Читать книгу Rüpel in Roben - Tomek Lehnert - Страница 6
ОглавлениеKAPITEL 1
Das Königreich
Über Jahrhunderte war Isolation das bestimmende Merkmal Tibets. Die geographische Unzugänglichkeit des Landes und das echte Bedürfnis seiner Bewohner nach wenig Kontakt schufen ideale Voraussetzungen für diese Abgeschlossenheit. Als die siegreichen chinesischen Dynastien die Souveränität über ihre fernen Nachbarn beanspruchten und Lhasa unterwerfen und zur Anerkennung ihrer reizenden Oberherrschaft zwingen wollten, gaben die Tibeter nicht klein bei. Ungeachtet Pekings gewaltsamen Vorgehens gelang es dem Bergland, weiterhin ungestört und von der Außenwelt vergessen zu existieren. Die wilden Mongolenhorden, die Mitte des 17. Jahrhunderts große Teile des Landes zerstört hatten, waren eher ein Werkzeug in den Händen einer politischen Fraktion gewesen, um deren Rivalen zu unterwerfen, als ein tatsächlicher Aggressor von außen - ein Werkzeug, das zwar außer Kontrolle geraten war, aber trotzdem nicht mehr war als ein Werkzeug, das Politiker in ihrem Kampf um Macht eingeführt hatten. So waren im Verlauf der Geschichte Tibets Eindringlinge ein ungewohnter Anblick und das Land blieb bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts so abgeschlossen, wie es zur Zeit war, als um das Jahr 750 der Buddhismus zum ersten mal Einzug in das Himalaya-Königreich hielt. Wegen dieser Abgeschlossenheit war es den Tibetern möglich gewesen, über ein Jahrtausend lang das zu bewahren, was tausend Jahre zuvor mehrere moslemische Invasionen in Nordindien äußerst gewissenhaft zerstört hatten: Die vollständigen Belehrungen Buddhas.
Die ersten Kontakte mit dem Westen entstanden im 19. Jahrhundert, als das russische und das britische Reich, im gegenseitig Mißtrauen, um Einfluß in dieser entlegenen Gegend wetteiferten. Europäische Forscher brachten Geschichten von mysteriösen religiösen Systemen, heiligen Lamas und riesigen Klöstern mit nach Hause. Englische Soldaten wußten weit weniger Wunderbares zu berichten. Colonel Younghusband, der 1904 eine Expedition anführte um Lhasa zu erobern, löschte mit einer Handvoll seiner Männer fast die ganze tibetische Regierungsarmee aus. Die militärische Macht der Tibeter blieb eindeutig hinter ihrer spirituellen Kraft zurück.
Nach dieser ersten Kontaktaufnahme nahm sich sofort ein Durcheinander von Spiritualisten, Theosophen und dergleichen des Königreiches an. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die europäische Öffentlichkeit mit exotischen Berichten von fliegenden Yogis überschüttet und mußte Abhandlungen über undurchsichtige spirituelle Lehrer verdauen, die ihren Ursprung angeblich im Land des Schnees hatten. Die Erzählungen, die die Runde machten beflügelten zwar die Phantasie der Leser, hatten aber wenig mit den wirklichen Schätzen zu tun, die Tibet hütete. Als Quelle des Mystischen ausgebeutet, wurde das Land bald zu einem Synonym für alles Übernatürliche.
Ungefähr zur selben Zeit gelang einer Anzahl anerkannter Orientalisten aus Skandinavien und dem kaiserlichen Rußland der Weg in die verbotene Stadt Lhasa. Sie trafen auf eine reiche, von einem einzigartigen religiösen System unterstützte Kultur. Zum ersten Mal kam der Westen mit Buddhas vollständigen Methoden um mit dem Geist zu arbeiten in Berührung. Die Entdeckung der Wissenschaftler blieb jedoch die exklusive Domäne von Elite-Universitäten und ihre Forschungen wagten sich nicht über den Bereich intellektueller und wissenschaftlicher Spekulation hinaus. Auf einen größeren und praktischeren Einfluß der Lehre mußte Europa noch weitere fünf Jahrzehnte warten. Erst 1959, als die Tibeter von den kommunistischen Barbaren brutal aus ihrer heilen Welt gerissen wurden, wurde ein echter und dauerhafter Kontakt mit ihrer Kultur möglich.
Während der späten Sechziger kam die Zeit für den Durchbruch. Zwei Westler erschlossen Neuland: es waren Hannah und Ole Nydahl, die begierig darauf waren, sich der buddhistischen Lehren anzunehmen und diese im Westen einzuführen. Die Verbindung, die sie knüpften, führte geradewegs an die allerhöchste Spitze der tibetischen Hierarchie.
Im Dezember 1969 hielt der 16. Gyalwa Karmapa, Oberhaupt der Karma-Kagyü-Schule des tibetischen Buddhismus, Einzug in Kathmandu, gerade als Hannah und Ole aus Dänemark kommend in der Stadt eintrafen. Die jungen Idealisten befanden sich auf ihrer dritten Reise in die nepalesische Hauptstadt, um von dort „Substanzen“ mit nach Hause zu nehmen, die das Bewußtsein der Menschheit verändern konnten. Sie führten eine Gruppe skandinavischer Avantgardekünstler und -rebellen an und waren zutiefst davon überzeugt, daß Drogen jedermanns „Pforten der Wahrnehmung“ öffnen und der Menschheit eine letztendliche Wahrheit zeigen könnten. Gerade erst in Kathmandu angekommen, zog sie ein inneres Rufen auf die Spitze des majestätischen Swayambhu-Berges, eben als Karmapa im Begriff war, eine Zeremonie auszuführen. Später würden sie selbst erzählen, wie in dem Augenblick während der Zeremonie, als Karmapa seine Hände auf ihre Köpfe legte, alles in Licht explodierte. Der Lama wurde groß wie tausend Sonnen und augenblicklich wußten sie, daß ihre Suche abgeschlossen war.
Diese ungewöhnliche Begegnung war der Anlaß einer intensiven Lehrzeit im östlichen Himalaya. Als erste westliche Schüler Karmapas wurden Hannah und Ole in die Belehrungen und einzigartigen Praktiken des tibetischen Buddhismus eingeführt. (*FN: Lama Ole Nydahl „Die Buddhas vom Dach der Welt“ + Verlag etc.) Sie waren auf dem besten Weg, ihre Vision aus den sechziger Jahren zu verwirklichen. Später würde Ole, inzwischen selbst ein Lama, daran gehen, mehr als zweihundert buddhistische Kagyü Zentren auf der ganzen Welt zu gründen. Mit Hannah und anderen Begleitern an seiner Seite würde er pausenlos von Zentrum zu Zentrum reisen und so die große Weisheit des Buddhismus in den Westen bringen. Die treibende Kraft hinter der Verwirklichung dieses Traums war die Hingabe zu Karmapa, eine Hingabe, die sich anfänglich auf alles Tibetische erstreckte. Jeder, der aus dem Land des Schnees stammte, wurde als hochspirituell verehrt, jeden Tibeter hielt man für einen verwirklichten Yogi und jeder Glatzkopf in Roben war sowieso halb erleuchtet. Es war genau diese reine Sicht, die mithalf, den idealistischen Westen mit der Idee zu inspirieren, das Shangri-La - das Objekt der Begierde der sechziger Generation - wäre in Reichweite.
Andere, die in den folgenden Jahren auf den tibetischen Zug aufsprangen, nährten die heiligen Visionen mit noch größerem Enthusiasmus und wesentlich weniger Kritikfähigkeit. Was ihnen an Wissen und wirklicher Übertragung fehlte, versuchten sie durch Eifer wettzumachen. Besonders das alte Tibet wurde als eine Art Himmel auf Erden verehrt. Alles aus der Zeit vor der chinesischen Invasion, was einen tibetischen Stempel trug, wurde hingebungsvoll vergöttert und idealisiert. Es war eine edle Antwort auf die kommunistischen Greueltaten und die hysterische chinesische Propaganda, die das eroberte Land als eine feudale, rückständige und tyrannische Gesellschaft beschrieb. Daraus ergab es sich, daß die Vorstellung, alles Tibetische sei heilig, zum gemeinsamen Tenor der ersten Generation tibetischer Buddhisten im Westen wurde. Diese vielversprechenden jungen Leute nahmen sich des tibetischen Buddhismus genauso wie des Landes Tibet an. Niemand wollte sich auf die Seite der kommunistischen Aggressoren stellen und die Tibeter erfuhren zur Abwechslung einmal die überwältigende Aufmerksamkeit der westlichen Idealisten, nachdem sie in einer Zeit der Not die Nichtbeachtung durch Politiker der ganzen Welt erlebt hatten.
Nach Jahrzehnten offizieller Gleichgültigkeit sahen schließlich die Verfechter der tibetischen Sache ihren Kampf gerechtfertigt. Als der Dalai Lama 1989 den Friedensnobelpreis gewann, nahmen sich die westlichen Massenmedien Tibets an und brachten die Schrecken der chinesischen Invasion ans Tageslicht. Berühmtheiten scharten sich um den selbst zu einer Berühmtheit geworden Dalai Lama, der daraufhin begann, in seiner halboffiziellen Funktion als Führer Tibets die Welt zu bereisen. Zur selben Zeit ließen die Verfechter eines freien Tibets, die durch diese Entwicklung Oberwasser bekamen, den unkritischen Glauben an das heilige Himalaya-Königreich ungehindert wachsen.
Unterschied sich dieses harmonische Bild sehr von der Wirklichkeit? War das alte Tibet tatsächlich eine Nation von Wahrheitssuchenden und frommen Männern, die nur im Sinn hatten, ihre Lamas und Klöster zu unterstützen? War es wirklich ein Land, wo Milch und Honig flossen, dessen Menschen friedlich miteinander lebten und sich streng an die edlen buddhistischen Richtlinien hielten? Historische Tatsachen sprechen gegen diese himmlische Vorstellung. Tibet war, trotz der Aura von Mystik die seine Geschichte umgab, ein feudalistisches Land, vielleicht menschlicher und sicherlich glücklicher als andere feudale Gesellschaften, aber auf keinen Fall ein idyllischer Ort.
Die Landschaft des alten Tibets war von Kriegen, politischen Intrigen und blutigen Fehden übersät. Jahrhunderte lang übten zwei alte buddhistische „Rotmützen“-Schulen (*FN: Die dritte Schule ist die Nyingmapa), die Sakya und die Kagyü, abwechselnd unumstritten die Macht über das Land aus. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts trat eine neue Macht in Erscheinung und begann, den politischen Status quo zu bedrohen: die Gelugpas oder „Die Tugendhaften“, ein reformierter buddhistischer Orden der „Gelbmützen“, der um das Jahr 1410 n.Chr. von einem Schüler des 4. Karmapa gegründet worden war. Unter der Führung des mächtigen 5. Dalai Lamas und seiner verantwortlichen Minister, luden die Gelugs im Jahre 1638 den mongolischen Kriegsherren Gushri Kahn nach Tibet ein. Sie wollten dadurch die Macht der Kagyüs brechen, die Regierung übernehmen und sich ihren Einfluß über Kham im Osten und das aufständische Tsang im Süden des Landes sichern. Den Mongolenhorden wurde freie Hand gewährt und so machten sie eine große Anzahl von Nyingma Klöstern entweder dem Erdboden gleich oder konvertierten sie zur Gelug-Schule. Der 10. Karmapa mußte fliehen und sich in ein zehnjähriges Exil begeben, nachdem sein Lager von einer Armee angegriffen worden war, die unter dem Befehl eines Ministers des Dalai Lama stand. Die Schule der Tugendhaften setzte ihre Vorherrschaft mit Feuer und Schwert durch.
Die äußerst zersplitterte politische Szene wurde daraufhin in zwei Hauptgruppen unterteilt. Die erste Gruppe, die den Gelugs sehr nahestand, umfaßte sowohl Zentral- als auch Süd- und Westtibet und stellte das Einflußgebiet der Regierung in Lhasa dar. Die zweite, eine lose Anhäufung von Königreichen, mit jeweils einem eigenen Anführer am Steuerruder, breitete sich über Osttibet aus. Sie hielt nicht nur ihre Unabhängigkeit von der Hauptstadt mit allen Mitteln aufrecht, sondern auch ihre Ergebenheit gegenüber den Kagyüs und den Nyingmapas, die dritte alte Buddhistische Schule der „Rotmützen“.
Die von den Gelugs dominierte Zentralregierung gab sich größte Mühe, die freigeistigen Khampas von Osttibet unter die direkte Autorität Lhasas zu stellen und sie auf diesem Wege zum “Gelbmützen”-Orden zu bekehren. Die Gelugpa-Hierarchie setzte alle Hebel in Bewegung, um dieses Ziel zu erreichen und hinterließen ein Erbe an Verrat, Einschüchterung und Eroberung.
Nachdem sie sich mit den Mongolen verbündet und den Kagyü-Herrscher besiegt hatte, zwang die Verwaltung des Dalai Lamas den anderen drei buddhistischen Schulen strikte Kontrollen auf. Karmapa und die Kagyüs wurden zur Zielscheibe strenger Gesetzen und diskriminierender Steuern. Bis auf eine kleine Anzahl wurden alle Kagyü-Klöster in der Nähe von Lhasa zur Gelugpa-Tradition bekehrt. Zwei verschlüsselte Direktiven „Setze den Stern unter Druck!“ und „Melke das weibliche Yak!“ wurden in die Landesgesetze eingefügt und oft in offiziellen Erlässen beschworen. Es war ein gut gehütetes Geheimnis, von einem Minister an dessen Nachfolger weitergereicht, daß der rätselhafte „Stern“ in Wahrheit Karmapa war, während mit dem „weibliche Yak“ die Drikung gemeint waren, ein Zweig der Kagyü-Linie. Nachdem er so die alten Schulen in die Knie gezwungen hatte, befürchtete der 5. Dalai Lama eine Kagyü-Revolte und begab sich und sein Königreich in den Schutz der Ching, Herrscher von China. Er wurde mit offenen Armen empfangen. Der Kaiser gewährte ihm nicht nur seinen großzügigen Schutz, sondern führte auch ein System von zwei sich abwechselnden Monarchen ein: es waren dies der Dalai und Panchen Lama. In den Augen der Kagyüs war diese Unterwerfung vor dem Chinesischen Thron gleichbedeutend mit Verrat. Diesen Vertrauensbruch haben sie dem Dalai Lama bis heute nicht verziehen.
Ein weiteres, berüchtigtes Beispiel der Gelug-Gewalt waren die Machenschaften des Phawankapa im 19. Jahrhundert. Als eine Leuchte für manche in seiner Linie und eine abscheuliche Persönlichkeit für andere, inszenierte dieser Kreuzritter für die Gelug-Sache eine breit angelegte Kampagne gegen die Nyingmapa-Tradition. Es gelang ihm, die Reihen der alten Rotmützen-Schule so durcheinanderzubringen, daß “Diamant-Schneider” und andere wertvolle Übertragungen beinahe ganz verschwanden.
*
Die soziale Struktur des alten Tibets wurde in großem Maße durch das Tulku-Wesen bestimmt, einer Tradition der Anerkennung von fortlaufenden Wiedergeburten eines Lamas. Das Phänomen von einer Reihe aufeinanderfolgenden Inkarnationen kommt von dem buddhistischen Prinzip, daß Wesen endlos oft wiedergeboren werden. Die Tulku-Tradition wurde vor 900 Jahren von Karma Pakshi eingeführt, der als kleines Kind erklärte, die Wiedergeburt des kurz zuvor gestorbenen Karmapas Düsum Khyenpa zu sein. Von diesem Zeitpunkt an kehrte Karmapa in einer ununterbrochener Folge von Verkörperungen wieder, die von vor 900 Jahren bis zum heutigen Tag reichen. In gleicher Weise begannen auch andere hoch verwirklichten Lamas sich bewußt wiedergebären zu lassen und wurden dann von ihren verwirklichten Schülern wiedererkannt. So traten die erleuchteten Eigenschaften eines Lamas Leben für Leben in Kontakt mit seinen Schülern. Hunderte von verschiedenen Tulku-Linien zeigten sich in Tibet und das ganze System diente als einzigartiger Mechanismus, eine ungebrochene Übertragung von Buddhas Belehrungen zu bewahren.
Im Laufe der Jahrhunderte jedoch gelangten die Klöster und ihre Tulkus zu immer mehr Wohlstand und begannen, beträchtlichen Einfluß auf das politische und soziale Leben des Landes auszuüben. Eine Reihe von Tulkus übernahmen zusätzlich zu ihren Rollen als religiöse Lehrer auch Aufgaben als politische Figuren. Die Inkarnation eines prominenten Tulkus zu finden und sie zu ihrem alten Kloster zu bringen, bedeutete Machtgewinn. In vielen Fällen ließen noch dazu die Kriterien, nach denen eine Inkarnation anerkannt wurden, viel Platz für Schachzüge, was dazu führte, daß dieser Prozeß zu einem Werkzeug des politischen Machtkampfes wurde. Die traditionellen Überprüfungsmethoden, bei denen die jungen Hoffnungsträger Gegenstände aus dem Besitz ihrer früheren Inkarnation erkennen mußten, wurden oft unterlassen. Nicht immer wurden herausragende Meister zu Rate gezogen. Politischer Einfluß, Geld oder einfache Waffengewalt wurden die entscheidenden Faktoren und die Bedeutung der authentischen Tulkus begann abzunehmen. Es war durchaus nicht ungewöhnlich, daß sich zwei oder mehr Kandidaten - jeweils von einer mächtigen Gruppe unterstützt - offen und gewaltsam um einen bekannten Tulku-Sitz stritten. Während die jungen Anwärter eher wenig Ahnung von dem Kampf hatten, der hinter ihrem Rücken stattfand, waren ihre mächtigen Paten hingegen bereit einen Krieg anzufangen, um ihren Kandidaten siegen zu sehen.
War der Thron für einen Bewerber einmal gewonnen, begann seine Ausbildung in strenger Übereinstimmung mit der Rolle, die er in späteren Jahren spielen sollte. Umgeben von einer reinen Männergesellschaft aus Tutoren und Dienern, war der junge Tulku im allgemeinen sehr strenger Disziplin ausgesetzt und befand sich ausschließlich in der Obhut seiner eifersüchtigen Vertrauten. Dies sollte es dem Tulku nicht nur ermöglichen, die Übertragungen von Buddhas Belehrungen in ihrer reinsten Form zu erhalten, sondern so konnte man ihn, den wertvollsten Besitz des Klosters, auch beschützen. Viel zu oft jedoch führte diese Abgeschiedenheit dazu, daß der Tulku über das Leben außerhalb seiner Klostermauern kaum Bescheid wußte. Gleichzeitig spielten die Menschen um ihn herum eine viel größere Rolle, als es das Wohlergehen seines Amtes erfordert hätte und verfolgten nicht selten über den Kopf ihres Meisters hinweg ihre eigenen Ziele.
Diese Zustände waren der ideale Nährboden für fremde Einmischung. Wie zu erwarten war, ließ sich China diese einmalige Möglichkeit, auf die tibetische Politik Einfluß zu nehmen, nicht entgehen und förderte das Wohlergehen von jenem Tulku, der am besten zu ihren Bedürfnissen paßte. Kein Titel, egal ob der höchste oder der unbedeutendste, war von dieser Störung durch das Reich der Mitte gefeit. Mit einem interessierten Auge auf das Land des Schnees, aber voller Verachtung für dessen religiöser Ehrlichkeit, zwangen die unbarmherzigen Herrscher den Tibetern ihre eigene, manchmal total absurde Wahl für die höchsten Positionen von Dalai und Panchen Lama auf.
Im Jahre 1796 erzwang der 7. Ching Lu, ein Kaiser der Ching Dynastie, einen Erlaß, in dem eine neue Prozedur zur Anerkennung von Inkarnationen in Tibet festgelegt wurde. Diejenigen, die auf die Wiedergeburt eines berühmten Abtes oder Lamas warteten, mußten sich nicht mehr um kryptischen Zeichen oder langwierige Suchreisen kümmern. Statt dessen sollte ein vom chinesischen Kaiser eingesetzter Rat einfach eine Anzahl geeigneter Kandidaten für einen freien Tulku-Sitz aussuchen. Alle Anwärter sollten dann herausgeputzt und für die Funktion eines geistigen Führers ausgebildet werden. Um letzten Endes dann die richtige Inkarnation aus den Reihen der Bewerber herauszufinden wurde eine Lotterie durchgeführt. In seiner Güte bot der Kaiser neben dem Edikt auch gleich eine goldene Vase an, die bei der Ziehung verwendet werden sollte. Der Name der Inkarnation wurde durch Zufall von einer Reihe von Namen gezogen, die zuvor auf Eßstäbchen geschrieben und in die Vase geworfen worden waren. Der gütige Kaiser vergaß nicht zu erläutern, daß dieses Ritual vor einem Thangka - einem religiösen Rollbild - stattzufinden habe, das niemand anderen darstellte als den ruhmreichen 7. Ching Lu selbst. Sein Vertreter sollte bei dieser entscheidenden Zeremonie auch den Vorsitz führen. Obwohl es den Tibetern oft gelang, die Ergebnisse der Ziehung durch Bestechung und andere Maßnahmen zu ihren Gunsten zu beeinflussen, war in Zukunft ihre freie Wahl, zumindest wenn es um die hohen Gelug-Tulkus ging, eingeschränkt. Offiziell wurden die Inkarnationen der „Gelbmützen“ von nun an vor dem Bild Ching Lus ausgewählt, das sie von der Wand herab anstarrte. Zur gleichen Zeit, jedesmal, wenn der Oberste Führer von Tibet eine öffentliches Verlautbarung machte, würde er gehorsam erklären: „Ich bin der Dalai Lama, eingesetzt von Ching Lu...“. Von dem Tag an, an dem der energische Lu sein Edikt präsentierte, bis zum Jahre 1959, als das Himalaya-Königreich den Chinesen in die Hände fiel, begannen alle Dokumente der tibetischen Regierung mit dieser Phrase. Ohne das Land selbst erobert zu haben, gelang es Peking somit, Lhasa eine unheilvolle und weitgehend unwillkommene Partnerschaft aufzudrängen. Der Dalai Lama und Cheng Lu stellten für den örtlichen Geschmack zweifellos zwei recht eigenartige Bettgenossen dar.
Durch in- und ausländischen Einmischung wurde die Wahl eines Tulku aufgrund religiöser Kriterien im Laufe der Jahrhunderte eher zur Ausnahme als zur Regel. Natürlich zeigten sich auch authentische Lamas. Die tibetische Geschichte ist reich an Beispielen für verwirklichte Tulku-Linien und theoretisch war das ganze System darauf ausgelegt, solche Wesen zu finden und sich um sie zu kümmern. Doch nachdem es Jahrhunderte lang mißbraucht wurde, ermöglichte das selbe System, daß eine große Anzahl von Tulkus entweder zu politischen Marionetten oder zu absoluten Prinzen wurde. Erstere waren ein Werkzeug in der Hand ihrer Vertrauten, die, während sie ihre eigenen Intrigen spannen, sehr darauf achtete, sich bei dem Tulku Gehör zu verschaffen. Letztere wurden selbst zu Politikern, niemandem gegenüber verantwortlich und von denen beraten, die gerade in ihrer Gunst standen und so sprangen sie oft unvorbereitet in die unbeständigen Gewässer politischer Leidenschaft. Die Tatsache, daß ihre Äußerungen in vielen Fällen den Status von Gesetzen hatten, machte die Sache nur noch schlimmer. Begriffe wie Transparenz, Verantwortlichkeit und Demokratie, die Eckpfeiler einer modernen Gesellschaft im Westen, waren unbekannte Vorstellungen im alten Tibet. Schon der bloße Gedanke an eine repräsentative Regierung oder an kleine Abstriche der absoluten Macht - Vorstellungen, denen sich die Amtsgewalten im Westen schon längst unterworfen hatten - wurde in Tibet und dem Rest Asiens verabscheut. Als Konsequenz wurde das Land oft von einem Haufen ungeeigneter Leute regiert, deren einzige Qualität darin bestand, daß sie einen Titel trugen, oder eng mit einem bekannten Namen verbunden waren.
Die Mehrheit der Bevölkerung, sowohl die freigeistigen Nomaden im Osten, als auch die eher braven Bewohner von Zentraltibet, lebte in einem gewissen Maß unter feudaler Abhängigkeit und Unterwerfung, wobei die persönliche Freiheit nur so weit reichte, wie es der direkte Vorgesetzte oder der Abt erlaubte.
Die bevorzugte Methode offizieller Bestrafung war die Auspeitschung, um die etwas widerspenstigen Individuen in Schach zu halten. Folter in ihrer grausamsten und unmenschlichsten Form war an der Tagesordnung. Von den Vertretern der Ching Dynastie zur Zeit des 5. Dalai Lamas nach Tibet gebracht, kam sie dort sofort zur Anwendung, als drei Minister des Dalai Lamas verhaftet wurden und man sie öffentlich zerstückelte. Obwohl die Folter durch den 13. Dalai Lama geächtet wurde, blieb sie trotz seines Verbotes weiterhin erhalten, bis 1959 die Kommunisten ihre eigene unmenschlichen Art der Unterdrückung einführten. Die grausamen Fotos von Männern mit abgehackten Gliedern, Zeugen einer brutalen Routine im alten Tibet, waren also nicht einfach nur kommunistische Propaganda.
Die Erziehung und der Zugang zur Informationen waren die alleinige Domäne der Klöster, wodurch einem großen Teil der Bevölkerung nicht einmal die einfachste Bildung ermöglicht wurde. Für die meisten Tibeter bedeuteten die höchsten Belehrungen über die Natur aller Dinge - die Essenz des Buddhismus - lediglich einen oberflächlichen Glauben an oft sehr einfache Grundsätze, geprägt durch Angst und karmische Vergeltung oder einfach nur durch blindes Vertrauen in ihre Rinpoches. Obwohl ihr Vertrauen in ein System, das in seiner Essenz und Ganzheit so völlig positiv ist, ihnen ein grundsätzlich befriedigendes und glückliches Leben ermöglichte, muß man jedoch - der historischen Wahrheit zuliebe - eingestehen, daß der größte Teil der Tibeter eine rückständige, ungebildete und abergläubische Existenz führte. Die damaligen Werte erweisen sich in der heutigen Welt als weitgehend belanglos.
Weshalb Tibet damals dennoch so außergewöhnlich war, war die Tatsache, daß es dem Land gelang, die kompletten Belehrungen Buddhas in einer lebendigen und ununterbrochenen Übertragung zu bewahren. Diese beinhalteten sowohl die höchsten Erklärungen über die absolute Natur der Wirklichkeit, als auch die entsprechenden Methoden, um sie zu erkennen. Und während der Durchschnitts-Tibeter sich eher um seine Alltagsgeschäfte kümmerten, ohne viel an die höchste Wahrheit zu denken - solche tiefgründigen Angelegenheiten überließen sie eher ihren Lamas und den Institutionen - praktizierte eine kleine Anzahl von Menschen die vorhandenen, einzigartigen Techniken und erzielten so höchste Resultate. Von ein paar Millionen Tibetern gelang es einer Handvoll ehrwürdiger Lamas und Yogis, Generation für Generation, das höchste Potential des menschlichen Geistes zu erreichen.
Diese Übertragung lebendiger Erleuchtung ist somit Tibets wichtigster Beitrag zur kollektiven menschlichen Weisheit, während die sozialen und politischen Bedingungen, unter denen die Suche nach Erleuchtung stattfand, Tibet völlig von der heutigen modernen Gesellschaft unterscheidet.
Die folgende Geschichte muß man also unter diesen speziellen Voraussetzungen sehen. Die Fäden dieser Verschwörung sind tief mit den tibetischen Annalen verwoben und führen uns 200 Jahre zurück nach Lhasa. Als Hauptakteure treten hohe Tulkus und Lamas auf, die plötzlich durch den unberechenbaren Lauf der Geschichte in die moderne Welt versetzt wurden. Sie bilden den Kern des alten Feudalsystems und sind dennoch gezwungen, oder zwingen sich selbst, sich in der modernen Welt zu behaupten. Ihr unerwartetes Eintreten in das 20. Jahrhundert - ungeachtet ihrer Verwirklichung - führt unweigerlich zu einem Konflikt. All die feinen Zutaten für diesen Konflikt brodeln bereits und können jederzeit explodieren: Die unvereinbaren Gegensätze zwischen dem autokratischen Tibet und dem demokratischen Westen. Der Nachdruck, den der Buddhismus auf Logik, Vernunft und klares Denken legt, und der blinde Glaube, daß alle Lamas allwissend sind und kaum den allgemein menschlichen Bedingungen unterliegen. Die heilige Verehrung, die Tibet von vielen im Westen entgegengebracht wird und die Leidenschaft der Tibeter für politische Intrigen. Was dieses explosive Gemisch entzünden könnte ist ein Hauch von persönlicher Abneigung, Feindseligkeit und letztlich Haß - die Würze in einem trockenen geschichtlichen Prozeß.