drehte vorsichtig den Türknopf. Die Tür war unverschlossen.
„Mutter? Vater?“ Farid ging hinein, sein Blick fuhr durch die Wohnung. Haytham und Suhad Assad saßen am Küchentisch. Als ihr Sohn hereintrat, schauten sie von ihrem Tee hoch und lächelten. Mehrere Sekunden stand Farid da und schaute seine Eltern an, die gesund und munter waren.
Haytham erzählte ihm das, was er vor fünf Stunden, bei dem Telefongespräch, nicht über die Lippen gebracht hatte. „Die beiden Männer, von denen ich dir vorhin erzählt habe, haben gesagt, dass sie morgen wiederkommen, um entweder meine Bekehrung anzunehmen oder das Lösegeld für mein Leben.“ Sein Lächeln verflog. „Sie wollen 10.000 Dollar. Ha! Die wissen genau, dass ich nicht so viel Geld habe; ich hab ihnen doch gesagt, dass ich Pastor bin!“
Sein Sohn blinzelte, nickte, trat in die Küche und umarmte seine Eltern.
Farid tätigte noch einen Anruf, um zu sehen, ob das sichere Haus, das er für seine Eltern im Auge hatte, zur Verfügung stand. Am Abend, zur Essenszeit, saßen Haytham und Suhad auf einem Sofa im Wohnzimmer einer Wohnung, die eine Autostunde südlich von Latakia lag, ebenfalls an der Mittelmeerküste. Unterwegs hatte Farids Vater darauf bestanden anzuhalten, damit er eine muslimische Familie besuchen konnte.
„Farid, ich weiß, du hältst mich für verrückt“, sagte er anschließend, „aber sie hatten mich erst gestern angerufen. Der Vater hat diesen Monat acht Träume von Jesus gehabt. Er hatte Fragen.“
Farid schüttelte aufseufzend den Kopf. „Vater, bei dir kann ich mir eine Flucht gar nicht anders vorstellen. Ich weiß doch, dass du keine Gelegenheit auslässt, mit den Leuten über Jesus zu reden, und wenn der Himmel einstürzen würde.“
Der Ort, in dem die Wohnung lag, war bisher von den „Säuberungsaktionen“ der Islamisten verschont geblieben, die in den größeren Städten wüteten. Hanna, Farid und Farids Eltern würden in dieser Nacht gut schlafen, und am Morgen würden Hanna und Farid nach Damaskus zurückfahren. Dort sollte in der folgenden Nacht das nächste Treffen der Christen stattfinden.
Am Morgen kamen alle überein, dass Haytham und Suhad so lange in dem sicheren Haus bleiben würden, wie es nötig war. Latakia war zurzeit einfach zu gefährlich und Farid fand, dass es auch keine Alternative war, seine Eltern zu sich nach Damaskus zu holen. Und so traten Farid und Hanna am Nachmittag die Rückfahrt nach Damaskus an, in dem Wissen, dass Haytham und Suhad fürs Erste in Sicherheit waren.
Die Fahrt verlief bemerkenswert glatt. Als sie Damaskus erreichten, bogen sie ein Stück nach Osten ab, um den schlimmsten Vierteln auszuweichen. Als sie in Hannas Viertel ankamen, war alles ruhig. Die beiden Männer sprachen leise ein Dankgebet, auch wenn dies nur die Ruhe vor dem nächsten Sturm war.
In der folgenden Nacht, pünktlich um zwei Uhr, trafen sich zehn führende Männer aus der christlichen Gemeinde vor Ort im Keller eines Hauses. Die Männer begrüßten sich wortlos und schoben sich in den Versammlungsraum. Als alle saßen, stand Farid auf und begann, so leise, dass es fast nur ein Flüstern war:
„Wenn wir und unsere Familien die Stadt nicht bald verlassen, weiß ich nicht, ob wir später noch lebendig herauskommen werden. Erst vorgestern haben sie in Latakia meinem Vater eine Pistole an die Schläfe gehalten und ihn bedroht, und Hanna und ich wären auf unserer Fahrt durch Homs fast ums Leben gekommen. Es scheint, dass das Chaos in Syrien inzwischen der Normalzustand ist.“ Farid unterbrach sich und musterte die Gesichter vor ihm. „Ich frage mich wirklich, ob dies noch das richtige Land für unsere Kinder ist. Wir müssen im Gebet Gottes Führung suchen. Ich möchte uns zu einer Woche des Gebets und Fastens aufrufen.
In der Bibel befand sich König Hiskia in Jerusalem einmal in einer ähnlich verzweifelten Lage wie wir heute. Der Assyrerkönig Sanherib drohte öffentlich mit der Zerstörung der Stadt, und er hatte die Mittel, diese Drohung wahr zu machen. Hiskia konnte der assyrischen Dampfwalze aus eigener Kraft nichts entgegensetzen. Die Assyrer hatten auf ihrem Marsch nach Israel bereits eine blutige Spur der Verwüstung durch das gezogen, was heute unser Land ist, wie auch durch den Libanon.“
Farid hob die rechte Hand und zeigte zur Decke. „Aber Hiskia war so unserem himmlischen Herrn ergeben, dass er der Versuchung widerstand, auf eigene Faust zu handeln. Er nahm den Drohbrief des assyrischen Königs und breitete ihn auf den Stufen des Tempels vor Gott aus.
Hiskia suchte den Herrn. Er betete. Und er wartete – aber nicht lange.“ Farid lächelte. „Schon am folgenden Tag hat Gott ihm geantwortet. Er schickte einen Engel in das Heerlager der Assyrer, der ihre Armee vernichtete.“
Farid hielt erneut inne und faltete seine Hände auf der Brust. „Heute stehen wir in einer ähnlichen Situation. Gott allein hat die Antwort. Lasst uns ab heute, jeder für sich, sieben Tage lang diese Frage ihm vorlegen: Sollen wir in Syrien bleiben oder gehen? Lasst uns eine Woche lang alles andere ruhen lassen, bis auf das Wichtigste – das Gebet.
Wenn ihr in dieser Woche den Eindruck bekommt, Gott will, dass ihr und eure Familien das Land verlasst, dann brecht so bald auf, wie ihr könnt. Ruft er euch dagegen auf zu bleiben, dann kommt wieder hierher, zu unserer nächsten Versammlung, in genau einer Woche zur gleichen Uhrzeit.“
Farid breitete die Hände aus. „Es kann sein, dass der Herr für euch etwas anderes vorhat als für mich. Das ist völlig in Ordnung und niemand muss sich gedrängt fühlen, sich so oder so zu entscheiden. Wir wollen keine Helden sein, wir wollen Gottes Willen für uns und unsere Familien. Egal, ob wir bleiben oder gehen, wir nehmen von Jesus die Botschaft der Liebe und Vergebung mit.“
Alle nickten. Farid schloss die Augen und hob seine Hände über den Kopf. „Und jetzt lasst uns beten, bevor wir gehen.“
Sieben Tage danach herrschte auf den Straßen von Damaskus das Chaos. Auf Farids Standardroute zu der Versammlung wurde in bestimmt einem Dutzend Häuserblocks geschossen, und auf der Ausweichstrecke kam er nur langsam voran, weil viele Straßen beschädigt waren. Mit einer halben Stunde Verspätung erreichte er endlich das Haus. Würde er einen leeren Raum vorfinden? Er hatte es ernst gemeint, als er sagte, dass niemand sich verpflichtet fühlen müsse zu bleiben, aber insgeheim hoffte er, dass doch wenigstens noch ein oder zwei andere zu der gleichen Entscheidung gekommen waren wie er. Er war zwar bereit, auch alleine ins Martyrium zu gehen, aber es wäre doch schön, wenn er bis dahin Gemeinschaft mit einigen anderen Christen haben könnte.
Er stieg in den Keller hinunter. Vor der Tür blieb er kurz stehen, dann drehte er langsam den Türknopf. Ein schummriges Licht empfing ihn, und dann – klappte ihm der Unterkiefer herunter. Auf dem Fußboden saßen fünfundzwanzig Männer, die zu ihm aufsahen. Alle zehn, die letzte Woche da gewesen waren, waren wiedergekommen, und fünfzehn neue Christen hatten sie mitgebracht.
Einer nach dem anderen berichteten die zehn, wie Gott ihnen gezeigt hatte, dass sie bleiben sollten, und mehrere der Neuen erzählten, wie sie zum Glauben an Jesus gekommen waren. Die nüchtern-freudige Entscheidung, in Syrien zu bleiben, brachte die Versammelten zu einem Tagesordnungspunkt, den man in wenigen Gemeindeversammlungen findet: Sie beschlossen, Geld zusammenzulegen, um ein Stück Land zu kaufen – für den Friedhof, auf dem sie, wenn das Unvermeidliche kam, einander beerdigen würden.