Читать книгу Sandmann (eBook) - Tommie Goerz - Страница 10
Оглавление... und lallte rührseliges Zeug ins Telefon.
Dass er sie liebe und eines Tages zu sich holen werde.
Juli Zeh, »Neujahr«
III
Mittwoch, 13.11.2019, 17:05 Uhr
Das Telefon klingelte, der Beamte von der Vermittlung.
»Behütuns, was gibt’s?«
»Schwarz hier, ich hab eine Dame für Sie.« Luna! Hatte er sie versetzt? Irgendetwas verschwitzt bei der ganzen Aufregung um den aktuellen Fall? Er hatte überhaupt nicht mehr an sie gedacht, er war jetzt im Ermittlungsmodus – dem Modus, der ihre Beziehung schon einmal zerstört hatte.
»Was will sie?«
»Sagt sie nicht, scheint ein wenig scheu. Aber es hat mit den Morden zu tun.«
Also nicht Luna, Gott sei Dank. »Stellen Sie durch.« Es war kurz nach fünf und schon wieder rabenschwarze Nacht – sofern es in der Stadt rabenschwarz werden konnte. Eher mausgraue Nacht, denn der Dunst reflektierte das allgegenwärtige Licht. Gelbgraue Nacht. Sagte man aber alles nicht. Lichtsmog. Im Apparat klackte es.
»Kriminalpolizei Nürnberg, Sie sprechen mit Kommissar Behütuns, was kann ich für Sie tun?«, meldete er sich formvollendet.
Am anderen Ende Schweigen.
»Hallo?« Über den Hörer vernahm er nur ein leises Atmen.
»Hallo«, kam es zögerlich aus der Leitung, »mein Name ist Kusmann, Ruth Kusmann, wie Kuss und Mann, nur mit einem s.« Das kam wie schon sehr häufig gesagt.
Behütuns wartete, aber es folgte erneut nur Schweigen.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Ich weiß nicht, ob es wichtig ist ...« Wieder dieses Zögerliche.
Behütuns spürte, dass er ungeduldig zu werden drohte, und zwang sich zur Ruhe. Ungeduld brachte ja nichts. »Ja, das weiß ich auch nicht, solange Sie es mir nicht sagen.« Diese klitzekleine Spitze hatte er sich doch nicht verkneifen können, obwohl er wusste, dass sie kontraproduktiv sein konnte, würde sie sie verstehen. Tat sie aber nicht oder überging sie. Nein, klar, besser wäre gewesen, er hätte die Dame ermuntert oder versucht, ihr Vertrauen zu gewinnen. Aber er konnte nicht aus seiner Haut. Sie rief doch hier an und wollte ihn sprechen, nicht er sie. »Also, was möchten Sie mir sagen?«
»Ich habe die Nachrichten gehört ... und die Zeitung gelesen heute früh ...« Anscheinend wusste sie nicht, wie anfangen. Das kannte er, viele Personen, die bei der Polizei anriefen, waren erst einmal gehemmt. Er stellte sich vorsorglich auf ein etwas längeres Telefonat ein. Ein zähes.
»Ja?«
Sie wusste tatsächlich nicht, wie beginnen. Behütuns notierte sich einstweilen den Namen. Ruth Kusmann. »Von wo aus rufen Sie an?« Vielleicht half das ja, den Redefluss der Frau in Gang zu bringen.
»Aus Wendelstein, wo ich wohne.«
»Haben Sie denn eine Beobachtung gemacht oder eine Information für mich?«
»Es ... ich weiß nicht, ob es wichtig ist ...«
»Wie schon gesagt, ich auch nicht. Wie ist denn Ihre Adresse dort?«
Er notierte sie sich. »Gut. Und?«
»Sie ermitteln doch in dem Fall von Frau Rothlauf und ihrem Sohn.«
»Ja.«
»Wissen Sie ...«, das klang jetzt schon ein wenig fester, sie hatte offenbar Mut gefasst. Hatte Name und Adresse genannt und für sich wohl realisiert, dass sie nun nicht mehr zurückkonnte. Behütuns ließ ihr Zeit, seine leise Ungeduld war verflogen.
»Ich bin eigentlich Nürnbergerin, ich habe am Scharrer-Gymnasium Abitur gemacht. 2006.«
Behütuns sagte nichts, überschlug nur schnell im Kopf: Sie musste dann so Anfang dreißig sein.
»Zusammen mit meiner Freundin Emma, also Emilia Panzoni.«
»Das schreibt sich, wie sich’s spricht?«
»Ja, Panzoni mit z. Und hartem P vorne.« Es entstand erneut eine Pause. »Aber Emma darf nie erfahren, dass ich bei Ihnen angerufen habe.« Das klang jetzt wie eine Mischung aus Flehen, Bitten und Panik.
Behütuns hatte sich den Namen notiert. »Da können Sie absolut sicher sein. Hinweise werden bei uns generell vertraulich behandelt, vor allem, wenn der Anrufer ausdrücklich darauf besteht – verzeihen Sie, natürlich die Anruferin.« Er hatte die »Anruferin« vorsichtshalber schnell hinterhergeschoben, man konnte in der heutigen Zeit nie wissen, wie die anrufende Weiblichkeit so gepolt war, vor allem, wenn man die Person nicht kannte. Am Ende war sie eine dieser Genderstalinistinnen, die ihn, wenn er sie als »Anrufer« bezeichnete, als frauenfeindlich und seine Sprache als diskriminierend abstempelte und dann sofort empört, zumindest aber eingeschnappt reagierte. Er empfand diese Frauen immer als fanatisch und missionarisch. Sie – und dazu führten sie penetrant den Gedanken der Emanzipation ins Feld – titulierten als frauenfeindlich, was eigentlich nur ihren verbohrten Überzeugungen widersprach, und forderten humorlos, dass alltagssprachliche Zuwiderhandlungen ein für alle Mal auszumerzen seien, sogar mit Gewalt, wenn es sein musste. avenidas, avenidas y flores ... – an der Berliner Alice-Salomon-Fachhochschule hatte solch gnadenloses Denken dazu geführt, dass das schöne Gedicht von Eugen Gomringer von der Fassade des Unigebäudes hatte entfernt werden müssen – ein Gedicht der konkreten Poesie, der es viel weniger um den Inhalt als vielmehr um den Klang und den Rhythmus der Worte ging. Die Studentinnen in Berlin aber waren auf die Barrikaden gegangen, hatten es als frauenfeindlich angeprangert – und die Hochschulleitung, kaum zu glauben, war vor dieser Argumentation eingeknickt und hatte es übermalen lassen. Kunstzensur, Ende der Freiheit. Für ihn war solches Denken totalitär. Es war seine tiefste Überzeugung, dass solche Aktivistinnen von der Verschiedenheit, die das Normalste auf der Welt ist und unser aller Basis, restlos überfordert waren und sich im Grunde nach Einfachheit sehnten. Nach Einfachheit der Betrachtung, des Denkens und des Sprechens in der und über die Welt. Aber nichts war einfach, alles war kompliziert. Und würde es immer bleiben, Gott sei Dank, denn wie langweilig wäre es denn sonst? Aber er war in Gedanken abgeschweift, nur wegen des »Anrufers«. Die Dame jedoch schien das sprachliche Problem überhaupt nicht wahrgenommen zu haben, geschweige denn, sich irgendwie daran zu stören.
»Gut.« Behütuns’ Zusage schien sie zu beruhigen. »Emma und ich, Emma wohnt in Würzburg, also wir treffen uns ab und zu und fahren auch immer einmal wieder zusammen in den Urlaub.« Inzwischen schien die Anruferin auf Linie, ihre Worte kamen zielstrebiger.
»Vor zwei Jahren waren wir im Oktober gemeinsam auf Mallorca. Wir sind nach Palma geflogen, sind dort in diese alte Eisenbahn gestiegen, ich weiß nicht, ob sie die kennen ...«
Tat zwar jetzt nichts zur Sache, aber die kannte er. Die berühmte Ferrocarril de Sóller, über hundert Jahre alt, die mit ihren alten Holzwaggons erst durch die Ebene tuckerte und sich dann in herrlichen Serpentinen durch die Berge der Sierra de Alfàbia schraubte, die im Osten der Serra de Tramuntana lagen, um schließlich – stimmt! »Roter Blitz« wurde die Bahn auch genannt – in Puerto de Sóller an der Nordküste zu enden. »Kenne ich, ja. Sehr schön, damit bin ich auch schon gefahren.« Mit Luna war das gewesen, vor vielen, vielen Jahren. Und im Hinterland von Palma, durch die die Bahn wie durch einen riesigen Garten rumpelte, hatte er auf einem der Bäume damals seinen ersten Wiedehopf gesehen! Und in Puerto de Sóller hatte er diese süße Blutwurst bekommen – zum Dessert! ... Nein, das war auf Teneriffa gewesen. Er holte sich zurück in die Wirklichkeit. In diesem Urlaub hatte ihre Beziehung schon zu kriseln angefangen. Weil er immer wieder mit Nürnberg telefonierte, sich informierte und mit seinen Gedanken bei einer Ermittlung seiner Kollegen war. Mit Jaczek damals noch, dem ewigen Zuspätkommer und Permanentwelterklärer, dem Übergenauen und Lachunfähigen. Aber er hatte ihn gerngehabt. Jetzt führte Jaczek ... die Frau am Telefon unterbrach ihn endgültig in seinen Gedanken. Er wunderte sich immer wieder, wie viel einem das Hirn innerhalb weniger Sekunden präsentieren konnte – und das auch noch in Farbe ...
»Wissen Sie ... aber das darf sie nie erfahren, wirklich nicht, dass ich Sie angerufen habe ... in diesem Urlaub hat Emma den Beni kennengelernt, also den Benedikt Rothlauf, dessen Frau und Kind jetzt ...« Sie brach ab.
Behütuns wartete, sie war jetzt genau an dem Punkt angelangt, warum sie angerufen hatte, und sie würde es gleich erzählen.
»Ja?«
»Also, wir haben Beni dort kennengelernt, er war eine Woche allein da, ohne seine Frau und seinen kleinen Sohn ...«
»Max.«
»Ja. Und Emma hatte damals etwas mit Beni, wenn Sie verstehen.«
Das blieb ja oft nicht aus in solchen Urlauben. Er konnte seinen Kopf nicht ausschalten, ständig dachte er irgendetwas parallel. Daheim lernen die Leute nie jemanden kennen, und kaum sind sie mal von zu Hause weg, knallt’s, und sie springen mit ihrer Zufallsbekanntschaft in die Kiste. Keine Ahnung, woran das liegt.
»Also, die beiden hatten eine Affäre«, half Behütuns der Anruferin auf die Sprünge.
»Ja, eine ziemlich wilde sogar.«
Hoppla, war die Dame am Ende eifersüchtig und wollte ihrer Freundin etwas anhängen? Wäre aber doch recht spät, nach zwei Jahren. Friedo, halt dich zurück mit deinen ständigen Gedanken!, schalt ihn eine innere Stimme.
»Und wissen Sie, Emma und Beni haben sich auch danach immer wieder getroffen, heimlich, ungefähr ein Jahr lang. Und dann hat Beni Schluss gemacht.«
»Okay.«
»Und deshalb rufe ich auch an. Der Laufpass hat Emma damals sehr getroffen ... und sie ist manchmal sehr impulsiv ... kann auch rasend eifersüchtig werden ...«
Behütuns sagte nichts.
»Wird sie eigentlich immer ... und als Beni ihr den Laufpass gegeben hat, hat sie gedroht: ›Das wird er mir büßen! An dem räch ich mich, du wirst dich noch wundern!‹«
Behütuns hatte intuitiv die beiden Sätze mitgeschrieben. »Interessant. Und was hat sie noch gesagt?«
»›Das büßt er mir! Dem zeig ichʼs! Das muss ihm richtig wehtun. Der soll mich so schnell nicht wieder vergessen!‹ Ziemlich genau diese Worte.«
Der Kommissar überlegte. Manchmal sagt man ja so etwas im ersten Zorn, und es hat keinerlei Bedeutung. Man hat eine Stinkwut und braucht ein Ventil. Man ist enttäuscht, verletzt und fühlt sich entehrt. »Das war, wenn ich Sie recht verstehe, schon vor einem Jahr, richtig? Glauben Sie denn, dass sie das auch ernst gemeint hat?«
Die Frau schien ziemlich fertig zu sein. Die Aufregung, der Anruf, die Aussage. »Das weiß ich nicht, damals hat es ziemlich, nein, sehr ernst geklungen, beängstigend ernst. Aber ich weiß ja, wie es mit solchen Drohungen ist. Und es ist ja auch schon ein Jahr her. Ich hatte angenommen, das hätte sich längst wieder gelegt. Man denkt und sagt so was vielleicht mal, aber man tut es ja nicht. Das ist doch ein Unterschied, das Sagen und das Machen … Aber ...« Sie schluchzte laut.
Behütuns ließ ihr Zeit, doch es kam nichts mehr. »Sie sagten ›aber‹?«
Sie fasste sich noch mal ein Herz. »Emma war gestern in Nürnberg ...«
»Das wissen Sie ganz genau?«
»Ja, sie hatte ein Vorstellungsgespräch bei einem Unternehmen in der Bucher Straße, das hat sie mir zumindest gesagt, als wir das letzte Mal telefoniert haben.«
Jetzt war Behütuns hellhörig geworden. »Aber mal Hand aufs Herz: Trauen Sie Ihrer Freundin«, er sah auf das Blatt vor sich, las den Namen ab, »Emma, Emilia Panzoni, das tatsächlich zu?«
Sie schluchzte wieder. »Das weiß ich nicht. Sie ist sehr sportlich, also sehr stark, meine ich, sie hat früher Judo gemacht, immerhin bis zum grünen Gürtel.«
Behütuns wusste nicht genau, was das bedeutete, glaubte aber, dass das so Mittelklasse war. Doch das würde er problemlos eruieren können. Immerhin hieß das, die Frau wusste mit ihrem Körper und ihrer Kraft umzugehen. »Hat sie sich denn gestern bei Ihnen gemeldet?«
»Eben nicht, deswegen bin ich ja stutzig geworden. Sie wollte sich eigentlich nach dem Gespräch bei mir melden, ich war ja gestern auch in Nürnberg. Wir wollten uns irgendwo treffen, auf einen Kaffee.«
»Hat Ihre Freundin denn in der letzten Zeit noch irgendwelche Bemerkungen bezüglich ihrer Wut auf Herrn Rothlauf gemacht?«
»Nicht mehr in der Art, dass sie ihm etwas antun oder sich irgendwie rächen wollte, nein, aber sie war noch lange Zeit wütend. Man durfte das Thema gar nicht ansprechen. Sie ist manchmal sehr nachtragend.«
Behütuns stellte ihr noch ein paar Fragen, überprüfte noch einmal ihre Daten, gab ihr erneut ausdrücklich sein Wort, dass die Informationen absolut vertraulich behandelt würden, dass sie aber vielleicht doch, das würden aber erst die nächsten Tage zeigen, vielleicht einmal ins Präsidium kommen müsse, um alles zu Protokoll zu geben, bedankte sich und legte auf. Über zwanzig Minuten hatte das Gespräch gedauert – da kamen auch schon Dick und P. A. zurück, Benedikt Rothlauf im Schlepptau. Schlecht sah der Mann aus.
»Den Anzug von gestern konnten wir leider nicht mehr sicherstellen, den hat seine Schwester heute früh schon in die Reinigung gebracht. Im Moment trägt er Kleidung von seinem Schwager«, raunte Dick seinem Chef zu. Der begrüßte Rothlauf, entschuldigte sich dafür, dass man ihn geholt hatte, bat ihn, einen Moment Platz zu nehmen und winkte die beiden Kollegen hinaus in den Vorraum. Berichtete in wenigen Worten von dem Anruf gerade. Dick pfiff nur durch die Zähne.
•
»Sagen Sie, haben Sie in der letzten Zeit Probleme mit Ihrer Frau gehabt? Oder Streit?«
Rothlauf schüttelte den Kopf.
»Würden Sie sagen, dass Ihre Ehe gut ist?«
»Was soll das heißen?«
»Was man so gemeinhin darunter versteht. Es gibt gute Ehen, schlechte Ehen, So-lala-Ehen ...«
»Wir führen eine glückliche Ehe.«
»Ich muss Ihnen trotzdem diese Frage stellen: Hat Ihre Frau vielleicht Liebhaber gehabt? Ich meine damit: Ist sie möglicherweise fremdgegangen?«
Rothlauf reagierte wach. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie mich im Verdacht haben? Nein, nicht dass ich wüsste. Clara ging nicht fremd, Clara ist treu, war immer treu.«
»Und Sie?« Behütuns fand seine Fragen gefühllos und unverschämt, aber er hatte sich entschieden, hart zu sein. Auch wenn Rothlauf ihm leidtat.
»Ich gehe nicht fremd. Ich bin kein Schürzenjäger, wenn Sie das meinen. Kein Weiberheld. Ich liebe meine Familie.« Er stockte, merkte, was er gesagt hatte. »Liebte«, fügte er leise an.
»Keine Abenteuer? Keine Seitensprünge?«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
Jetzt ging Behütuns zum Angriff über. »Sagt Ihnen der Name Emilia Panzoni etwas?« Er fiel mit der Tür ins Haus.
Rothlauf sah ihn mit prüfendem Blick an. »Wie kommen Sie auf diesen Namen?«
Behütuns blieb unbeirrt. »Mallorca?«, warf er mit Nachdruck auf den Tisch, »Puerto de Sóller? Vor ungefähr zwei Jahren?« Er sah Rothlauf an. »Und bis vor einem Jahr hin und wieder ein Treffen?«
Rothlauf knetete sich die Hände. »Darf ich Ihnen etwas zeigen?«
»Nur zu.«
Rothlauf fingerte sein Handy aus der Hosentasche, schaltete es ein, touchte und scrollte ein wenig auf dem Screen herum und reichte es dann Behütuns hinüber. Dick und P. A. warteten ab. »Eine SMS«, erläuterte Rothlauf. Behütuns las.
Du Hund, das wirst du mir büßen! Mich so schäbig abzuservieren! SO lässt man mich nicht sitzen, NIEMAND! Das lass ich mir nicht gefallen. Du kommst zurück oder ich sprech mit deiner Frau! Und mir fällt noch viel mehr ein!! Gnade dir Gott. Emmi.
Rothlauf wollte das Handy wieder an sich nehmen, Behütuns aber zog seine Hand zurück und behielt es. »Von wann ist das?«
»Das Datum steht mit dabei.«
Behütuns sah auf das Display, scrollte. 12.11. »Gestern?«
»Vor einem Jahr.«
»Auf den Tag genau?«
»Auf den Tag genau.«
»Meinen Sie, das hat etwas zu bedeuten?«
Rothlauf zuckte mit den Schultern.
»Würden Sie Frau Panzoni so etwas zutrauen?«
»Emmi? Dass sie meine Frau ...? Und Max ...?« Er hatte Scheu, es auszusprechen. »Fragen Sie mich das bitte nicht.« Er drückte sich um eine Antwort, doch Behütuns beharrte darauf, wartete ab. Er sah, wie es in Rothlaufs Kopf arbeitete. Nach wenigen Sekunden antwortete er dann doch, mit erstaunlich fester Stimme.
»Ja.«
»Warum meinen Sie?«
»Sie konnte eine sehr rabiate Frau sein. War eine sehr rabiate ... oder bestimmende ... eigenwillige ... auch im Bett, wenn Sie verstehen, was ich meine. Das war ja der Reiz. Ich habe so etwas zuvor nie erlebt, sie war unglaublich. Zärtlich, liebevoll, brutal ...«
Behütuns ging nicht weiter darauf ein, das war jetzt dann doch zu privat. Vielleicht würde er später noch einmal darauf zurückkommen müssen. Allerdings hatte er das Gefühl, Rothlauf hätte gerne mehr davon erzählt, er schien beinahe ein wenig stolz darauf zu sein, so unter Männern. Doch Behütuns schrieb das seinem Ausnahmezustand zu, vielleicht wollte er auch bloß ausweichen, auf ein Thema, das nicht so schmerzhaft für ihn war. Aber er machte sich eine Notiz, vielleicht würde er mit Dr. Hartung, dem Psychologen, einmal darüber reden, er wollte besser verstehen, was in einem Menschen nach so einem Schicksalsschlag vor sich ging oder gehen konnte. Oder in einem Täter.
Rothlauf war verstummt.
»Zurück zu Ihnen. Wir müssen uns von den Vorfällen und Umständen ein möglichst genaues und lückenloses Bild machen, deshalb habe ich Sie von den Kollegen noch einmal herbitten lassen. Danke, dass Sie gekommen sind.«
Rothlauf nickte leicht irritiert.
»Ich bitte Sie um Verständnis, dass wir Ihnen diese Fragen stellen mussten. Sie gelten für uns, damit Sie das bitte nicht falsch verstehen, vorerst nicht als verdächtig, aber wir müssen ergebnisoffen in alle Richtungen ermitteln und brauchen einfach Klarheit.«
Rothlauf sah nur vor sich auf den Tisch.
»Deshalb würden wir Sie bitten, uns noch einmal den gesamten Ablauf der Reihe nach und so exakt wie möglich zu schildern, am besten ab dem Punkt, als Sie das Taxi verlassen hatten, bis zum Eintreffen der Rettungskräfte.«
Schlagartig wirkte Rothlauf hilflos. Er sah die drei der Reihe nach an und sagte nichts.
»Herr Rothlauf ...«
»Ja.«
Es klopfte an der Tür, sie wurde einen Spaltbreit geöffnet, und ein Kollege steckte den Kopf herein.
»Jetzt nicht«, fuhr Behütuns ihn unwirsch an. P. A. erhob sich und ging hinaus, schloss die Tür leise hinter sich.
»Herr Rothlauf!«
Es hatte wieder stärker zu regnen begonnen draußen, vielleicht schon seit Längerem, doch Behütuns nahm es erst jetzt wahr. Es schien sogar zu stürmen, Regentropfen liefen an der Scheibe herunter.
Rothlauf begann zu berichten. Stockend. »Ich hab die Tür aufgeschlossen und bin rein und ... schon mit dem Eintreten sah ich Max dort liegen. Ich dachte erst, er wäre gestürzt ... schlimm gestürzt ... und als ich die Tür schloss ... oder ... ich weiß nicht, auf jeden Fall ...«
»Bitte überlegen Sie genau«, warf Behütuns beinahe mitfühlend ein, »es ist für uns sehr wichtig. Haben Sie die Haustüre hinter sich zugemacht? Beziehungsweise wie haben Sie sie zugemacht?«
Rothlauf sah ihn verzweifelt an. »Ich weiß es nicht. Da achtet man in so einer Situation doch nicht darauf.«
»Sie gingen also zu Ihrem Sohn.«
»Ja, sofort. Und ich rief nach meiner Frau, nach Clara.«
Die Tür ging auf, und P. A. kam wieder herein, setzte sich zurück an seinen Platz, Dick warf ihm einen fragenden Blick zu, P. A. aber legte den Finger auf den Mund.
»Sie gingen also sofort zu Ihrem Sohn?«, hakte Behütuns nach, denn Rothlauf schwieg.
»Ja. Er lag auf dem Bauch, in lauter Blut. Ich sah sofort, dass ... etwas ganz Schlimmes ... etwas nicht stimmte ... dass er tot war. Ich weiß nicht warum, aber irgendwie wusste ich es sofort. Im selben Augenblick, in dem ich ihn sah. Und dann lief diese Spieluhr.«
Der Kommissar ging nicht darauf ein. »Hat Ihr Sohn noch irgendeinen Laut von sich gegeben?«
Der Mann sah ihn etwas begriffsstutzig an. »Nein, ich sagte doch, ich wusste sofort, dass er tot war. Ich sah das, fragen Sie mich nicht, warum. Ich war ... wie ... gar nicht richtig da. Als ob ich neben mir stehe.«
»Max hat nicht geröchelt?«
»Nein, wie kommen Sie darauf?«
»Bitte überlegen Sie genau, auch wenn es wehtut. Oder erinnern Sie sich nicht?«
»Ich? Doch.«
»Sind Sie sich sicher, dass Sie zuerst Ihren Sohn gesehen haben?«
Rothlauf sah ihn etwas verdutzt an. »Ich habe Max gesehen und bin sofort zu ihm.«
»Und er war tot, hat nicht geröchelt?«
Jetzt wurde Rothlauf leicht ungehalten. »Warum immer diese Frage? So wie er dalag ... ich hab Ihnen doch gesagt, ich ... irgendwie wusste ich sofort, dass er tot war, sofort, als ich ihn sah ...« Er stockte. Merkte, dass das komisch klang. Wie kann man wissen, dass jemand tot ist, wenn man ihn nur daliegen sieht? Aber es kam nichts mehr.
Behütuns ließ ihm Zeit. »Aber Sie sagten mir bei unserem ersten Gespräch im Auto, wenn Sie sich erinnern, Max habe noch geröchelt.«
»Quatsch.« Er schlug erschöpft die Augen nieder, schnaufte. Plötzlich nahm er ruckartig den Kopf wieder hoch, wirkte wütend. »Sagen Sie, was wird das hier eigentlich? Wollen Sie mich verhören? In Widersprüche verwickeln? Ich stehe also doch unter Verdacht!« Er war fast etwas laut geworden.
Behütuns winkte beschwichtigend ab. »Nein, wir befragen Sie, weil wir uns, wie ich Ihnen sagte, ein sehr genaues Bild machen müssen. Zwischen Ihrem Bezahlvorgang im Taxi und Ihrem Anruf bei der 110 liegen acht Minuten. Eine ziemlich lange Zeit. Wir müssen wissen, was in diesen acht Minuten alles geschehen ist.«
»Also stehe ich unter Verdacht.«
Der Kommissar sah kurz auf die am Fensterglas herabrinnenden Tropfen und half Rothlauf wieder zurück zu seinem Bericht. »Sie sahen also Ihren Sohn, wussten sofort, dass er tot war, hoben ihn trotzdem auf, er röchelte oder nicht, und dann gingen Sie ins Wohnzimmer, suchten Ihre Frau?«
Rothlauf wischte sich über die Stirn. »Ja, und dazu ... dazu musste ich über Max steigen ... über das Blut ... sogar hinein, ich konnte gar nicht anders ... es war ... fürchterlich.« Man spürte, wie sehr ihn das konkrete Erinnern belastete.
»Sagen Sie, als Sie dann ins Wohnzimmer kamen«, griff P. A. in die Befragung ein, »war da die Terrassentüre offen oder geschlossen?«
Als Behütuns’ Blick einen Moment lang Irritation verriet, deutete P. A. nur kurz auf die Tür. Er hatte seinen Grund, das zu fragen.
Rothlauf wirkte verunsichert. »Die ... äh ... die Terrassentür ... äh, ich weiß nicht ...«
»Haben Sie sie denn geschlossen? Nachdem Sie bei Ihrer Frau waren? Oder in der Zeit, als Sie auf die Rettungsdienste warteten?«
Rothlauf kniff die Augen zusammen und sah P. A. prüfend an. Dann lehnte er sich langsam zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und nahm beinahe provokativ eine Abwehrhaltung ein. Mauerte demonstrativ, auch verbal: »Wissen Sie, ich sage jetzt gar nichts mehr ohne Anwalt. Ich finde Ihre Fragerei ziemlich unterirdisch, um nicht zu sagen unverschämt. Mich so offen zu verdächtigen, meinen eigenen Sohn, meine Frau ... In so einer Situation macht man doch alles Mögliche, das weiß man doch nachher gar nicht mehr im Detail.«
War diese Empörung gespielt oder echt? Behütuns hätte es nicht sagen können. »Sagen Sie, Herr Rothlauf, besitzen Sie ein großes Messer? Ein Küchenmesser mit einer etwa dreißig Zentimeter langen Klinge zum Beispiel?«
»Im Hotel haben wir zwanzig davon. Mindestens.«
»Ich fragte, ob Sie so ein Messer besitzen.«
Der Mann schwieg.
»Schauen Sie, wir glauben nicht, dass Sie es waren. Aber nach unseren Informationen hätten Sie kein allzu schlechtes Motiv gehabt. Die Lebensversicherung Ihrer Frau. Und, wie ich schon sagte, acht Minuten sind eine sehr lange Zeit. Deshalb müssen wir versuchen, genau zu rekonstruieren, was in dieser Zeit geschehen ist.«
»Sie meinen das nicht ernst, oder? Für das Scheißgeld soll ich ...? Meinen Sohn ...? Meine Frau ...? Oh Gott, ist Ihr Denken ekelhaft.«
Behütuns deutete auf das Telefon. »Bitte, Sie dürfen jederzeit Ihren Anwalt anrufen. Wir lassen Sie so lange allein.« Der Kommissar bedeutete seinen Kollegen per Handbewegung, kurz mit ihm hinauszukommen.
•
»Sag mal, was war das für eine Frage mit der Terrassentür?«
»Die Tür war nur in den Schnappverschluss eingerastet und nicht von innen versperrt. Außerdem haben die Tatortreiniger an der Innenseite der Beschläge Blutspuren gefunden und sich noch mal mit der SpuSi kurzgeschlossen. Hatten die aber schon auf dem Schirm. Diese Spritzer, meint die SpuSi, können unmöglich bei geschlossener Tür dorthin gekommen sein, durchaus aber bei gekippter. Also wurde die Tür nach der Tat entweder von außen zugezogen oder von innen zugedrückt, sie muss aber vorher offen gestanden haben oder wenigstens gekippt gewesen sein. Und irgendjemand hat sie dann von innen zugemacht. Rothlauf. Oder der Täter.«
»Aber ...« Irgendwie hatte Behütuns das nicht ganz kapiert.
»Sie haben seine«, und dazu deutete P. A. mit dem Daumen auf die geschlossene Bürotür, »Fingerabdrücke auf dem Glas der Terrassentür nachgewiesen.«
»Was nichts bedeuten muss. An meiner Balkontür werden sich auch Fingerabdrücke von mir finden.« Er stand noch immer auf dem Schlauch.
»Pfff«, zischte Dick, »das kann aber auch heißen, dass der Täter über den Garten abgehauen ist.«
»... und Rothlauf hat im Schock die Türe zugemacht und kann sich nicht mehr erinnern.«
Behütuns massierte sich den Nacken. »Und bei dem Wetter finden wir da draußen keine Spuren.«
»Richtig. Die Spurensicherung war zwar draußen, aber hat, bis auf diese eine kleine Spur, nichts gefunden.«
Behütuns öffnete die Tür zum Büro. »Haben Sie Ihren Anwalt informiert, Herr Rothlauf?« Die Uhr zeigte auf zehn nach sechs. Der Mann saß über den Schreibtisch gebeugt, den Kopf in die Hände vergraben, und heulte. Es schüttelte ihn.
»Brauchen Sie einen Arzt?«
Rothlauf sah auf. »Nein.«
•
Sie kamen an diesem Abend nicht weiter, Rothlauf konnte sich nicht genau erinnern, machte immer wieder leicht widersprüchliche Angaben, hatte keine Erklärung für die lange Zeit bis zu seinem Anruf bei der 110.
»Eine Frage noch zur Spieluhr – wie lange lief die noch? Können Sie sich daran erinnern?«
Der Mann überlegte wieder, schloss einen Moment die Augen, schließlich schüttelte er resigniert den Kopf. »Ich weiß nicht, ich kann es nicht sagen. Sie lief, als ich bei Max war, ihn aufhob, aber danach? Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich habe auch gar nicht mehr darauf geachtet.« Irgendwann gegen sieben Uhr brachen sie die Befragung ab, Rothlauf hatte sich keinen Anwalt geholt. Dick fuhr ihn zurück zu seiner Schwester, in sein Haus konnte er vorläufig noch nicht, es war versiegelt und würde es bis zur Hausdurchsuchung bleiben.
•
Als Behütuns später daheim seinen Mailaccount öffnete, fand er im Posteingang eine Botschaft von Luna. Abgeschickt schon am Mittag, inzwischen war es nach halb acht. Sein Herz schlug schlagartig schneller. Das ist ja wie bei einem Pennäler, dachte er sich. Von wann war die Mail genau? 12:37 Uhr las er im Protokoll. Er hatte seine privaten Mails seit dem Vormittag nicht mehr gecheckt. Mit klopfendem Herzen las er:
Lieber, lieber Friedo,
bei mir hat sich etwas geändert. Können wir uns vielleicht schon am Freitag treffen? Übermorgen? Ne Stunde oder so rausgehen? Tauchersreuth? Ich würde dich so gerne sehen. Es soll zwar vielleicht regnen, aber dann gehen wir eben mit Gummistiefeln und Schirm. Ich würde mich sooo freuen! Vielleicht kannst du es ja möglich machen?
Ich freu mich auf dich
und drück dich,
deine Luna.
Wie schön! Aber auch saublöd. Natürlich konnte er nicht. Nicht dran zu denken. Nicht im Entferntesten. Wo er doch so gerne gekonnt hätte. »Lieber, lieber Friedo«, hatte sie geschrieben und: »Ich freu mich auf dich«. Aber übermorgen? Ging nicht, völlig unmöglich. Ihn würde die Arbeit in den kommenden Tagen komplett in Anspruch nehmen, das wusste er. Scheiße, das war ja wie früher! Genau deswegen hatte sie ihn verlassen. Na ja, natürlich auch wegen dem anderen. Aber doch auch nur, weil er nie Zeit gehabt hatte. Er überlegte hin und her. Wie sollte er ihr das jetzt sagen? Er verfluchte seinen Job. Was sollte er ihr bloß antworten? Dass sie nicht traurig sein solle? Nicht beleidigt? Sich nicht zurückgestoßen fühlen? Er spürte, dass es ihm irgendwie ernst war – zu ernst. Er holte sich ein Bier und setzte sich vor den Rechner, entwarf Sätze und verwarf sie wieder, probierte Formulierungen und löschte sie wieder, schob Worte hin und her, überlegte, wog ab, las und las wieder. Er holte sich ein zweites Bier, bastelte, entwarf, verwarf – und irgendwann drückte er einfach auf »Senden«.
Ach du, liebe Luna,
hab grad erst deine Mail gelesen, war den ganzen Tag sehr eingespannt, sorry. Du weißt nicht, wie gern ich es möglich machen würde am Freitag. Aber hast du die Zeitung gelesen? Über das Verbrechen in Kraftshof? Ich arbeite gerade Tag und Nacht ... und verfluche den Job ... wieder mal. Bitte, bitte, sei mir nicht böse, aber übermorgen geht es unmöglich, so gern ich auch würde. Lass uns noch bis nächste Woche warten, dann brennt’s hier hoffentlich nicht mehr so. Dienstag vielleicht? Oder schon Montag? Wir haben uns doch sooooo lange nicht gesehen, da läuft uns doch nichts davon, oder?
Ich drück dich,
dein Friedo
Ob das so gut war? Verständnisvoll genug? Und auch zugewandt genug? Mit der richtigen Dosis Gefühl? Ob sie das richtig verstand? So wie er es meinte? Oder war es vielleicht eine Spur zu ... nah? Zu direkt? Oder gar zu ... ja, wie sollte er sagen ... unterwürfig? Zu wenig selbstbewusst? Es lief ihm kalt und heiß über den Rücken. Immer diese bescheuerte Angst, zurückgewiesen zu werden. Diese, seine Urangst, unter der er litt, seit er denken konnte. Er machte sich noch ein Bier auf. Jetzt war die Mail draußen, und es war eh zu spät, sich Gedanken zu machen. Machte er sich aber. Vielleicht konnte er es ja doch noch einschieben irgendwie? Er würde es zu gerne ...