Читать книгу Das letzte Bier (eBook) - Tommie Goerz - Страница 7

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Ahmoll bringinern nu umm

»Ich bring ihn noch um. Eines Tages bring ich ihn noch um!«

Man muss sich das gesprochene Wort in dieser Geschichte in breitem, ja breitestem, so gemütlich klingendem – aber nur so klingendem! – Fränkisch vorstellen. Wie dickflüssiges Starkbier, etwa ein undurchsichtiger dunkler Urbock. Nur so entspricht es dem Tempo und der Wirklichkeit. Also ungefähr so:

»Ihch bringnern umm. Ahmoll bringinern nu umm!«

Nur noch langsamer.

Aber so kann man nicht schreiben – beziehungsweise: Klar, als Autor könnte ich natürlich so schreiben, aber kein Mensch könnte oder wollte das dann lesen, denn er bräuchte dafür zu lange und es passte nicht in sein Zeitbudget. Oder es strengte ihn zu sehr an, er müsste sich zu sehr konzentrieren – und dann legte er die Geschichte weg. Auch wenn er es vielleicht bereuen würde, aber das weiß er ja zu Anfang nicht. Deswegen geht es jetzt hier schön gesittet auf Hochdeutsch weiter und zu, aber damit leider auch viel zu schnell. Auf Fränkisch ginge in der Geschichte alles seeehhr viiiel langsamer. Laangsaaamer.

Sei’s drum.

Mörtel genoss schon seit hundert Jahren bei der Mari in der Wirtsstube hinten im Eck im schönen Halbdunkel seinen Ruhestand vor sich hin, dienstags bis sonntags, weil montags war Ruhetag, da wurde geschlachtet und die Herrschaft hatte für Gäste keine Zeit, sie musste wursten und Fleisch klein schneiden für Schnitzel für die Woche und so. An allen anderen Tagen aber saß Mörtel dort und genoss mit einer an ein Naturgesetz mahnenden Regelmäßig- und Verlässlichkeit von früh um zehn bis abends um fünf, manchmal auch sechs Uhr nahezu bewegungslos seine sechs, sieben Seidla; das ist jetzt kein Dialekt, sondern die heißen so und wären mit »Seidel« nicht richtig übersetzt. Denn »Seidla«, das sind die alten, dünnwandigen, hohen und henkellosen Einhalbliter-Biergläser, und ein Seidla ist immer das Glas mit Bier, während ein Seidel nur eine Maßeinheit und damit nichts wert ist. Und am Abend ging er wieder schräg über die Straße hinüber in das alte, etwas heruntergekommene Haus in sein Zimmer, um dort erst die Wand und später die Zimmerdecke mit ihren schwarzen Spinnfäden anzusehen, bis die Erinnerungen gingen und der Schlaf kam. Und die Erinnerungen kamen immer öfter, und das war nicht gut. Es waren keine guten Erinnerungen. Der Mörtel saß also so vor sich hin und schwieg, und in seinen Kopf, da konnte man nicht hineinsehen. Kein Mensch außer dem Mörtel wusste, was sich da tat.

Im Grunde war dies das Leben, das er selbst gewählt hatte. Und auch wenn er zutiefst überzeugt war, dass man keine Wahl hat, war er, unlogisch genug, trotzdem davon überzeugt, eine gute Wahl getroffen zu haben. Denn mit sechs, sieben Seidla am Tag wurde die Welt doch halbwegs schön und erträglich …

… solange diese kleine wichtigtuerische, nervige Stinkwanze mit ihrer grün gefärbten Haartolle nicht hier hereinkam und sich auch noch an seinen Tisch setzte …

In diesem Moment aber ging die Tür auf, knarzte, und? Die kleine wichtigtuerische, nervige Stinkwanze mit ­ihrer grün gefärbten Haartolle kam herein. Also wieder so ein versauter Tag – was umso schlimmer war, als sich die Anzahl seiner Tage nach hinten raus ohnehin immer weiter verringerte. Wahrscheinlich gestaltete sich die für ihn noch zu erwartende Restzahl auch schon recht übersichtlich, aber das konnte keiner wissen. Und das gehörte auch mit zum Spiel: dass man erstens nicht wusste, wie lange das noch so gehen würde, und dass man zweitens nicht wusste, was dann danach kam und wer. Also wen man dann vielleicht alles wiedersehen oder wiedertreffen würde. Das machte ihm schon manchmal Angst. So trank er hier unten auf der Erde, wo er sich halbwegs auskannte, seine Seidla, wusste bei keinem, ob es nun schon das letzte war, und auch nicht, ob er sich derer noch in größerer Zahl würde erfreuen können. Beim alten Wischer war das genauso gewesen damals. Jetzt aber kam erst einmal diese Grünlocke mit den hochstehenden Haaren herein und wollte ihm bestimmt wieder etwas vom Leben erzählen. Ihm! Der hatte noch nichts erlebt, als dass man ihm den Arsch abgewischt und das Essen hingestellt hatte, der wohnte doch noch bei seiner Mutter, der arbeitete ja nicht einmal etwas. Kein Wunder, bei diesem Aussehen. So wollte den doch keiner haben. Aber tönte hier groß herum vom Leben, wollte ihm etwas erzählen, der Grünschnabel. Seit Wochen schon kam dieses nervige Stück Spätpubertät hier herein, setzte sich zu ihm – an seinen Tisch! –, fragte nicht einmal, sondern tat das, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, schüttete sich innerhalb kürzester Zeit zwei, drei Bier in das Loch unter der Nase, war dann besoffen und dachte, klugscheißen zu müssen. Auf großen Mann zu machen. Und machte dazu auch noch immer an diesem kleinen Ding herum, mit dem die heute alle telefonierten, Musik hörten, ­fotografierten und was weiß Gott noch alles. Mörtel verstand das ja alles nicht, aber er brauchte es auch nicht zu verstehen, er hatte es beinahe fünfundsiebzig Jahre lang nicht gebraucht und würde es bis an sein Lebensende auch nicht mehr benötigen. Internet – er wusste gar nicht, was das war. Aber Erinnerungen – das wusste er, was das war. Und auch, dass die, obwohl sie schon längst vergessen gewesen waren und gut aufgeräumt schienen, so plötzlich wieder hervorkamen und einen quälten. Tagsüber ging das ja meistens, da hatte er das Bier und die Stube und die Mari. Aber nachts kamen die Erinnerungen wie die bösen Geister. Dann konnte er die nur ertragen, denn fliehen konnte er ja vor ihnen nicht. Sie würden ihn doch immer wieder einholen.

Zwei Tage war der jetzt nicht mehr da gewesen, und der alte Mörtel hatte schon gehofft, es werde wieder so wie früher und er könne in Ruhe vor sich hin sitzen und seine Seidla trinken, schön eins nach dem anderen, und hoffen, dass abends die Bilder nicht kamen, da ging die Türe auf und herein kam? Genau: die grün gefärbte Haartolle mit der Dummheit im Gesicht.

»Bangg« sei das, also Punk, und das sei englisch, hatte er einmal erzählt, als der Mörtel so dumm gewesen war, ihn danach zu fragen. Nach seinen grünen Haaren und warum die so hochstanden und was das sollte. Nur – dann hatte diese kleine Rotznase erzählt und erzählt und erzählt und gar nicht mehr aufgehört, und am Ende hatte der Mörtel abends um sechs neun Bier gehabt, zwei mehr als das Maximum sonst, anders hätte er das nicht ausgehalten. Und dieses Grünhaar hatte gemeint, jetzt wäre er sein Freund. Mörtel war danach völlig benommen und besoffen über die Straße geschwankt, dass es ihm selber peinlich war, und ein Auto hätte ihn fast überfahren. Auf jeden Fall hatten die Reifen gequietscht, der Fahrer hatte angehalten und geschimpft, und der hatte ja recht. Er hatte einfach nicht Obacht gegeben, nicht links und nicht rechts geschaut, wie man es schon den kleinen Kindern beibringt, sondern war, besoffen, wie er war, einfach so auf die Straße getorkelt, nein: geschlingert. Ein Wunder, dass er noch lebte, der hätte ihn auch sauber über den Haufen fahren können. Und das alles nur wegen dem »Bangg«. »Bangerd« hat man früher gesagt, das waren die, die der Esel im Galopp verloren hatte, die man »aus dem Tümpelteich gefischt« hatte und für die es keinen Vater gab. Weil der sich davongemacht oder die Frau es mit jedem irgendwie dings hatte und nicht sagen konnte, wer jetzt der Vater war. Das war ein Bangerd. Aber ein Bangg?

»Ihch bringnern umm. Ahmoll bringinern nu umm!«

Was dachte er denn da überhaupt für einen Unsinn, lauschte er seinen Gedanken nach: »Ahmoll bringinern nu umm!« Einmal bringe ich ihn noch um? Wie denn: noch einmal? Hatte er ihn denn schon einmal umgebracht? Auf Hochdeutsch wird die Sprache ungenau. Er sprach viel lieber in seiner.

Der Bangerd setzte sich tatsächlich wieder zu ihm! Dabei war doch das ganze Wirtshaus leer! Überall wäre Platz für den! Grüßte ihn wie einen alten Kumpel mit »Sernsn, Möddl, alles gloar?«, tippte sich dazu mit dem Zeigefinger obercool an die Stirn, obwohl der doch nie beim Militär gewesen war, schmiss seine Tasche auf die Bank in die Ecke, setzte sich ihm gegenüber und bestellte sich auch sofort ein Bier. Die Alten vom Verein Zufriedenheit, die schwarz-weiß gerahmt an der Wand oben hingen, schlugen entschuldigend die Augen nieder oder sahen einfach weg. »Mari, maggsdmerahns?«, rief er hinüber in die Küche, und »sei­soguhd« hinterher. Die Mari kam aus der Küche, wischte sich die Hände an ihrer Kittelschürze, zuckte entschuldigend und hilflos mit den Schultern, Mörtel bedeutend »Tut mir leid, ich kann ja auch nichts machen«, ließ dem Dennis, so hieß der Bangerd, sein Bier einlaufen und stellte es ihm hin. Wie kann denn einer Dennis heißen, dachte sich der Mörtel. Es heißt doch auch keiner Schifoan oder Fußballn. Dennis spielt man, aber so heißt man doch nicht. Waren denn dem seine Eltern auch schon so blöd? Die waren bestimmt aus der Neubausiedlung drüben Richtung Reuthers, die sie in den 1980ern gebaut hatten. Da waren lauter Neue hingezogen damals, die man nicht kannte.

Ach ja, seufzte er vor sich hin, die Mari, die hatte es gut! Die konnte sich einfach wieder in ihre Küche verziehen. Er aber, der Mörtel, konnte das nicht. Er musste hier sitzen und sich das Geschmarr dieses Jünglings anhören.

Und was den alles so interessierte. So politisch. Das ging den doch alles gar nichts an. Hatte zu allem eine Meinung und wusste alles besser als die, die dabei gewesen oder dafür verantwortlich waren. Und musste einem das dann auch alles erzählen, stundenlang und immer das Gleiche. Endlosschleife. Ein kleiner Scheißer war der, ein Grünschnabel, ein Dummschwätzer – aber ein großer Klugscheißer.

Nein, er war nicht alt geworden, um solche Probleme zu haben. Er war alt geworden, um keine Probleme mehr zu haben. Dafür hatte er ein Leben lang gearbeitet, sich krumm gemacht und schikanieren lassen, aber jetzt musste damit Schluss sein, ein für alle Mal – und dann kam so einer wie der.

Ob er ihm einfach eine reinhauen sollte? So ganz unvermittelt, einfach mit dem Handrücken über das Gesicht? Dass ihm die Lippe aufplatzte, es ihn vom Stuhl runterhaute und er endlich sein blödes Maul hielt? Nein, dann würden bloß die Gläser umfallen, wahrscheinlich auch zerbrechen, es gäbe Scherben und überall würde das Bier he­runtertropfen, und die Mari hätte nur unnötig zu tun. Mörtel schüttelte es innerlich, denn eine dieser Erinnerungen kam wieder hoch. Bilder von einem zertrümmerten Kopf, einer Eisenstange und Matsch überall, Blut und ein Röcheln, das einfach nicht aufhören wollte, und immer und immer wieder diese Finger, die sich bewegten … krampften … Neineg damit! Das mit dem Grünschnabel müsste er anders machen.

Manchmal schlief ja der Mörtel auch ein in der Gaststube, vor allem wenn der Ölofen so leise vor sich hin bullerte, und aus der Küche hinterm Tresen die Geräusche kamen, die die Mari beim Kochen machte. Mit den Töpfen, den Bestecken, dem Geschirr. Dann fiel dem Mörtel auf seinem Platz manchmal so langsam der Kopf nach vorn, und er döste wohlig ein. Hörte sich manchmal sogar selber zu beim leisen Schnarchen. Dann war es am schönsten. Dann erinnerte er sich dabei an seine Kindheit, da war das auch so gewesen: Am besten hatte er schlafen können, wenn Lärm war. Wenn seine Geschwister durch die Küche tobten, sich an den Haaren zogen oder sich zwickten und immer sehr viel Geschrei war. Einmal, das fiel ihm gerade ein, da waren seine Geschwister alle weg, in der Schule vielleicht oder auf dem Acker, das wusste er nicht, da hatte er auf der Schäslong in der Küche gelegen und wollte schlafen, aber es ging nicht. Da hatte er seine Mutter gebeten:

»Mama?«

»Joh Buh?«

»Konnsd villaichd aweng Lärm machn?«

»Wäisu Buh?«

»Dermiddi aischlohfm koh.«

Denn es war ihm zu leise gewesen zum Einschlafen. Eigentlich wusste er gar nicht, ob die Geschichte so stimmte, aber seine Mutter hatte sie immer so erzählt. Deshalb wusste er das auch nur. Bevor sein Vater wieder zurückgekommen war, also vor ʼ49. Da hatte an einem der ersten warmen Tage im Jahr plötzlich ein fremder Mann vor der Türe gestanden, ganz gruselig und nur noch Haut und Knochen, und hatte Einlass begehrt. Dies hier sei sein Haus, hatte er gesagt, und er, der kleine Mörtel, sei wohl der Sohn seiner Frau, aber nicht seiner, denn dazu sei er, der Mörtel, zu jung.

»Oder wie alt bist du?«

»Fünf.«

»Dann bist du doch von mir.«

Ab dem Tag hatte sich das Leben geändert daheim. In Russland sei er gewesen und jetzt zweihundert Kilometer gelaufen, alles zu Fuß, und jetzt habe er Hunger und Durst und wolle seine Frau. Besoffen hat der sich dann jeden Tag und herumgeschrien, den Mörtel geprügelt und die Mama, dass sie manchmal ein ganz blaues Gesicht hatte und kaum noch laufen konnte.

Scheiß Erinnerungen. Der Mörtel nahm einen Schluck Bier.

»Du wersd ner doh amoll nu schderm«, hatte die Mari einmal gesagt und dabei gelacht und hatte damit gemeint, dass er, weil er den ganzen Tag bei ihr herinnen saß, hier sicher auch einmal den Geist aufgeben würde.

Was »Du wersd ner doh amoll nu schderm« auf Hochdeutsch hieß? Wahrscheinlich so viel wie »Du wirst noch einmal hier drinnen sterben.« Was der gleiche Quatsch war wie »Ahmoll bringinern nu umm!« Denn wie sollte er hier drinnen noch einmal sterben? Da müsste er ja zuvor erst einmal woanders sterben, und nach allem, was er wusste, tat man das nur einmal. Hatte der in der Erinnerung ja auch. Nachdem er endlich zum Röcheln aufgehört hatte, war bei dem Ruhe gewesen. Dann hatte er ihn nur noch wegschaffen müssen.

Apropos Geist aufgeben. Wie der alte Wischer noch gelebt hat, hat der auch immer mit hier herinnen gesessen. Zu zweit waren sie dann hier am Tisch, Tag für Tag. Gesagt hatten sie nicht viel in dieser Zeit, es gab für sie ja auch nichts zu besprechen, sie mussten nichts tun. Nur ab und zu ein »Seidla« bestellen oder einmal hinaus auf den Ort. Affs Örddler. Brunzn. Es ist schwer, eine Geschichte auf Hochdeutsch zu erzählen, wenn sie im Dialekt stattfindet. Aber egal. Beim Geist war ich grad, dachte sich der Mörtel, und beim alten Wischer. Den hatte er dann einmal gefragt, einfach so, und weil es ihn auch interessierte und weil er selber immer so komische Sachen im Kopf hatte: »An was denkst du denn?« Er hatte also gefragt: »Wos dengsdner?« Da war er beim zweiten Seidla gewesen. Als er dann das fünfte schon halb getrunken hatte, spät am Nachmittag, hatte der Wischer auf einmal so geschnauft, auf seine Hände gesehen und dann gesagt:

»Vor dem Denken, da musst du dich in Acht nehmen. Denn solange du nicht denkst, hat alles seine Ordnung. Sobald du aber mit dem Denken anfängst, kommt alles durcheinander. Nein, ich denke mir nichts mehr.«

Hatte er natürlich nicht so gesagt, sondern so: »Dengne? Nah, vorm Dengne mussdi hühdn. Wall – solangsder niggs dengsd, schdümmd allers. Ohber wennsd erschdermoll dermihd ohfängsd, ner kummd allers durcherernander. Nah, ihch dengmer niggs mehr, des hobbi schon längsd affghöhrd.« Und dazwischen hatte er immer wieder lange Pausen gemacht und überlegt, wie es weitergeht.

Komisch, dachte sich der Mörtel irgendwann einmal, bei mir kommt nichts durcheinander, wenn ich denke. Bei mir kommt nur immer wieder etwas hoch. Bilder. Und das will ich nicht. Auch deshalb ist es besser, nichts zu denken.

Nur meistens kamen die Erinnerungen von selber, da konnte er gar nichts tun.

Ja, der Wischer ist ein kluger Kopf gewesen. Der hat nichts gesagt, was nicht notwendig war. Nicht so wie der hier mit den grünen Haaren, der Dennis. Das hat ihm der Mörtel dann auch abgeschaut: einfach nichts zu sagen. Schweigen war immer das Beste, »sei Maul haldn«, wie er es nannte. Das ging doch auch alles niemanden etwas an und war ja auch schon so lange her. ʼ59.

Aber er war ja beim Wischer gewesen, hatte an den gedacht. Der Wischer. Der ist dann eines Tages nicht mehr gekommen. Einfach so, drei Tage lang. Und als sie dann bei ihm nachgeschaut hatten, hatte er tot am Küchentisch gesessen, nur vornübergekippt und noch eine halb volle Bierflasche vor sich. Die hatte er nicht mehr austrinken können, so viel Zeit hatte ihm der Tod nicht mehr gelassen. Eigentlich schade darum. Der war eine schöne Leich gewesen, so ruhig und friedlich und ganz. Nicht so zertrümmert und entstellt wie der Vater. Nicht die Augen so grässlich aufgerissen, dass man den Blick nie vergessen konnte. Und kein bisschen blutig, überhaupt keine Sauerei. Und so fürchterlich und endlos geröchelt hat er auch nicht.

Aber an Ruhe, geschweige denn auf seiner Bank ein Nickerchen zu machen, war für den Mörtel heute nicht zu denken, der grünhaarige Zwerg laberte ihn voll. Punkt und Komma und vor allem Pausen hatte der nicht gelernt. Hatten sie bei ihm in der Schule ausgelassen. Eineinhalb Seidla später aber hielt es der Mörtel nicht mehr aus. Stand ­einfach auf und ging hinaus, denn die ersten zwei Seidla kamen schon wieder, und dazu musste er über den Hof auf den Ort, das Örtchen. Den abseits liegenden Ort, den Ab-Ort, hier sagte man Abbodd. Den hatten sie jetzt neu gemacht, jetzt hatte der Fliesen und einzelne Becken. »Urinal« nannte man die, hatte die Mari gesagt, und er hatte »Original« verstanden. Auf Hochdeutsch konnte man das gar nicht verstehen, aber zwischen »Uhrinohl« und »Orchinohl« war nicht so ein großer Unterschied, wenn man nicht mehr so gut hörte. Früher hatte es da nur eine Dachrinne gegeben an der Wand und ein Blech dahinter, noch früher nur eine Rinne am Boden und Ölfarbe an den Wänden. War auch gegangen. Aber was ging es ihn an. Jetzt roch es halt nicht mehr so.

Auf dem Rückweg kam er an der Mari vorbei, die mit verschränkten Armen in der offenen Küchentür stand. Da raunte er ihr zu:

»Ihch bringnern umm. Ahmoll bringinern nu umm!«

Aber die Mari lachte nur kurz auf und sagte:

»Schmarr ned. An Drehg dussd.« – Was hieß: »Schmarre nicht. Einen Dreck tust du«, womit sie sagte: »Ach, rede doch nicht so einen Unsinn. Nichts wirst du tun, gar nichts, vor allem wirst du ihn nicht umbringen, niemals.« Grund genug, ihn sofort umzubringen, allein aus Trotz.

Auch dafür gibt es den Dialekt: dass man nicht so viel reden muss. Weil man im Dialekt mit sehr viel weniger Worten sehr viel mehr sagen kann – und auch noch punktgenauer. »An Drehg dussd«, damit war alles gesagt.

Als der Mörtel zurück in die Gaststube kam und sich setzte, fing der Dennis sofort wieder an. Da rief der Mörtel die Mari und bestellte ihm ein Bier und einen Obstler dazu.

»Einen Doppelten.« Also »An dobbldn«.

Ich mach ihn hie, dachte er sich, und wenn dafür meine ganze Rente draufgeht. Ich werde den jetzt immer so besoffen machen, dass er sich nicht mehr kennt. Und dass er irgendwann nicht mehr herkommt und mir meine Ruhe lässt.

»Prost, Dennis.«

»Prost, Mörtel. Danke. Hast du wohl heute Geburtstag?«

Der Mörtel brummelte nur irgendetwas, hob dann sein Glas und trank. Das hatte er damals auch erst einmal: einen Schnaps getrunken, einen doppelten. Aus der Flasche im Buffet. Und die Mutter hatte auf dem Stuhl gesessen und sich nur den Mund zugehalten, hatte gar nichts gesagt. Hatte tagelang nichts gesagt, da hatte er den Alten schon längst in die alte Sickergrube geschleift und hinuntergeschoben und Erde drauf. Da hatten sie den Kanal erst ganz frisch, und die Sickergrube brauchte eh keiner mehr.

»Trink!«, forderte er den Dennis auf. Der trank.

»Ach Mari, lass uns doch gleich die Flasche da.«

Er goss dem Dennis ein.

»Trink!«

Der Mörtel trank, um zu vergessen, der Dennis sollte trinken, um nicht zu vergessen. Und der Dennis trank und sagte Danke. So ging das fünf-, sechsmal, er schenkte ihm immer wieder nach, sich nicht, dann trank der Dennis nicht mehr. Er lehnte ab, wischte sich über das Gesicht, stürzte hinaus und kotzte.

Schwankend kam er wieder herein.

»Komm, Dennis, setz dich her, wir trinken einen«, lud Mörtel ihn gleich wieder ein. Die Mari stand am Tresen in der Kittelschürze und grinste, wohl wissend, was geschehen würde. Der Dennis schüttelte den Kopf.

»Ich kann nicht mehr.«

»Doch, doch, das geht schon noch, du musst es nur probieren.«

So nahm der Dennis doch noch einen Schnaps. Natürlich einen doppelten. Und noch einen. Dann endlich wankte er hinaus, endgültig.

Dem Bürgermeister hatten sie dann erzählt, der Alte wäre fort. Vom Tisch aufgestanden und raus, das hatte er zuvor schon ein paar Mal gemacht und jetzt wieder. Mal schnell Zigaretten holen, so nannte man das damals. Sehr viele haben sich so aus dem Staub gemacht und das Leben, das sie nicht mehr ertrugen, aber auch sehr oft Frau und Kinder, hinter sich gelassen. Kaputte Seelen, gemetzelt und zerfetzt vom Krieg und dann zurückgekommen ins normale Leben. Typen, für die nichts mehr normal war und die sich selber nicht mehr aushielten. Nur früher war der Vater immer wieder gekommen, weil er etwas zum Saufen brauchte und auch »sein Weib«. Nur diesmal kam er nicht mehr zurück, kein Mensch hat ihn seither wieder gesehen. Nur dem Mörtel kam er in den letzten Wochen immer wieder ins Gedächtnis. Vor allem abends, wenn er im Bett lag und es langsam dunkel wurde und er an die Decke schaute, wo sich die schwarzen Staubfäden ganz langsam in der Luft bewegten. Dieser zermatschte Kopf, das Hirn, das Blut. Doch danach war es endlich wieder ruhig daheim, die Mutter und auch er wurden nicht mehr geprügelt, angeschrien und gequält.

»Vielleicht ist er ja in den Fluss«, sagte der Bürgermeister, der den Alten kannte und es gut fand, dass er weg war. Kein Mensch hatte je wieder ernsthaft nach ihm gefragt. Nur sein Kopf tauchte jetzt immer wieder auf, im Kopf vom Mörtel. Und das Geräusch, das die Stange damals gemacht hatte, dieses Knacken, Knirschen. Und dieser Geruch nach Metzgerei. Und auch das Röcheln, das so lang noch angedauert hat.

»Jetzt hast du’s ihm aber gezeigt«, lachte die Mari, »ich glaube, der kommt so schnell nicht wieder und lässt dich in Ruhe.«

»Das hoffe ich, sonst …«

»Ja, was sonst?«

»Dann bringin umm. Ahmoll bringinern nu umn. Irngdwann isamoll so weid!«

»An Drehg dussd«, lachte da die Mari nur und machte ihm ein Bier.

Dann saß der Mörtel wieder dort im Eck, sah vor sich hin und sagte nichts. Versuchte, ganz für sich zu sein und nichts zu denken.

Dabei half ihm das Bier.

Das letzte Bier (eBook)

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