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Welcher Tag ist heute? Egal. Hauptsache, es ist nicht schon wieder gestern.

Saša Stanišić, »Herkunft«

II

Mittwoch, 13.11.2019

Sein Handy klingelte, Behütuns schreckte hoch. 0:37 Uhr zeigte es an.

»Ja?«, grunzte er ins Telefon. Entweder war es wichtig oder saublöd.

»Hummel hier, grüß Sie, Herr Behütuns. Oder besser: guten Morgen. Ich hoffe, es ist Ihnen recht, dass ich um die Zeit noch anrufe?« Die Stimme wirkte fröhlich. Um die Zeit! Es war die Ärztin aus der Erlanger Gerichtsmedizin. Hatte er überhaupt schon geschlafen? Behütuns war jedenfalls schlagartig hellwach.

»Hallo, Frau Dr. Hummel, nein, nein, Sie stören nicht. Überhaupt nicht. Sagen Sie bloß, Sie arbeiten noch?«

Frau Dr. Hummel am anderen Ende lachte. Er sah sie förmlich vor sich mit ihren leuchtenden Augen. Er hatte schon mehrfach mit ihr zu tun gehabt, war immer wieder eine Freude gewesen – die Zusammenarbeit, nicht der Anlass.

»Aber natürlich, wo denken Sie hin. Meinen Sie, wir warten bei so einem Fall bis morgen? Ich weiß doch, dass es Ihnen pressiert.« So jung sie auch war, schien sie ihm doch schon reichlich hartgesotten. Bei einer Leiche dieses Zustands, die sie ja auch noch hatte sezieren müssen – und wahrscheinlich hatte sie sich gerade erst die Handschuhe abgestreift –, so locker zu sein und sogar zu Scherzen aufgelegt ... na ja, wenn man den ganzen Tag nichts anderes tat, als tote Körper aufzuschneiden und zu untersuchen, musste man das wahrscheinlich können.

»Schießen Sie los.« Schon wieder so eine bescheuerte Formulierung. Was war bloß mit ihm los? Frau Dr. Hummel schien sich nicht daran zu stören, aber sie wurde ganz sachlich.

»Also, der kleine ...«

»Max.«

»Max Rothlauf, ja. Ich habe bei dem Kleinen sieben Stiche festgestellt ...«

»Können Sie etwas sagen über die Art des Messers?«, unterbrach Behütuns sie.

»Einseitig geschliffene Klinge, Typ besseres Küchenmesser, Rücken gerade, vorne spitz zulaufend, etwa dreißig Zentimeter lang, am Schaft viereinhalb Zentimeter stark. Genaueres kann ich Ihnen noch nicht sagen, dazu müssen Sie mir den morgigen Tag schon noch geben. Ist etwas komplizierter. Beziehungsweise den heutigen.«

Behütuns ging nicht darauf ein. »Was meinen Sie mit ›Genaueres‹?«

»Mit welcher Wucht die Stöße ausgeführt wurden. Wie viel das in Kilopond ist, meine ich, das kann ich noch nicht sagen, da müssen Sie noch etwas Geduld haben. Ist nicht ganz so leicht festzustellen bei einem so jungen Körper. Dazu muss ich erst die verschiedenen Knochendichten messen, um exakte Rückschlüsse ziehen zu können. Und in welcher Reihenfolge sie ihm zugefügt wurden, welcher tödlich war und so.«

Kilopond, dass sie so einen altertümlichen Begriff noch benutzte, dass sie ihn überhaupt kannte.

»Aber es waren sieben Stiche. Oder Schnitte. Einer quer übers Gesicht, so wie es aussieht von links unten nach rechts oben, hat die Wange aufgeschlitzt, die Nase, das Auge bis über die Stirn, ein zweiter, dies ein Stich, ging seitlich in den Hals, linke Seite, hat die Schlagader durchtrennt und den Kehlkopf, ein weiterer führt durchs Ohr bis tief in den Schädel, einer kam von oben am Kopf entlang in die Schulter, hat das rechte Ohr fast vollständig abgetrennt, ein weiterer, ebenfalls von oben, ist durchs Schlüsselbein unter das Schulterblatt und tief in die Lunge, und zwei schließlich von hinten in den Rücken, wahrscheinlich von oben her auf den liegenden Jungen ausgeführt. Wirkt auf mich blindwütig, fast wie Raserei.«

Behütuns versuchte augenblicklich, die Bilder im Kopf loszuwerden. Aber ihn interessierte etwas anderes: »Das heißt, er hat seinem Mörder in die Augen gesehen, als der erste Stich kam?«

»Schnitt. Das kann ich Ihnen nicht sagen, ist aber möglich, ja, wenn Sie den Schnitt über Backe, Nase und Auge meinen.«

Behütuns dachte kurz nach. »Und er war sofort tot?«

»Nach dem dritten ganz sicher, definitiv, ja, warum fragen Sie?«

»Weil Herr Rothlauf, sein Vater, gesagt hat, sein Sohn hätte noch geröchelt, als er ihn fand.«

»Ich glaube, das können Sie ausschließen, allenfalls ist durch eine Bewegung des Leichnams Restluft aus der Lunge entwichen, das kann passieren, wenn man den Körper bewegt oder hochnimmt. Nach solchen Stichen röchelt man nicht mehr, höchstens ein paar Sekunden, aber nach denen in den Rücken überhaupt nicht mehr. Zwei davon gingen ins Herz. Allerdings muss es ziemlich gespritzt haben, könnte ich mir denken. Ich weiß ja nicht, ob da eine Wand in der Nähe war, aber Blutspritzer sollten bis in eine Entfernung von ein, vielleicht sogar zwei Metern zu finden sein.«

»Sehr appetitlich, danke. Das wird die Spurensicherung feststellen.«

»So viel einstweilen zu Max. Mehr morgen.«

Behütuns bedankte sich, doch dann fragte er noch: »Sagen Sie, können Sie denn nach so einer Untersuchung überhaupt schlafen?« Immerhin ging es schon auf ein Uhr zu, und er selber schob gerade wieder aktiv die Bilder vom Nachmittag beiseite. Klappte aber nicht.

Da lachte sie schon wieder. »Schlafen? Kann ich sowieso nicht. Ich habe einen Säugling im Haus, der kommt alle zwei bis drei Stunden – und jetzt hat er eh Hunger, wenn ich heimkomme.«

Behütuns war ehrlich erstaunt. »Sie sind Mutter geworden? Meinen Glückwunsch! Davon hatte ich ja gar keine Ahnung.«

»Ist ja auch kein Wunder, Sie melden sich ja bloß, wenn es Schreckliches zu tun gibt.«

Behütuns überging die Spitze, sie hatten ohnehin nur beruflich miteinander zu tun. Aber er rechnete schnell nach. Wie lange hatte er sie nicht mehr gesehen? Ja, schon über ein Jahr. Also hatte er zumindest die Schwangerschaft nicht übersehen. Oder vielleicht doch?

»Wie alt ist denn die Kleine schon ... oder ist es ein Er?«, fragte er schnell.

»Ein Er. Regulär vier Monate, aber eigentlich schon sechs.«

»Wie ...« Behütuns verstand nicht.

»Unser kleiner Paul kam zwei Monate zu früh.«

Behütuns wusste nicht, was antworten. Mit Kindern kannte er sich nicht aus, da hatte er keine Erfahrung. Er wollte nicht wissen, wie hilflos er ausgesehen hätte, hätte ihm jemand einen Säugling auf den Arm gelegt. So etwas Kleines und Zerbrechliches. Das dann vielleicht auch noch sabberte. Nein, er wollte das überhaupt nicht wissen. »Ja, dann noch einmal meinen herzlichen Glückwunsch – und jetzt gehen Sie heim zu Ihrem Kleinen, und zwar auf der Stelle. Das ist ein Befehl.« Das war der Ton, den er beherrschte. Leicht burschikos, ein bisschen künstliche Distanz, aber immer mit einer Spur Humor; und doch spürbar auch einer Portion Herzlichkeit. So, dass ihm keiner böse sein konnte.

»Ja, danke. Ich melde mich dann, sobald ich Genaueres habe. Gute Nacht.« Es klackte am anderen Ende.

Die Nacht war kurz gewesen, und Behütuns hatte nur flach geschlafen. Kein erholsamer Schlaf. Um sechs Uhr beendete er das Bemühen und schaute noch vor sieben im Klinikum Nord vorbei, sprach mit Dr. Kinkel, dem Stationsarzt der Not- und Unfallchirurgie. Sah ziemlich verorgelt aus, dieser Doc, war aber auch schon sechsundfünfzig Stunden am Stück im Dienst, wie Behütuns erfuhr. Personalmangel, Einsparungen. Auch hier führten längst die Kaufleute das Regiment, es ging nur noch um das Wohl der Finanzen, längst nicht mehr um das der Menschen. Diktat der Wirtschaftlichkeit, kranke Welt. Da wünscht man sich die Verantwortlichen sofort unters Messer der Übernächtigten. Er selber hatte ja wenigstens ein paar Stunden geruht.

»Wie es Frau Rothlauf geht? Sie liegt auf Intensiv im künstlichen Koma.«

»Wird sie es schaffen?«

Der Arzt machte ein skeptisches Gesicht. »Das kann zum jetzigen Zeitpunkt keiner sagen. Und«, er überlegte einen Moment, als suche er nach der richtigen Formulierung, »es kann auch keiner sagen, ob es für die Frau gut ist, wenn sie wieder zurückkommt. Oder für ihre Lieben. Sie hat Verletzungen im Bereich des Stirnlappens sowie am Hinterkopf im Bereich der Wirbelsäule. Ein Stich ging schräg durchs Auge ins Hirn, einer hat ihr das Gesicht aufgeschlitzt. Der Täter muss getobt haben, wie von Sinnen. Vermute, ein Rechtshänder, aber ich bin kein Gerichtsmediziner. Wir haben Splitterbildung und Einblutungen ins Hirn. Die Splitter haben wir ihr heute Nacht entfernt, aber welche Auswirkungen die Verletzungen auf die Funktionsweise des Gehirns haben, wissen wir noch nicht.«

Der Arzt sah auf die Uhr, er schien es eilig zu haben, trotzdem ließ er Behütuns davon nichts spüren und nahm sich Zeit. Bewundernswert. »Wissen Sie«, fuhr er fort, »im Bereich der Stirn verortet man im Allgemeinen die Emotionen, Empathie und so. Sozialverhalten. Wir haben schon Verletzungen hier gehabt, die waren bei Weitem nicht so gravierend, aber in ihrer Folge katastrophal. Die Menschen waren überhaupt nicht mehr zu sozialen Beziehungen fähig. Allerdings hatten wir auch schon Patienten mit intensiveren Verletzungen, bei denen hinterher gar nichts war, die waren wieder völlig normal. Kann man also nichts sagen. Ich zumindest nicht.«

»Und die anderen Verletzungen?«

»Einzelheiten oder nur grob?«

»Wenn Sie mir die Einzelheiten ersparen können ...?« Die Schilderungen von heute Nacht blubberten schon wieder aus der brüchigen Versenkung, und die konkrete Vorstellung eines Stichs ins Auge verkrampfte Behütuns den Magen, sein Kaffee begann bereits zu rebellieren.

Dr. Kinkel zuckte nur mit den Schultern. »Vielleicht hat die Frau Glück –, aber sie wird zeitlebens entstellt sein. Im Gesicht und an einer Hand.«

»An der Hand?«

»Die Knochen der Finger einer Hand sind teilweise zersplittert. Damit haben wir heute Nacht noch gar nicht begonnen. Erst einmal muss sie mit den übrigen Verletzungen einigermaßen fertigwerden. Aber wenigstens ist der Zustand der Patientin jetzt halbwegs stabil.«

In Behütuns keimte eine Vermutung auf, er wollte jedoch abwarten, was der Arzt dazu sagte. »Wie erklären sich diese Handverletzungen?«

Dr. Kinkel musste nicht überlegen. »Ich bin kein Gerichtsmediziner, aber ich tippe auf Abwehrverhalten. Allerdings«, es entstand erneut eine kurze Pause, »die anderen Verletzungen, Stiche in Schulter, Rücken und Bauch, waren für uns gravierender. Wir mussten Venen flicken, auch den Darm, ein Stich ging in die Leber, mit immensen Blutungen in den Bauchraum. Sie wäre uns zweimal fast weggeknickt, allein schon wegen des Blutverlustes. Wollen Sie eigentlich einen Kaffee?«

Behütuns winkte ab, er war froh, dass der, den er schon hatte, dort blieb, wo er war.

»Wissen Sie, meine Kolleginnen und Kollegen, die bei der OP dabei waren, und ich, wir erklären uns das so: Die Frau hat den Angreifer gesehen und ist auf ihn zu. Deshalb trifft sie der erste Stich mit voller Wucht. Sie sieht ihn mit dem Messer auf sich zukommen, sieht, dass er zustechen will, und nimmt zum Schutz instinktiv die Hände vors Gesicht. Dieser Stich zertrümmert ihr die Finger der Hand, dringt hindurch und tief ins Auge ...«

Behütuns winkte ab, sein Magen. Kinkel konnte sich ein leises Lächeln nicht verkneifen.

»Nur eines noch: Wie viele Stiche waren es insgesamt?«

»Sieben oder acht. Zum Teil bis zu dreißig Zentimeter tief.«

Behütuns sah auf die Uhr, ein reiner Fluchtreflex. »Sagen Sie, kriegen wir das alles auch noch schriftlich?«

Der Arzt schaute recht skeptisch. »Zu den Verletzungen kriegen Sie einen medizinischen Bericht, zu meinen Vermutungen nicht, dazu sind wir hier die Falschen. Aber wenn Sie mir einen Gerichtsmediziner vorbeischicken, die können so etwas viel besser, ja, mit dem kooperiere ich gern. Außerdem lerne ich dann noch etwas.«

Behütuns bedankte sich und fuhr hinüber zum Jakobsplatz ins Präsidium, berichtete den Kollegen, die auch schon weit vor der Zeit im Büro aufgetaucht waren. Sie teilten sich auf. Dick wollte sich auf die Suche nach dem Taxifahrer machen, die Angaben von Rothlauf überprüfen, und P. A. wollte mit Rothlauf selbst sprechen, falls dieser schon dazu in der Lage war. Am besten im Beisein eines Arztes oder Psychologen, wenn ihn einer betreute. Ihn befragen zu eventuellen familiären oder privaten Hintergründen. Verbrechen im Familienkreis waren oft durch Beziehungsgeschichten motiviert, sagte das Lehrbuch. P. A. wollte versuchen, das auszuloten. Und auch herausfinden, ob sich im Haus Wertgegenstände befanden bzw. befunden hatten. An den Tatort zurück konnten sie mit ihm noch nicht. Die Spurensicherung hatte zwar die Nacht durchgearbeitet, aber ob die schon fertig waren, wussten sie nicht, und dann käme erst noch der Reinigungstrupp. Dessen Arbeit mussten sie in jedem Fall noch abwarten, bevor sie mit Rothlauf ins Haus konnten, um zu überprüfen, ob eventuell etwas entwendet worden war. Auch das konnte ja ein Motiv sein.

Behütuns selbst wollte im Büro bleiben, eventuelle Anrufe der zehn Kollegen, die die Nachbarschaftsbefragung und die Suchaktion durchführten, entgegennehmen und den Kontakt zur Spurensicherung halten. Die rief auch prompt an, kurz nachdem Dick und P. A. sich auf den Weg gemacht hatten.

»Kommissar Behütuns, sind Sie dran?«

»Ja.«

»Bestvater hier, Erwin Bestvater, Spurensicherung.«

»Ja?«

»Wir sind gestern Nacht so weit fertig geworden, bis auf draußen, seit sieben ist der Reinigungstrupp drin. Denke, dass Sie ab morgen früh mit dem Hausherrn reinkönnen. Wenner’s packt.«

Auch die von der Spurensicherung hatten sich einen manchmal etwas groben Humor zur Abwehr des Schrecklichen zugelegt. »Sah – und sieht – ganz schön wüst aus dort. Drei Sachen bräuchten wir allerdings noch.«

»Ja?«

»Die DNA von allen, die hier zugange waren, also von den Sanis, den Notärzten, dem Hausherrn, auch von Ihnen.«

»Okay, kann ich veranlassen. Das Zweite?«

»Die Abdrücke der Schuhe aller, die da durchgelaufen sind, also von derselben Klientel. War ja alles verschmiert da, Spuren über Spuren. Und das Dritte: die Fingerabdrücke aller. Damit wir das irgendwie auf die Reihe kriegen. Wir haben alles aufgenommen, wird ein ganz schönes Gepuzzle werden.«

»Kümmer ich mich drum. Was können Sie mir bis jetzt schon sagen?«

Am anderen Ende machte es nur »Pfff«. Und dann folgte: »Niggs Gwieß nunni. Aber«, jetzt wurde Bestvater wieder sachlich, »so viel zumindest: Der oder die Täter haben das Haus erst kurz vor dem Eintreffen von Rothlauf verlassen. Eher der Täter oder die Täterin.«

Behütuns verstand. »Sie gehen also von nur einer Person aus.«

»Right.«

»Können Sie sagen, ob vielleicht etwas mitgenommen wurde? Schubladen geöffnet oder so, ob der Täter vielleicht etwas gesucht hat?«

Wieder kam dieses »Pfff«, bevor er antwortete. »Genau dafür brauchen wir ja die DNA und die Fingerabdrücke. Zum Abgleich. Aber Schubladen oder Schränke standen auf jeden Fall nicht offen.«

»Okay, verstanden. Und wie lange dauert es dann, wenn Sie von uns alles haben, Fingerabdrücke und so, bis Sie Ergebnisse haben?«

»Vier, fünf Stunden würde ich sagen.«

»Gut, ich veranlasse das. Danke einstweilen.«

»Langsam, langsam«, bremste Bestvater, der wohl befürchtete, Behütuns wolle schon wieder auflegen, »der Täter ist höchstwahrscheinlich, das aber noch unter Vorbehalt, hinten raus, über die Terrassentür. Sie war nur eingeschnappt, nicht verschlossen. Was ungewöhnlich ist für diese Jahreszeit.« Stimmt, fiel es Behütuns ein, Bestvater hatte eingangs gesagt »bis auf draußen«.

»Und, was gefunden?«

»Ja und nein. Ja: Wir haben auf der Terrasse einen kleinen Rest Blut gefunden, aber nur an einer Stelle. Entweder, der Täter war nur auf einen Schritt draußen, oder er hat sich die Schuhe ausgezogen, bevor er fort ist. Und nein: Am Griff der Terrassentür sind die Spuren verwischt, an der Scheibe nur Spritz- und Schleifspuren, die auf das Opfer zurückzuführen sind. Sie scheint daran heruntergerutscht zu sein. Auch ein paar Reste an den Beschlägen, ist uns noch nicht klar, wie die da hingekommen sind. Für draußen sollten Sie vielleicht noch mal einen Hund hinschicken, vielleicht findet er etwas, wir haben nichts gefunden, auch nicht im Garten. Aber bei dem Wetter gestern, wie das immer wieder geschüttet hat zwischendurch – das hat dem Täter gut in die Karten gespielt. Am Rest sind wir dran. Vielleicht ergibt sich ja noch was. Das war’s so weit von meiner Seite.«

»Danke. Eins noch. Die Spieluhr. Wurde die sichergestellt?«

»Ja. Hat Wischspuren am Gehäuse, ebenso am Band, also an dem, womit sie aufgehängt wird, so ne Art Schlaufe. An der Schnur, an der sie aufgezogen wird, nicht.«

»Komisch.«

»Ja, schon komisch. Scheint erst im Nachhinein an die Garderobe gelangt zu sein. Aber auch hier: Wir können die Spuren noch nicht zuordnen, die Mikroanalyse steht noch aus.«

»Was spielt sie denn für ein Lied?«

»Keine Ahnung.«

»Kriegen Sie das raus?«

»Sollten wir, ja.«

»Dann rufen Sie mich bitte sofort an.«

»Selbstverständlich.« Bestvater klang etwas verwundert.

»Sie soll noch gelaufen sein, als Rothlauf in das Haus kam.«

Jetzt hörte er nur ein Pfeifen, Bestvater hatte verstanden. Sie legten auf.

Behütuns rief umgehend P. A. an. »Wo bist du?«

»Bei Rothlauf. Besser gesagt bei seiner Schwester, sie kümmert sich um ihn. Warte, ich gehe kurz raus.«

Behütuns hörte eine Tür einschnappen, eine zweite, dann meldete sich P. A. wieder, im Hintergrund leichte Verkehrsgeräusche, wahrscheinlich stand er auf dem Balkon. »So, jetzt.«

»Wo wohnt die Schwester von Rothlauf?«

»In der Südstadt, Kopernikusstraße.«

»Gut. Und wie wirkt er so?«

»Gefasst.«

»Wir brauchen seine DNA, seine Fingerabdrücke und einen Abdruck der Schuhe, die er gestern getragen hat. Brauchen wir von allen, die gestern anwesend waren.«

»Okay, wir kümmern uns. Hab grad mit Dick telefoniert.«

»Und?«

»Er hat den Taxifahrer schon gesprochen, die Zentrale hat ihn gleich gefunden. Ein Ali Gündür. Die Angaben und Zeiten stimmen überein, Rothlauf hat mit Karte bezahlt, war eine Dienstfahrt. Zwischen dem Bezahlen und dem Eingang seines Anrufs liegen nur ein paar Minuten.«

»Konkret?«

»Die Bezahlung erfolgte laut Protokoll um 15:17 Uhr. Der Notruf ging exakt um 15:25 Uhr ein.«

»Das sind immerhin acht Minuten. Könnte theoretisch ausreichen für die Durchführung der Tat.«

»Hat denn die Spurensicherung die Tatwaffe gefunden?«

»Keine Ahnung, haben sie noch nichts dazu gesagt.«

»Das Messer müsste ja noch im Haus sein, wenn es Rothlauf war. Und viel Zeit hat er nicht gehabt, es zu verräumen, die Rettungsdienste waren um 15:33 Uhr da, die ersten Kollegen von der Streife immerhin schon 15:30 Uhr.«

»Ich ruf Bestvater noch mal an.«

Sie beendeten das Gespräch. Zwischen eins und zwei wollten sich die drei im Präsidium wieder treffen, um fünfzehn Uhr erwarteten sie die Berichte der Kollegen zur Nachbarschaftsbefragung, für sechzehn Uhr war erneut eine Pressekonferenz anberaumt. Von den Kollegen draußen hatte sich noch keiner gemeldet. Schlechtes Zeichen.

Behütuns rief Bestvater an, der verneinte. »Nein, nichts gefunden, im ganzen Haus nicht.«

»Wenn die Tatortreiniger gehen, sollen sie das Haus versiegeln.«

»Sowieso.« Das Gespräch war beendet.

Den Schuhabdruck, ein Wattestäbchen mit Speichel für die DNA und seine Fingerabdruckdaten hatte er zwischendurch schon zur Spurensicherung hinübergeschickt. Er trug noch dieselben Schuhe wie gestern, völlig ausgelatscht, mit abgetretenen Sohlen. Eigentlich peinlich. War es ihm aber nicht.

Um halb zwei waren Dick und P. A. wieder zurück. Erst kam P. A., keine fünf Minuten darauf Dick. Beide wirkten abgekämpft.

»DNA-Proben, Schuhabdrücke, Fingerabdrücke – alles erledigt.«

»Respekt.« Behütuns sah aus dem Fenster. Draußen war es grau, es nieselte inzwischen, aber der Wind hatte sich gelegt. Klassisches Novemberwetter, schön für den, der es mag, nicht so schön für den weitaus größeren Teil der Bevölkerung. Eher grässlich. Die drei hatten keine Gelegenheit, sich darüber Gedanken zu machen. Behütuns hatte drei Pizzas geordert, die Kartons lagen offen auf dem Tisch, und die drei langten zu. Direkt mit den Fingern. Der typische Lieferservice-Pizzageruch hing warm und käsig im Raum. P. A. und Dick berichteten.

»Also, Rothlauf ist dreiundvierzig und Hotelfachwirt, Hotelmanager, arbeitet drüben im Acom, Leipziger Platz. War dienstlich in München, Kollegen haben das bestätigt. Ein Meeting des Leitungskreises Nürnberg, München, Stuttgart. Ist mit dem Zug hingefahren, auch zurück, ICE-Ticket liegt vor.« Zwischendurch schob er sich immer einen Bissen Pizza in den Mund, der Käse zog Fäden. »Hat am Bahnhof ein Taxi genommen, die Zeiten stimmen mit den Angaben des Taxifahrers überein. Er hat keine Ahnung, wer so etwas machen könnte oder warum. Er ist politisch nicht aktiv, hat angeblich mit niemandem Streit. Er spielt nicht, hat keine Schulden außer den Kredit fürs Haus. Den kann er aber mit seinem Gehalt locker bedienen. Außerdem arbeitet seine Frau auch. Sie ist ... war ... ist Marketingfachfrau, in der Abteilung für irgendein Krebsmittel von Nosertas, dieser Pharmakonzern drüben in Gostenhof. Weltunternehmen. Halbtags.«

»Die Pizza ist total matschig«, maulte Dick mit vollem Mund.

»Aber besser als nichts.«

»Rothlauf hatte laut eigenen Angaben keine Affären, nichts, keine Seitensprünge, ganz normale bürgerliche Familienverhältnisse.«

»Und seine Frau?«

»Nicht, dass er davon wüsste oder gewusst hätte. Sie sei treu gewesen, sagt er.«

»Clara Rothlauf hat eine Lebensversicherung, fünfhunderttausend Euro. Über die Firma, ist da so üblich. Läuft schon seit über zehn Jahren, also nichts erst vor Kurzem Abgeschlossenes.«

»Na ja, ist viel, aber so richtig viel auch wieder nicht ...«

»Mir tät’s reichen.« Was redete er für einen Quatsch, wurde ihm im gleichen Augenblick bewusst. Er war ja sogar Millionär, seit er Julies Haus drüben in der Bretagne verkauft hatte. Wussten die Kollegen aber nicht, mussten sie auch nicht wissen, und selbst er verdrängte es immer wieder. Aktiv. Denn Geld verdirbt den Charakter, und wenn man immer daran denkt, dass man viel hat, auch noch das Leben. Dann kommt man nur auf dumme Gedanken. Das war es nicht wert. Er war Beamter, und dabei blieb es. Punkt. Und er brauchte nicht viel.

»Und sollte sie’s nicht überleben?«

»Dann kriegt er die Summe ausbezahlt.«

Pünktlich um fünfzehn Uhr waren die zehn von der Streife im Besprechungszimmer. Es war eng, der Raum viel zu klein, zudem brauchte Kugler Platz für zwei. Er schwitzte, aber roch nicht. Immerhin.

»Machen wir nicht lange rum«, eröffnete Behütuns die Besprechung. »Was haben Sie?«

Kopfschütteln, Schweigen.

»Nichts. Wir haben bislang nichts Brauchbares gefunden.« Sie hatten ihre Ergebnisse untereinander schon abgeglichen.

»Wir haben sämtliche Anwohner der kleinen Siedlung, alle aus der Lachfelderstraße und etliche aus der Schiestlstraße befragt, soweit wir sie angetroffen haben. Nichts. Keiner hat was gesehen, niemandem ist etwas aufgefallen. ›Bei so einem Wetter ist man doch nicht auf der Straße‹, haben wir öfter gehört, und: ›Da schaut man ja auch nicht raus, macht bloß depressiv.‹ Haben ja auch recht, die Leute. Im Fernsehen ist schöneres Wetter.«

In die Briefkästen der Haushalte, wo sie niemanden antrafen, hatten sie Wurfzettel eingeworfen, Kugler reichte Behütuns eines der Infoblätter. War gut gemacht, sah fast professionell aus.

»Sie?«, fragte ihn Behütuns.

»Was ich?«

»Den Wurfzettel, haben Sie den gemacht?«

Kugler grinste. »War ne Gemeinschaftsarbeit.«

Behütuns nickte, die Antwort gefiel ihm. Der Mann versuchte nicht, unverdientes Lob einzufahren. »Haben sich irgendwelche Personen auffällig benommen?«

Allgemeines Kopfschütteln. »Nicht anders als immer, wenn die Polizei plötzlich vor der Türe steht.«

»Und wie sieht’s außenrum aus, also im Garten, hinterm Haus, auf dem Weg, nähere Umgebung?« Vielleicht hatten sie ja die Tatwaffe gefunden? Sicher nicht, das hätten sie längst gesagt.

»Wir haben die Nachbargärten abgesucht, den Weg, der hinten entlangführt, sind im Acker herumgestapft, aber nichts, auch nicht am Weg hinten, der in den Wald führt, wir haben den ganzen Friedhof durchkämmt ...« Er zuckte mit den Schultern, zeigte die leeren Handflächen. »Ein paar Tempotaschentücher, ein paar Bonbonpapiere, ne Flasche, die lag aber schon länger da, so wie das Etikett aussah, sonst nichts. Dazu der Inhalt der Mülleimer vom Friedhof – ist alles schon im Labor.«

»Okay, also unterm Strich bisher n Schuss in’n Ofen. Trotzdem: Machen Sie bitte weiter, bis Sie alle Anwohner und Nachbarn persönlich angetroffen haben. Jeder noch so kleine Hinweis kann wichtig sein. Ich danke Ihnen. Und bitte: Wer etwas hat, sofort weitergeben.«

Damit war die Besprechung beendet. Dick, P. A. und Behütuns sahen sich an.

Kurz vor vier klingelte das Telefon. Interner Anruf.

»Behütuns?«

»Antonia Zimmermann hier, Kollegin von Erwin Best­vater, Spurensicherung.«

»Hallo, grüß Sie. Was gibt’s Neues?«

»Wir arbeiten noch auf Hochtouren. Acht Personen sind gerade dran. Wollte Ihnen nur schnell den vorläufigen Zwischenstand geben, Sie haben ja gleich PK.«

»Ihr seid klasse. Und was habt ihr?«

»Ihr aber auch«, gab die Frau das Kompliment zurück, »kurz vor eins hatten wir schon sämtliche Abdrücke und Proben, Respekt.«

»Danke. Also, was gibt’s?« Behütuns hatte nicht viel Zeit, die Presseleute warteten schon unten.

»Nichts. Bislang keinerlei Spuren von weiteren Personen. Nur von denen, bei denen wir wissen, dass sie drin waren. Rothlauf, Sanis, zwei Ärzte, Sie. Und die Opfer natürlich. Auch keine Tatwaffe.«

»Nichts gefunden?«

»Nichts. Nur das vielleicht: relativ klare Fingerabdrücke des Kleinen innen an der Klinke der Haustür. Eindeutig die letzten Spuren, überlagern alles. Offenbar hat er dem Täter die Türe geöffnet.«

»Keine Fremd-DNA im Haus, nichts?«

»Nein, bisher nichts, absolut nichts. Nirgends.«

Behütuns überlegt kurz. »Das heißt, es war niemand außer den bekannten Personen dort. Also doch Rothlauf ...«

Antonia Zimmermann am anderen Ende atmete tief durch. »Ich wusste, dass Sie das fragen. Könnte aber auch jemand gewesen sein, der das gut geplant hat. Sich entsprechend vorbereitet hat. Mit Handschuhen, Überschuhen, vielleicht sogar Mundschutz. Ganz gezielt, um keine Spuren zu hinterlassen ... wenn ich das vielleicht so ungefragt sagen darf ...«

»Ja, aber ...« Behütuns sah auf die Uhr. Es war schon zwei nach vier. »Sorry, ich muss in die PK. Danke für die Info.«

»Bitte, gerne. Wir melden uns umgehend, sollten wir noch etwas finden.«

»Haaaalt! Eine Frage noch!«

Zum Glück hatte die Frau noch nicht aufgelegt. »Das Lied. Also die Spieluhr. Haben Sie das schon rausgekriegt?«

Frau Zimmermann am anderen Ende lachte und begann eine Melodie zu summen. »Erkennen Sie’s?«

»Nee. Was ist das für ein Lied?«

»Der Sandmann. Ein Schlaflied nach einem Gedicht von James Krüss.«

»Mein Urgroßvater und ich? Die Glücklichen Inseln hinter dem Winde – der?« Er hatte diese Bücher als Kind von seiner Tante bekommen und sie geliebt.

»Ja, der. Hat noch fünfzig andere geschrieben. Und Hörspiele und ...«

Behütuns unterbrach die Dame. »Der Sandmann, sagen Sie? Kenn ich nicht. Sie?«

»Wenn es Nacht wird, wenn es Nacht wird, und die Lampe ausgemacht wird, zieht der Sandmann durch die Stadt. Und er trägt auf seinem Nacken einen riesengroßen Packen, wo er Träume drinnen hat«, zitierte Frau Zimmermann von der Spurensicherung. »Aber gekannt hab ich das Lied auch nicht, nein. Dafür eine Kollegin, und den genauen Wortlaut des Textes haben wir dann nachgeschaut.«

»Könnten Sie mir den Text schicken?«

»Mach ich.«

Das Gespräch war beendet.

»Entschuldigen Sie die Verspätung, aber ich habe noch den jüngsten Bericht der Spurensicherung abgewartet«, eröffnete Behütuns die PK völlig unvorbereitet. Was sollte er denen jetzt erzählen? Dass es keine verwertbaren Spuren gab? Keine verdächtigen Beobachtungen? Dann fiel der Verdacht unwillkürlich auf den Hausherrn Benedikt Rothlauf, die Journalisten konnten ja eins und eins zusammenzählen. Vor allem würde damit auch das Hotel in die Schlagzeilen kommen, in keinem positiven Kontext – und die hatten sicher Anwälte. Gute. Konnte er das verantworten? Er verließ sich auf sein Gefühl, und das sagte Nein. Also beschloss er, auch so zu handeln.

»Lassen Sie mich Ihnen einen kurzen Überblick über den Ablauf der Tat geben, so wie ihn Auffinden und Zustand der Opfer, die vorläufigen Ergebnisse von Spurensicherung und Gerichtsmedizin sowie die Aussagen der Rettungskräfte, die vor Ort waren, nahelegen.« Es wurde still im Raum, die Journalisten waren spürbar gespannt, keiner wollte etwas verpassen. Fotoapparate blitzten und klickten, Kameras liefen.

»So wie sich die Tat bisher darstellt ...« Er skizzierte kurz den groben Ablauf, ohne zu viele Einzelheiten zu nennen, und während er berichtete, erkannte er den Reporter der BILD, die heute früh schon groß mit dem Aufmacher »Messermord in Nürnberg!« trompetet und ältere Fotos der zwei Opfer gezeigt hatte, mit Alibibalken über den Augen. Das war deren miese, so oft schon praktizierte Masche, hart an der Strafbarkeitsgrenze: Die Balken, die eigentlich ein Identifizieren der Personen unmöglich machen sollten, waren so schmal, dass jeder, der sie kannte, Frau und Kind erkennen konnte. Zweifelsfrei. Wie waren diese »Journalisten« nur wieder an die Bilder gekommen? Wahrscheinlich hatten sie, wie immer und immer wieder, Verwandte, Freunde oder Nachbarn belästigt, bedrängt und ihnen damit gedroht, grausame Fotos vom Tatort oder von den entstellten Opfern abzudrucken, sollten diese keine »normalen« Bilder der beiden herausrücken. Funktionierte immer, obwohl die Redaktion nie derartige Tatortfotos besaß. Widerlich. Wie konnten solche Leute abends noch in den Spiegel schauen? Er musste bei der Sache bleiben.

»Nein, wir haben bisher keinen Hinweis auf den oder die Täter.«

»Natürlich haben wir, soweit wir sie gestern Abend oder heute antreffen konnten, sämtliche Anwohner befragt.«

»Nein, wir haben auch noch keinen Hinweis auf ein mögliches Motiv.«

»Nein ...«

»Ja ...«

»Nein ...«

»Nein ...«

»Nein, ich sagte Ihnen doch schon ...«

»Nein ...«

Behütuns reagierte zunehmend gereizt auf die immer neuen Fragen, die er den Journalisten nicht beantworten konnte. Oder wollte. Auch heute beendete er die Pressekonferenz wieder, indem er sich nach knapp zehn Minuten einfach erhob, den Anwesenden einen schönen Abend wünschte, sie auf die nächste PK vertröstete und den Raum verließ.

Er fühlte sich leer und übernächtigt, aber als er an Dr. Kinkel, den Arzt aus dem Klinikum, dachte, ging es ihm gleich wieder besser. Es gab nichts zu jammern, andere mussten mehr schaffen am Stück – und trugen dabei auch noch Verantwortung für Menschenleben. Sie saßen wieder einmal im Büro.

»Über vierundzwanzig Stunden, und noch kein echter Hinweis«, fasste Behütuns den Stand der Dinge zusammen.

»Na ja«, intervenierte P. A, »wir haben die Spieluhr. Rothlauf hat sie nicht gekannt, die anderen Spieluhren, die im Haus waren, aber schon. Ziemlich genau sogar. Also ist sie entweder neu – oder der Mörder hat sie mitgebracht. Und warum? Er will damit etwas sagen. Und wem? Rothlauf, oder?«

»Oder uns«, warf Dick ein. »Haben wir eigentlich schon den Text des Liedes?« Er war noch nicht gekommen. »Können wir aber auch selbst googeln.« Er hielt inne, dachte einen Moment nach. »Und was, wenn Rothlauf uns etwas vorspielt? Er hatte immerhin rund acht Minuten. Das heißt, er hatte, selbst wenn wir ihm noch eine Minute für das Aussteigen aus dem Taxi, den Weg zum Haus und das Aufsperren der Tür abziehen, immer noch sieben Minuten. Verdammt viel – und er hätte theoretisch ein Motiv: die fünfhunderttausend Euro aus der Lebensversicherung. Ohne Frau und Sohn wäre er frei, komplett frei, und ein gemachter Mann – vorausgesetzt, seine Frau stirbt auch noch. Anders gesagt: Es könnte auch sein, dass er das sauber und minutiös geplant hat. Wir müssen nur herausfinden, warum. Und das Messer finden.«

»Und die Handschuhe«, ergänzte Behütuns.

»Hat denn jemand Rothlauf durchsucht? Wenn er das Messer und die Handschuhe zum Beispiel einfach eingesteckt hat ...«

Behütuns nickte. »In die Innentasche der Jacke oder ins Hosenbein ... Nein, ich hab ihn nicht durchsucht, es gab ja auch keinen Anlass.«

P. A. war schon aufgestanden. »Dann sollten wir uns den Kerl schleunigst noch mal vorknöpfen. Vielleicht sogar vorläufig festnehmen. Die sieben Minuten muss er uns schon noch erklären.«

Behütuns nickte. »Dann aber auch die Klamotten einkassieren, die er gestern getragen hat. Schuhe, Hose, Jacke, Hemd und so, alles, wo etwas zu finden sein könnte.«

»Gleich?«

»So schnell wie möglich. Auf seinen Zustand können wir in dem Fall keine Rücksicht nehmen.«

P. A. nickte Dick zu, der erhob sich jetzt ebenfalls, und sie setzten sich in Bewegung. Mitten im Berufsverkehr.

Behütuns telefonierte mit dem Staatsanwalt, schilderte die Sach- und Verdachtslage und beantragte zur Sicherheit einen Hausdurchsuchungsbefehl. Sie würden das Haus komplett auf den Kopf stellen müssen.

Sandmann (eBook)

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