Читать книгу Das letzte Bier (eBook) - Tommie Goerz - Страница 8

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Das Schweigen

Inspiriert von einer wahren Begebenheit.

Als die Glocken in dieser Nacht endlich schwiegen, kehrte wieder Frieden ein in Demuthshüll.

Pfarrer Sägenschmiet war fuchsteufelswild. Er kochte geradezu. Und in diesem Zustand sollte er jetzt eine Predigt halten? Das konnte nur schiefgehen. Er war die enge Wendeltreppe zur Kanzel hinaufgestiegen und blickte über seine Gemeinde, und seine Gemeinde blickte zu ihm auf. Nein, sie blickte nur hoch. Wenn sie doch nur einmal zu ihm aufblicken und seine Mahnungen nicht nur anhören, sondern erhören und beherzigen würde! Denen aber konnte man jahrelang ins Gewissen reden – nur um dann immer wieder festzustellen, dass da nichts war. Nicht die geringste Spur. Gewissen? Nein, nichts, nada. Nur Eigensinn, Eigennutz und abgrundtiefe Gefühllosigkeit, so kam ihm das manchmal vor. Kalkül und Egoismus, gepaart mit grenzenloser Durch- und Hintertriebenheit. Ein seltsamer Schlag Mensch war das hier in den engen Tälern der Fränkischen Schweiz. Zerklüftet wie die karstigen Felsen, auch ebenso bizarr, kalt wie die langen Winterabende und ungemütlich wie der eisige Wind, der über die Höhen pfiff – und dann manchmal doch so mild und lieblich wie der erste Frühlingstag. Er hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben.

Das Kirchengebäude war viel zu groß für den kleinen Ort. Trotzdem war es heute gut gefüllt. Verteilt über die harten Holzbänke saß unten das krumme Bauernvolk, jede Familie auf ihrem seit Generationen angestammten Platz, und drückte mit seinen schweren, dunklen Jacken das hölzerne Gestühl. Doch heute sahen sie nicht nur hoch, glotzten ihn nicht nur interesselos an, sondern sie sahen tatsächlich interessiert zu ihm auf. Sie waren verwundert. Denn von der Kanzel herunter hielt er nur äußerst selten seine Predigt, das tat er nur an den vier, fünf hohen Feiertagen. Heute aber war ein ganz normaler Sonntag im Kirchenjahr. Wa­rum also war der Pfarrer hinaufgestiegen? Diese Frage stand dem Volk unten deutlich ins Gesicht geschrieben. Und auch das konnte er aus ihren Gesichtern lesen: die Erwartung klarer Worte, die Erwartung einer Anklage, zumindest eines eindringlichen Ins-Gewissen-Redens – also tatsächlich einer Predigt. Und das hatten sie verdient nach allem, was vorgefallen war.

Trotzdem würde es sie kalt lassen. Sägenschmiet hatte für seine Schäfchen keine Hoffnung mehr. Seine Schafe. Seine bockigen, störrischen, dummen Schafe. Nein, so durfte er nicht denken!

Er stand auf der Kanzel und schnaufte. Dreiundzwanzig enge Stufen hatte der steile Aufgang hinauf, das brachte ihn außer Atem. Er musste sie immer mitzählen, damit er sich nicht vertat und nicht ins Leere trat bei der letzten Stufe, denn durch Bauch und Talar war der Blick zu Boden unmöglich, zumindest bei dem aufrechten Gang, den er sich, um Kraft und Autorität zu demonstrieren, vor seiner Gemeinde auferlegt hatte. Boden und Stufen könnte er nur sehen, wenn er sich vorbeugte, doch das kam nicht infrage, das sah nicht kraftvoll aus. Und nichts ist peinlicher, ja lächerlicher, und raubt dir auch noch den letzten Funken Autorität, als wenn du die letzte Stufe übersiehst und tollpatschig und mit den Armen rudernd in die Kanzel hineinstolperst oder wenn du, wie es ihm bei einem seiner ersten Gottesdienste passiert war, dich beim Hinuntergehen schon ganz unten wähnst, dann aber, denn es kam noch eine Stufe, ins Leere trittst, erst strauchelst, dann der Länge nach hinschlägst, die Bibel zu Boden poltert, das Skript deiner Predigt sich in Einzelblätter auflöst und in alle Richtungen segelt und du verdattert vor der Gemeinde liegst. Nicht einer war ihm damals zur Hilfe gekommen, hilflos waren sie alle gewesen und hatten ihn dümmlich wie die Unschuldslämmer aus ihren Bänken heraus angeglotzt. Immerhin hatte keiner gelacht, er hatte auch kein verdächtiges Glucksen gehört, nicht einmal ein unterdrücktes, und in dieser Situation war er weiß Gott hellwach gewesen! Ja, damals hatte er sich der Lächerlichkeit preisgegeben, so hatte er es empfunden. Ob die Gemeinde deshalb so distanziert zu ihm war? Es schien ihm, als habe er seither einen Makel.

Pfarrer Sägenschmiet stand auf der Kanzel und sah hinunter. Und er sah in Gesichter, die sprachen. Komm du uns nur!, sagten sie, jedes einzelne mit versteinertem Blick, sag’s uns! Du kannst uns eh erzählen, was du willst! Unsere Dinge hier regeln wir immer noch selber und so, wie wir es für richtig halten, da kannst du uns mit deinem christlichen Nächstenliebegerede gestohlen bleiben! Du bist keiner von uns und wirst nie einer von uns werden. Ihre Blicke waren wie Gitterstäbe, ging es ihm durch den Kopf. Sie sperrten ihn aus.

Wie immer, wenn das Kirchlein so voll war, roch es nach allen möglichen Körperflüssigkeiten und nach Stall.

Über was hatte er eigentlich reden wollen heute? Was hatte er vorbereitet gestern, als er noch keine Ahnung hatte, was in dieser unsäglichen Nacht geschehen würde? Lustlos hatte er eine ganz normale, wie immer nutzlose Predigt geschrieben, die an den tumben Hirnresten dort unten vorbeirauschen und ungehört verhallen würde wie alles, was er in den letzten zwanzig Jahren gesagt hatte. Warum tat er das eigentlich alles? Für wen? Und warum gingen die, die dort unten saßen, überhaupt in die Kirche? Warum kamen sie hierher? Weil sie sich quälen wollten auf dem harten Gestühl? Weil sie eine Predigt hören wollten? Weil sie Gedanken hören und sich Gedanken machen wollten? Gar beten wollten, einmal innehalten und zur Besinnung kommen? Hirnloser Quatsch. Nein, die kamen nur in die Kirche, weil es dazugehörte. Weil es schon immer so war. Weil man nach der Kirche auf dem Vorplatz zusammenstand und über alles Wichtige redete. Weil man vor den vier Bier beim Frühschoppen im Steiner drüben in die Kirche ging, genauso wie man vor dem Sonntagsbraten daheim zum Steiner zu seinen vier Bieren ging. Kirche musste sein, das gehörte zum geregelten Sonntagsablauf. War keine Kirche, fiel der Tag auseinander und geriet aus den Fugen, und das durfte nicht sein, ja, so war das. Kirche ja – aber Gottesdienst? Nein, das eine hatte mit dem anderen nichts zu tun. Man diente nur sich allein, keinem Gott. Man kam mit seinem Leben auch allein zurecht, da brauchte man keinen, der sich einmischte.

Pfarrer Sägenschmiet stand auf der Kanzel und schwieg. Sein Blick wanderte von einem zum anderen. Verschlagene Gesichter, rot geäderte Backen, kartoffelknollige Nasen, aufstehende Haarwirbel auf strubbeligen Köpfen, geknechtete Frauen mit nieder­geschlagenem – züchtigem? Nein: gezüchtetem, von Züchtigungen geprägtem – Blick und herrischer Stolz bei den Männern, bucklige, inzüchtige Gestalten, wohin er auch sah. Schwielige Hände, oft auf Stöcke gestützt. Über was hatte er reden wollen? Aus dem Brief des Paulus an die Römer hatte er heute eigentlich lesen und predigen wollen. Aus Kapitel 15, wo es hieß:

Wir aber, die wir stark sind, sollen der Schwachen Gebrechlichkeit tragen und nicht Gefallen an uns selber haben.


Das wollte er lesen? Dazu wollte er etwas sagen? Nein, heute musste er sich etwas anderes einfallen lassen. So gut die Stelle auch für heute gepasst hätte: Denen brauchte er nicht mehr ins Gewissen zu reden. Nächstenliebe? Mensch­lichkeit? Mitgefühl? Anderen helfen? Alles für die Katz.

Pfarrer Sägenschmiet stand auf der Kanzel und kochte innerlich. Sein Blick wanderte von einem zum anderen. Dort unten saß der Weisel, ein Berg von einem Mann, von dem jeder wusste, dass – und wie – er seine Frau schlug und sie auch einsperrte, wenn ihm danach war. Der ihn von seinem Hof geschmissen hatte, brüllend und mit der Mistgabel in der Hand, als er ihn darauf angesprochen und zur Rede gestellt hatte.

Zwei Bänke weiter hinten saß der Mirschbergers Rudel, der gerade schamlos und vulgär in die Kirchenstille hinein ausgiebig hochzog, hervorwürgte und schluckte. Dessen Vater ihm, als er gerade ein paar Tage das Pfarrhaus bezogen hatte, gezeigt hatte, wie man mit Mäusen umging. Es hatte im Pfarrhaus gewimmelt vor Mäusen, und Sägenschmiet hatte mehrere Lebendfallen aufgestellt, die auch im Handumdrehen voll waren. Mit denen war er dann hinübergegangen in den Wald und hatte die kleinen Geschöpfe Gottes wieder ausgesetzt. Das hatte der alte Mirschberger von seinem Bulldog aus gesehen, nur mit dem Kopf geschüttelt und sich mit dem Finger an die Stirn geklopft. Als Sägenschmiet dann das nächste Mal die Fallen ausleeren wollte, war der Mirschberger gekommen und hatte sie ihm aus der Hand genommen. Hatte ihm mit einer Kopfbewegung wortlos zu verstehen gegeben, dass er mitkommen solle, war mit den Fallen hinüber zum Trinktrog der Kühe gegangen und hatte die Fallen eiskalt untergetaucht. Die Mäuse hatten nur kurz gestrampelt, ein paar Luftblasen abgesondert und waren dann tot. Sägenschmiet war entsetzt gewesen.

»So macht man das«, hatte der Mirschberger nur verächtlich ausgestoßen, so wie man ausspuckt, und war wieder gegangen. So achtlos ging man hier mit dem Leben, mit Gottes Schöpfung um. Und der junge Mirschberger, der Toni, der Sohn, der dort unten saß? War keinen Deut besser. Den alten Lugert hatte er damals einfach auf die Laderschaufel geworfen und hergefahren, als den auf dem Acker der Schlag getroffen hatte. Achtlos wie einen Kartoffelsack. Und die Mutter des Toni, die Frau des Rudel? Vegetierte daheim hinter geschlossenen Türen vor sich hin. Sie hatten sie eingesperrt und ließen auch keinen hinein. »Ins Gras beißen« solle sie endlich, hatte der Rudel einmal gesagt, »die ist doch zu nichts mehr gut. Frisst bloß und scheißt alles voll, weil sie nichts mehr halten kann.« Bis auf die Straße hinaus hörte man sie manchmal brüllen. Sie war hochgradig dement und hatte lebenslanges Wohnrecht und er auch die Pflegepflicht, so stand das im Übergabevertrag des Hofes. »Bei uns hat sich keiner einzumischen, und der geht’s nicht schlecht.«

Sägenschmiet stand auf der Kanzel und schwieg seine Gemeinde an. Sein Blick wanderte vom einen zum anderen. Da saß der Kranzlers Luggi, dessen Hof abgebrannt war vor etlichen Jahren. Blitzschlag hatte es geheißen, dabei war das Gewitter schon eine halbe Stunde vorbei gewesen, als sie die Flammen endlich bemerkten. Das ganze Dorf war gekommen zum Löschen und hatte geholfen, das Vieh aus dem Stall zu treiben, Rinder, Schweine und Ziegen, auch Sägenschmiet hatte mitgeholfen.

»Und wo sind die Alten?«, hatte der Pfarrer damals gegen das Prasseln des Feuers und das Brüllen der Tiere anschreiend gefragt, »sind die schon alle gerettet?«

Da hatte der Kranzlers Luggi nur mit dem Kopf geschüttelt und hinübergedeutet auf das brennende Haus. Das Vieh war ihm wichtiger gewesen als die Alten – und allen anderen auch. »Die hätte man eh nicht mehr retten können«, sagten sie unisono, »das Haus stand doch schon lichterloh in Flammen.« Von der Versicherungssumme hat sich der Kranzler einen nagelneuen Hof gebaut, denn versichert sind die Bauern immer gut und »etwas Besseres als ein Hofbrand kann dir gar nicht passieren« hatte Sägenschmiet Wochen später beim Frühschoppen drüben im Steiner gehört.

Ja, er hatte heute Nacht, so gegen zwei war das gewesen, ein Poltern gehört, ein aufheulendes Schleppergeräusch und auch so ein Krachen, er konnte nicht sagen, wie lang, aber es hatte sehr massiv geklungen. Wie aus dem Ort, aus dem Zentrum sogar, aber er hatte sich keine Gedanken gemacht. Warum auch? Wenn etwas wäre, würden schon die Sirenen losheulen, wie bei jedem größeren Ereignis, und dann würden sie alle als Freiwillige ausrücken zur Feuerwehr, egal ob bei Unfall oder Brand. Das machten sie alle und gern: bei den Katastrophen ganz vorne mit dabei zu sein. Erste Reihe. Aber die Sirene war nicht gegangen, außerdem war er schlaftrunken, müde und überhaupt. Kurz darauf war es wieder still gewesen, nur ein Bulldog war noch vorbeigefahren, auch ungewöhnlich in der Nacht, und kurz darauf noch ein zweiter. Und Männerstimmen hatte er noch gehört, fiel ihm ein. Männerlachen. Er hatte sich also keine Gedanken machen müssen, alles schien in Ordnung, und er konnte sich umdrehen und einfach weiterschlafen.

Sägenschmiet stand auf der Kanzel und schwieg. Zielte, schleuderte bitterböse Blicke hinunter wie Lanzen und spießte einen nach dem anderen auf. Frontal, mitten ins Gesicht. Aber die Kerle wichen nicht aus, die schüttelten sich nicht einmal. Sein Blick blieb am Freundels Gerch hängen. Der hatte auch so seine Geschichte. Jeder hatte hier seine Geschichte. Der Freundel hatte sich, das war noch vor seiner, Sägenschmiets, Zeit gewesen und das hatte ihm sein Vorgänger, der alte Redlingshöfer erzählt, in den 1960er-Jahren Acker für Acker und Wald für Wald die ganzen Ländereien der alten Witwe Wicklein gekauft. »Für n Appel und n Ei«, wie man so sagte. Keiner hatte gewusst, woher er das Geld gehabt hatte. »Geliehen«, habe er damals gesagt, »und einen Teil davon hab ich geerbt.« Ein Onkel aus der Stadt war tatsächlich auch zuvor gestorben, es hätte also durchaus so gewesen sein und gestimmt haben können. Nur war im Jahr zuvor der alte Wicklein auf dem Weg nach Hause nachts spurlos verschollen. Hatte auf dem Viehmarkt in Pottenstein zehn Kühe verkauft, einen guten Preis dafür ausgehandelt, anschließend im Wirtshaus ordentlich einen getrunken, so wie man das eben machte, das gute Geschäft begossen und war dann das enge Bärental hinaufgelaufen, wo er seinen Hof hatte. Dort aber war er nie angekommen – und nicht nur der Wicklein war weg gewesen, sondern mit ihm auch sein gesamtes Geld. Man hatte nie jemandem etwas nachweisen können, aber dass der Freundel, der nie etwas gehabt hatte, im Jahr darauf plötzlich Äcker kaufen konnte, darüber hatte man schon geredet.

»Im Himmel kommt alles auf den Tisch«, hatte Sägenschmiet einmal wie beiläufig bei einem Schlachtessen drüben beim Freundels Gerch fallen lassen, da hatte der nur sein Messer in den Holztisch gerammt, dass es vibrierte, sich einen Schnaps eingeschenkt, Sägenschmiet zugeprostet und getrunken. Mehr nicht. Für Sägenschmiet war das wie ein Beweis gewesen.

Sägenschmiet stand auf der Kanzel und schwieg. Demonstrativ und laut. Was sollte er machen? Jeder hatte hier seine Geschichte, und jeder hatte auch eine dunkle, rabenschwarze. Doch das jetzt? Er hätte seinen »Schäfchen« einiges zugetraut, das aber nicht. Er dachte an die armen Seelen, die ihr Leben riskiert hatten, um am Leben zu bleiben. Um ein Leben leben zu können, das man auch Leben nennen konnte. Die Hunger, Not, Ausbeutung, Ungerechtigkeit und Elend entflohen waren, um in der Fremde, in einem fremden Land, ihr Glück zu versuchen. Aber die Bauernköpfe da unten? Die Eingeborenen? Denen war die Sau im Stall wichtiger als ein Mensch.

Sein Blick wanderte weiter durch die nach Menschen und Stall stinkende Luft und blieb am nächsten hängen, dem Wagners Heinz vom Sägewerk hinten am Bach. »Ich weiß alles über euch«, sagte sein Blick, »und ich werde euch nichts mehr durchgehen lassen. Macht euch gefasst auf andere Zeiten!«

Sägenschmiet stand auf der Kanzel und schwieg. Er blitzte hinunter und sah, dass die Gemeinde verstand. Jeder Einzelne. Denn zumindest die Männer warfen sich verstohlen vereinzelte Blicke zu. Die Frauen nicht, die sahen nur zu Boden.

Am Wagners Heinz blieb sein Blick länger hängen. Ihn sah er besonders intensiv an. So, dass es auch alle merkten. Denn der Wagners Heinz hatte im Nachbarort ein Haus und darin seine zwei Töchter, beide inzüchtig und geistig zurück, aber ganz gut gebaut. Die ließ er nie aus dem Haus – aber die Männer alle hinein. »Mid am Sagg überm Gsichd …«, hatte er einmal einen Gesprächsfetzen aufgeschnappt, doch dann hatten die beiden geschwiegen, weil sie den Pfarrer bemerkt hatten. Für Sägenschmiet aber war seither die Sache klar. Jetzt würde er dagegen vorgehen. Die Männer des Ortes, jeder Einzelne, gingen oft hinüber zum Wagner. »Auf ein Bier«, sagten sie immer, so hieß das hier. Alle wussten davon und keiner.

Der Kranzler, der Mirschberger, der Freundel, der Wagner, der Weisel – sie alle waren heute Nacht dabei gewesen. Doch wenn man sie fragen würde, wüsste keiner etwas, garantiert. »Ich? War die ganze Nacht über im Bett«, würden sie sagen, »da können Sie meine Erna fragen, die kann Ihnen das bezeugen.« Oder »meine Lisa«, »meine Marga«, meine »Christa« und wie sie alle hießen. Und die würden das kopfnickend bestätigen. Mussten sie auch, denn sonst würde ihnen was blühen, nicht zu knapp. Die Frauen standen zu ihren Männern, das war schon immer so. Sie deckten sie und verteidigten sie und ließen nichts auf sie kommen. Aber Liebe war das nicht, eher Angst, und Angst macht ja auch gefügig.

Sägenschmiet stand auf der Kanzel und schwieg, jetzt schon minutenlang. Brüllte schweigend seine Gemeinde an, schoss den Männern seine Blicke in die Augen, nahm einen nach dem anderen ins Visier und feuerte dann, einzeln und sehr intensiv. Dolchte sie mit seinen Blicken. So geladen war er schon lange nicht mehr gewesen. Beinahe zehn Minuten dauerte das jetzt schon an. Erstes Hüsteln machte sich unten breit, unruhiges Rutschen auf den Bänken, vereinzeltes Tuscheln, Scharren mit den Füßen.

»Ruhe!«, brüllte Sägenschmiet in das Getuschel und schlug es entzwei. »Unterhalten könnt ihr euch nachher drüben beim Steiner bei eure vier Bier. Hier bestimme ich, und hier wird nicht gequasselt! Hier haltet ihr gefälligst das Maul!«

Ein Grummeln ging durch die Reihen, verebbte, dann war es wieder still. Sägenschmiet stand auf der Kanzel und schwieg.

»Und ihr kommt hierher zum Beten?«

Schweiß stand ihm auf der Stirn.

»Verlogenes Pack!« Seine Lust war riesengroß, sie zu beschimpfen, ja sogar sie zu bestrafen. Das war etwas völlig Neues, dachte er sich, vielleicht ist das ja der Ton, den sie brauchen.

»Wer war dabei?«

Die Gemeinde schwieg.

»Wer war dabei?«, wiederholte er seine Frage.

Die Gemeinde schwieg weiter.

»Kranzler?« Vielleicht musste er es so anpacken: den Leuten ins Gesicht. Der Kranzlers Luggi, ein Berg von einem Mann, räusperte sich, wurde rot.

»Raus!«

Der bewegte sich nicht.

»Raus, habe ich gesagt! Du beschmutzt Gottes Haus!«

Kranzler bewegte sich nicht, ein Raunen ging durch das Kirchlein.

»Scher dich zum Teufel!«

Sägenschmiet wischte sich über die Stirn.

»Mirschberger?«

Der drehte seine Mütze in der Hand, wurde klein.

»Drecksau!«, bellte ihn Pfarrer Sägenschmiet an.

»Freundel?«

Der Pfarrer wischte sich mit seinem Tuch über Stirn und Nacken, holte sich in die Wirklichkeit zurück. Wie gerne hätte er das genau so getan, doch er verscheuchte seinen Tagtraum, stand auf der Kanzel und sagte nichts. Schwieg seine Gemeinde in einer Lautstärke an, die sie noch nie gehört hatten. Und jeder wusste, warum.

Der Kranzler, der Mirschberger, der Freundel, der Wagner, der Weisel und all die anderen hatten heute Nacht ihre Bulldogs angeschmissen, diese beängstigend riesigen Maschinen, hatten die Laderschaufeln vorne festgemacht und waren zum alten Schulhaus gefahren und in es hinein, immer und immer wieder, zurück und vor und zurück und vor. Hatten die Wände eingerissen und es plattgemacht. Das Schulhaus hatte leer gestanden, mitten im Ort, jetzt stand es nicht mehr, aber keiner hatte etwas gesehen, natürlich nicht, wer ist schon nachts auf der Straße. Das muss ja alles sehr schnell gegangen sein, tat man gemäßigt verwundert. Und morgen, am Montag, sollten die Flüchtlinge kommen, drei Familien, aus Syrien, Äthiopien, Afghanistan, sonst wo. Menschen in Not, die vor Kriegen geflohen waren und jetzt ein Dach über dem Kopf brauchten und vor allem Zuspruch. Menschlichkeit. Unterstützung. Hilfe. Wärme. Liebe!

Aber jetzt war das Haus nicht mehr da. Kinder mit unschuldigen Augen – wo sollten diese Menschen jetzt hin?

Wir aber, die wir stark sind, sollen der Schwachen Gebrechlichkeit tragen und nicht Gefallen an uns selber haben.


Und dazu sollte er denen jetzt etwas sagen? Ihnen ins Gewissen reden? Nach so einer Nacht? So etwas passiert doch nicht einfach, so etwas plant man doch. Im Besitz seiner geistigen Kräfte. Aber Gewissen? Die hatten doch keins, der Nächste war denen doch wurst. Predigen? Niemals. Zum einen Ohr rein, zum anderen raus. Es machte keinen Sinn, mit diesen Menschen zu reden.

Sägenschmiet stand auf der Kanzel und schwieg. Seit fünfzehn Minuten jetzt schon. Er wusste aber auch nicht, was er noch sagen sollte. Er hatte keine Worte mehr, verstand diese Menschen nicht. Hasste, ja, verachtete sie. War ihm nicht zu helfen oder diesen?

Sägenschmiet sammelte seine Blätter mit der Predigt zusammen und stieg schweigend von der Kanzel. Zählte die Schritte, damit er unten nicht ins Leere trat und hinschlug. Dann wäre das Schweigen umsonst gewesen, das wusste er.

Er ließ die Glocken läuten, sprach leise ein Gebet, breitete seine Arme weit aus und segnete die Menschen.

»Gehet hin in Frieden«, log er sie an, aber in seinem Inneren sprach er etwas ganz anderes.

Dann schlug er das Kreuz, die Orgel spielte und er verschwand in der Sakristei. Heute trat er nicht vor die Kirche, heute gab er niemandem beim Hinausgehen die Hand.

Leicht betreten gingen die Menschen hinaus. So eine Predigt hatten sie noch nie gehört und waren auch ein wenig verunsichert. Aber nur für den Moment. Beim Steiner hernach und vier Bier bis zum Sonntagsbraten, auch bei Gelächter und dem üblichen Gerede, würde sich die Welt schon wieder richten.

Und das tat sie auch.

Pfarrer Sägenschmiet hatte die Glocken angeschaltet und ließ sie läuten und läuten und läuten. Über Mittag, über den Nachmittag, bis in den Abend hinein. »Er wird sie schon wieder ausschalten«, sagten die Leute, »spätestens dann, wenn es dunkel ist.« Was Sägenschmiet aber nicht tat.

Als es dunkel war, hätte man drei Gestalten sehen können, die sich dem Pfarrhaus näherten. Die aber niemand sah. Sie verschwanden darin und verließen es nach einer knappen halben Stunde wieder.

Die Glocken aber läuteten weiter.

Spät in der Nacht endlich brachen fünf beim Steiner drüben auf. Fast bis Mitternacht hatten sie gewartet. Als sie ins Pfarrhaus kamen, hing der Pfarrer schlaff vom mittleren Balken und rührte sich nicht.

»Deshalb läuten die Glocken noch«, sagte der Wagner vom Sägewerk, und die anderen nickten. »Hätten wir doch nur schon früher vorbeigeschaut.« Wozu die anderen wieder nickten. Der Mirschberger, der Weisel, der Kranzler, der Freundel. Sie schalteten die Glocken ab, knüpften den Sägenschmiet ab, legten ihn auf den Boden und gingen wieder hinüber zum Steiner, zum Bier. Dann riefen sie den Arzt und die Polizei.

Als die Glocken in dieser Nacht endlich schwiegen, kehrte wieder Frieden ein in Demuthshüll.

Das letzte Bier (eBook)

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