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3 Nicht im Schauen

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WIR KÖNNEN UNS NUN EINE ganz zentrale Passage in der Bibel anschauen, die den Glauben behandelt. Es handelt sich um Hebräer 11. Dort sagt der Autor: „Ohne Glauben ist es unmöglich, Gott zu gefallen“ (Vers 6).

Wenn wir nicht aufpassen, entsteht in unserem Kopf das Bild von Gott als einer Art himmlischem Prüfer. Dieser hat ziemlich willkürlich entschieden: Es gibt nur einen einzigen Maßstab, an dem sich entscheidet, ob man die Prüfung besteht oder durchfällt. Wer Glauben hat, besteht; wer keinen Glauben hat, fällt durch. Das scheint jedoch nicht nur willkürlich zu sein. Wenn wir davon ausgehen, dass die Allgemeinheit unter „Glaube“ nicht viel mehr als „Gutgläubigkeit“ versteht, dann ist das auch noch ausgesprochen unfair. Warum sollen einige Menschen bevorzugt behandelt werden, nur weil sie zufällig fähig sind, bestimmte Vorstellungen mit Haut und Haaren zu schlucken, die andere Menschen, vielleicht die Mehrheit, um keinen Preis akzeptieren kann?

Nach allem, was bisher gesagt wurde, wird es keine Überraschung sein, dass ich mich gegen diese Auffassung vom Glauben wenden werde. Ich werde dafür sorgen, dass der Autor des Hebräerbriefes seine eigene Verteidigung übernehmen kann.

Das erste, was es zu registrieren gilt, richtet sich besonders an diejenigen, die sich vorstellen, der Glaube sei eine vollkommene Gewissheit über den Sinn des Lebens, eine vollständige und klare Gotteserkenntnis, die den glaubenden Menschen befähigt, ruhig durch das Leben zu marschieren, ohne mit der Wimper zu zucken angesichts all der Probleme und Schwierigkeiten, mit denen es die meisten von uns zu tun haben. Wer meint, dass der Glaube so ist wie gerade beschrieben, wird gewöhnlich entweder in krasser Selbsttäuschung enden oder sich verwundert fragen, warum der Glaube scheinbar so schwierig ist – und das gilt für Christen wie für Nichtchristen. All diesen Leuten sagt der Hebräerbrief rundheraus: Nein, ihr liegt falsch. Glaube ist das Gegenteil von Schauen. „Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht“ (Hebräer 11,1). Daher der Titel dieses Kapitels, mit einem Seitenblick auf 2. Korinther 5,7. Der Glaube ist keine mysteriöse Fähigkeit, mit einem geheimen Schlüssel durch das Leben zu schweben, der alle Türen öffnet. Der Glaube ist die Bereitschaft, auf der Basis dessen zu denken und zu handeln, was wir von Gott wissen (was sehr wenig sein kann), und ihm zu vertrauen, dass er uns nicht im Stich lässt. Das trifft gleichermaßen auf Menschen zu, die jahrelang an Gott geglaubt haben, aber den Glauben brauchen, um den nächsten Tag zu überstehen, und auf Menschen, die sich nie sicher waren, ob sie an Gott glauben oder nicht, also auf Menschen, die diesen Glauben wirklich zum ersten Mal brauchen.

Der Autor von Hebräer 11 veranschaulicht, was er meint. Gott sagt: „Noah, es wird eine Flut geben; geh hin und bau eine Arche.“ Und Noah geht hin und baut sie, wobei er vermutlich den Spott der örtlichen Wetterpropheten ertragen muss. Gott sagt: „Abraham, ich möchte, dass du den Ort verlässt, an dem du geboren und aufgewachsen bist, und woanders hingehst – und kümmere dich im Moment nicht darum, wo das sein wird. Ich habe Pläne mit dir.“ Abraham gibt seine Sicherheit auf und geht im Glauben, nicht im Schauen, in das Land, das Gott seinen Nachkommen geben wollte. Gott sagt: „Sarah, du wirst einen Sohn zur Welt bringen.“ Menschlich gesehen war das unmöglich. Doch Sarah glaubt das und Isaak wird geboren – sie glaubt trotz ihres nervösen Gekichers, das ihre Unsicherheit kaschiert.

In jedem dieser Fälle handelt es sich bei den betreffenden Personen nicht um Supermystiker, die im Vergleich zu uns in anderen Sphären leben. Auch ihnen wird kein Blick auf eine himmlische Landkarte gewährt, auf der die kommenden Weltereignisse eingezeichnet sind. Sie bekommen allerdings Verheißungen: Wenn sie in diese oder jene Sackgasse laufen, wird Gott vor ihnen eine Tür auftun, die sie sich nie erträumt hätten. Das ist auch heute noch so für die Christen, die das Gefühl haben, Gott ruft sie auf einen neuen Weg oder weist sie an, irgendwelche liebgewonnenen Besitztümer, Beziehungen oder Gewohnheiten aus ihrem Leben zu streichen. Gott scheint zu sagen: „Mach dich zum Narren. Geh in die Wüste, verlass deine gegenwärtige sichere Existenz, verlass die Dinge, auf die du dich verlässt.“ In gewissem Sinne sagt er das natürlich auch. Doch diejenigen, die ihn beim Wort nehmen, wissen, dass die Sache nicht so einfach funktioniert. „Gott hat wunderbare Dinge für diejenigen vorbereitet, die ihn lieben“ – stimmt, doch dieselbe Passage sagt auch: „Kein Auge hat gesehen, kein Ohr gehört und keines Menschen Herz erdacht“, worin diese Dinge genau bestehen (1. Korinther 2,9). Das gilt auch für denjenigen, für den die Aufforderung: „Du musst an Jesus Christus glauben“, genauso sinnvoll klingt wie der Befehl: „Bau eine Arche!“ Der Glaube ist das Gegenteil von Schauen. In Sprüche 3,5 lesen wir:

Verlass dich auf den HERRN von ganzem Herzen,

und verlass dich nicht auf deinen Verstand,

sondern gedenke an ihn in allen deinen Wegen,

so wird er dich recht führen.

Nun gut: Der Glaube ist also kein magischer Reisepass, mit dem man in ein bequemes, problemloses Leben kommt. Er ist nicht für diejenigen reserviert, die auf dieselbe Weise an Gott glauben wie die Menschen, die glauben, die Erde sei flach. Es gibt jedoch auch einige, die diesen Punkt beinahe zu gut begreifen, die einen Schritt weiter gehen, die Konsequenzen ziehen und auch einen fast vollständigen Agnostizismus für eine Tugend halten. Es gibt heute eine Art falsche Demut in Glaubensfragen, eine Demut, die stolz ist auf die vielen Dinge, derer man sich nicht sicher ist. In dieser Demut läuft man im Nebel herum und sagt sich selbst und allen anderen, dass sowieso niemand diese Dinge klar sieht. Wir treffen diese Demut manchmal in der Form von Menschen, die sagen: „Ich kann mit all dieser Theologie nichts anfangen“ – wobei sie damit meinen: „Wenn du nichts dagegen hast: Ich möchte lieber nicht zu scharf über Gott und die Forderungen nachdenken, die er an mich stellen könnte.“ Das ist allerdings kein Glaube.

Glaube ist aber nicht nur das Gegenteil von Schauen, sondern auch das Gegenteil von Zweifel. Glaube ist die Zusicherung der Dinge, die man nicht sieht; aber eben die Zusicherung der Dinge, die man nicht sieht. Luther drückt es so aus: „Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht.“ Natürlich gibt es viel Platz für ehrlichen Zweifel im Blick auf Dinge, die wir noch nicht wissen können. Abraham wusste nicht, wo er landen würde. Doch durch seinen Gehorsam zeigte er, dass er voller Zuversicht war, dass Gott sein Wort halten würde. Es ist so, wie es der Autor ein paar Verse später sagt: Diese Menschen starben im Glauben. Sie hatten die Erfüllung der Verheißungen noch nicht erlebt, doch sie sahen sie von ferne, waren von ihnen überzeugt und machten sie sich zu eigen. Menschen, die im Glauben leben, mögen zwar nicht wissen, wo sie hingehen. Dennoch kennen sie Gewissheit – die Gewissheit in der Beziehung zu dem Gott, der sie berufen hat und führt.

Wenn wir verstehen wollen, wie der Glaube sowohl das Gegenteil von Schauen als auch von Zweifel sein kann, dann müssen wir aufhören, abstrakt vom Glauben zu reden, und beginnen, konkreter zu werden. Der Glaube ist ja als solcher nicht nützlich oder wertvoll. Glaube ist wie ein Fenster (unser Vergleich aus dem zweiten Kapitel), das nicht um seiner selbst willen existiert, sondern damit wir etwas durch das Fenster sehen können – und damit Licht ins Zimmer einfallen kann. Glaube ist sinnlos und nutzlos, bis er einen Ausblick auf etwas Bestimmtes gewährt.

Das Wort etwas ist allerdings irreführend. Der Glaube ist keine Frage von abstrakten Theorien. Es geht beim Glauben auch nicht darum, sich noch vor dem Frühstück dazu aufzuschwingen, sechs unmögliche Dinge zu glauben (wie die Königin in Alice im Wunderland sagt). Christlicher Glaube besteht nicht bloß darin, einer Reihe von Lehrsätzen gedanklich zuzustimmen, auch wenn er das früher oder später umfassen wird. Es geht auch nicht darum, dass es jedes Objekt irgendeines Glaubens tut, solange nur ein Glaube vorhanden ist. Glaube bedeutet, sich völlig auf Gott zu verlassen und sich Gott für Zeit und Ewigkeit hinzugeben, seine Gebote zu befolgen, nicht zu versuchen, sich selbst als guten Menschen Gott zu empfehlen, sondern der Tatsache zu vertrauen, dass er uns annimmt, wie wir sind, und zwar aufgrund dessen, was Jesus Christus für uns erwirkt hat. Paulus fasste es zusammen, als er aus dem Gefängnis schrieb: „Ich bin eingesetzt als Prediger und Apostel und Lehrer. Aus diesem Grund leide ich dies alles [Glaube als Gegensatz zum Schauen]; aber ich schäme mich dessen nicht [Glaube als Gegensatz zu Zweifel]; denn ich weiß, an wen ich glaube [Glaube definiert durch seinen Inhalt], und bin gewiss, er kann mir bewahren, was mir anvertraut ist, bis an jenen Tag.“ Ich weiß, an wen ich glaube. Der Glaube mag manchmal wie ein Sprung ins Dunkel aussehen, aber er ist immer ein Sprung, zu dem man im Gehorsam gegenüber einer Stimme ansetzt, die aus dem Dunkel kommt und sagt: „Spring, ich fange dich auf.“

Der christliche Glaube ist also kein vager Optimismus und keine allgemeine religiöse Herangehensweise an das Leben. Christlicher Glaube heißt, dem Gott zu glauben und zu vertrauen, der in Jesus von Nazareth gezeigt hat, wie er ist. Was heißt das? Es heißt erstens, dass wir wissen, dass Gott ein heiliger und allmächtiger Gott ist: Daran lässt das Leben Jesu keinen Zweifel. Es heißt zweitens, dass er ein liebender und barmherziger Gott ist: Daran lässt der Tod Jesu keinen Zweifel. Es heißt drittens, dass er ein Gott ist, der neues Leben schenkt: Daran lässt die Auferstehung Jesu keinen Zweifel. Wir können Gott nicht sehen; aber Jesus hat uns gezeigt, wie er ist. Und Gott verlangt von uns (in erster Linie) keinen großen Glauben. Als die Jünger zu Jesus sagten: „Herr, mehre unseren Glauben“, sagte Jesus ihnen, dass nur ein Glaube nötig ist, der so groß wie ein Senfkorn ist. Wir brauchen keinen großen Glauben. Wir brauchen Glauben an einen großen Gott. Daher der Titel dieses Buches. Und dieser Glaube entsteht im Hören auf die Verheißungen Gottes, wie es Abraham vormacht: Man hört die Verheißungen, glaubt ihnen und handelt auf ihrer Grundlage.

Wie sehen diese Verheißungen aus, und für wen sind sie? Sie sind für uns alle: für diejenigen, die schon sehr lange Christen sind und die wieder einmal die Leben spendenden Worte hören müssen, die Gott spricht; für diejenigen, die als Christen vor sich hin wursteln und die dringend aus der Macht und Liebe Gottes Kraft für die nächsten Tage und Wochen ziehen müssen; bis hin zu jenen, die bisher noch nie Gott ihr Vertrauen gegeben haben und die dies vielleicht dringender tun müssten, als sie meinen. Uns allen gelten die Verheißungen: „Wer mein Wort hört“, sagt Jesus, „und glaubt dem, der mich gesandt hat, hat das ewige Leben.“ Oder auch: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch Ruhe geben.“ Und wiederum: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern ewiges Leben haben.“

Eine der erstaunlichsten Verheißungen ist genau in der Passage zu finden, die wir untersucht haben. Nachdem der Autor den Glauben beschrieben hat, der sowohl das Gegenteil von Schauen als auch von Zweifel ist, sagt er über die Männer und Frauen des Glaubens: „Darum schämt sich Gott ihrer nicht, ihr Gott zu heißen“ (Hebräer 11,16). Dieses kleine Possessivpronomen, ihr Gott, fasst alles zusammen. Gott will für sein Volk kein ferner Gott sein, und er wird das auch nicht sein. Der christliche Glaube ist eine Beziehung – eine persönliche Beziehung – in der Gott sein Volk liebt und sich um sie kümmert, und in der sein Volk Gott kennt, ihn liebt und ihm gehorcht.

Man ist versucht zu sagen: „Mach damit, was du willst!“ Doch ich möchte gerne sagen: „Greif zu!“

Kleiner Glaube - großer Gott

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