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Kapitel 4: Die Schrat
ОглавлениеTom trat mit Welf aus dem Zirkuswagen. Er hatte keine Ahnung, wie lange man normalerweise brauchte, um eine Bude oder ein Fahrgeschäft aufzubauen. Doch es sah so aus, als würden alle anderen Marktteilnehmer problemlos übermorgen eröffnen können.
Nur sie selbst hatten tatsächlich noch gar nichts geschafft. Immerhin stand der Zirkuswagen schon an der richtigen Stelle hinter dem klapprigen Truck mit Anhänger, in dem sich die gesamte Geisterbahn befand.
»Was müssen die denn jetzt so Geheimes vorbereiten?«, fragte er Welf neugierig, doch der Werwolf antwortete nur ausweichend: »Komm hier rüber, noch ein bisschen weiter weg von der Geisterbahn.«
Tom seufzte, folgte Welf hinaus auf den Platz und sah sich um. Auf dem Platz ging die Sonne gerade unter und tauchte alles in orangerotes Licht. Die alte, verlassene Kirche gegenüber warf lange Schatten quer über das abgewetzte Kopfsteinpflaster, und die knorrigen Bäume rundherum sahen aus, als würden sie sich sehnsuchtsvoll in die Dunkelheit strecken.
»Was für’n komischer Ort für einen lustigen Jahrmarkt«, murmelte Tom.
»Was für ein perfekter Ort für unsere Schreckensfahrt«, entgegnete Welf.
»Schrat.«
»Wie bitte?«
»Mimi hat erzählt, beim Zusammenpacken sind noch ein paar mehr Glühbirnen zu Bruch gegangen. Die Schreckensfahrt heißt jetzt nur noch Schrat.«
Welf schnaubte genervt. »Verdammt, diese alten Kohlefaden-Glühbirnen sind so schwer zu kriegen, empfindlich und auch noch sauteuer.«
»Warum nehmen wir denn nicht einfach moderne LED-Lampen? Die halten ewig und gehen fast nie kaputt«, fragte Tom verwundert.
Welf sah Tom an, als wäre der nicht ganz dicht. »Weil wir immer Kohlefaden-Lampen dafür verwendet haben.«
»Was ist denn das für ein Grund, der gar keiner ist?«, entgegnete Tom.
Der Werwolf musterte ihn seltsam. Hatte er wirklich nicht verstanden, was Tom meinte?
Tom runzelte die Stirn. »Also, wenn du jetzt gesagt hättest, dass diese speziellen Lampen sehr lange halten oder besonders hell sind, hätte ich das ja kapiert. Aber wenn’s nur drum geht, dass sie unsere Leuchtschrift da oben hell machen sollen, dann nehmen wir doch besser moderne LED-Birnen. Die halten ewig und kosten nur –«
Der Werwolf unterbrach ihn unwirsch. »Willst du uns jetzt erklären, wie wir die Schreckensfahrt instand zu halten haben? Wir verwenden diese Lampen seit über siebzig Jahren!«
Tom wich Welfs ärgerlichem Blick nicht aus. »Und die ganze Zeit über ist keiner auf die Idee gekommen, andere zu verwenden? Respekt.«
»Hier geht es um Tradition!«
»Ich dachte, hier geht’s um Glühbirnen.«
Welf schnaubte. »Du hast keine Ahnung.«
»Und keinen Cent in der Tasche, um aus der Schrat wieder die Schreckensfahrt zu machen, Welf. Vor allem dann nicht, wenn wir die Birnen dafür einzeln im Antiquitätenladen ersteigern müssen! Dieser Kasten hier ist alt, staubig, klapprig, und natürlich könnt ihr die Leute besser erschrecken als jede andere Geisterbahn auf der Welt! Aber dafür müssen die Leute erst mal hier reingehen und vorher Eintritt löhnen. Und das wird schwierig, wenn das Ding von außen aussieht wie ein Schrottplatz und man sich fragt, was einen wohl erwartet in der Schrat. Wir brauchen Monitore, die zeigen, was drin abgeht! Wir brauchen computergesteuerte Figuren auf der Balustrade, coole Sounds, coole Mucke und Lichteffekte hier draußen! Sonst kacken wir einfach nur ab, und dann sind wir noch mehr pleite, als wir eh schon sind!«
Der Werwolf wollte etwas erwidern, doch dann schwieg er. Tom wartete ab. Er wusste, dass er die besseren Argumente hatte, aber vielleicht hätte er sie doch weniger patzig vorbringen können.
»Du hast ja recht, Junge«, murmelte Welf plötzlich. »Modernisierung ist nicht gerade unsere Stärke. Mimi ist die Einzige von uns, die sich mit Smartphones, Computern und Internet auskennt, und das, obwohl sie nicht einmal selbst klicken kann. Wir anderen hätten gerne alles am liebsten so, wie es immer war.«
Für Welfs Verhältnisse war das eine ziemlich lange Rede gewesen und sehr persönlich noch dazu. Tom brauchte einen Moment, bis er die richtige Antwort gefunden hatte. Doch dann legte er seinem Bonus-Onkel die Hand auf die kräftige Schulter und sagte: »Lass uns aufbauen.«
Ein Lächeln umspielte Welfs schmale Lippen. Dann nickte er.
»Und wie fangen wir jetzt an?«, fragte Tom.
»Sobald es hier richtig stockfinster ist, legen wir los. Und wenn es hell wird, werden wir fertig sein«, sagte Welf.
In dem Moment gingen links und rechts von ihrem Standplatz flackernd zwei Straßenlaternen an und tauchten Zirkuswagen und Truck in helles Neonlicht. Fragend blickte Tom zu Welf. Der zog nur kurz die Augenbrauen hoch und stapfte los in Richtung der ersten Laterne. Dort angekommen, sah er sich kurz verstohlen um. Kaum war er sicher, dass niemand außer Tom zu ihm hersah, hatte er mit einem einzigen Ruck die Serviceabdeckung im Sockel abgerissen.
Krass, wie kann der eine verschraubte Metallplatte einfach so abrupfen?, fragte sich Tom.
Noch erstaunter war er, als Welf einfach in das Kabelgewirr fasste. Es blitzte und britzelte kurz, dann ging die Laterne aus. Nur Sekunden später erlosch auch das Licht der anderen Laternen links und rechts von ihrem Standplatz.
Tom zuckte zusammen, als der Werwolf urplötzlich wieder neben ihm stand. »Wie kannst du so verdammt schnell sein?«, staunte er. »Und was hast du verdammt noch mal für Fingernägel?«
Welf hob seine Hand, und Tom sah, wie sich die dicken, spitzen Nägel wieder in die Finger zurückzogen. Er schluckte. »Wie macht man denn da Maniküre? Mit einer Flex?«
Der Werwolf lachte heiser. »Nein, tatsächlich kann ich sie nur mit den eigenen Zähnen stutzen. Die sind noch härter.«
Tom grinste. »Cool, eine Ausrede zum Nägelkauen. Und jetzt?«
»Jetzt ist es dunkel genug, dass wir beide nicht alles alleine aufbauen müssen.«
Welf stieß einen lauten Pfiff aus, und kaum war der Ton verklungen, bemerkte Tom, dass sich in den Schatten rund um ihren Truck etwas bewegte. Die Ladeklappe öffnete sich, und für wenige Sekunden glaubte er, die Schemen des Vampirs zu erkennen, der ein paar seltsame Bewegungen mit den Händen vollführte.
Doch da schien die Luft zu flimmern, und alles war wieder wie vorher. Auch der Truck war plötzlich wieder verschlossen, und nichts rührte sich mehr. Tom wollte sich gerade an Welf wenden, doch der sah ihn geheimnisvoll an und grinste. »Bleib einfach hier stehen und zähl bis hundertvierundzwanzig. Wenn jemand kommt, ruf mich, okay?«
Tom nickte. »Okay. Aber …« Er stockte, als der Werwolf nach wenigen Schritten einfach verschwunden war. Wie konnte das sein? Welf war zwar schnell, aber nicht SO schnell. Verwundert starrte Tom in die Dunkelheit hinein. Aber dort war nichts zu sehen, was nicht die ganze Zeit zu sehen gewesen war. Der Zirkuswagen, der Truck und jede Menge Dunkelheit.
Mussten die jetzt nicht mal irgendwas ausladen? Und das Ausgeladene dann zusammenbauen und festschrauben und …
Na ja, er würde das bestimmt alles gleich erfahren. Tom zuckte mit den Schultern und begann, leise zu zählen.
Ein bisschen doof kam er sich schon vor, hier zählend in der Dunkelheit zu stehen und dabei auf einen Lastwagen zu starren, um den sich nichts – aber auch wirklich gar nichts – bewegte.
»Hundertachtzehn, was soll’s, hundertneunzehn, gleich weiß ich ja, hundertzwanzig, was sie sich dabei ged– AH!«
Der Werwolf war wie aus dem Nichts direkt vor ihm erschienen! »Oh Mann, Welf, musst du mich so erschrecken, ey!«
»Komm«, sagte Welf nur und winkte Tom zu sich heran.
Sein Onkel gab sich alle Mühe, es zu verbergen. Trotzdem bemerkte Tom, dass er es kaum erwarten konnte, ihm zu zeigen, was auch immer er ihm zeigen wollte.
Neugierig und auch ziemlich aufgeregt ging Tom ein paar Schritte auf seinen Onkel zu, doch plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen und staunte sich das Hirn aus dem Kopf.
Direkt vor ihm stand von einem Wimpernschlag zum nächsten die Geisterbahn – fertig aufgebaut und betriebsbereit!
»W… wie … aber … das …«, stotterte Tom und blinzelte in das Licht der unzähligen Glühbirnen an der Fassade.
Mimi war im Licht der vielen Lampen kaum zu erkennen, aber ihre Stimme erklang direkt neben ihm. »Hihi, cool, oder?«
»Obersupermegacool!«, brachte Tom hervor.
»Wenn du wissen willst, wie das geht, tritt mal ’nen halben Meter zurück«, forderte Mimi ihn auf.
Tom nickte und machte einen Schritt rückwärts. Urplötzlich stand er wieder im Dunkeln, und von der Geisterbahn war nichts mehr zu sehen. Einer Ahnung folgend ging er wieder ein Stück vorwärts, und da stand sie wieder, als wäre sie nie weg gewesen! Wie war das möglich?
Inzwischen hatten sich auch die anderen bei ihm eingefunden, und vor allem Vlarad war anzusehen, wie er den Moment genoss. »Na, was sagst du, Tom?«, fragte er neugierig und grinste so breit, dass seine spitzen Eckzähne im Schein der tausend Glühbirnen blitzten.
»Moment noch«, antwortete Tom. »Ich komm drauf.« Nun war sein Ehrgeiz geweckt, und er wollte unbedingt selbst herausfinden, wie seine untoten Freunde das angestellt hatten.
Tom probierte den verrückten Effekt noch ein paarmal aus und verringerte dabei jedes Mal die Größe seines Schritts. Schnell hatte er genau die Stelle gefunden, an der er nur den Kopf vor- und zurückbewegen musste, um die Schreckensfahrt erscheinen oder verschwinden zu lassen.
»Okay, ich glaub, ich hab’s«, sagte er schließlich. »Ihr habt einfach ein Foto vor die Kamera gepackt, stimmt’s?«
Der Vampir sah ihn fragend an, und Tom lachte. »Na ja, so erklär ich mir das zumindest. Ich hatte so was mal in einem Schleichspiel auf dem PC. Da musste man unerkannt in eine geheime Anlage, wo Ufos versteckt waren. Und damit die Überwachungskameras einen nicht entdecken, musste man Fotos machen von dem, was die Kameras sehen, und diese Fotos dann direkt vor der Linse befestigen. Und so ist das hier auch, oder? Als ich dich vorhin gesehen habe, hast du mit den Händen rumgefuchtelt und irgendwas rumgezaubert. Und plötzlich war die Ladeklappe von unserem Truck wieder zu. In Wirklichkeit hast du kurz vorher eine Art magisches Foto gemacht, das irgendwie drumrum … gedingst, und ihr habt hinter diesem Bild in Superspeed die Geisterbahn aufgebaut.«
Tom bewegte sich noch einmal zum Test vor und zurück. Wieder verschwand und erschien die Geisterbahn, als hätte jemand ein Fernsehprogramm umgeschaltet. »Ach ja …«, setzte er dann noch nach, »ist wohl eher ein Film als ein Foto, denn es bewegen sich die Blätter an den Bäumen und man hört die Autos vorne an der Straße vorbeifahren. Krass. Aber ich bin mir sicher, so muss es sein.«
Der Vampir nickte zufrieden. »Sehr schön erklärt, mein Junge. Wir mussten uns irgendetwas einfallen lassen, um auf- und abzubauen, ohne dass man uns dabei zusieht. Nicht nur, weil wir schneller sind als jeder Mensch, sondern auch, weil es für einiges Erstaunen sorgen könnte, wenn ein Zombie mit der einen Hand die Fassade einer Geisterbahn durch die Gegend trägt und mit der anderen einen rosa Stoffhasen. Irgendwann in der Nacht kundschaftet Mimi dann die gesamte Umgebung aus. Sobald wir sicher sind, dass niemand zusieht, entferne ich das magische Abbild, das uns umgibt – und dahinter erscheint die Schreckensfahrt.«
Tom lachte begeistert. »Um uns rum ist also echt ein schalldichtes 360-Grad-Video. Wahnsinn! Ihr seid einfach der Hammer, Leute! Echt, ey. Ey, echt!«
»Verbindlichsten Dank, Junge«, sprach Vlarad und verneigte sich leicht.
Da kam Mimi wieder angeschwebt, und Tom spürte ihre Präsenz eher, als dass er sie im Licht der vielen Lampen wirklich erkennen konnte. »Es ist aber noch zu früh, Vlarad. Vorne an der Hauptstraße fahren immer mal wieder Leute vorbei, und von den anderen Standbetreibern sind auch noch ein paar bei der Arbeit. Lass uns bis nach Mitternacht warten.«
»Eilt ja nicht«, brummte Welf und sah zu Vlarad.
Der nickte. »Du bestimmst den Zeitpunkt, Mimi. Vorsicht ist unsere wichtigste Tugend. Wombie, bitte setze doch so lange schon einmal die Wagen in die Schienen. Hop-Tep, bitte bemächtige dich der schnelltrocknenden Farbe und des Pinsels und bessere die Stellen in der Deko aus, wo man das Styropor durchscheinen sieht.«
Ohne eine weitere Regung zu zeigen, stapfte der Zombie davon. Hop-Tep brummelte immerhin etwas, das man wie eine Zustimmung deuten konnte, und machte sich ebenfalls an die Arbeit.
»Ihr seid so unfassbar krass«, sagte Tom noch einmal, und Mimi lachte ihr glockenhelles Lachen. »Schön, dass es dich so beeindruckt hat. Vlarad ist auch ganz schön stolz drauf.«
»Zu Recht, Mimi«, bekräftigte Tom. »Aber sag mal, kannst du mir nicht wenigstens ein bisschen mehr über diese Gefahr erzählen, in der wir angeblich alle schw…«
Tom hätte wirklich mit allem gerechnet, aber nicht mit dem, was nun geschah. Zunächst spürte er, dass die Erde wieder bebte. Doch dabei blieb es nicht.