Читать книгу TrauerWelten - Tomas Cramer - Страница 5
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Die Strahlen der Abendsonne bahnen sich ihren Weg durch die Birkenzweige und Trauerweiden. Sie verwandeln den ganzen Friedhof in ein goldfarbenes Gräberfeld, dessen Erdboden bedeckt ist mit den gelb-braunen Blättern der feinästrigen Bäume. Um Theo herum raschelt und flüstert das Laub der Buchen, die den Verkehrslärm, der von den Straßen Cloppenburgs herüberschwappt, etwas dämpfen. Die hohen Bäume, die Theo heute das erste Mal zu sehen glaubt, lassen ihre herbstfarbenen Blätter noch etwas länger leuchten, bevor auch sie sich an der unausweichlichen Herbstdemonstration beteiligen.
Das bunte Fensterglas der Friedhofskapelle, durch das nur schemenhaft die Konturen des von der Decke hängenden Kreuzes zu erkennen sind, reflektiert den orangefarbenen Glanz der Sonne auf die Gesichter der Trauernden, die Mamas Grab umringen.
»Theodora, nimm jetzt die kleine Schaufel und wirf damit etwas Erde auf den Sarg«, flüstert Tante Elfi Theo ins Ohr (Theo hasst es, wenn Elfi sie bei ihrem vollständigen Vornamen nennt). Theo kann sich nicht rühren, keinen Millimeter den Arm bewegen, ja nicht einmal einen richtigen Atemzug holen! In ihrer Luftröhre sitzt ein dicker Kloß, angefüllt mit den entsetzlichen Gefühlen der Trauer, aber auch eine gehörige Portion Wut befindet sich darin.
»Warum soll ich Mama mit Erde bewerfen? Sie hat Blumen verdient...«, stößt sie halblaut und gepresst hervor, unmittelbar bevor der Friedhof sich in eine dunkle, kreisende Totenkammer verwandelt und das Mädchen geradezu gierig zu sich herunterzieht. Theo blickt hilflos in die versteinerten Gesichter der vielen Freunde, Bekannten, Nachbarn, Arbeitskollegen und Verwandten ... dann ist der Filmriss da ... es ist finster vor ihren Augen.
Sie merkt keinen Aufprall! Hat man Theo im Fallen aufgefangen oder empfindet sie gerade keinen Schmerz? Das alles wird auf einmal bedeutungslos, Zeit und Raum entgleiten ihr. Sie glaubt zu schweben, fühlt sich plötzlich getragen von unendlicher Liebe.
Von irgendwoher hört sie Mamas vertraute Stimme, aber plötzlich entschwindet die Dunkelheit, wie eine schwarze Zauberdecke im Loch einer Trickkiste. Sie spürt, dass der Kloß im Hals sich langsam aufzulösen beginnt und ein süßliches Aroma freigibt. Dann flammt ein warmes Rot vor ihren Augen auf, Mamas Stimme wird übertönt von wirrem Stimmengemurmel, dessen Herkunft Theo überhaupt nicht einordnen kann.
Auf einmal hört sie ihr eigenes Herz schlagen, als sei es ihr den Hals aufwärts gerutscht. Ein Schwall heißen Blutes durchströmt ihren Körper, der sie wieder zu Bewusstsein kommen lässt. Theo öffnet nun die Augen und sieht unzählige Gesichter auf sie herunterschauen, kreisförmig aneinandergereiht, fast Ohr an Ohr, aufgezogen wie auf einer Perlenkette.
»Gibt’s hier irgendwas umsonst?«, krächzt Theo benommen. Ihr Gesicht ist weiß wie Kreide.
Statt einer Antwort kommt Leben in die Steingesichter und sie beginnen zu lächeln. Theo grinst etwas erleichtert zurück: Nicht weil sie sicher in Paps Armen liegt oder alle so schrecklich besorgt um sie sind, sondern weil sie glaubt Mamas Stimme gehört zu haben!
Paps richtet sie wieder auf und klopft die Erdkrümel von ihren Hosenbeinen.
»Lass das, bitte!«, wehrt Theo sich mit gekrauster Stirn und schüttelt empört den Kopf. »...bin doch kein kleines Kind mehr...!«
»Beinahe wärst du ins Grab gefallen!«, meint Elfi und Paps fügt hinzu:
»Ich konnte dich gerade noch auffangen. So glaub mir doch endlich, das hier ist einfach zu viel für dich ... Der Schock über Mamas Tod sitzt dir viel zu tief in den Knochen. Du hättest zu Hause bleiben sollen, vielleicht auch bei Onkel Bernd, der mit einem Hexenschuss auf dem Sofa liegt. Aber du wolltest ja unbedingt bei der Beerdigung dabei sein. Das ist einfach zu viel für eine Vierzehnjährige ...«, tadelt er sie mit brüchiger Stimme.
»Wie wär’s mal mit ’ner Tonstörung? Das hat doch mit meinem Alter nichts zu tun!«, unterbricht Theo ihren Paps. Das Krächzen in der Stimme hat nachgelassen. Paps lächelt angestrengt locker, sie weiß nicht, ob aus Verlegenheit oder Erleichterung, wahrscheinlich ein wenig von beidem.
Ihre Flapsigkeit wird sie wohl nie ablegen, denkt Paps, bevor Theo nachschiebt:
»Das alles geht übrigens auf meine Kappe! Du weißt ganz genau, dass ich unbedingt hier sein muss! Ich passe auf, dass die Beerdigung so abläuft, wie Mama sie gern gehabt hätte.«
Theo zieht eine hellbraune Haarsträhne hinters Ohr, die schmale Brille verrutscht dabei ein wenig. Völlig unbeeindruckt von den Zuhörern, die noch immer um sie herumstehen, sprudelt es nur so aus ihr heraus:
»Warum ist überhaupt alles so weit gekommen? Warum musste ausgerechnet Mama sterben? Was haben die vielen Medikamente denn gebracht, die sie schlucken musste, obwohl die ihr gar nicht bekamen? Täglich hat sie sich übergeben müssen, sie hing ja nur noch über der Porzellanschüssel ... warum hat Gott Mama sterben lassen, warum? Warum beten wir eigentlich noch? Waren wir nicht immer eine gläubige Familie was haben wir denn davon? Das macht doch alles gar keinen Sinn …«
Theo hadert mit dem Schicksal, mit Gott und der Welt. Sie vergräbt ihr Gesicht in Paps schwarzem Mantel, der alles andere als weich ist. Paps drückt Theo fest an sich, aber er bringt kein einziges Wort heraus. Er ist tief traurig und wünscht sich nichts sehnlicher, als dass er das ganze letzte Jahr ungeschehen machen könnte. Es fällt ihm sehr schwer, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Theo merkt, wie drei oder vier seiner Tränen auf ihr Haar tropfen, sie spürt seine Sprachlosigkeit.
In den letzten Wochen hatte sie ihn sehr oft weinen sehen, auch wenn er es zu verbergen suchte. Weil Theo Mamas Krankheit nicht akzeptieren wollte, konnte sie bisher keine Träne vergießen - langsam macht sich deswegen ein schlechtes Gewissen breit. Sie weigerte sich beharrlich, Traurigkeit aufkommen zu lassen, weil Mama immer so stark wirkte und felsenfeste Zuversicht ausstrahlte. Allerdings, muss sie rückblickend zugeben, verblasste Mamas Zuversicht in den letzten Wochen ihres Lebens zusehends.
Der goldene Schein der Sonne, der soeben noch einmal den Friedhof erfüllt hatte, verkümmert augenblicklich zu abendlichem Dämmerlicht. Die Birken recken ihre hängenden Zweige über die Gräber, als bekundeten sie schweigend ihr Beileid. Rasch treiben einige langgezogene Wolkenfetzen über dem Ort der Trauer dahin, als brächten sie auf diese Weise zum Ausdruck, dass sie das alles nichts angehe. Ein kühler Ostwind lässt die letzten Friedhofsbesucher entschwinden.
Das funzlig-dämmrige Licht in der Kapelle erlischt. Quietschend hallt das Drehen eines Schlüssels in einem verrosteten Türschloss über den ganzen Friedhof. Schemenhaft erkennt Theo den Küster, wie er sich auf sein Rad schwingt und davon radelt, zu seiner Familie, seinen Kindern und zu seiner Frau …
Theos Augen füllen sich nun endlich mit Tränen. Paps legt beruhigend seinen Arm um ihre verkrampften Schultern, dann gehen sie zum Parkplatz, um gemeinsam mit dem Auto nach Emstekerfeld zurückzufahren, wo Mama nicht mehr auf sie wartet.
»Warum?«, flüstert Theo in die Dunkelheit hinein, ohne dass Paps es hören kann: »Warum nur?«
Ein Jahr später …
»Warum ist es in dieser Halle immer so kalt?«, schimpft Theo in sich hinein, unmittelbar bevor ihre Sportlehrerin Frau Roll die Schüler der 10b des Clemens-August-Gymnasiums für das Aufwärmtraining begeistern will.
»Theodora, wo sind deine Sportschuhe?«, fragt Frau Roll (Theo hasst es, wenn auch die Lehrer sie bei ihrem offiziellen Vornamen nennen, das klingt immer so, als habe sie etwas ausgefressen). Sofort setzt sie ihr bewährtes Unschuldsgesicht auf:
»Die habe ich meinem Bruder geborgt.«
Frau Roll legt ihr ohnehin schon faltiges Gesicht in Falten. Bei diesem Gesichtsausdruck fühlen sich Theo und ihre Mitschüler sehr stark an einen Mops auf zwei Beinen erinnert. Hinzu kommt, dass sie nicht ganz schlank und ziemlich kurz geraten ist – das hat Frau Roll mittlerweile den Spitznamen Roll-Mops eingebracht.
»Du hast überhaupt keinen Bruder, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, oder?«
Wenn sie Theo so anblickt, fällt es ihr nicht leicht sachlich zu bleiben: »Beweisen können Sie das aber nicht!«, sagt sie mit gekonntem Augenaufschlag und einem gezwungenem Lächeln.
»Mach jetzt bitte keine unseriösen Scherze, es ist auch für mich die siebte Stunde! Dann musst du eben barfuß laufen. Los geht’s Leute! Zehn Runden im Kreis und dann die Böcke in die Mitte.« Frau Roll wirbelt mit einem ihrer durchtrainierten Arme durch die Luft und stößt einen kurzen Pfiff durch ihre Trillerpfeife aus.
Nach etwa einer halben Stunde glaubt Theo, sie habe fleischfarbene Eisklumpen am unteren Ende ihrer Beine, mit denen sie durch die Halle pflügt. Von Aufwärmtraining kann wirklich keine Rede sein! Das Herausschieben der Böcke aus dem Geräteraum und dann quer durch die Turnhalle, ist für Theo kein Problem, aber sie hasst Bockspringen! Es ist wieder an der Zeit mit Jenny im Geräteraum zu verschwinden und den ganzen Flohzirkus abzuwarten. Das merkt Roll-Mops nie, wenn die Jungs nicht wieder petzen!
Auf eisigen, blaublassen Füßen stakst Theo in den Geräteraum, greift nach den erstbesten Holzbeinen eines Bocks und zieht diesen übereifrig im Rückwärtsgang in die Halle, gleichzeitig schiebt Jenny von der anderen Seite. Doch dieses Tempo, das die beiden vorgelegt haben, ist des Guten zuviel: Theos rechter großer Zeh verklemmt sich in der weißen Kunststoffrolle des Turngerätes. Sie hört es knacken! Dann fühlt es sich an, als dringe ein Messer ins Fleisch und durchtrenne mit seiner scharfen Klinge jede Nervenbahn einzeln. Augenblicklich läuft dunkles Blut auf den Hallenboden, das sich schnell zu einer kleinen Pfütze ausdehnt. Vor Entsetzen weiten sich ihre Augen und Jenny quietscht wie ein Ferkel, noch bevor Theo »Aua« schreien kann. Biene und Lea kommen natürlich auch sofort angesprintet:
»Iiiiiiihhhh!«, entfährt es ihnen, als sie das viele Blut sehen, das von der Rolle bereits ausgewalzt und verschmiert worden ist. Kai der Penner (sein bürgerlicher Name ist Kai Penner), der bekannt ist für seine spitzen Bemerkungen in prekären Situationen, äfft seine Lehrerin nach und ruft besserwisserisch mit gehobener, näselnder Stimme:
»Wir sollen doch keine Schuhe mit bunten Sohlen tragen, auch keine blutroten!« Dann legt er sein Gesicht in Falten und jeder glaubt, Roll-Mops habe wieder eine ihrer Weisheiten zum Besten gegeben.
Frau Roll spurtet dessen ungeachtet zum Verbandskasten (niemand hat vermutet, dass Möpse so schnell laufen können) und zieht umständlich das komplette Verbandssortiment auseinander, die einzelnen Plastikpäckchen wirbeln nur so durch die Luft, als habe sich im Kasten eine Explosion ereignet. Dann kniet sie sich zu Theos Füßen nieder und versucht ihr Erste-Hilfe-Wissen in die Tat umzusetzen. Endlich gelingt es ihr, mit Hilfe eines Druckverbandes, die Blutung zu stoppen.
»Der Zeh sieht nicht gut aus«, meint Frau Roll und wischt sich den Schweiß von der Stirn, »damit musst du auf jeden Fall in die chirurgische Ambulanz. Ich rufe einen Krankenwagen!« Kai steht aufrecht hinter ihr und bewegt tonlos seine Lippen passend zu ihrer Stimme. Dann verdreht er gekonnt die Augen, was Frau Roll aber nicht sehen kann.
Theo schaut angestrengt erst in Kais, dann in Frau Rolls Gesicht und überlegt, ob die Chirurgen auch in der Lage sind Gesichtsfalten straff zu ziehen, dann könne sie ja gleich mitkommen, als plötzlich vor ihren Augen alles schwarz wird. Zuerst eine Bild-, dann die Tonstörung, fast genau wie vor einem Jahr …
Theos Gedanken überschlagen sich mit Bildern aus ihrer Vergangenheit. Ein wirres Kontrastprogramm heller und dunkler Farben wirbelt umher, als verrühre jemand einen Schoko-Sahne-Pudding in ihrem Kopf.
Obwohl sie von ihrer Umwelt nichts mitbekommt, ist sie bei klarem Verstand. Graue Nebelschwaden durchziehen ihr Denken und strukturieren sich zu einem komplizierten Muster von Fragen über Gott und die Welt. Fast unmerklich kristallisieren sich aber auch Widersprüche heraus, die Theo mindestens seit einem Jahr mit sich herumschleppt und die geradezu nach Lösungen dürsten. Die quälenden Fragen der Trauer haben sie, seit dem sie zum ersten Mal von Mamas Krankheit erfahren hat, nicht mehr losgelassen. Diffuse Worte und Silben schälen sich mühsam aus ihrem Unterbewusstsein, formen sich zu konkreten Sätzen, sie trachten danach, in ihr Bewusstsein einzudringen.
Es sind Fragen wie, wenn Gott wirklich allmächtig ist, warum verhinderte er Mamas Leiden nicht, kann er es vielleicht nicht?
Und dann eine Frage, die am Fundament ihrer bisherigen Gottesvorstellung rüttelt, wenn Gott die Liebe ist, warum ließ er Mamas Krankheit überhaupt zu, ist er vielleicht doch kein liebender Gott?
Ganz überraschend tritt eine große Leere ein. Theo ist enttäuscht. Wo sind die Antworten? Warum rührt niemand weiter in diesem Pudding? Man kann sie jetzt nicht einfach so hängen lassen ... Was soll sie in diesem Vakuum anstellen? In diesem Nichts, erfüllt mit grau-schwarzen Schwaden. Sie fühlt sich wie eine Gefangene im eigenen Körper. Kilometerweit entfernt hört sie aufgeregte Stimmen und ein Martinshorn, dann wieder Stimmen, diesmal aber etwas leiser. Ihre Zunge liegt schwer wie ein Bleiklumpen im Mund und reagiert nicht auf die Nervenimpulse, sie lässt nicht mit sich reden.
Sie denkt an Paps. Vermag sie jemals mit ihm über diese aufwühlenden Gedanken zu reden oder darf sie ihm derartige Fragen gar nicht stellen, fragt sie sich noch, als ein fester Ruck sie spüren lässt, dass die Schwerkraft wieder wirkt.
Theo öffnet die Augen und starrt eine geraume Weile in den blauen Himmel, der von Schäfchenwolken übersät ist.
»Irgendwie paradiesisch«, flüstert sie, als sich ein vertrautes Gesicht zwischen die Wölkchen und ihre Augen schiebt:
»Paps, was machst du denn hier?«, ächzt Theo verstört, als hätte sie jemand anderen erwartet.
»Ich konnte nicht schneller bei dir sein, aber wie ich sehe, hattest du mich noch gar nicht vermisst«, flüstert er, um die anderen Patienten in diesem mit Wandmalereien verschönerten Aufwachraum nicht vorzeitig aus dem Schlaf zu reißen. Theo muss sich nun ordentlich räuspern, bevor sie verständlich fragen kann:
»Sag's mir, bin ich wieder ohnmächtig geworden? Wie lange liege ich hier schon?«
»Etwa drei Stunden. Dein Fuß ist bereits fixiert der große Zeh ist gebrochen. Jenny erzählte mir vorhin, wie es dazu gekommen ist. Sie fuhr mit dir im Krankenwagen mit und nahm dann anschließend den Bus nach Hause.«
»Ach, die gute Jenny, dann brauchte sie wenigstens dieses elende Bockspringen nicht mitzumachen. Dafür könnte sie mir sogar etwas dankbar sein.« Dann witzelt Theo: »Paps, hast du schon mal einen Mops auf ‘nem Trampolin hüpfen sehen?«
»Wie bitte?«
»Ach, vergiss es«, raunt sie ihm zu und macht eine abwertende Handbewegung, dann fällt ihr ein: »Warum hat man mit dem Fixieren nicht solange gewartet, bis ich wieder aufgewacht bin?«
»Der Doktor war der Meinung, dass du gar nicht wirklich ohnmächtig warst. Alle Untersuchungsergebnisse ließen darauf schließen, dass du nur schläfst. Der Arzt vermutete, dass du simulierst – diese Unterstellung konnte ich ihm allerdings ausreden. Ich sagte ihm, dass du keinen Grund hättest, uns ein solches Theater vorzuspielen. Aber, lass uns bitte später darüber reden«, schlägt er abschließend vor.
»Du, Paps«, beginnt Theo nach einer Weile von neuem und schaut wieder in die malerischen Wolken an der Zimmerdecke, »ich vermisse Mama so sehr, aber ich kann mich schon nach einem Jahr nicht mehr richtig an ihr Gesicht erinnern. Natürlich kenne ich es von den Fotos, die wir zu Hause an den Wänden und in der Fotokiste haben. Aber, ich meine ihr Wesen, ihre Stimme, ihren Gesichtsausdruck, ihre Reaktionen und all das ... verstehst du mich? Alles verblasst in mir ... ich fühle mich deswegen so schuldig, irgendwie untreu.«
Theo hebt ihren Kopf ein wenig und schaut Paps fest an, als suche sie Halt in seinen Augen. Sie erkennt, dass seine graublauen Augen bei ihren Worten einen feuchten Glanz bekommen haben. Er bewegt seinen Oberkörper bedächtig nach vorn, stützt die Ellenbogen auf die Beine und legt die Hände ineinander. Dabei presst er seine Lippen zusammen, damit sie aufhören zu zittern und nickt bedächtig. Theo betrachtet Paps sorgsam. Sie vermutet, dass er unter den Folgen des Witwerdaseins viel mehr leidet, als ihr bisher bewusst war.
Innerhalb weniger Monate, unmittelbar nach Mamas Tod, waren seine Haare grau geworden, der gestutzte Bart ebenfalls. Sein gütiges Gesicht hat im letzten Jahr deutlich mehr Furchen bekommen.
»Mir geht es ganz ähnlich«, bricht Paps das Schweigen, »man sagt immer, die Zeit heile alle Wunden, aber ich glaube, in Wahrheit bedeckt sie die Wunden nur großzügig mit dicker Watte! Darunter bluten sie weiter, im Verborgenen.«
»Als ich vorhin aufwachte, fühlte ich mich traurig weißt du warum?«
Paps schüttelt etwas geistesabwesend den Kopf. Sie spricht nun gedämpfter:
»Weil ich Mamas Stimme diesesmal nicht gehört habe, ich habe dir doch davon erzählt. Damals war sie mir noch ganz nah, aber heute ...« Theo spürt, wie sich ihre Kehle langsam zuschnürt und das Sprechen wieder deutlich schwerer fällt.
»Die Erinnerungen lassen nach, das ist ein ganz normaler Vorgang, auch wenn man es schrecklich findet«, erwidert er und richtet sich auf.
Sie schaut auf die Orthese, die ihren gesamten Fuß umschließt, wie ein Kokon einen Schmetterling.
»Wie lange muss ich diese graue Eierschale tragen?«
»Doktor Wegmann sagte etwas von drei bis vier Wochen. Der Knochen ist kompliziert gebrochen, aber wenn du dich vorbildlich verhältst, steht einem schnellen Heilungsprozess nichts im Wege, meinte er. Mit dem ›vorbildlichen Verhalten‹ sind natürlich deine Ohnmachtsanfälle gemeint. Deswegen solltest du dich etwas eingehender untersuchen lassen.«
»Na logisch. Das hat aber wohl noch Zeit, oder?«
Plötzlich vernehmen die beiden das Stöhnen einer Patientin, die in der Nähe des Fensters liegt. Das daran anschließende Röcheln klingt so erbärmlich, als sei eine Operation noch in vollem Gange. Besorgt schauen sich Vater und Tochter an. Theo verzieht die Mundwinkel.
»Wie lange muss ich hier eigentlich liegen?«
»Bis du aufgewacht bist! Du kannst gehen, wann du willst«, wiederholt Paps die Empfehlung der Krankenschwester, dabei erhebt er sich. Theo kneift die Augen zusammen und formt ihren Mund zu einem stummen Schrei.
»Damit willst du sicherlich andeuten, dass du hier schleunigst raus willst, oder?«, vermutet Paps. Theo schließt ihren Mund und nickt heftig.
»Die Gehhilfen stehen hier neben dem Nachtschränkchen. Versuche mal ein paar Schritte damit zu gehen.«
»Gut, aber dann nichts wie raus«, zischt sie, »bevor ich von dem Geröchel wieder das Bewusstsein verliere.«
Paps geht hinaus auf den Flur und informiert den diensthabenden Krankenpfleger wegen der unruhigen Patientin. Unmittelbar darauf humpelt Theo mit den Krücken langsam in Richtung Fahrstuhl. Paps trägt ihre Schulsachen und einen Schuh hinterher, gemeinsam verlassen sie das St. Josefs-Hospital.
Seit Mama von ihnen gegangen ist, hat sich unglaublich viel verändert. Der Tagesablauf ist für Theo vor allem von Einsamkeit geprägt. Nachmittags trifft sie sich nur dann mit ihren Freundinnen, wenn sie nicht zu viele Hausaufgaben zu erledigen haben.
Tante Elfi kommt manchmal vorbei, sie sieht kurz nach dem Rechten oder wirft einen Blick in Theos Hausaufgaben. Da sie aber so gut wie keine Ahnung davon hat, bleibt es meistens bei einem sehr kurzen Blick. Manchmal bringt sie das Mittagessen, wenn sie für ihre eigene Familie zu verschwenderisch gekocht hat. Aber Theo glaubt, dass nur deswegen so viel übrigbleibt, weil niemand es herunter bekommt so schmeckt es jedenfalls. Oft sind die Portionen viel zu fettig. Das Zeug liegt ihr dann so schwer im Magen, dass sie sich nicht mal mehr auf ihre Hausaufgaben konzentrieren kann.
Heute ist wieder so ein Tag, an dem keine ihrer Freundinnen Zeit hat und Theo die Decke auf den Kopf zu fallen droht. Dann ist es so still im Haus, dass sie sogar die Wände wispern hört. Sie flüstern unentwegt, zuerst leise, kaum hörbar, dann immer lauter werdend ihre Geschichten, die sie während der letzten fünfzig Jahre in diesem Haus erlebt haben. Theo ist sich sicher, dass dieses Flüstern ein erstes Anzeichen für eine Psychose ist, an der sie früher oder später zu erkranken droht (das hatte sie in Paps Psychologie-Ratgeber gelesen).
»Meine liebe Theo«, sagt sie in solchen Augenblicken zu sich selbst und schaut in den ovalen Spiegel, der in ihrem Zimmer hängt, »du bist auf dem besten Wege durchzuknallen. Pass gut auf dich auf …«
Die einzigen Möglichkeiten jene Wisperstimmen zu vertreiben, sind, entweder die Musikanlage laut aufzudrehen, oder sich den heißgeliebten Büchern hinzugeben.
»Bücherbesessene«, hatte Mama sie früher genannt. Auf sie selbst passte dieser Titel natürlich auch, denn sie liebte Bücher ebenfalls besonders historische Romane. Paps verschlingt dagegen nur langweiliges Zeug, »Sachbücher«, nennt er sie. Das klingt schon so nach Staub und langweiligen Dingen, die niemand mehr wissen will.
Voller Erwartung öffnet Theo die Dachbodenklappe und zieht die Leiter aus der Verankerung, die zu ihrem neuen Lesezimmer hinaufführt. Mit einem dicken Wälzer unterm Arm, steigt sie wegen ihres Gipsfußes ganz konzentriert, Schritt für Schritt die Sprossen empor.
Oben angekommen, ist sie umgeben von zwei Dachziegelwänden, die nach oben hin spitz zulaufen. Auf dem mit einem roten Teppich ausgelegten Holzfußboden steht ein altes, aber sehr bequemes Plüschsofa. Unter einem klitzekleinen Milchglasfenster auf der Giebelseite, ruht ein brauner Elektro-Ofen, den Paps erst in der vergangenen Woche mit letzter Kraft durch die Dachbodenluke gewuchtet hatte. Auf der anderen Seite des dunkelroten Sofas steht ein kleines Bücherregal, das einige der für Theo wichtigsten Literaturschätze beherbergt.
Hier oben fühlt sie sich wie Rapunzel, ohne dass sie von einem Prinzen befreit werden müsste, sie genießt es, von allen unbemerkt über die Dächer von Emstekerfeld blicken zu können und der unheilvollen Welt ein Stückweit entrückt zu sein ja, sie liebt es, zwischen Himmel und Erde zu schweben.
Theo liest zum dritten Mal das Buch Tintenblut. Es ist jetzt die beste Jahreszeit dafür, wenn die Tage kürzer und die Schatten länger werden.
Sie schiebt den einzigen lockeren Dachziegel hoch und blickt auf die Straße hinab, die den schönen Namen ›Zur Kirschblüte‹ trägt, der wohl einer Zeit entstammt, als die Straße noch von Kirschbäumen gesäumt war.
Langsam lässt sie ihren Blick über die Häuser der einmündenen ›Rotdorngasse‹ und dann hoch zur Sonne wandern.
Das goldgelbe Licht glänzt, als habe der helle Feuerball einen ockerfarbenen Filter aufgeschraubt bekommen. Die kühle Ostbrise hält die Abluft der Schornsteine niedrig und lässt die Atemluft rauchig schmecken. Etwa über der Grundschule krächzen die Krähen und die schleichend einsetzende Dämmerung lässt die Luft schon vor dem angekündigten Regen feucht erscheinen. Die aufziehenden dunklen Wolken verdecken allmählich den honigfarbenen Sonnenball, die Farben des Gartens leuchten noch einmal intensiv auf.
Mama hat den Garten immer geliebt, darum haben Paps, Elfi, Bernd und Theo sich vorgenommen, besonders viel Mühe für die Pflege des Gartens aufzuwenden. Alle zwei bis drei Wochen werden die Beete durch Elfi und Bernd vom Unkraut befreit, Theo und Paps mähen wöchentlich den Rasen. Elfi hatte im zurückliegenden Sommer die Idee, den Garten umzugestalten und ihm eine völlig neue Struktur zu geben. Es hat eine Menge Arbeit und Freizeit gekostet, ihre genauen Vorstellungen umzusetzen. Wenn Theo nun den Blick über die Pflanzen und Beete schweifen lässt, muss sie zugeben, dass die Mühen sich wirklich gelohnt haben. Sie glaubt, Mama wäre mit der Arbeit ihrer Lieben zufrieden gewesen. Wie gerne hätte Theo sie jetzt bei sich …
Besonders in jenen Momenten, in denen Probleme auftauchen, die nur Frauen etwas angehen, vermisst sie Mama sehr, Paps hat dann absolut kein Mitspracherecht. Manchmal geht sie zu Elfi, aber lieber zu ihrer Vertrauenslehrerin Frau Siegel. Paula Siegel verlor mit neun Jahren ebenfalls ihre Mutter. Zwischen den beiden existiert eine Art unsichtbares Band.
Um zu wissen, dass irgendwo der Schuh drückt, brauchen sie sich nur kurz anzusehen, dann treffen sie sich zu einem Gespräch im Medienraum. Frau Siegel (Theo darf sie Paula nennen) hat langes, feuerrotes Haar und leuchtend grüne Augen. Im Mittelalter hätte man sie vermutlich als Hexe verbrannt, aber für Theo ist sie immer eine gute Fee.
Theo steigt noch einmal die Stufen hinab, um sich zu vergewissern, dass die Haustür wirklich abgeschlossen ist. Auch der Hausklingel dreht sie den Saft ab, um beim Lesen nicht gestört zu werden. Anschließend kocht sie sich einen Kirschtee und trägt den dampfenden Becher in das gemütliche Dachzimmer zurück. Solche Vorbereitungen dauern mit den Krücken eine halbe Ewigkeit und sie merkt sehr schnell, dass das Gehen ohne diese sperrigen Stangen viel leichter fällt. Sie nimmt sich fest vor, die Krücken Elfi zu überlassen. Schließlich braucht sie jedes Jahr neue Rankhilfen für ihr ausgedehntes Tomatenbeet, an denen sich die Tomatenpflanzen hochwinden können.
Bevor sie es sich auf dem Sofa bequem macht, bringt sie noch drei Kerzen zum Leuchten. Sie putzt die Fettflecken von den Brillengläsern und schlägt Tintenblut auf. Gleich auf der ersten Seite liest Theo eine Widmung:
Für meine liebe Theo, in Liebe!
Mama
Der Anblick ihrer geschwungenen Handschrift versetzt ihr immer wieder einen Stich. Erinnerungen werden wach, bedrückende Gefühle beschleichen ihr Herz.
Theo hat große Mühe sie zuzulassen, sie lasten wie eine tonnenschwere Steinplatte auf ihr.
»Mama, ich vermisse dich so sehr!«, sagt sie leise und drückt die Buchseite mit der Widmung fest an sich. Das Buch hat für sie mehr Bedeutung, als für jeden anderen Menschen der Tintenblut ebenfalls mag. Wenn Theo unter Einsamkeit leidet, verleihen ihr die Zeilen dieses Romans neue Kraft. Sie muss immer an das trockene Rosenknäuel denken, das Theo von mittelalterlichen Märkten kennt. Legt man es für einige Minuten ins Wasser, blüht die scheinbar vertrocknete Rose auf. Mit Tintenblut geht es ihr ähnlich.
Es vermittelt wertvolle Gedanken über Bücher im Allgemeinen, aber vor allem über das Leben. Dessen wahre Aussagen dringen ihr tief ins Herz und lassen sie sogleich aufleben. Theo liest nun die Zeilen, die sie zufällig aufgeschlagen hat:
»Ist es nicht seltsam, wie viel dicker ein Buch wird, wenn man es mehrmals liest? ... Als würde jedes Mal etwas zwischen den Seiten kleben bleiben. Gefühle, Gedanken, Geräusche, Gerüche ... Und wenn du dann nach vielen Jahren wieder in dem Buch blätterst, entdeckst du dich selbst darin, etwas jünger, etwas anders, als hätte das Buch dich aufbewahrt, wie eine gepresste Blüte, fremd und vertraut zugleich.«
Theo hat diese Erfahrung bereits machen dürfen und sie vermutet, dass solche Empfindungen intensiver werden, je älter sie wird. Das Tragische ist nur, dass auch ihre Mama zwischen den Tintenblut-Seiten ›begraben liegt‹ und es keine Möglichkeit gibt, sie dort herauszulösen. Sie ist untrennbar mit den Seiten verwoben. Tintenblut offenbart aber auch Weisheiten, die Theo schwer zu schaffen machen, weil die Realität auf diese Weise gefährlich nahe an sie herantritt. Die eigentliche Geschichte des Buches rückt dabei mehr und mehr in den Hintergrund. Für sie wird es fast zu einem Problem das Buch zu lesen, weil ihr die Gefühle zu schaffen machen, die dabei aufkommen.
Mit dem linken Arm umschlingt Theo das schwere Sofakissen wie einen festen Anker, damit sie ihren verletzten Fuß leichter auf die Lehne des Sofas heben kann und dabei nicht nach vorne gezogen wird.
Die Wirkung der Betäubungsspritze lässt allmählich nach, der Zeh beginnt zu pochen, schleichend kommt der Schmerz zurück. Jeder einzelne Nadelstich der Naht ist deutlich spürbar. Was soll sie nur machen, wenn der Schmerz unerträglich wird?
Theo ist bemüht, sich wieder auf die Zeilen des Buches zu konzentrieren, um die aufkeimende Unruhe zu zerstreuen. Nachdem sie die Stelle aufgeschlagen hat, an der sie vorgestern das Lesezeichen hineingelegt hatte, liest Theo weiter:
»... Roxane nickte nur und fuhr sich erneut über die Augen. ›Manche sagen, man kann die, die man liebt, auch nach dem Tod noch sehen‹, sagt sie leise. ›Dass sie einen besuchen, in der Nacht oder wenigstens in den Träumen, dass die Sehnsucht sie zurückruft, wenn auch nur für kurze Zeit … Ich bin zu Frauen gegangen, die behaupten, mit Toten sprechen zu können. Ich habe Kräuter verbrannt, deren Duft sie rufen sollen, und Nächte wach gelegen, in der Hoffnung, dass sie wenigstens noch einmal zurückkommt ... Aber es ist alles gelogen. Es gibt keinen Weg zurück.‹«
Das Unwiederbringliche, das Wissen um die Endlichkeit lässt Theo erschaudern. Niemals zuvor fühlte sie sich von der Vergänglichkeit so erdrückt wie jetzt, als sei ein schwerer Mantel um ihre Schultern gelegt worden, dessen Gewicht sie kaum standhalten kann. Immer mehr wünscht sie sich, diese bleischweren Gedanken um Leben und Tod, Freude und Trauer, Liebe und Hass würden sie nicht weiter belasten. Sie möchte ein Lotusblatt sein, an dem derartige Empfindungen einfach abperlen. Nichts soll sie daran hindern, einfach nur leben zu können. In einer Welt, in der Seelenschmerzen gar nicht wahrnehmbar sind, dürfte es für alle Menschen viel lebenswerter sein, vermutet sie.
Ich muss unbedingt mit Paps darüber reden, wenn er von der Arbeit zurück ist, nimmt sie sich fest vor, als plötzlich das Buch zuklappt. Geistesgegenwärtig greift Theo nach dem festen Einband und öffnet es wieder auf der ersten Seite. Sie schaut nochmals wie gebannt auf Mamas Handschrift und lässt die geschwungenen Buchstaben so lange auf sich einwirken, bis die Linien beginnen ein merkwürdiges Eigenleben zu führen. Die Welt um sie herum wird immer schemenhafter, sogar das Licht der Kerzen erreicht ihre Augen nicht mehr. Alles verschwimmt, als durchflute eine riesige, lautlose Welle das Lesezimmer. Theo lässt das Buch gegen ihren Willen sinken und schließt die Augen, unmittelbar bevor sie erneut das Bewusstsein verliert...