Читать книгу Der Tod in Venedig / Смерть в Венеции. Книга для чтения на немецком языке - Томас Манн, Thomas Mann - Страница 4
Tristan
Оглавление1
Hier ist „Einfried“[1], das Sanatorium! Weiß und geradlinig liegt es mit seinem langgestreckten Hauptgebäude und seinem Seitenflügel inmitten des weißen Gartens, der mit Grotten, Laubgängen und kleinen Pavillons aus Baumrinde ergötzlich ausgestattet ist, und hinter seinen Schieferdächern ragen tannengrün, massig und weich zerklüftet die Berge himmelan.
Nach wie vor leitet Doktor Leander die Anstalt. Mit seinem zweispitzigen schwarzen Bart, der hart und kraus ist wie das Rosshaar, mit dem man die Möbel stopft, seinen dicken, funkelnden Brillengläsern und diesem Aspekt eines Mannes, den die Wissenschaft gekältet, gehärtet und mit stillem, nachsichtigen Pessimismus erfüllt hat, hält er auf kurz angebundene und verschlossene Art die Leidenden in seinem Bann – alle diese Individuen, die, zu schwach, sich selbst Gesetze zu geben und sie zu halten, ihm ihr Vermögen ausliefern, um sich von seiner Strenge stützen lassen zu dürfen.
Was Fräulein von Osterloh betrifft, so steht sie mit unermüdlicher Hingabe dem Haushalt vor. Mein Gott, wie tätig sie, treppauf und treppab, von einem Ende der Anstalt zum anderen eilt! Sie herrscht in Küche und Vorratskammer, sie klettert in den Wäscheschränken umher, sie kommandiert die Dienerschaft und bestellt unter den Gesichtspunkten der Sparsamkeit, der Hygiene, des Wohlgeschmacks und der äußeren Anmut den Tisch des Hauses, sie wirtschaftet mit einer rasenden Umsicht, und in ihrer extremen Tüchtigkeit liegt ein beständiger Vorwurf für die gesamte Männerwelt verborgen, von der noch niemand darauf verfallen ist, sie heimzuführen.
Auf ihren Wangen aber glüht in zwei runden, karmesinroten Flecken die unauslöschliche Hoffnung, einmal Frau Doktor Leander zu werden.
Ozon und stille, stille Luft… für Lungenkranke ist „Einfried", was Doktor Leanders Neider und Rivalen[2] auch sagen mögen, aufs Wärmste zu empfehlen. Aber es halten sich nicht nur Phthisiker[3], es halten sich Patienten aller Art, Herren, Damen und sogar Kinder hier auf: Doktor Leander hat auf verschiedensten Gebieten Erfolge aufzuweisen. Es gibt hier gastritisch Leidende, wie die Magistratsrätin Spatz, die überdies an den Ohren krankt, Herrschaften mit Herzfehlern, Paralytiker, Rheumatiker und Nervöse in allen Zuständen. Ein diabetischer General verzerrt hier unter immerwährendem Murren seine Pension. Mehrere Herren mit entfleischten Gesichtern werfen auf jene unberherrschte Art ihre Beine, die nichts Gutes bedeutet[4]. Eine fünfzigjährige Dame, die Pastorin Höhlenrauch, die neunzehn Kinder zur Welt gebracht hat und absolut keines Gedankens mehr fähig ist, gelangt dennoch nicht zum Frieden, sondern irrt, von einer blöden Unrast getrieben, seit einem Jahre bereits am Arm ihrer Privatpflegerin starr und stumm, ziellos und unheimlich durch das ganze Haus.
Dann und wann stirbt jemand von den „Schweren“, die in ihren Zimmern liegen und nicht zu den Mahlzeiten noch im Konversationszimmer erscheinen, und niemand, selbst der Zimmernachbar nicht, erfährt etwas davon. In stiller Nacht wird der wächsernde Gast beiseite geschafft, und ungestört nimmt das Treiben in „Einfried“ seinen Fortgang, das Massieren, Elektrisieren und Injizieren, das Duschen, Baden, Turnen, Schwitzen und Inhalieren in den verschiedenen mit allen Errungenschaften der Neuzeit ausgestatteten Räumlichkeiten…
Ja, es geht lebhaft zu hierselbst. Das Institut steht in Flor[5]. Der Portier, am Eingang des Seitenflügels, rührt die große Glocke, wenn neue Gäste eintreffen, und in aller Form geleitet Doktor Leander, zusammen mit Fräulein von Osterloh, die Abreisenden zum Wagen. Was für Existenzen hat „Einfried“ nicht schon beherbergt! Sogar ein Schriftsteller ist da, ein exzentrischer Mensch, der den Namen eines Minerals oder Edelsteins führt und hier dem Herrgott die Tage stiehlt…
Überigens ist, neben Herrn Doktor Leander, noch ein zweiter Arzt vorhanden, für die leichten Fälle und die Hoffnungslosen. Aber er heißt Müller und ist überhaupt nicht der Rede wert[6].
2
Anfang Januar brachte Großkaufmann Klöterjahn – in Firma A. C. Klöterjahn amp; Comp. – seine Gattin nach „Einfried“; der Portier rührte die Glocke, und Fräulein von Osterloh begrüßte die weither gereisten Herrschaften im Empfangszimmer zu ebener Erde, das, wie beinahe das ganze vornehme alte Haus, in wunderbar reinem Empirestil[7] eingerichtet war. Gleich darauf erschien auch Doktor Leander; er verbeugte sich, und es entspann sich eine erste, für beide Teile orientierende Konversation.
Draußen lag der winterliche Garten mit Matten über den Beeten, verschneiten Grotten und vereinsamten Tempelchen[8], und zwei Hausknechte schleppten vom Wagen her, der auf der Chaussee vor der Gartenpforte hielt – denn es führte keine Ausfahrt zum Hause – , die Koffer der neuen Gäste herbei.
„Langsam, Gabriele, take care[9], mein Engel, und halte den Mund zu“, hatte Herr Klöterjahn gesagt, als er seine Frau durch den Garten führte; und in diese „take care“ musste zärtlichen und zitternden Herzens jedermann innerlich einstimmen, der sie erblickte – wenn auch nicht zu leugnen ist, dass Herr Klöterjahn es anstandslos auf deutsch hätte sagen können.
Der Kutscher, welcher die Herrschaften von der Station zum Sanatorium gefahren hatte, ein roher, unbewusster Mann ohne Feingefühl, hatte geradezu die Zunge zwischen die Zähne genommen[10] vor ohnmächtiger Behutsamkeit, während der Großkaufmann seiner Gattin beim Aussteigen behilflich war; ja, es hatte ausgesehen, als ob die beiden Braunen[11], in der stillen Frostluft qualmend, mit rückwärts gerollten Augen angestrengt diesen ängstlichen Vorgang verfolgten, voll Besorgnis für so viel schwache Grazie und zarten Liebreiz.
Die junge Frau litt an der Luftröhre, wie ausdrücklich in dem anmeldenden Schreiben zu lesen stand, das Herr Klöterjahn vom Strande der Ostsee[12] aus an den dirigierenden Arzt von „Einfried“ gerichtet hatte, und Gott sei dank, dass es nicht die Lunge war! Wenn es aber dennoch die Lunge gewesen wäre – diese neue Patientin hätte keinen holderen und veredelteren, keinen entrückteren und unstofflicheren Anblick gewähren können als jetzt, da sie an der Seite ihres stämmigen Gatten, weich und ermüdet in den weißlackierten, gradlinigen Armsessel zurückgelehnt, dem Gespräche folgte.
Ihre schönen, blassen Hände, ohne Schmuck bis auf den schlichten Ehering, ruhten in den Schossfalten eines schweren und dunklen Tuchrockes[13], und sie trug eine silbergraue, anschließende Taille[14] mit festem Stehkragen, die mit hochaufliegenden Sammetarabesken[15] über und über besetzt war. Aber diese gewichtigen und warmen Stoffe ließen die unsägliche Zartheit, Süßigkeit und Mattigkeit des Köpfchens nur noch rührender, unirdischer und lieblicher erscheinen. Ihr lichtbraunes Haar, tief im Nacken zu einem Knoten zusammengefasst, war glatt zurückgestrichen, und nur in der Nähe der rechten Schläfe fiel eine krause, lose Locke in die Stirn, unfern der Stelle, wo über der markant gezeichneter Braue ein kleines, seltsames Äderchen sich blaublaß und kränklich in der Klarheit und Makellosigkeit dieser wie durchsichtigen Stirn verzweigte. Dies blaue Äderchen über dem Auge beherrschte auf eine beunruhigende Art das ganze feine Oval des Gesichts. Es trat sichtbarer hervor, sobald die Frau zu sprechen begann, ja, sobald sie auch nur lächelte, und es gab alsdann dem Gesichtsausdruck etwas Angestrengtes, ja selbst Bedrängtes, was unbestimmte Befürchtungen erweckte. Dennoch sprach sie und lächelte. Sie sprach freimütig und freundlich mit ihrer leicht verschleierten Stimme, und sie lächelte mit ihren Augen, die ein wenig mühsam blickten, ja hie und da eine kleine Neigung zum Verschießen zeigten, und deren Winkel, zu beiden Seiten der schmalen Nasenwurzel, in tiefem Schatten lagen, soweit mit ihrem schönen, breiten Munde, der blaß war und dennoch zu leuchten schien, vielleicht, weil seine Lippen so überaus scharf und deutlich umrissen waren. Manchmal hüstelte sie. Hierbei führte sie ihr Taschentuch zum Munde und betrachtete es alsdann.
„Hüstle nicht, Gabriele“, sagte Herr Klöterjahn. „Du weißt, dass Doktor Hinzpeter zu Hause es dir extra verboten hat, darling[16], und es ist bloß, dass man sich zusammennimmt, mein Engel. Es ist, wie gesagt, die Luftröhre“, wiederholte er. „Ich glaube wahrhaftig, es wäre die Lunge, als es losging, und kriegte, weiß Gott, einen Schreck. Aber es ist nicht die Lunge, nee, Deubel noch mal[17], auf so was lassen wir uns nicht ein, was, Gabriele? hö, hö!“
„Zweifelsohne“, sagte Doktor Leander und funkelte sie mit seinen Brillengläsern an.
Hierauf verlangte Herr Klöterjahn Kaffee – Kaffee und Buttersemmeln, und er hatte eine anschauliche Art, den K-Laut ganz hinten im Schlunde zu bilden und „Bottersemmaln“ zu sagen, dass jedermann Appetit bekommen musste.
Er bekam, was er wünschte, bekam auch Zimmer für sich und seine Gattin, und man richtete sich ein.
Übrigens übernahm Doktor Leander selbst die Behandlung, ohne Doktor Müller für den Fall in Anspruch zu nehmen.
Die Persönlichkeit der neuen Patientin erregte ungewöhnliches Aufsehen in „Einfried“, und Herr Klöterjahn, gewohnt an solche Erfolge, nahm jede Huldigung, die man ihm darbrachte, mit Genugtuung entgegen. Der diabetische General hörte einen Augenblick zu murren auf, als er ihrer zum ersten Mal ansichtig wurde, die Herren mit den entfleischten Gesichtern lächelten und versuchten angestrengt ihre Beine zu beherrschen, wenn sie in ihre Nähe kamen, und die Magistratsrätin Spatz schloss sich ihr sofort als ältere Freundin an. Ja, sie machte Eindruck, die Frau, die Herrn Klöterjahns Namen trug! Ein Schriftsteller, der seit ein paar Wochen in „Einfried" seine Zeit verbrachte, ein befremdender Kauz, dessen Name wie der eines Edelsteins lautete, verfärbte sich geradezu, als sie auf dem Korridor an ihm vorüberging, blieb stehen und stand noch immer wie angewurzelt[18], als sie schon längst entschwunden war.
Zwei Tage waren noch nicht vergangen, als die ganze Kurgesellschaft mit ihrer Geschichte vertraut war. Sie war aus Bremen gebürtig, was übrigens, wenn sie sprach, an gewissen liebenswürdigen Lautverzerrungen zu erkennen war, und hatte dortselbst vor zwei Jahren dem Großhändler Klöterjahn ihr Jawort fürs Leben erteilt[19]. Sie war ihm in seine Vaterstadt, dort oben am Ostseerande, gefolgt und hatte ihm vor nun etwa zehn Monaten unter ganz außergewöhnlich schweren und gefährlichen Umständen ein Kind, einen bewundernswert lebhaften und wohlgeratenen Sohn und Erben beschert. Seit diesen furchtbaren Tagen aber war sie nicht wieder zu Kräften gekommen, gesetzt, dass sie jemals bei Kräften gewesen war. Sie war kaum vom Wochenbette[20] erstanden, äußerst erschöpft, äußerst verarmt an Lebenskräften, als sie beim Husten ein wenig Blut aufgebracht hatte – oh, nicht viel, ein unbedeutendes bisschen Blut; aber es wäre doch besser überhaupt nicht zum Vorschein gekommen, und das Bedenkliche war, dass derselbe kleine unheimliche Vorfall sich nach kurzer Zeit wiederholte. Nun, es gab Mittel dagegen, und Doktor Hinzpeter, der Hausarzt, bediente sich ihrer. Vollständige Ruhe wurde geboten, Eisstückchen wurden geschluckt, Morphium wurde gegen den Hustenreiz verabfolgt und das Herz nach Möglichkeit beruhigt. Die Genesung aber wollte sich nicht einstellen, und während das Kind, Anton Klöterjahn der Jüngere, ein Prachtstück von einem Baby, mit ungeheurer Energie und Rücksichtslosigkeit seinen Platz im Leben eroberte und behauptete, schien die junge Mutter in einer sanften und stillen Glut dahinzuschwinden… Es war, wie gesagt, die Luftröhre, ein Wort, das in Doktor Hinzpeters Munde eine überraschend tröstliche, beruhigende, fast erheiternde Wirkung auf alle Gemüter ausübte. Aber obgleich es nicht die Lunge war, hatte der Doktor schließlich den Einfluss eines milderen Klimas und des Aufenthaltes in einer Kuranstalt zur Beschleunigung der Heilung als dringend wünschenswert erachtet, und der Ruf des Sanatoriums „Einfried“ und seines Leiters hatten das übrige getan.
So verhielt es sich; und Herr Klöterjahn selbst erzählte es jedem, der Interesse dafür an den Tag legte. Er redete laut, salopp und gut gelaunt, wie ein Mann, dessen Verdauung sich in so guter Ordnung befindet wie seine Börse, mit weit ausladenden Lippenbewegungen, in der breiten und dennoch rapiden Art des Küstenbewohners vom Norden. Manch Worte schleuderte er hervor, dass jeder Laut einer kleinen Entladung glich, und lachte darüber wie über einen gelungenen Spaß.
Er war mittelgroß, breit, stark und kurzbeinig und besaß ein volles, rotes Gesicht mit wasserblauen Augen, die von ganz hellblonden Wimpern beschattet waren, geräumigen Nüstern und feuchten Lippen. Er trug einen englischen Backenbart, war ganz englisch gekleidet und zeigte sich entzückt, eine englische Familie, Vater, Mutter und drei hübsche Kinder mit ihrer nurse[21], in „Einfried“ anzutreffen, die sich hier aufhielt, einzig und allein, weil sie nicht wusste, wo sie sich sonst aufhalten sollte, und mit der er morgens englisch frühstückte. Überhaupt liebte er es, viel und gut zu speisen und zu trinken, zeigte sich als ein wirklicher Kenner von Küche und Keller und unterhielt die Kurgesellschaft aufs anregendste von den Diners[22], die daheim in seinem Bekanntenkreise gegeben wurden, sowie mit der Schilderung gewisser auferlesener, hier unbekannter Platten. Hierbei zogen seine Augen sich mit freundlichem Ausdruck zusammen, und seine Sprache erhielt etwas Gaumiges und Nasales[23], indes leicht schmatzende Geräusche im Schlunde sie begleiteten. Dass er auch anderen irdischen Freuden nicht grundsätzlich abhold war, bewies er an jenem Abend, als ein Kurgast von „Einfried“, ein Schriftsteller von Beruf, ihn auf dem Korridor in ziemlich unerlaubter Weise mit einem Stubenmädchen scherzen sah – ein kleiner, humoristischer Vorgang, zu dem der betreffende Schriftsteller eine lächerlich angeekelte Miene machte.
Was Herrn Klöterjahns Gattin anging, so war klar und deutlich zu beobachten, dass sie ihm von Herzen zugetan war. Sie folgte lächelnd seinen Worten und Bewegungen: nicht mit der überheblichen Nachsicht, die manche Leidenden den Gesunden entgegenbringen, sondern mit der liebenswürdigen Freude und Teilnahme gutgearteter Kranker an den zuversichtlichen Lebensäußerungen von Leuten, die in ihrer Haut sich wohl fühlen.
Herr Klöterjahn verweilte nicht lange in „Einfried“. Er hatte seine Gattin hierher geleitet; nach Verlauf einer Woche aber, als er sie wohl aufgehoben und in guten Händen wusste, war seines Bleibens nicht länger. Pflichten von gleicher Wichtigkeit, sein blühendes Kind, sein ebenfalls blühendes Geschäft, riefen ihn in die Heimat zurück; sie zwangen ihn, abzureisen und seine Frau im Genusse der besten Pflege zurückzulassen.
4
Spinell[24] hieß der Schriftsteller, der seit mehreren Wochen in „Einfried“ lebte, Detlev Spinell war sein Name, und sein Äußeres war wunderlich.
Man vergegenwärtigte sich einen Brünetten am Anfang der Dreißiger und von stattlicher Statur, dessen Haar an den Schläfen schon merklich zu ergrauen beginnt, dessen rundes, weißes, ein wenig gedunsenes Gesicht aber nicht die Spur irgendeines Bartwuchses zeigt. Es war nicht rasiert – man hätte es gesehen; weich, verwischt und knabenhaft, war es nur hier und da mit einezelnen Flaumhärchen besetzt. Und das sah ganz merkwürdig aus. Der Blick seiner rehbraunen, blanken Augen war von sanftem Ausdruck, die Nase gedrungen und ein wenig zu fleischig. Ferner besaß Herr Spinell eine gewölbte, poröse Oberlippe römischen Charakters, große, kariöse Zähne und Füße von seltenem Umfange. Einer der Herren mit den unbeherrschten Beinen, der ein Zyniker und Witzbold war, hatte ihn hinter seinem Rücken „der verweste Säugling“ getauft; aber das war hämisch und wenig zutreffend. – Er ging gut und modisch gekleidet, in langem schwarzem Rock und farbig punktierter Weste.
Er war ungesellig und hielt mit keiner Seele Gemeinschaft. Nur zuweilen konnte eine leutselige, liebevolle und überquällende Stimmung ihn befallen, und das geschah jedesmal, wenn Herr Spinell in ästhetischen Zustand verfiel, wenn der Anblick von irgend etwas Schönem, der Zusammenklang zweier Farben, eine Vase von edler Form, das vom Sonnenuntergang bestrahlte Gebirge ihn zu lauter Bewunderung hinriss. „Wie schön!“ sagte er dann, indem er den Kopf auf die Seite legte, die Schultern emporzog, die Hände spreizte und Nase und Lippen krauste. „Gott, sehen Sie, wie schön!“ Und er war imstande, blindlings die distinguiertesten Herrschaften, ob Mann oder Weib, zu umhalsen in der Bewegung solcher Augenblicke…
Beständig lag auf seinem Tische, für jeden sichtbar, der sein Zimmer betrat, das Buch, das er geschrieben hatte. Es war ein Roman von mäßigem Umfang, mit einer vollkommen verwirrenden Umschlagzeichnung versehen und gedruckt auf eine Art von Kaffeesiebpapier mit Buchstaben, von denen ein jeder aussah wie eine gotische Kathedrale. Fräulein von Osterloh hatte es in einer müßigen Viertelstunge gelesen und fand es „raffiniert“, was ihre Form war, das Urteil „unmenschlich langweilig“ zu umschreiben. Es spielte in mondänen Salons, in üppigen Frauengemächern, die voller erlesener Gegenstände waren, voll von Gobelins[25], uralten Meubles[26], köstlichem Porzellan, unbezahlbaren Stoffen und künstlerischen Kleinodien aller Art. Auf die Schilderung dieser Dinge war der liebevollste Wert gelegt, und beständig sah man dabei Herrn Spinell, wie er die Nase kraus zog und sagte: “Wie schön! Gott, sehen Sie, wie schön!“ Übrigens musste es wundernehmen, dass er noch nicht mehr Bücher verfasst hatte als dieses eine, denn augenscheinlich schrieb er mit Leidenschaft. Er verbrachte den größeren Teil des Tages schreibend auf seinem Zimmer und ließ außerordentlich viele Briefe zur Post befördern, fast täglich einen oder zwei – wobei es nur als befremdend und belustigend auffiel, dass er seinerseits höchst selten welche empfing…
Herr Spinell saß der Gattin Herrn Klöterjahns bei Tische gegenüber. Zur ersten Mahlzeit, an der die Herrschaften teilnahmen, erschien er ein wenig zu spät in dem großen Speisesaal im Erdgeschoss des Seitenflügels, sprach mit weicher Stimme einen an alle gerichteten Gruß und begab sich an seinen Platz, worauf Doktor Leander ihn ohne viel Zeremonie den neu Angekommenen vorstellte. Er verbeugte sich und begann dann, offenbar ein wenig verlegen, zu essen, indem er Messer und Gabel mit seinen großen, weißen und schön geformten Händen, die aus sehr engen Ärmeln hervorsahen, in ziemlich affektierter Weise bewegte. Später wurde er frei und betrachtete in Gelassenheit abwechselnd Herrn Klöterjahn und seine Gattin. Auch richtete Herr Klöterjahn im Verlaufe der Mahlzeit einige Fragen und Bemerkungen betreffend die Anlage und das Klima von „Einfried“ an ihn, in die seine Frau in ihrer lieblichen Art zwei oder drei Worte einfließen ließ und die Herr Spinell höflich beantwortete. Seine Stimme war mild und recht angenehm; aber er hatte eine etwas behinderte und schlürfende Art zu sprechen, als seien seine Zähne der Zunge im Wege.
Nach Tische, als man ins Konversationszimmer hinübegegangen war und Doktor Leander den neuen Gästen im besonderen eine gesegnete Mahlzeit wünschte[27], erkundigte sich Herrn Klöterjahns Gattin nach ihrem Gegenüber.
„Wie heißt der Herr?“ fragte sie… „Spinelli? Ich habe den Namen nicht verstanden.“
„Spinell. nicht Spinelli, gnädige Frau. Nein, er ist kein Italiener, sondern bloß aus Lemberg gebürtig, soviel ich weiß.“
„Was sagten Sie? Er ist Schriftsteller? Oder was?“ fragte Herr Klöterjahn; er hielt die Hände in den Taschen seiner bequemen englischen Hose, neigte sein Ohr dem Doktor zu und öffnete, wie manche Leute pflegen, den Mund beim Horchen.
„Ja, ich weiß nicht, er schreibt…“, antwortete Doktor Leander. „Er hat, glaube ich, ein Buch veröffentlicht, eine Art Roman, ich weiß wirklich nicht.“
Dieses wiederholte „Ich weiß nicht“ deutete an, dass Doktor Leander keine großen Stücke auf den Schriftsteller hielt[28] und jede Verantwortung für ihn ablehnte.
„Aber das ist ja sehr interessant!“ sagte Herrn Klöterjahns Gattin. Sie hatte noch nie einen Schriftsteller von Angesicht zu Angesicht gesehen.
„O ja“, erwiderte Doktor Leander entgegenkommend. „Er soll sich eines gewissen Rufes erfreuen.“ Dann wurde nicht mehr von dem Schriftsteller gesprochen.
Aber ein wenig später, als die neuen Gäste sich zurückgezogen hatten und Doktor Leander ebenfalls das Konversationszimmer verlassen wollte, hielt Herr Spinell ihn zurück und erkundigte sich auch seinerseits.
„Wie ist der Name des Paares?“ fragte er. „Ich habe natürlich nichts verstanden.“
„Klöterjahn“, antwortete Doktor Leander und ging schon wieder.
„Wie heißt der Mann?“ fragte Herr Spinell.
„Klöterjahn heißen sie!“ sagte Doktor Leander und ging seiner Wege. – Er hielt gar keine großen Stücke auf den Schriftsteller.
Waren wir schon soweit, dass Herr Klöterjahn in die Heimat zurückgekehrt war? Ja, er weilte wieder am Ostseestrande, bei seinen Geschäften und seinem Kinde, diesem rücksichtslosen und lebensvollen kleinen Geschöpf, das seiner Mutter sehr viele Leiden und einen kleinen Defekt an der Luftröhre gekostet hatte. Sie selbst aber, die junge Frau, blieb in „Einfried“ zurück, und die Magistratsrätin Spatz schloss sich ihr als ältere Freundin an. Das aber hinderte nicht, dass Herrn Klöterjahns Gattin auch mit den übrigen Kurgästen gute Kameradschaft pflegte, zum Beispiel mit Herrn Spinell, der ihr zum Erstaunen aller (denn er hatte bislang mit keiner Seele Gemeinschaft gehalten) von Anbeginn eine außerordentliche Ergebenheit und Dienstfertigkeit entgegenbrachte und mit dem sie in den Freistunden, die eine strenge Tagesordnung ihr ließ, nicht ungern plauderte.
Er näherte sich ihr mit einer ungeheuren Behutsamkeit und Ehrerbietung und sprach zu ihr nicht anders als mit sorgfältig gedämpfter Stimme, so dass die Rätin Spatz, die an den Ohren krankte, meistens überhaupt nichts von dem verstand, was er sagte. Er trat auf den Spitzen seiner großen Füße zu dem Sessel, in dem Herrn Klöterjahns Gattin zart und lächelnd lehnte, blieb in einer Entfernung von zwei Schritten stehen, hielt das eine Bein zurückgestellt und den Oberkörper vorgebeugt und sprach in seiner etwa behinderten und schlürfenden Art leise, eindringlich und jeden Augenblick bereit, eilends zurückzutreten und zu verschwinden, sobald ein Zeichen von Ermüdung und Überdruss sich auf ihrem Gesicht bemerkbar machen würde. Aber er verdross sie nicht; sie forderte ihn auf, sich zu ihr und der Rätin zu setzen, richtete irgendeine Frage an ihn und hörte ihm dann lächelnd und neugierig zu, denn manchmal ließ er sich so amüsant und seltsam vernehmen, wie es ihr noch niemals begegnet war.
„Warum sind Sie eigentlich in,Einfried’?“ fragte sie. „Welche Kur brauchen Sie, Herr Spinell?“
„Kur?… Ich werde ein bisschen elektrisiert. Nein, das ist nicht der Rede wert. Ich werde Ihnen sagen, gnädige Frau, warum ich hier bin. – Des Stiles wegen.“
„Ah!“ sagte Herrn Klöterjahns Gattin, stützte das Kinn in die Hand und wandte sich ihm mit einem übertriebenen Eifer zu, wie man ihn Kindern vorspielt, wenn sie etwas erzählen wollen.
„Ja, gnädige Frau,Einfried’ ist ganz empire[29], es ist ehedem ein Schloss, eine Sommerresidenz gewesen, wie man mir sagt. Dieser Seitenflügel ist ja ein Anbau aus späterer Zeit, aber das Hauptgebäude ist alt und echt. Es gibt nun Zeiten, in denen ich das empire einfach nicht entbehren kann, in denen es mir, um einen bescheidenen Grad des Wohlbefindens zu erreichen, unbedingt nötig ist. Es ist klar, dass man sich anders befindet zwischen Möbeln weich und bequem bis zur Laszivität, und anders zwischen diesen geradlinigen Tischen, Sesseln und Draperien… Diese Helligkeit und Härte, diese kalte herbe Einfachheit und reservierte Strenge verleiht mir Haltung und Würde, gnädige Frau, sie hat auf die Dauer eine innere Reinigung und Restaurierung zur Folge, sie hebt mich sittlich, ohne Frage.“
„Ja, das ist merkwürdig“, sagte sie. „Übrigens verstehe ich es, wenn ich mir Mühe gebe.“
Hierauf erwiderte er, dass es irgendwelcher Mühe nicht lohne, und dann lachten sie miteinander. Auch die Rätin Spatz lachte und fand es merkwürdig; aber sie sagte nicht, dass sie es verstünde.
Das Konversationszimmer war geräumig und schön. Die hohe, weiße Flügeltür zu dem anstoßenden Billardraume stand weit geöffnet, wo die Herren mit den unbeherrschten Beinen und andere sich vergnügten. Andererseits gewährte eine Glastür den Anblick auf die breite Terrasse und den Garten. Seitwärts davon stand ein Piano[30]. Ein grün ausgeschlagener Spieltisch war vorhanden, an dem der diabetische General mit ein paar anderen Herren Whist[31] spielte. Damen lasen und waren mit Handarbeiten beschäftigt. Ein eiserner Ofen besorgte die Heizung, aber vor dem stilvollen Kamin, in dem nachgeahmte, mit glühroten Papierstreifen beklebte Kohlen lagen, waren behagliche Plauderplätze.
„Sie sind ein Frühaufsteher, Herr Spinell“, sagte Herrn Klöterjahns Gattin. „Zufällig habe ich Sie nun schon zwei-oder dreimal um halb acht Uhr am Morgen das Haus verlassen sehen.“
„Ein Frühaufsteher? Ach, sehr mit Unterschied, gnädige Frau. Die Sache ist die, dass ich früh aufstehe, weil ich eigentlich ein Langschläfer bin.“
„Das müssen Sie nun erklären, Herr Spinell!“ – Auch die Rätin Spatz wollte es erklärt haben.
„Nun… ist man ein Frühaufsteher, so hat man es, dünkt mich[32], nicht nötig, gar so früh aufzustehen. Das Gewissen, gnädige Frau. es ist eine schlimme Sache mit dem Gewissen! Ich und meinesgleichen, wir schlagen uns Zeit unseres Lebens[33] damit herum und haben alle Hände voll zu tun, es hier und da zu betrügen und ihm kleine, schlaue Genugtuungen zuteil werden zu lassen. Wir sind unnütze Geschöpfe, ich und meinesgleichen, und abgesehen von wenigen guten Stunden schleppen wir uns an dem Bewusstsein unserer Unnützlichkeit wund und krank. Wir hassen das Nützliche, wir wissen, dass es gemein und unschön ist, und wir verteidigen diese Wahrheit, wie man nur Wahrheiten verteidigt, die man unbedingt nötig hat. Und dennoch sind wir so ganz vom bösen Gewissen zernagt, dass kein heller Fleck mehr an uns ist. Hinzu kommt, dass die ganze Art unserer inneren Existenz, unsere Weltanschauung, unsere Arbeitsweise… von schrecklich ungesunder, unterminierender, aufreibender Wirkung ist, und auch dies verschlimmert die Sache. Da gibt es nun kleine Linderungsmittel, ohne die man es einfach nicht aushielte. Eine gewisse Artigkeit und hygienische Strenge der Lebensführung zum Beispiel ist manchen von uns Bedürfnis. Früh aufstehen, grausam früh, ein kaltes Bad und ein Spaziergang hinaus in den Schnee. Das macht, dass wir vielleicht eine Stunde lang ein wenig zufrieden mit uns sind. Gäbe ich mich, wie ich bin, so würde ich bis in den Nachmittag hinein im Bette liegen, glauben Sie mir. Wenn ich früh aufstehe, so ist das eigentlich Heuchelei.“
„Nein, weshalb, Herr Spinell! Ich nenne das Selbstüberwindung. Nicht wahr, Frau Rätin?“ – Auch die Rätin Spatz nannte es Selbstüberwindung.
„Heuchelei oder Selbstüberwindung, gnädige Frau! Welches Wort man nun vorzieht. Ich bin so gramvoll ehrlich veranlagt, dass ich.“
„Das ist es. Sicher grämen Sie sich zuviel.“
„Ja, gnädige Frau, ich gräme mich viel.“
Das gute Wetter hielt an. Weiß, hart und sauber, in Windstille und lichtem Frost, in blendender Helle und bläulichem Schatten lag die Gegend, lagen Berge, Haus und Garten, und ein zartblauer Himmel, in dem Myriaden von flimmernden Leuchtkörperchen, von glitzernden Kristallen zu tanzen schienen, wölbte sich makellos über dem Ganzen. Der Gattin Herrn Klöterjahns ging es leidlich in dieser Zeit; sie war fieberfrei, hustete fast gar nicht und aß ohne allzuviel Widerwillen. Oftmals saß sie, wie das ihre Vorschrift war, stundenlang im sonnigen Frost auf der Terrasse. Sie saß im Schnee, ganz in Decken und Pelzwerk verpackt, und atmete hoffnungsvoll die reine, eisige Luft, um ihrer Luftröhre zu dienen. Dann bemerkte sie zuweilen Herrn Spinell, wie er, ebenfalls warm gekleidet und in Pelzschuhen, die seinen Füßen einen phantastischen Umfang verliehen, sich im Garten erging. Er ging mit tastenden Schritten und einer gewissen behutsamen und steifgraziösen Armhaltung durch den Schnee, grüßte sie ehrerbietig, wenn er zur Terrasse kam, und stieg die unteren Stufen hinan, um ein kleines Gespräch zu beginnen.
„Heute, auf meinem Morgenspaziergang, habe ich eine schöne Frau gesehen… Gott, sie war schön!“ sagte er, legte den Kopf auf die Seite und spreizte die Hände.
„Wirklich, Herr Spinell? Beschreiben Sie sie mir doch!“
„Nein, das kann ich nicht. Oder ich würde Ihnen doch ein unrichtiges Bild von ihr geben. Ich habe die Dame im Vorübergehen nur mit einem halben Blicke gestreift, ich habe sie in Wirklichkeit nicht gesehen. Aber der verwischte Schatten von ihr, den ich empfing, hat genügt, meine Phantasie anzuregen und mich ein Bild mit fortnehmen zu lassen, das schön ist. Gott, es ist schön!“
Sie lachte. „Ist das Ihre Art, sich schöne Frauen zu betrachten, Herr Spinell?“
„Ja, gnädige Frau; und es ist eine bessere Art, als wenn ich ihnen plump und wirklichkeitsgierig ins Gesicht starre und den Eindruck einer fehlerhaften Tatsächlichkeit davontrüge…“
„Wirklichkeitsgierig… Das ist ein sonderbares Wort! Ein richtiges Schriftstellerwort, Herr Spinell! Aber es macht Eindruck auf mich, will ich Ihnen sagen. Es liegt so manches darin, wovon ich ein wenig verstehe, etwas Unabhängiges und Freies, das sogar der Wirklichkeit die Achtung kündigt, obgleich sie doch das Respektabelste ist, was es gibt, ja das Respektable selbst. Und dann begreife ich, dass es etwas gibt außer dem Handgreiflichen, etwas Zarteres.“
„Ich weiß nur ein Gesicht“, sagte er plötzlich mit einer seltsam freudigen Bewegung in der Stimme, erhob seine geballten Hände zu den Schultern und ließ in einem exaltierten Lächeln seine kariösen Zähne sehen. “Ich weiß nur ein Gesicht, dessen veredelte Wirklichkeit durch meine Einbildung korrigieren zu wollen sündhaft wäre, das ich betrachten, auf dem ich verweilen möchte, nicht Minuten, nicht Stunden, sondern mein ganzes Leben lang, mich ganz darin verlieren und alles Irdische darüber vergessen.“
„Ja, ja, Herr Spinell. Nur dass Fräulein von Osterloh doch ziemlich abstehende Ohren hat.“
Er schwieg und verbeugte sich tief. Als er wieder aufrecht stand, ruhten seine Augen mit einem Ausdruck von Verlegenheit und Schmerz auf dem kleinen, seltsamen Äderchen, das sich blaßblau und kränklich in der Klarheit ihrer wie durchsichtigen Stirn verzweigte.
7
Ein Kauz, ein ganz wunderlicher Kauz! Herrn Klöterjahns Gattin dachte zuweilen nach über ihn, denn sie hatte sehr viel Zeit zum Nachdenken. Sei es, dass der Luftwechsel anfing, die Wirkung zu versagen, oder dass irgendein positiv schädlicher Einfluss sie berührt hatte: ihr Befinden war schlechter geworden, der Zustand ihrer Luftröhre schien zu wünschen übrigzulassen, sie fühlte sich schwach, müde, appetitlos, fieberte nicht selten; und Doktor Leander hatte ihr aufs entschiedenste Ruhe, Stillverhalten und Vorsicht empfohlen. So saß sie, wenn sie nicht liegen musste, in Gesellschaft der Rätin Spatz, verhielt sich still und hing, eine Handarbeit im Schoße, an der sie nicht arbeitete, diesem oder jenem Gedanken nach.
Ja, er machte ihr Gedanken, dieser absonderliche Herr Spinell, und, was das Merkwürdige war, nicht sowohl über seine als über ihre eigene Person; auf irgendeine Weise rief er in ihr eine seltsame Neugier, ein nie gekanntes Interesse für ihr eigenes Sein hervor. Eines Tages hatte er beim Gespräch geäußert:
„Nein, es sind rätselvolle Tatsachen, die Frauen… sowenig neu ist es, sowenig kann man ablassen, davor zu stehen und zu staunen. Da ist ein wunderbares Geschöpf, eine Sylphe[34], ein Duftgebild, ein Märchentraum von einem Wesen. Was tut sie? Sie geht hin und ergibt sich einem Jahrmarktsherkules[35]oder Schlächterburschen[36]. Sie kommt an seinem Arme daher, lehnt vielleicht sogar ihren Kopf an seine Schulter und blickt dabei verschlagen lächelnd um sich her, als wollte sie sagen: Ja, nun zerbrecht euch die Köpfe über diese Entscheidung! – Und wir zerbrechen sie uns.“ -
Hiermit hatte Herrn Klöterjahns Gattin sich wiederholt beschäftigt.
Eines anderen Tages fand zum Erstaunen der Rätin Spatz folgendes Zwiegespräch zwischen ihnen statt.
„Darf ich einmal fragen, gnädige Frau (aber es ist wohl naseweis), wie Sie heißen, wie eigentlich Ihr Name ist?“
„Ich heiße doch Klöterjahn, Herr Spinell!“
„Hm. – Das weiß ich. Oder vielmehr: ich leugne es. Ich meine natürlich Ihren eigenen Namen, Ihren Mädchennamen. Sie werden gerecht sein und einräumen, gnädige Frau, dass, wer Sie,Frau Klöterjahn’nennen wollte, die Peitsche verdiente.“
Sie lachte so herzlich, dass das blaue Äderchen über ihrer Braue beängstigend deutlich hervortrat und ihrem zarten, süßen Gesicht einen Ausdruck von Anstrengung und Bedrängnis verlieh, der tief beunruhigte.
„Nein! Bewahre[37], Herr Spinell! Die Peitsche? Ist,Klöterjahn’ Ihnen so fürchterlich?“
„Ja, gnädige Frau, ich hasse diesen Namen aus Herzensgrund, seit ich ihn zum ersten Mal vernahm. Er ist komisch und zum Verzweifeln unschön, und es ist Barbarei und Niedertracht, wenn man die Sitte so weit treibt, auf Sie den Namen Ihres Herrn Gemahls zu übertragen.“
„Nun, und,Eckhof[38]’? Ist Eckhof schöner? Mein Vater heißt Eckhof.“
„Oh, sehen Sie!Eckhof’ ist etwas ganz anderes! Eckhof hieß sogar ein großer Schauspieler. Eckhof passiert[39]. – Sie erwähnten nun Ihres Vaters[40]. Ist Ihre Frau Mutter…“
„Ja, meine Mutter starb, als ich noch klein war.“
„Ah. – Sprechen Sie mir doch ein wenig mehr von Ihnen, darf ich Sie bitten? Wenn es Sie ermüdet, dann nicht. Dann ruhen Sie, und ich fahre fort, Ihnen von Paris zu erzählen, wie neulich. Aber Sie könnten ja ganz leise reden, ja, wenn Sie flüstern, so wird das alles noch schöner machen. Sie wurden in Bremen geboren?“
Und diese Frage tat er beinahe tonlos, mit einem ehrfurchtsvollen und inhaltsschweren Ausdruck, als sei Bremen eine Stadt ohnegleichen, eine Stadt voller unnennbarer Abenteuer und verschwiegener Schönheiten, in der geboren zu sein eine geheimnisvolle Hoheit verleihe.
„Ja, denken Sie!“ sagte sie unwillkürlich. „Ich bin aus Bremen.“
„Ich war einmal dort“, bemerkte er nachdenklich. -
„Mein Gott, Sie waren auch dort? Nein, hören Sie, Herr Spinell, zwischen Tunis und Spitzbergen haben Sie, glaube ich, alles gesehen!“
„Ja, ich war einmal dort“, wiederholte er. „Ein paar schmalen Straßen, über deren Giebeln schief und seltsam der Mond stand. Dann war ich in einem Keller, in dem es nach Wein und Moder roch. Das ist eine durchdringende Erinnerung…“
„Wirklich? Wo mag das gewesen sein? – Ja, in solchem grauen Giebelhause[41], einem alten Kaufmannshause mit hallender Diele und weißlackierter Galerie, bin ich geboren.“
„Ihr Herr Vater ist also Kaufmann?“ fragte er ein wenig zögernd.
„Ja. Aber außerdem und eigentlich wohl in erster Linie ist er ein Künstler.“
„Ah! Ah! Inwiefern?“
„Er spielt die Geige… Aber das sagt nicht viel. Wie er sie spielt, Herr Spinell, das ist die Sache! Einige Töne habe ich niemals hören können, ohne dass mir die Tränen so merkwürdig brennend in die Augen stiegen, wie sonst bei keinem Erlebnis. Sie glauben es nicht.“
„Ich glaube es! Ah, ob ich es glaube!.. Sagen Sie mir, gnädige Frau: Ihre Familie ist wohl alt? Es haben wohl schon viele Generationen in dem grauen Giebelhaus gelebt, gearbeitet und das Zeitliche gesegnet[42]?“
„Ja. – Warum fragen Sie übrigens?“
„Weil es nicht selten geschieht, dass ein Geschlecht mit praktischen, bürgerlichen und trockenen Traditionen sich gegen das Ende seiner Tage noch einmal durch die Kunst verklärt.“
„Ist dem so? – Ja, was meinen Vater betrifft, so ist er sicherlich mehr ein Künstler als mancher, der sich so nennt und vom Ruhme lebt. Ich spiele nur ein bisschen Klavier. Jetzt haben sie es mir ja verboten; aber damals, zu Hause, spielte ich noch. Mein Vater und ich, wir spielten zusammen. Ja, ich habe all die Jahre in lieber Erinnerung; besonders den Garten, unseren Garten, hinterm Hause. Er war jämmerlich verwildert und verwuchert und von zerbröckelten, bemoosten Mauern eingeschlossen; aber gerade das gab ihm viel Reiz. In der Mitte war ein Springbrunnen, mit einem dichten Kranz von Schwertlilien umgeben. Im Sommer verbrachte ich dort lange Stunden mit meinen Freundinnen. Wir saßen alle auf kleinen Feldsesseln rund um den Springbrunnen herum…“
„Wie schön!“ sagte Herr Spinell und zog die Schultern empor. „Saßen Sie und sangen?“
„Nein, wir häkelten meistens.“
„Immerhin. Immerhin.“
„Ja, wir häkelten und schwatzten, meine sechs Freundinnen und ich.“
„Wie schön! Gott, hören Sie, wie schön!“ rief Herr Spinell, und sein Gesicht war gänzlich verzerrt.
„Was finden Sie nun hieran so besonders schön, Herr Spinell!“
„Oh, dies, dass es sechs außer Ihnen waren, dass Sie nicht in diese Zahl eingeschlossen waren, sondern dass Sie gleichsam als Königin daraus hervortraten. Sie waren ausgezeichnet vor Ihren sechs Freundinnen. Eine kleine goldene Krone, ganz unscheinbar, aber bedeutungsvoll, saß in Ihrem Haar und blinkte.“
„Nein, Unsinn, nichts von einer Krone.“
„Doch, sie blinkte heimlich. Ich hätte sie gesehen, hätte sie deutlich in Ihrem Haar gesehen, wenn ich in einer dieser Stunden unvermerkt im Gestrüpp gestanden hätte.“
„Gott weiß, was Sie gesehen hätten. Sie standen aber nicht dort, sondern eines Tages war es mein jetziger Mann, der zusammen mit meinem Vater aus dem Gebüsch hervortrat. Ich fürchte, sie hatten sogar allerhand von unserem Geschwätz belauscht.“
„Dort war es also, wo Sie Ihren Herrn Gemahl kennenlernten, gnädige Frau?“
„Ja, dort lernte ich ihn kennen!“ sagte sie laut und fröhlich, und indem sie lächelte, trat das zartblaue Äderchen angestrengt und seltsam über ihrer Braue hervor. „Er besuchte meinen Vater in Geschäften, wissen Sie. Am nächsten Tag war er zum Diner geladen, und noch drei Tage später hielt er um meine Hand an.“
„Wirklich! Ging das alles so außerordentlich schnell?“
,Ja… Das heißt, von nun an ging es ein wenig langsamer. Denn mein Vater war der Sache eigentlich gar nicht geneigt, müssen Sie wissen, und machte eine längere Bedenkzeit zur Bedingung. Erstens wollte er mich lieber bei sich behalten, und dann hatte er noch andere Skrupel. Aber.“
„Aber?“
„Aber ich wollte es eben“, sagte sie lächelnd, und wieder beherrschte das blaßblaue Äderchen mit einem bedrängten und kränklichen Ausdruck ihr ganzes liebliches Gesicht.
„Ah, Sie wollten es.“
„Ja, und ich habe einen ganz festen und respektablen Willen gezeigt, wie Sie sehen.“
„Wie ich es sehe. Ja.“
„. so dass mein Vater sich schließlich darein ergeben musste.“
„Und so verließen Sie ihn denn und seine Geige, verließen das alte Haus, den verwucherten Garten, den Springbrunnen und Ihre sechs Freundinnen und zogen mit Herrn Klöterjahn.“
„Und zog mit… Sie haben eine Ausdrucksweise, Herr Spinell! Beinahe biblisch! – Ja, ich verließ das alles, denn so will es ja die Natur.“
„Ja, so will sie es wohl.“
„Und dann handelte es sich ja um mein Glück.“
„Gewiss. Und es kam, das Glück.“
„Das kam in der Stunde, Herr Spinell, als man mir zuerst den kleinen Anton brachte, unseren kleinen Anton, und als er so kräftig mit seinen kleinen gesunden Lungen schrie, stark und gesund wie er ist.“
„Es ist nicht das erstemal, dass ich Sie von der Gesundheit Ihres kleinen Anton sprechen höre, gnädige Frau. Er muss ganz ungewöhnlich gesund sein?“
„Das ist er. Und er sieht meinem Mann so lächerlich ähnlich!“
„Ah! – Ja, so begab es sich also. Und nun heißen Sie nicht mehr Eckhof, sondern anders, und haben den kleinen gesunden Anton und leiden ein wenig an der Luftröhre.“
„Ja. – Und Sie sind ein durch und durch rätselhafter Mensch, Herr Spinell, dessen versichere ich Sie.“
„Ja, straf’ mich Gott[43], das sind Sie!“ sagte die Rätin Spatz, die übrigens auch noch vorhanden war.
Aber auch mit diesem Gespräch beschäftigte Herrn Klöterjahns Gattin sich mehrere Male in ihrem Innern. So nichtssagend es war, barg es doch einiges auf seinem Grunde, was ihren Gedanken über sich selbst Nahrung gab. War dies der schädliche Einfluss, der sie berührte? Ihre Schwäche nahm zu, und oft stellte Fieber sich ein, eine stille Glut, in der sie mit einem Gefühle sanfter Gehobenheit ruhte, der sie sich in einer nachdenklichen, preziösen, selbstgefälligen und ein wenig beleidigten Stimmung überließ. Wenn sie nicht das Bett hütete und Herr Spinell auf den Spitzen seiner großen Füße mit ungeheurer Behutsamkeit zu ihr trat, in einer Entfernung von zwei Schritten stehenblieb und, das eine Bein zurückgestellt und den Oberkörper vorgebeugt, mit ehrfürchtig gedämpfter Stimme zu ihr sprach, wie als höbe er sie in scheuer Andacht sanft und hoch empor und bettete sie auf Wolkenpfühle, wo kein schriller Laut und keine irdische Berührung sie erreichen solle…, so erinnerte sie sich der Art, in der Herr Klöterjahn zu sagen pflegte: “Vorsicht, Gabriele, take care, mein Engel, und halte den Mund zu!“, eine Art, die wirkte, als schlüge er einem hart und wohlmeinend auf die Schulter. Dann aber wandte sie sich rasch von dieser Erinnerung ab, um in Schwäche und Gehobenheit auf den Wolkenpfühlen zu ruhen, die Herr Spinell ihr dienend bereitete.
Eines Tages kam sie unvermittelt auf das kleine Gespräch zurück, das sie mit ihm über ihre Herkunft und Jugend geführt hatte.
„Es ist also wahr“, fragte sie, „Herr Spinell, dass Sie die Krone gesehen hätten?“
Und obgleich jene Plauderei schon vierzehn Tage zurücklag, wusste er sofort, um was es sich handelte, und versicherte ihr mit bewegten Worten, dass er damals am Springbrunnen, als sie unter Ihren sechs Freundinnen saß, die kleine Krone hätte blinken – sie heimlich in ihrem Haar hätte blinken sehen.
Einige Tage später erkundigte sich ein Kurgast aus Artigkeit bei ihr nach dem Wohlergehen ihres kleinen Anton daheim. Sie ließ zu Herrn Spinell, der sich in der Nähe befand, einen hurtigen Blick hinübergleiten und antwortete ein wenig gelangweilt:
„Danke; wie soll es dem wohl gehen? – Ihm und meinem Mann geht es gut.“
8
Ende Februar, an einem Frosttage, reiner und leuchtender als alle, die vorhergegangen waren, herrschte in „Einfried“ nichts als Übermut. Die Herrschaften mit den Herzfehlern besprachen sich untereinander mit geröteten Wangen, der diabetische General trällerte wie ein Jungling, und die Herren mit den unbeherrschten Beinen waren ganz außer Rand und Band. Was ging vor? Nichts Geringeres, als dass eine gemeinsame Ausfahrt unternommen werden sollte, eine Schlittenpartie in mehreren Fuhrwerken mit Schellenklang und Peitschenknall ins Gebirge hinein: Doktor Leander hatte zur Zerstreuung seiner Patienten diesen Beschluss gefasst.
Natürlich mussten die „Schweren“ zu Hause bleiben. Die armen „Schweren“! Man nickte sich zu und verabredete sich, sie nichts von dem Ganzen wissen zu lassen; es tat allgemein wohl, ein wenig Mitleid üben und Rücksicht nehmen zu können. Aber auch von denen, die sich an dem Vergnügen sehr wohl hätten beteiligen können, schlossen sich einige aus. Was Fräulein von Osterloh anging, so war sie ohne weiteres entschuldigt. Wer wie sie mit Pflichten überhäuft war, durfte an Schlittenpartien nicht ernstlich denken. Der Hausstand verlangte gebieterisch ihre Anwesenheit, und kurzum: sie blieb in „Einfried“. Dass aber auch Herrn Klöterjahns Gattin erklärte, daheim bleiben zu wollen, verstimmte allseitig. Vergebens redete Doktor Leander ihr zu, die frische Fahrt auf sich wirken zu lassen; sie behauptete, nicht aufgelegt zu sein, Migräne zu haben, sich matt zu fühlen, und so musste man sich fügen. Der Zyniker und Witzbold aber nahm Anlass zu der Bemerkung:
“Geben Sie acht, nun fährt auch der verweste Säugling nicht mit.“
Und er bekam recht, denn Herr Spinell ließ wissen, dass er heute nachmittag arbeiten wolle; er gebrauchte sehr gern das Wort „arbeiten“ für seine zweifelhafte Tätigkeit. Übrigens beklagte sich keine Seele über sein Fortbleiben, und ebenso leicht verschmerzte man es, dass die Rätin Spatz sich entschloss, ihrer jüngeren Freundin Gesellschaft zu leisten, da das Fahren sie seekrank mache.
Gleich nach dem Mittagessen, das heute schon gegen zwölf Uhr stattgefunden hatte, hielten die Schlitten vor „Einfried“, und in lebhaften Gruppen, warm vermummt, neugierig und angeregt, bewegten sich die Gäste durch den Garten. Herrn Klöterjahns Gattin stand mit der Rätin Spatz an der Glastür, die zur Terrasse führte, und Herr Spinell am Fenster seines Zimmers, um der Abfahrt zuzusehen. Sie beobachteten, wie unter Scherzen und Gelächter kleine Kämpfe um die besten Plätze entstanden, wie Fräulein von Osterloh, eine Pelzboa um den Hals, von einem Gespann zum anderen lief, um Körbe mit Esswaren unter die Sitze zu schieben, wie Doktor Leander, die Pelzmütze in der Stirn, mit seinen funkelnden Brillengläsern noch einmal das Ganze überschaute, dann ebenfalls Platz nahm und das Zeichen zum Aufbruch gab… Die Pferde zogen an, ein paar Damen kreischten und fielen hintüber, die Schellen klapperten, die kurzstieligen Peitschen knallten und ließen ihre langen Schnüre im Schnee hinter den Kufen dreinschleppen, und Fräulein von Osterloh stand an der Gartenpforte und winkte mit ihrem Schnupftuch, bis an einer Biegung der Landstraße die gleitenden Gefährte verschwanden, das frohe Geräusch sich verlor. Dann kehrte sie durch den Garten zurück, um ihren Pflichten nachzueilen, die beiden Damen verließen die Glastür, und fast gleichzeitig trat auch Herr Spinell von seinem Aussichtspunkte ab.
Ruhe herrschte in „Einfried“. Die Expedition war vor dem Abend nicht zurückzuerwarten. Die „Schweren“ lagen in ihren Zimmern und litten. Herrn Klöterjahns Gattin und ihre ältere Freundin unternahmen einen kurzen Spaziergang, worauf sie in ihre Gemächer zurückkehrten. Auch Herr Spinell befand sich in dem seinen und beschäftigte sich auf seine Art. Gegen vier Uhr brachte man den Damen je einen halben Liter Milch, während Herr Spinell seinen leichten Tee erhielt. Kurze Zeit darauf pochte Herrn Klöterjahns Gattin an die Wand, die ihr Zimmer von dem der Magistraträtin Spatz trennte, und sagte: „Wollen wir nicht ins Konversationszimmer hinuntergehen, Frau Rätin? Ich weiß nicht mehr, was ich hier anfangen soll.“
„Sogleich, meine Liebe!“ antwortete die Rätin. „Ich ziehe nur meine Stiefel an, wenn Sie erlauben. Ich habe nämlich auf dem Bette gelegen, müssen Sie wissen.“
Wie zu erwarten stand,war das Konversationszimmer leer. Die Damen nahmen am Kamin Platz. Die Rätin Spatz stickte Blumen auf ein Stück Stramin, und auch Herrn Klöterjahns Gattin tat ein paar Stiche, worauf sie die Handarbeit in den Schoß sinken ließ und über die Armlehne ihres Sessels hinweg ins Leere träumte. Schließlich machte sie eine Bemerkung, die nicht lohnte, dass man sich ihretwegen die Zähne voneinander tat[44] da aber die Rätin Spatz trotzdem „Wie?“ fragte, so musste sie zu ihrer Demütigung den ganzen Satz wiederholen. Die Rätin Spatz fragte nochmals „Wie?“ In diesem Augenblick aber wurden auf dem Vorplatze Schritte laut, die Tür öffnete sich, und Herr Spinell trat ein.
„Störe ich?“ fragte er noch an der Schwelle mit sanfter Stimme, während er ausschließlich Herrn Klöterjahns Gattin anblickte und den Oberkörper auf eine gewisse und schwebende Art nach vorne beugte… Die junge Frau antwortete:
„Ei, warum nicht gar? Erstens ist dieses Zimmer doch als Freihafen gedacht, Herr Spinell, und dann: worin sollten Sie und stören? Ich habe das entschiedene Gefühl, die Rätin zu langweilen.“
Hierauf wusste er nichts mehr zu erwidern, sondern ließ nur lächelnd seine kariösen Zähne sehen und ging unter den Augen der Damen mit ziemlich unfreien Schritten bis zur Glastür, wo er stehenblieb und hinausschaute, indem er in etwas unerzogener Weise den Damen den Rücken zuwandte. Dann machte er eine halbe Wendung rückwärts, fuhr aber fort, in den Garten hinauszublicken, indes er sagte:
“Die Sonne ist fort. Unvermerkt hat der Himmel sich bezogen. Es fängt schon an, dunkel zu werden.“
„Wahrhaftig, ja, alles liegt in Schatten“, antwortete Herrn Klöterjahns Gattin. „Unsere Ausflügler werden doch noch Schnee bekommen, wie es scheint. Gestern war es um diese Zeit noch voller Tag; nun dämmert es schon.“
„Ach“, sagte er, „nach allen diesen überhellen Wochen tut das Dunkel den Augen wohl. Ich bin dieser Sonne, die Schönes und Gemeines mit gleich aufdringlicher Deutlichkeit bestrahlt, geradezu dankbar, dass sie sich endlich ein wenig verhüllt.“
„Lieben Sie die Sonne nicht, Herr Spinell?“
„Da ich kein Maler bin… Man wird innerlicher ohne Sonne. – Es ist eine dicke, weißgraue Wolkenschicht. Vielleicht bedeutet es Tauwetter für morgen. Übrigens würde ich Ihnen nicht raten, dort hinten noch auf die Handarbeit zu blicken, gnädige Frau.“
„Ach, seien Sie unbesorgt, das tue ich ohnehin nicht. Aber was soll man beginnen?“
Er hatte sich auf den Drehsessel vorm Piano niedergelassen, indem er einen Arm auf den Deckel des Instrumentes stützte.
„Musik.“, sagte er. „Wer jetzt ein bisschen Musik zu hören bekäme! Manchmal singen die englischen Kinder kleine niggersongs[45], das ist alles.“
„Und gestern nachmittag hat Fräulein von Osterloh in aller Eile die,Klosterglocken’ gespielt“, bemerkte Herrn Klöterjahns Gattin.
„Aber Sie spielen ja, gnädige Frau“, sagte er bittend und stand auf. „Sie haben einmal täglich mit Ihrem Herrn Vater musiziert.“
„Ja, Herr Spinell, das war damals! Zur Zeit des Springbrunnens, wissen Sie.“
„Tun Sie es heute!“ bat er. „Lassen Sie dies eine mal ein paar Takte hören! Wenn Sie wüssten, wie ich dürste.“
„Unser Hausarzt sowohl wie Doktor Leander haben es mir ausdrücklich verboten, Herr Spinell.“
„Sie sind nicht da, weder der eine noch der andere! Wir sind frei… Sie sind frei, gnädige Frau! Ein paar armselige Akkorde.“
„Nein, Herr Spinell, daraus wird nichts. Wer weiß, was für Wunderdinge Sie von mir erwarten! Und ich habe alles verlernt, glauben Sie mir. Auswendig kann ich beinahe nichts.“
„Oh, dann spielen Sie dieses Beinahe-nichts! Und zum Überfluss sind hier Noten, hier liegen sie, oben auf dem Klavier. Nein, dies hier ist nichts. Aber hier ist Chopin[46].“
„Chopin?“
„Ja, die Nocturnes[47]. Und nun fehlt nur, dass ich die Kerzen anzünde…“
„Glauben Sie nicht, dass ich spiele, Herr Spinell! Ich darf nicht. Wenn es mir nun schadet?!“
Er verstummte. Er stand, mit seinen großen Füßen, seinem langen, schwarzen Rock und seinem grauhaarigen, verwischten, bartlosen Kopf, im Lichte der beiden Klavierkerzen und ließ die Hände hinunterhängen.
„Nun bitte ich nicht mehr“, sagte er endlich leise. „Wenn Sie fürchten, sich zu schaden, gnädige Frau, so lassen Sie die Schönheit tot und stumm, die unter Ihren Fingern laut werden möchte. Sie waren nicht immer so sehr verständig; wenigstes nicht, als es im Gegenteil galt, sich der Schönheit zu begeben. Sie waren nicht besorgt um Ihren Körper und zeigten einen unbedenklicheren und festeren Willen, als Sie den Springbrunnen verließen und die kleine goldene Krone ablegten… Hören Sie“, sagte er nach einer Pause und seine Stimme senkte sich noch mehr, „wenn Sie jetzt hier niedersitzen und spielen wie einst, als noch Ihr Vater neben Ihnen stand und seine Geige jene Töne singen ließ, die Sie weinen machten., dann kann es geschehen, dass man sie weider heimlich in Ihrem Haare blinken sieht, die kleine, goldene Krone.“
„Wirklich?“ fragte sie und lächelte. Zufällig versagte ihr die Stimme bei diesem Wort, so dass es zur Hälfte heiser und zur Hälfte tonlos herauskam. Sie hüstelte und sagte dann:
„Sind es wirklich die Nocturnes von Chopin, die Sie da haben?“
„Gewiss. Sie sind aufgeschlagen, und alles ist bereit.“
„Nun, so will ich denn in Gottes Namen eins davon spielen“, sagte sie. „Aber nur eins, hören Sie? Dann werden Sie ohnehin für immer genug haben.“
Sie spielte das Nocturne in Es-Dur[48], opus 9, Nummer 2. Wenn sie wirklich einiges verlernt hatte, so musste ihr Vortrag ehedem vollkommen künstlerisch gewesen sein. Das Piano war nur mittelmäßig, aber schon nach den ersten Griffen wusste sie es mit sicherem Geschmack zu behandeln. Sie zeigte einen nervösen Sinn für differenzierte Klangfarbe und eine Freude an rhythmischer Beweglichkeit, die bis zum Phantastischen ging. Ihr Anschlag war sowohl fest als weich. Unter ihren Händen sang die Melodie ihre letzte Süßigkeit aus, und mit einer zögernden Grazie schmiegten sich die Verzierungen um ihre Glieder.
Sie trug das Kleid vom Tage ihrer Ankunft: die dunkle, gewichtige Taille mit den plastischen Sammetarabesken, die Haut und Hände so unirdisch zart erscheinen ließ. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht beim Spiele, aber es schien, als ob die Umrisse ihrer Lippen noch klarer würden, die Schatten in den Winkeln ihrer Augen sich vertieften. Als sie geendigt hatte, legte sie die Hände in den Schoß und fuhr fort, auf die Noten zu blicken. Herr Spinell blieb ohne Laut und Bewegung sitzen.
Sie spielte noch ein Nocturne, spielte ein zweites und drittes. Dann erhob sie sich: aber nur, um auf dem oberen Klavierdeckel nach neuen Noten zu suchen.
Herr Spinell hatte den Einfall, die Bände in schwarzen Pappdeckeln zu untersuchen, die auf dem Drehsessel lagen. Plötzlich stieß er einen unverständlichen Laut aus, und seine großen, weißen Hände fingerten leidenschaftlich an einem dieser vernachlässigten Bücher.
„Nicht möglich!.. Es ist nicht wahr!..“ sagte er… „Und dennoch täusche ich mich nicht!. Wissen Sie, was es ist?. Was hier lag?. Was ich hier halte.?“
„Was ist es?“ fragte sie.
Da wies er ihr stumm das Titelblatt. Er war ganz bleich, ließ das Buch sinken und sah sie mit zitternden Lippen an.
„Wahrhaftig? Wie kommt das hierher? Also geben Sie“, sagte sie einfach und stellte die Noten aufs Pult, setzte sich und begann nach einem Augenblick der Stille mit der ersten Seite.
Er saß neben ihr, vornübergebeugt, die Hände zwischen den Knien gefaltet, mit gesenktem Kopfe. Sie spielte den Anfang mit einer ausschweifenden und quälenden Langsamkeit, mit beunruhigend gedehnten Pausen zwischen den einzelnen Figuren. Das Sehnsuchtsmotiv, eine einsame und irrende Stimme in der Nacht, ließ leise seine bange Frage vernehmen. Eine Stille und ein Warten. Und siehe, es antwortet: derselbe zage und einsame Klang, nur heller, nur zarter. Ein neues Schweigen. Da setzte mit jenem gedämpften und wundervollen Sforzato[49], das ist wie ein Sich-Aufraffen und seliges Aufbegehren der Leidenschaft, das Liebesmotiv ein, stieg aufwärts, rang sich entzückt empor bis zur süßen Verschlingung, sank, sich lösend, zurück, und mit ihrem tiefen Gesange von schwerer, schmerzlichen Wonne traten die Celli[50] hervor und führten die Weise fort…
Nicht ohne Erfolg versuchte die Spielende, auf dem armseligen Instrument die Wirkungen des Orchesters anzudeuten. Die Violinläufe der großen Steigerung erklangen mit leuchtender Präzision. Sie spielte mit preziöser Andacht, verharrte gläubig bei jedem Gebilde und hob demütig und demonstrativ das Einzelne hervor, wie der Priester das Allerheiligste über sein Haupt erhebt. Was geschah? Zwei Kräfte, zwei entrückte Wesen strebten in Leiden und Seligkeit nacheinander und umarmten sich in dem verzückten und wahnsinnigen Begehren nach dem Ewigen und Absoluten… Das Vorspiel flammte auf und neigte sich. Sie endigte da, wo der Vorhang sich teilt und fuhr dann fort, schweigend auf die Noten zu blicken.
Unterdessen hatte bei der Rätin Spatz die Langeweile jenen Grad erreicht, wo sie des Menschen Antlitz entstellt, ihm die Augen aus dem Kopfe treibt und ihm einen leichenhaften und furchteinflößenden Ausdruck verleiht. Außerdem wirkte diese Art von Musik auf ihre Magennerven, sie versetzte diesen dyspeptischen Organismus in Angstzustände und machte, dass die Rätin einen Krampfanfall befürchtete.
„Ich bin genötigt, auf mein Zimmer zu gehen“, sagte sie schwach. „Leben Sie wohl, ich kehre zurück.“
Damit ging sie. Die Dämmerung war weit vorgeschritten. Draußen sah man dicht und lautlos den Schnee auf die Terrasse niedergehen. Die beiden Kerzen gaben ein schwankendes und begrenztes Licht.
„Den zweiten Aufzug“, flüsterte er; und sie wandte die Seiten und begann mit dem zweiten Aufzug.
Hörnerschall verlor sich in der Ferne. Wie? Oder es das Säuseln des Laubes? Das sanfte Rieseln des Quells? Schon hatte die Nacht ihr Schweigen durch Hain und Haus gegossen, und kein flehendes Mahnen vermochte dem Walten der Sehnsucht nicht Einhalt zu tun. Das heilige Geheimnis vollendete sich. Die Leuchte erlosch, mit einer seltsamen, plötzlich gedeckten Klangfarbe senkte das Todesmotiv sich herab, und in jagender Ungeduld ließ die Sehnsucht ihren weißen Schleier dem Geliebten entgegenflattern, der ihr mit ausgebreiteten Armen durchs Dunkel nahte.
O überschwenglicher und unersättlicher Jubel der Vereinigung im ewigen Jenseits der Dinge! Des quälenden Irrtums entledigt, den Fesseln des Raumes und der Zeit entronnen, verschmolzen das Du und das Ich, das Dein und Mein sich zu erhabener Wonne. Trennen konnte sie des Tages tückisches Blendwerk, doch seine prahlende Lüge vermochte die Nachsichtigen nicht mehr zu täuschen, seit die Kraft des Zaubertrankes ihnen den Blick geweiht. Wer liebend des Todes Nacht und ihr süßes Geheimnis erschaute, dem blieb im Wahn des Lichtes ein einziges Sehnen, die Sehnsucht hin zur heiligen Nacht, der ewigen, wahren, der einsmachenden…
O sink hernieder, Nacht der Liebe, gib ihnen jenes Vergessen, das sie ersehnen, umschließe sie ganz mit deiner Wonne und löse sie los von der Welt des Truges und der Trennung. Siehe, die letzte Leuchte verlosch! Denken und Dünken versank in heiliger Dämmerung, die sich welterlösend über des Wahnes Qualen breitet. Dann, wenn das Blendwerk erbleicht, wenn in Entzücken sich mein Auge bricht: das, wovon die Lüge des Tages mich ausschloss, was sie zu unstillbarer Qual meiner Sehnsucht täuschend entgegenstellte – selbst dann, o Wunder der erfüllung, selbst dann bin ich die Welt. – Und es erfolgte zu Brangänens[51] dunklem Habet-Acht-Gesange[52]jener Aufstieg der Violinen, welcher höher ist als alle Vernunft.
„Ich verstehe nicht alles, Herr Spinell; sehr vieles ahne ich nur. Was bedeutet doch dieses ‘Selbst – dann bin ich die Welt’?“
Er erklärte es ihr, leise und kurz.
„Ja, so ist es. – Wie kommt es nur, dass Sie, der Sie es so gut verstehen, es nicht auch spielen können?“
Seltsamerweise vermochte er dieser harmlosen Frage nicht standzuhalten. Er errötete, rang die Hände und versank gleichsam mit seinem Stuhle.
„Das trifft selten zusammen“, sagte er endlich gequält. „Nein, spielen kann ich nicht. – Aber fahren Sie fort.“
Und sie fuhren fort in den trunkenen Gesängen des Mysterienspieles. Starb je die Liebe? Tristans Liebe? Die Liebe deiner und meiner Isolde? Oh, des Todes Streiche erreichen die Ewige nicht! Durch ein süßes Und verknüpfte sie beide die Liebe… Und ein geheimnisvoller Zwiegesang vereinigte sie in der namenlosen Hoffnung des Liebestodes, des endlos ungetrennten Umfangenseins im Wunderreiche der Nacht. Süße Nacht! Ewige Liebesnacht! Alles umspannendes Land der Seligkeit! Wer dich ahnend erschaut, wie könnte er ohne Bangen je zum öden Tage zurückerwachen? Banne du das Bangen, holder Tod! Löse du nun die Sehnenden ganz von der Not des Erwachens! O fassungsloser Sturm der Rhythmen! Wie sie fassen, wie sie lassen, diese Wonne fern den Trennungsqualen des Lichts? Sanftes Sehnen ohne Trug und Bangen, hehres, leidloses Verlöschen, überseliges Dämmern im Unermesslichen! Du Isolde, Tristan ich, nicht mehr Tristan, nicht mehr Isolde -
Plötzlich geschah etwas Erschreckendes. Die Spielende brach ab und führte ihre Hand über die Augen, um ins Dunkel zu spähen, und Herr Spinell wandte sich rasch auf seinem Sitze herum. Die Tür dort hinten, die zum Korridor führte, hatte sich geöffnet, und herein kam eine finstere Gestalt, gestützt auf den Arm einer zweiten. Es war ein Gast von „Einfried“, der gleichfalls nicht in der Lage gewesen war, an der Schlittenpartie teilzunehmen, sondern diese Abendstunde zu einem seiner instinktiven und traurigen Rundgänge durch die Anstalt benutzte, es war jene Kranke, die neunzehn Kinder zur Welt gebracht hatte und keines Gedankens mehr fähig war, es war die Pastorin Höhlenrauch am Arme ihrer Pflegerin. Ohne aufzublicken, durchmaß sie mit tappenden, wandernden Schritten den Hintergrund des Gemaches und entschwand durch die entgegengesetzte Tür – stumm und stier, irrwandelnd und unbewusst. – Es herrschte Stille.
„Das war die Pastorin Höhlenrauch", sagte er.
„Ja, das war die arme Höhlenrauch", sagte sie. Dann wandte sie die Blätter und spielte den Schluss des Ganzen, spielte Isoldens Liebestod.
Wie farblos und klar ihre Lippen waren, und wie der Schatten in den Winkeln ihrer Augen sich vertieften! Oberhalb der Braue, in ihrer durchsichtigen Stirn, trat angestrengt und beunruhigend das blassblaue Äderchen deutlicher und deutlicher hervor. Unter ihren arbeitenden Händen vollzog sich die unerhörte Steigerung, zerteilt von jenem beihane ruchlosen, plötzlichen Pianissimo[53], das wie ein Entgleiten des Bodens unter den Füßen und wie ein Versinken in verfeinerter Begierde ist. Der Überschwang einer ungeheuren Lösung und Erfüllung brach herein, wiederholte sich, ein betäubendes Brausen maßloser Befriedigung, unersättlich wieder und wieder, formte sich zurückflutend um, schien verhauchen zu wollen, wob noch einmal das Sehnsuchtsmotiv in seine Harmonie, atmete aus, erstarb, verklang, entschwebte. Tiefe Stille.
Sie horchten beide, legten die Köpfe auf die Seite und horchten.
„Das sind Schellen“, sagte sie.
„Es sind die Schlitten“, sagte er. „Ich gehe.“
Er stand auf und ging durch das Zimmer. An der Tür dort hinten machte er halt, wandte sich um und trat einen Augenblick unruhig von einem Fuß auf den anderen. Und dann begab es sich, dass er, fünfzehn oder zwanzig Schritte von ihr entfernt, auf seine Knie sank, lautlos auf beide Knie. Sein langer, schwarzer Gehrock breitete sich auf dem Boden aus. Er hielt die Hände über seinem Munde gefaltet, und seine Schultern zuckten.
Sie saß, die Hände im Schosse, vornübergelehnt, vom Klavier abgewandt, und blickte auf ihn. Ein ungewisses und bedrängtes Lächeln lag auf ihrem Gesicht, und ihre Augen spähten sinnend und so mühsam ins Halbdunkel, dass sie eine kleine Neigung zum Verschießen zeigten.
Aus weiter Ferne her näherten sich Schellenklappern, Peitschenknall und das Ineinanderklingen menschlicher Stimmen.
9
Die Schlittenpartie, von der lange noch alle sprachen, hatte am 26. Februar stattgefunden. Am 27., einem Tauwettertage, an dem sich alles erweichte, tropfte, planschte, floss, ging es der Gattin Herrn Klöterjahns vortrefflich. Am 28. gab sie ein wenig Blut vor sich… oh, unbedeutend; aber es war Blut. Zu gleicher Zeit wurde sie von einer Schwäche befallen, so groß wie noch niemals, und legte sich nieder.
Doktor Leander untersuchte sie, und sein Gesicht war steinkalt dabei. Dann verordnete er, was die Wissenschaft vorschreibt: Eisstückchen, Morphium, unbedingte Ruhe. Übrigens legte er am folgenden Tage wegen Überbürdung die Behandlung nieder und übertrug sie an Doktor Müller, der sie pflicht- und kontraktgemäß in aller Sanftmut übernahm; ein stiller, blasser, unbedeutender und wehmütiger Mann, dessen bescheidene und ruhmlose Tätigkeit den beinahe Gesunden und den Hoffnungslosen gewindmet war.
Die Ansicht, der er vor allem Ausdruck gab, war die, dass die Trennung zwischen dem Klöterjahnischen Ehepaar nun schon recht lange währte. Es sei dringend wünschenswert, dass Herr Klöterjahn, wenn sein blühendes Geschäft es gestatte, wieder einmal zu Besuch nach „Einfried" käme. Man könnte ihm schreiben, ihm vielleicht ein kleines Telegramm zukommen lassen. Und sicherlich werde es die junge Mutter beglücken und stärken, wenn er den kleinen Anton mitbringen würde: abgesehen davon, dass es für die Ärzte geradezu interessant sein werde, die Bekanntschaft dieses gesunden kleinen Anton zu machen.
Und siehe, Herr Klöterjahn erschien. Er hatte Doktor Müllers kleines Telegramm erhalten und kam vom Strande der Ostsee. Er stieg aus dem Wagen, ließ sich Kaffee und Buttersemmeln geben und sah sehr verdutzt aus. „Herr“, sagte er, „was ist? Warum ruft man mich zu ihr?“
„Weil es wünschenswert ist“, antwortete Doktor Müller, „dass Sie jetzt in der Nähe Ihrer Frau Gemahlin weilen.“
„Wünschenswert… Wünschenswert… Aber auch notwendig? Ich sehe auf mein Geld, mein Herr, die Zeiten sind schlecht, und die Eisenbahnen sind teuer. War diese Tagesreise nicht zu umgehen? Ich wollte nichts sagen, wenn es beispielsweise die Lunge wäre; aber da es Gott sei Dank die Luftröhre ist…"
„Herr Klöterjahn“, sagte Doktor Müller sanft, „erstens ist die Luftröhre ein wichtiges Organ…“ Er sagte unkorrekterweise „erstens“, obgleich er gar kein „zweitens“ darauf folgen ließ.
Gleichzeitig aber mit Herrn Klöterjahn war eine üppige, ganz in Rot, Schottisch[54] und Gold gehüllte Person in „Einfried“ eingetroffen, und sie war es, die auf ihrem Arme Anton Klöterjahn den Jüngeren, den kleinen, gesunden Anton trug. Ja, er war da, und niemand konnte leugnen, dass er in der Tat von einer exzessiven Gesundheit war. Rosig und weiß, sauber und frisch gekleidet, dick und duftig lastete er auf dem nackten, roten Arm seiner betressten Dienerin, verschlang gewaltige Mengen von Milch und gehacktem Fleisch, schrie und überließ sich in jeder Beziehung seinen Instinkten.
Vom Fenster seines Zimmers aus hatte der Schriftsteller Spinell die Ankunft des jungen Klöterjahn beobachtet. Mit einem seltsamen, verschleierten und dennoch scharfen Blick hatte er ihn ins Auge gefasst, während er vom Wagen ins Haus getragen wurde, und war dann noch längere Zeit mit demselben Gesichtsausdruck an seinem Platze verharrt.
Von da an mied er das Zusammentreffen mit Anton Klöterjahn dem Jüngeren so weit als tunlich.
10
Herr Spinell saß in seinem Zimmer und „arbeitete“.
Es war ein Zimmer wie alle in „Einfried“: altmodisch, einfach und distinguiert. Die massige Kommode war mit metallenen Löwenköpfen beschlagen, der hohe Wandspiegel war keine glatte Fläche, sondern aus vielen quadratischen, in Blei gefassten Scherben zusammengesetzt, kein Teppich bedeckte den bläulich lackierten Estrich, in dem die steifen Beine der Meubles als klare Schatten sich fortsetzten. Ein geräumiger Schreibtisch stand in der Nähe des Fensters, vor welches der Romancier einen gelben Vorhang gezogen hatte, wahrscheinlich, um sich innerlicher zu machen.
In gelblicher Dämmerung saß er über die Platte des Sekretärs gebeugt und schrieb – schrieb an einem jener zahlreicher Briefe, die er allwöchentlich zur Post befördern ließ und auf die er belustigenderweise meistens gar keine Antwort erhielt. Ein großer, starker Bogen lag vor ihm, in dessen linkem oberem Winkel unter einer verzwickt gezeichneter Landschaft der Name Detlev Spinell in völlig neuartigen Lettern zu lesen war und den er mit einer kleinen, sorgfältig gemalten und überaus reinlichen Handschrift bedeckte.
„Mein Herr!“ stand dort. „Ich richte die folgenden Zeilen an Sie, weil ich nicht anders kann, weil das, was ich Ihnen zu sagen habe, mich erfüllt, mich quält und zittern macht, weil mir die Worte mit einer solchen Heftigkeit zuströmen, dass ich an ihnen ersticken würde, dürfte ich mich ihrer nicht in diesem Briefe entlasten…“
Der Wahrheit die Ehre zu geben, so war dies mit dem „Zuströmen“ ganz einfach nicht der Fall, und Gott wusste, aus was für eitlen Gründen Herr Spinell es behauptete. Die Worte schienen ihm durchaus nicht zuzuströmen; für einen, dessen bürgerlicher Beruf das Schreiben ist, kam er jämmerlich langsam von der Stelle, und wer ihn sah, musste zu der Anschauung gelangen, dass ein Schriftsteller ein Mann ist, dem das Schreiben schwerer fällt als allen anderen Leuten.
Mit zwei Fingerspitzen hielt er eins der sonderbaren Flaumhärchen an seiner Wange erfasst und drehte Viertelstunden lang daran, indem er ins Leere starrte und nicht um eine Zeile vorwärts rückte, schrieb dann ein paar zierliche Wörter und stockte aufs neue. Andererseits muss man zugeben, dass das, was schließlich zustande kam, den Eindruck der Glätte und Lebhaftigkeit erweckte, wenn es auch inhaltlich einen wunderlichen, fragwürdigen und oft sogar unverständlichen Charakter trug.
„Es ist“, so setzte der Brief sich fort, „das unabweisliche Bedürfnis, das, was ich sehe, was seit Wochen als unauslöschliche Vision vor meinen Augen steht, auch Sie sehen zu machen, es Sie mit meinen Augen, in derjenigen sprachlichen Beleuchtung schauen zu lassen, in der es vor meinem inneren Blicke steht. Ich bin gewohnt, diesem Drange zu weichen, der mich zwingt, in unvergesslich und flammend richtig an ihrem Platze stehenden Worten meine Erlebnisse zu denen der Welt zu machen. Und darum hören Sie mich an.
Ich will nichts als sagen, was war und ist, ich erzähle lediglich eine Geschichte, eine ganz kurze, unsäglich empörende Geschichte, erzähle sie ohne Kommentar, ohne Anklage und Urteil, nur mit meinen Worten. Es ist die Geschichte Gabriele Eckhofs, mein Herr, der Frau, die Sie die Ihrige nennen… und merken Sie wohl! Sie waren es, der sie erlebte; und dennoch bin ich es, dessen Wort sie Ihnen erst in Wahrheit zur Bedeutung eines Erlebnisses erheben wird.
Erinnern Sie sich des Gartens, mein Herr, des alten, verwucherten Gartens hinter dem grauen Patrizierhause? Das grüne Moos spross in den Fugen der verwitterten Mauern, die seine verträumte Wildnis umschlossen. Erinnern Sie sich auch des Springbrunnens in seiner Mitte? Lilafarbene Lilien neigten sich über sein morsches Rund, und sein weißer Strahl plauderte geheimnisvoll auf das zerklüftete Gestein hinab. Der Sommertag neigte sich.
Sieben Jungfrauen saßen im Kreis um den Brunnen; in das Haar der Siebenten aber, der Ersten, der Einen, schien die sinkende Sonne heimlich ein schimmerndes Abzeichen der Oberhoheit zu weben. Ihre Augen waren wie ängstliche Träume, und dennoch lächelten ihre klaren Lippen…
Sie sangen. Sie hielten ihre schmalen Gesichter zur Höhe des Springstrahles emporgewandt, dorthin, wo er in müder und edler Rundung sich zum Falle neigte, und ihre leisen, hellen Stimmen umschwebten seinen schlanken Tanz. Vielleicht hielten sie ihre zarten Hände um ihre Knie gefaltet, indes sie sangen…
Entsinnen Sie sich des Bildes, mein Herr? Sahen Sie es? Sie sahen es nicht. Ihre Augen waren nicht geschaffen dafür, und Ihre Ohren nicht, die keusche Süßigkeit seiner Melodie zu vernehmen. Sahen Sie es – Sie durften nicht wagen, zu atmen, Sie mussten Ihrem Herzen zu schlagen verwehren. Sie mussten gehen, zurück in Ihr Lebenslauf, und für den Rest Ihres Erdendaseins das Geschaute als ein untastbares und unverletzliches Heiligtum in Ihrer Seele bewahren. Was aber taten Sie?
Dies Bild war ein Ende, mein Herr; mussten Sie kommen und es zerstören, um ihm eine Fortsetzung der Gemeinheit und des hässlichen Lebens zu geben? Es war eine rührende und friedvolle Apotheose[55], getaucht in die abendliche Verklärung des Verfalls, der Auflösung und des Verlöschens. Ein altes Geschlecht, zu müde bereits und zu edel zur Tat und zum Leben, steht am Ende seiner Tage, und seine letzten Äußerungen sind Laute der Kunst, ein paar Geigentöne, voll von der wissenden Wehmut der Sterbensreife… Sahen Sie die Augen, denen diese Töne Tränen entlockten? Vielleicht, dass die Seelen der sechs Gespielinnen dem Lebenslauf gehörten; die Seele aber ihrer schwesterlichen Herrin gehörte der Schönheit und dem Tode.
Sie sahen sie, diese Todesschönheit: sahen sie an, um ihrer zu begehren. Nichts von Ehrfurcht, nichts von Scheu berührte Ihr Herz gegenüber ihrer rührenden Heiligkeit. Es genügte Ihnen nicht, zu schauen; Sie mussten besitzen, ausnützen, entweihen… Wie fein Sie Ihre Wahl trafen! Sie sind ein Gourmand[56], mein Herr, ein plebejischer Gourmand, ein Bauer mit Geschmack.
Ich bitte Sie, zu bemerken, dass ich keineswegs den Wunsch hege, Sie zu kränken. Was ich sage, ist kein Schimpf, sondern die Formel, die einfache, psychologische Formel für Ihre einfache, literarisch gänzlich uninteressante Persönlichkeit, und ich spreche sie aus, nur weil es mich treibt, Ihnen Ihr eigenes Tun und Wesen ein wenig zu erhellen, weil es auf Erden mein unausweichlicher Beruf ist, die Dinge bei Namen zu nennen, sie reden zu machen, und das Unbewusste zu durchleuchten. Die Welt ist voll von dem, was ich den,unbewussten Typus’ nenne: und ich ertrage sie nicht, alle diese unbewussten Typen! Ich ertrage es nicht, all dies dumpfe, unwissende und erkenntnislose Leben und Handeln, diese Welt von aufreizender Naivität um mich her! Es treibt mich mit qualvoller Unwiderstehlichkeit, alles Sein in der Runde – so weit meine Kräfte reichen – zu erläutern, auszusprechen und zum Bewusstsein zu bringen – unbekümmert darum, ob dies eine fördernde oder hemmende Wirkung nach sich zieht, ob es Trost und Linderung bringt oder Schmerz zufügt.
Sie sind, mein Herr, wie ich sagte, ein plebejisher Gourmand, ein Bauer mit Geschmack. Eigentlich von plumper Konstitution und auf einer äußerst niedrigen Entwicklungsstufe befindlich, sind Sie durch Reichtum und sitzende Lebensweise zu einer plötzlichen, unhistorischen und barbarischen Korruption des Nervensystems gelangt, die eine gewisse lüsterne Verfeinerung des Genussbedürfnisses nach sich zieht. Wohl möglich, dass die Muskeln Ihres Schlundes in eine schmatzende Bewegung gerieten, wie angesichts einer köstlichen Suppe oder seltenen Platte, als Sie beschlossen, Gabriele Eckhof zu eigen zu nehmen…
In der Tat, Sie lenken ihren verträumten Willen in die Irre, Sie führen sie aus dem verwucherten Garten in das Leben und in die Hässlichkeit, Sie geben ihr Ihren ordinären Namen und machen sie zum Eheweibe, zur Hausfrau, machen sie zur Mutter. Sie erniedrigen die müde, scheue und in erhabener Unbrauchbarkeit blühende Schönheit des Todes in den Dienst des gemeinen Alltags und jenes blöden, ungefügten und verächtlichen Götzen, den man die Natur nennt, und nicht eine Ahnung von der tiefen Niedertracht dieses Beginnens regt sich in Ihrem bäuerlichen Gewissen.
Nochmals: Was geschieht? Sie, mit den Augen, die wie ängstliche Träume sind, schenkt Ihnen ein Kind; sie gibt diesem Wesen, das eine Fortsetzung der niedrigen Existenz seines Erzeugers ist, alles mit, was sie an Blut und Lebensmöglichkeit besitzt, und stirbt. Sie stirbt, mein Herr! Und wenn sie nicht in Gemeinheit dahinfährt, wenn sie dennoch zuletzt sich aus den Tiefen ihrer Erniedrigung erhob und stolz und selig unter dem tödlichen Kusse der Schönheit vergeht, so ist das meine Sorge gewesen. Die Ihrige war es wohl unterdessen, sich auf verschiedenen Korridoren mit Stubenmädchen die Zeit zu verkürzen.
Ihr Kind aber, Gabriele Eckhofs Sohn, gedeiht, lebt und triumphiert. Vielleicht wird er das Leben seines Vaters fortführen, ein handeltreibender, Steuern zahlender und gut speisender Bürger werden; vielleicht ein Soldat oder Beamter, eine unwissende und tüchtige Stütze des Staates; in jedem Falle ein amusisches, normal funktionierendes Geschöpf, skrupellos und zuversichtlich, stark und dumm.
Nehmen Sie das Geständnis, mein Herr, dass ich Sie hasse, Sie und Ihr Kind, wie ich das Leben selbst hasse, das gemeine, das lächerliche und dennoch triumphierende Leben, das Sie darstellen, den ewigen Gegensatz und Todfeind der Schönheit. Ich darf nicht sagen, dass ich Sie verachte. Ich kann es nicht. Ich bin ehrlich. Sie sind der Stärkere. Ich habe Ihnen im Kampfe nur eines entgegenzustellen, das erhabene Gewaffen und Rachwerkzeug der Schwachen: Geist und Wort. Heute habe ich mich seines bedient. Denn dieser Brief – auch darin bin ich ehrlich, mein Herr – ist nichts als ein Racheakt, und ist nur ein einziges Wort darin scharf, glänzend und schön genug, Sie betroffen zu machen, Sie eine fremde Macht spüren zu lassen, Ihren robusten Gleichmut einen Augenblick ins Wanken zu bringen, so will ich frohlocken.
Detlev Spinell."
Und dieses Schriftwerk kuvertierte und frankierte Herr Spinell, versah es mit einer zierlichen Adresse und überlieferte es der Post.
11
Herr Klöterjahn pochte an Herrn Spinells Stubentür; er hielt einen großen, reinlich beschriebenen Bogen in der Hand und sah aus wie ein Mann, der entschlossen ist, energisch vorzugehen. Die Post hatte ihre Pflicht getan[57], der Brief war seinen Weg gegangen, er hatte die wunderliche Reise von „Einfried“ nach „Einfried“ gemacht und war richtig in die Hände des Adressaten gelangt. Es war vier Uhr am Nachmittage.
Als Herr Klöterjahn eintrat, saß Herr Spinell auf dem Sofa und las in seinem eigenen Roman mit der verwirrenden Umschlagzeichnung. Er stand auf und sah den Besucher überrascht und fragend an, obgleich er deutlich errötete.
„Guten Tag“, sagte Herr Klöterjahn. „Entschuldigen Sie, dass ich Sie in Ihren Beschäftigungen störe. Aber darf ich fragen, ob Sie das geschrieben haben?“ Damit hielt er den großen, reinlich beschriebenen Bogen mit der linken Hand empor und schlug mit dem Rücken der Rechten darauf, so dass es heftig knisterte. Hierauf schob er die Rechte in die Tasche seines weiten, bequemen Beinkleides[58], legte den Kopf auf die Seite und öffnete, wie manche Leute pflegen, den Mund zum Horchen.
Sonderbarerweise lächelte Herr Spinell; er lächelte zuvorkommend, ein wenig verwirrt und halb entschuldigend, führte die Hand zum Kopfe, als besänne er sich, und sagte:
„Ach, richtig… ja… ich erlaubte mir…“
Die Sache war die, dass er sich heute gegeben hatte, wie er war, und bis gegen Mittag geschlafen hatte. Als Folge litt er an schlimmem Gewissen und blödem Kopfe, fühlte sich nervös und wenig widerstandsfähig. Hinzu kam, dass die Frühlingsluft, die eingetreten war, ihn matt und zur Verzweiflung geneigt machte. Dies alles muss erwähnt werden als Erklärung dafür, dass er sich während dieser Szene so äußerst albern benahm.
„So! Aha! Schön! sagte Herr Klöterjahn, indem er das Kinn auf die Brust drückte, die Brauen emporzog, die Arme reckte und eine Menge ähnlicher Anstalten traf, um nach Erledigung dieser Formfrage ohne Erbarmen zur Sache zu kommen. Aus Freude an seiner Person ging er ein wenig zu weit in diesen Anstalten; was schließlich erfolgte, entsprach nicht völlig der drohenden Umständlichkeit dieser mimischen Vorbereitungen. Aber Herr Spinell war ziemlich bleich.
„Sehr schön!“ wiederholte Herr Klöterjahn. „Dann lassen Sie sich die Antwort mündlich geben, mein Lieber, und zwar in Anbetracht des Umstandes, dass ich es für blödsinnig halte, jemandem, den man stündlich sprechen kann, seitenlange Briefe zu schreiben…“
„Nun… blödsinnig…“ sagte Herr Spinell lächelnd, entschuldigend und beinahe demütig…
„Blödsinnig!“ wiederholte Herr Klöterjahn und schüttelte heftig den Kopf, um zu zeigen, wie unangreifbar sicher er seiner Sache sei. „Und ich würde dies Geschreibsel nicht eines Wortes würdigen, es wäre mir, offen gestanden, ganz einfach als Butterbrotpapier zu schlecht, wenn es mich nicht über gewisse Dinge aufklärte, die ich bis dahin nicht begriff, gewisse Veränderungen… Übrigens geht Sie das nichts an und gehört nicht zur Sache. Ich bin ein tätiger Mann, ich habe Besseres zu bedenken als Ihre unaussprechlichen Visionen…“
„Ich habe, unauslöschliche Vision’ geschrieben“, sagte Herr Spinell und richtete sich auf. Es war der einzige Moment dieses Auftritts, in dem er ein wenig Würde an den Tag legte.
„Unauslöschlich… unaussprechlich…!“ entgegnete Herr Klöterjahn und blickte ins Manuskript. „Sie schreiben eine Hand, die miserabel ist, mein Lieber; ich möchte Sie nicht in meinem Kontor beschäftigen. Auf den ersten Blick scheint es ganz sauber, aber bei Licht besehen ist es voller Lücken und Zittrigkeiten. Aber das ist Ihre Sache und geht mich nichts an. Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, dass Sie erstens ein Hanswurst[59] sind – nun, das ist Ihnen hoffentlich bekannt. Außerdem aber sind Sie ein großer Feigling, und auch das brauche ich Ihnen wohl nicht ausführlich zu beweisen. Meine Frau hat mir einmal geschrieben, Sie sähen den Weibspersonen, denen Sie begegnen, nicht ins Gesicht, sondern schielten nur so hin, um eine schöne Ahnung davonzutragen, aus Angst vor der Wirklichkeit. Leider hat sie später aufgehört, in ihren Briefen von Ihnen zu erzählen; sonst wüsste ich noch mehr Geschichten von Ihnen. Aber so sind Sie.,Schönheit‘ ist Ihr drittes Wort, aber im Grunde ist es nichts als Bangebüchsigkeit und Duckmäuserei und Neid und daher wohl auch Ihre unverschämte Bemerkung von den ‘verschwiegenen Korridoren’, die mich wahrscheinlich so recht durchbohren sollte und mir doch bloß Spaß gemacht hat. Spaß hat sie mir gemacht! Aber wissen Sie nun Bescheid? Habe ich Ihnen Ihr… Ihr ‘Tun und Wesen’ nun,ein wenig erhellt’, Sie Jammermensch? Obgleich es nicht mein,unausbleiblicher Beruf’ ist, hö, hö…“
„Ich habe,unausweichlicher Beruf’ geschrieben“, sagte Herr Spinell; aber er gab es gleich wieder auf. Er stand da, hilflos und abgekanzelt, wie ein großer, kläglicher, grauhaariger Schuljunge.
„Unausweichlich… unausbleiblich… Ein niederträchtiger Feigling sind Sie, sage ich Ihnen. Täglich sehen Sie mich bei Tische. Sie grüßen mich und lächeln. Sie reichen mir Schüsseln und lächeln, Sie wünschen mir gesegnete Mahlzeit und lächeln. Und eines Tages schicken Sie mir solch einen Wisch voll blödsinniger Injurien auf den Hals. Hö, ja, schriftlich haben Sie Mut! Und wenn es bloß dieser lachhafte Brief wäre. Aber Sie haben gegen mich intrigiert, hinter meinem Rücken gegen mich intrigiert, ich begreife es jetzt sehr wohl… obgleich Sie sich nicht einzubilden brauchen, dass es Ihnen etwas genützt hat! Wenn Sie sich etwa der Hoffnung hingeben, meiner Frau Grillen in den Kopf gesetzt zu haben, so befinden Sie sich auf dem Holzwege[60], mein wertgeschätzter Herr, dazu ist sie ein zu vernünftiger Mensch! Oder wenn Sie am Ende gar glauben, dass Sie mich irgendwie anders als sonst empfangen hat, mich und das Kind, als wir kamen, so setzten Sie Ihrer Abgeschmacktheit die Krone auf! Wenn sie dem Kleinen keinen Kuss gegeben hat, so geschah es aus Vorsicht, weil neuerdings die Hypothese aufgetaucht ist, dass es nicht die Luftröhre, sondern die Lunge ist, und man in diesem Falle nicht wissen kann… obgleich es übrigens noch sehr zu beweisen ist, das mit der Lunge, und Sie mit Ihrem,sie stirbt, mein Herr!’ Sie sind ein Esel!“
Hier suchte Herr Klöterjahn seine Atmung ein wenig zu regeln. Er war nun sehr in Zorn geraten, stach beständig mit dem rechten Zeigefinger in die Luft und richtete das Manuskript in seiner Linken aufs übelste zu. Sein Gesicht, zwischen dem blonden englischen Backenbart, war furchtbar rot, und seine umwölkte Stirn war von geschwollenen Adern zerrissen wie von Zornesblitzen.
„Sie hassen mich“, fuhr er fort, „und Sie würden mich verachten, wenn ich nicht der stärkere wäre… Ja, das bin ich, zum Teufel, ich habe das Herz auf dem rechten Fleck[61], während Sie das Ihre wohl meistens in den Hosen haben, und ich würde Sie in die Pfanne hauen[62] mitsamt Ihrem,Geist und Wort’, Sie hinterlistiger Idiot, wenn das nicht verboten wäre. Aber damit ist nicht gesagt, mein Lieber, dass ich mir Ihre Invektiven[63] so ohne weiteres gefallen lasse, und wenn ich das mit dem,ordinären Namen’ zu Haus meinem Anwalt zeige, so wollen wir sehen, ob Sie nicht Ihr blaues Wunder erleben[64]. Mein Name ist gut, mein Herr, und zwar durch mein Verdienst. Ob Ihnen jemand auf den Ihren auch nur einen Silbergroschen[65] borgt, diese Frage mögen Sie mit sich selbst erörtern, Sie hergelaufener Bummler! Gegen Sie muss man gesetzlich vorgehen! Sie sind gemeingefährlich! Sie machen die Leute verrückt!.. Obgleich Sie sich nicht einzubilden brauchen, dass es Ihnen diesmal gelungen ist, Sie heimtückischer Patron! Von Individuen, wie Sie eins sind, lasse ich mich denn doch nicht aus dem Felde schlagen[66]. Ich habe das Herz auf dem rechten Fleck[67]…“
Herr Klöterjahn war nun wirklich äußerst erregt. Er schrie und sagte wiederholt, dass er das Herz auf dem rechten Fleck habe.
„,Sie sangen.’ Punkt. Sie sangen gar nicht! Sie strickten. Außerdem sprachen sie, soviel ich verstanden habe, von einem Rezept für Kartoffelpuffer, und wenn ich das mit dem,Verfall’ und der,Auflösung’ meinem Schwiegervater sage, so belangt er sie gleichfalls von Rechts wegen, da können Sie sicher sein!…Sahen Sie das Bild? Sahen Sie es?’ Natürlich sah ich es, aber ich begreife nicht, warum ich deshalb den Atem anhalten und davonlaufen sollte. Ich schiele den Weibern nicht am Gesicht vorbei, ich sehe sie mir an, und wenn sie mir gefallen, und wenn sie mich wollen, so nehme ich sie mir. Ich habe das Herz auf dem rechten Fl…“
Es pochte. – Es pochte gleich neun- oder zehnmal ganz rasch hintereinander an die Stubentür, ein kleiner, heftiger, ängstlicher Wirbel, der Herrn Klöterjahn verstummen machte, und eine Stimme, die gar keinen Halt hatte, sondern von Bedrängnis fortwährend aus den Fugen ging[68], sagte in größter Hast:
„Herr Klöterjahn, Herr Klöterjahn, ach, ist Herr Klöterjahn da?“
„Draußen bleiben“, sagte Herr Klöterjahn unwirsch… „Was ist? Ich habe hier zu reden.“
„Herr Klöterjahn“, sagte die schwankende und sich brechende Stimme „Sie müssen kommen… auch die Ärzte sind da… oh, es ist so entsetzlich traurig…“
Da war er mit einem Schritt an der Tür und riss sie auf. Die Rätin Spatz stand draußen. Sie hielt ihr Schnupftuch vor den Mund, und große, längliche Tränen rollten paarweise in dieses Tuch hinein.
„Herr Klöterjahn“, brachte sie hervor… „es ist so entsetzlich traurig… Sie hat so viel Blut aufgebracht, so fürchterlich viel… Sie saß ganz ruhig im Bette und summte ein Stückchen Musik vor sich hin, und da kam es, lieber Gott, so übermäßig viel…“
„Ist sie tot?“ schrie Herr Klöterjahn… dabei packte er die Rätin am Oberarm und zog sie auf der Schwelle hin und her. „Nein, nicht ganz, wie? Noch nicht ganz, sie kann mich noch sehen… Hat sie wieder ein bisschen Blut aufgebracht? Aus der Lunge, wie? Ich gebe zu, dass es vielleicht aus der Lunge kommt… Gabriele!“ sagte er plötzlich, indem die Augen ihm übergingen, und man sah, wie ein warmes, gutes menschliches und redliches Gefühl in ihm hervorbrach. „Ja, ich komme“ sagte er, und mit langen Schritten schleppte er die Rätin aus dem Zimmer hinaus und über den Korridor davon. Von einem entlegenen Teile des Wandelganges her vernahm man noch immer sein rasch sich entfernendes „Nicht ganz, wie?… Aus der Lunge, was?…“
12
Herr Spinell stand auf dem Fleck, wo er während Herrn Klöterjahns so jäh unterbrochener Visite gestanden hatte, und blickte auf die offene Tür. Endlich tat er ein paar Schritte vorwärts und horchte ins Weite. Aber alles war still, und so schloss er die Tür und kehrte ins Zimmer zurück.
Eine Weile betrachtete er sich im Spiegel. Hierauf ging er zum Schreibtisch, holte ein kleines Flakon und ein Gläschen aus einem Fache hervor und nahm einen Kognak zu sich, was kein Mensch ihm verdenken konnte. Dann streckte er sich auf dem Sofa aus und schloss die Augen.
Die obere Klappe des Fensters stand offen. Draußen im Garten von „Einfried“ zwitscherten die Vögel, und in diesen kleinen, zarten und kecken Lauten lag fein und durchdringend der ganze Frühling ausgedrückt. Einmal sagte Herr Spinell leise vor sich hin: „Unausbleiblicher Beruf…“ Dann bewegte er den Kopf hin und her und zog die Luft durch die Zähne ein wie bei einem heftigen Nervenschmerz.
Es war unmöglich, zur Ruhe und Sammlung zu gelangen. Man ist nicht geschaffen für so plumpe Erlebnisse wie dieses da! – Durch einen seelischen Vorgang, dessen Analyse zu weit führen würde, gelangte Herr Spinell zu dem Entschlusse, sich zu erheben und sich ein wenig Bewegung zu machen, sich ein wenig im Freien zu ergehen. So nahm er den Hut und verließ das Zimmer.
Als er aus dem Hause trat und die milde, würzige Luft ihn umfing, wandte er das Haupt und ließ seine Augen langsam an dem Gebäude empor bis zu einem der Fenster gleiten, einem verhängten Fenster, an dem sein Blick eine Weile ernst, fest und dunkel haftete. Dann legte er die Hände auf den Rücken und schritt über die Kieswege dahin. Er schritt in tiefen Sinnen.
Noch waren die Beete mit Matten bedeckt, und Bäume und Sträucher waren noch nackt; aber der Schnee war fort, und die Wege zeigten nur hier und da noch feuchte Spuren. Der weite Garten mit seinen Grotten, Laubengängen und kleinen Pavillons lag in prächtig farbiger Nachmittagsbeleuchtung, mit kräftigen Schatten und sattem, goldigem Licht, und das dunkle Geäst der Bäume stand scharf und zart gegliedert gegen den hellen Himmel.
Es war um die Stunde, da die Sonne Gestalt annimmt, da die formlose Lichtmasse zur sichtbar sinkenden Scheibe wird, deren sattere, mildere Glut das Auge duldet. Herr Spinell sah die Sonne nicht; sein Weg führte ihn so, dass sie ihm verdeckt und verborgen war. Er ging gesenkten Hauptes und summte ein Stückchen Musik vor sich hin, ein kurzes Gebild, eine bang und klagend aufwärts steigende Figur, das Sehnsuchtsmotiv… Plötzlich aber, mit einem Ruck, einem kurzen, krampfhaften Aufatmen, blieb er gefesselt stehen, und unter heftig zusammengezogenen Brauen starrten seine erweiterten Augen mit dem Ausdruck entsetzter Abwehr geradeaus…
Der Weg wandte sich; er führte der sinkenden Sonne entgegen. Durchzogen von zwei schmalen, erleuchteten Wolkenstreifen mit vergoldeten Rändern stand sie groß und schräge am Himmel, setzte die Wipfel der Bäume in Glut und goss ihren gelbrötlichen Glanz über den Garten hin. Und inmitten dieser goldigen Verklärung, die gewaltige Gloriole der Sonnenscheibe zu Häupten, stand hochaufgerichtet im Wege eine üppige, ganz in Rot, Gold und Schottisch gekleidete Person, die ihre Rechte in die schwellende Hüfte stemmte und mit der Linken ein grazil geformtes Wägelchen leicht vor sich hin und her bewegte. In diesem Wägelchen aber saß ein Kind, saß Anton Klöterjahn der Jüngere, saß Gabriele Eckhofs dicker Sohn!
Er saß, bekleidet mit einer weißen Flausjacke[69]und einem großen, weiten Hut, pausbäckig, prächtig und wohlgeraten in den Kissen, und sein Blick begegnete lustig und unbeirrbar dem Blicke Herrn Spinells. Der Romancier war im Begriffe, sich aufzuraffen; er war ein Mann, er hätte die Kraft besessen, an dieser unerwarteten, in Glanz getauchten Erscheinung vorüberzuschreiten und seinen Spaziergang fortzusetzten. Da aber geschah das Gräßliche, dass Anton Klöterjahn zu lachen und zu jubeln begann, er kreischte vor unerklärlicher Lust, es konnte einem unheimlich zu Sinne werden.
Gott weiß, was ihn anfocht, ob die schwarze Gestalt ihm gegenüber in diese wilde Heiterkeit versetzte oder was für ein Anfall von animalischem Wohlbefinden ihn packte. Er hielt in der einen Hand einen knöchernen Beißring[70] und in der anderen eine blecherne Klapperbüchse. Diese beiden Gegenstände reckte er jauchzend in den Sonnenschein empor, schüttelte sie und schlug sie zusammen, als wollte er jemanden spottend verscheuchen. Seine Augen waren beinahe geschlossen vor Vergnügen, und sein Mund war so klaffend aufgerissen, dass man seinen ganzen rosigen Gaumen sah. Er warf sogar seinen Kopf hin und her, indes er jauchzte.
Da machte Herr Spinell kehrt und ging von dannen[71]. Er ging, gefolgt von dem Jubilieren des kleinen Klöterjahn, mit einer gewissen behutsamen und steif-graziösen Armhaltung über den Kies, mit den gewaltsam zögernden Schritten jemandes, der verbergen will, dass er innerlich davonläuft.
1
„Einfried“ – название санатория, происходит от глагола einfrieden, т. е. отгораживать, огораживать
2
Rivale, m – соперник; слово имеет французское происхождение, немецкий синоним – der Nebenbuhler
3
Phthisiker – легочные больные, туберкулезники, больные туберкулезом.
4
Mehrere Herren mit entfleischten Gesichtern werfen auf jene unberherrschte Art ihre Beine, die nichts Gutes bedeutet. – Некоторые господа с исхудавшими лицами передвигали свои неуправляемые ноги тем странным образом, который не означал ничего хорошего.
5
in Flor stehen – процветать
6
nicht der Rede wert sein – об этом не стоит и говорить; не стоит упоминания
7
Empirestil – стиль ампир – стиль в архитектуре и декоративном искусстве начала XIX века, сложился в эпоху Наполеона I во Франции
8
Tempelchen – миниатюрные замки
9
take care – английский вариант немецкого Achtung! – Осторожно!
10
die Zunge zwischen die Zähne nehmen – замолчать, не сказать ни слова
11
Braunen, f, Pl. - гнедые
12
vom Strande der Ostsee – с берегов Балтийского моря, то есть с севера Германии
13
Tuchrock, m – суконная юбка
14
Taille, f – талия, приталенная блузка
15
Arabesken – растительный орнамент
16
darling – английский вариант немецкого Liebling – дорогая
17
nee, Deubel noch mal – (разг., прост.) – чёрт побери
18
er blieb wie angewurzelt stehen – он остановился как вкопанный
19
das Jawort fürs Leben erteilen – дать свое согласие на брак
20
Wochenbett, n – период, длящийся до восьми недель после родов
21
nurse – английский вариант немецкого Amme, Kindermädchen – няня
22
Diner, m – слово пришло из французского языка и означает званый, торжественный обед
23
seine Sprache erhielt etwas Gaumiges und Nasales – он говорил гортанно и немного в нос
24
Spinell – шпинель, кристаллический минерал, драгоценный красный или голубой камень
25
Gobelins – гобелены, настенные тканые картины
26
Meubles = Möbel
27
jemandem eine gesegnete Mahlzeit wünschen – желать кому-либо приятного аппетита
28
große Stücke auf jemanden halten – быть высокого мнения о ком-то; возлагать на кого-то большие надежды
29
empire – см. пояснения к главе 2 (Empirestil)
30
Piano, n – das Klavier = пианино
31
Whist, m – вист, карточная игра
32
es dünkt mich = es scheint mir – мне кажется
33
Zeit unseres Lebens – в течение всей нашей жизни
34
Sylphe, f – сильфида, воздушное создание – weiblicher Luftgeist
35
Jahrmarktsherkules – ярмарочный силач
36
Schlächterbursche – мясник
37
Bewahre! – Боже сохрани!
38
Eckhof = Ekhof, Conrad – Экгоф Конрад (1720–1778), немецкий актер, друживший с Лессингом
39
Eckhof passiert. – Экгоф подойдет.
40
Des Vaters erwähnen – старое употребление глагола с Genitiv вместо современного употребления с Akkusativ
41
Giebelhaus, n – фронтонное здание, здание с остроконечной двускатной крышей
42
das Zeitliche segnen – образное выражение для «умереть»
43
straf’ mich Gott – покарай меня Господь!
44
Man tat sich ihretwegen die Zähne nicht voneinander – ради этого даже рот было лень открыть
45
niggersongs – Negerlieder; имеет пренебрежительный оттенок
46
Chopin, Frederic – Фридерик Шопен (1810–1849), польский композитор и пианист
47
Nocturne, n = Notturno, n – ноктюрн
48
Es-Dur, n – ми бемоль мажор
49
Sforzato, n – акцентируя, с силой выделяя
50
Cello, n – Plural – die Celli – виолончель
51
Brangänens – Брангена, персонаж оперы Вагнера «Тристан и Изольда», служанка Изольды
52
Habet-Acht-Gesang – ария Брангены, в которой звучит предупреждение об опасности
53
Pianissimo – пианиссимо, очень тихо
54
Schottisch gekleidet – одета шотландку, то есть в одежду из ткани в клетку
55
Apotheose, n – апофеоз, то есть прославление, бурная финальная сцена
56
Gourmand, m = Gourmet, m – гурман
57
Die Post hatte ihre Pflicht getan – почта сделала свое дело, обыгрывается фраза Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan – «Мавр сделал свое дело» из драмы Шиллера «Заговор Фиеско в Генуе»
58
Beinkleides, n – штаны
59
Hanswurst, m – «хансвурст» – персонаж кукольного театра; шут, паяц, скоморох
60
Sie befinden sich auf dem Holzwege – Вы на ложном пути
61
ich habe das Herz auf dem rechten Fleck – У меня сердце на нужном месте; Я хороший человек
62
in die Pfanne jemanden hauen – разнести кого-то в пух и прах; разбить наголову, стереть в порошок
63
Invektiven – оскорбления
64
das blaue Wunder erleben – хлебнуть горя, не обобраться хлопот
65
Silbergroschen, m – серебряный грош (монета в десять пфеннигов), то есть очень мелкая монета
66
aus dem Felde jemanden schlagen – одержать над кем-то верх
67
das Herz auf dem rechten Fleck haben – см. выше
68
aus den Fugen gehen – расшататься, расклеиться, прийти в беспорядок
69
Flausjacke, f – байковая курточка, курточка из мягкой, пушистой ткани
70
Beißring, m – кольцо для прорезающихся зубов у детей
71
von dannen gehen – уходить