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Weihnachten 1173 – Heinrich der Löwe

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Der Wind peitschte den Reitern scharf aus dem Osten entgegen, trieb die schwarzgrauen Schneewolken direkt auf sie zu und deckte die Männer bald mit der weißen Masse ein. Die Zweige der großen Tannen bogen sich bereits unter dem Gewicht des Schnees. Es war auch schon mehrfach passiert, dass sie ihre Last gerade in dem Augenblick abschüttelten, als einer der Reiter sich darunter befand.

Den Pferden wurde es immer beschwerlicher durch den dicken Schnee zu stapfen, und die Männer hatten selbst das Gefühl, sich in lebende Schneehaufen zu verwandeln.

Auf ihren Helmen bildete sich sogar eine kleine Eisschicht, die sich bis in ihre bärtigen Gesichter zog und bei jeder Bewegung eines Gesichtsmuskels aufbrach. Jetzt, auf der fast baumlosen Anhöhe, war es ein Sturm, der den Männern das Atmen erschwerte. Sie hatten ihre Umhänge fest um den Hals gebunden und trugen alle unter ihren Kettenhemden die mit Pferdehaar dick gepolsterten Gambesons. Ihre mit Fell gefütterten, unförmigen Handschuhe sowie die in gleicher Art gefertigten, halbhohen Stiefel wärmten zwar – aber trotzdem waren alle nach dem langen Ritt ausgekühlt und froren.

Ihr Anführer, ein breitschultriger Mann, um dessen Nasalhelm ein zusätzlicher Metallreif eine Krone andeutete, starrte in das dichte Schneetreiben. Die aus dem Tal heraufkriechende Dunkelheit würde ihnen das Weiterreiten zusätzlich erschweren.

Sattelzeug knarrte, der Atem stieg in kleinen Wolken von den Nüstern der Pferde auf.

Die anderen scharten sich um ihn, als er mit finsterem Blick zu dem alten Graubart hinüberblickte.

Der Waffenmeister musste seinem Herrn gar nicht ins Gesicht sehen. Die unwillige Bewegung, mit der dessen Kopf in seine Richtung flog, war selbst bei diesem Schneetreiben nicht zu übersehen.

„Wir sind auf dem rechten Weg, Herr! Ihr könnt mir vertrauen!“

„Das hoffe ich sehr für dich, Dietrich!“, kam die Antwort. Die Stimme Heinrichs klang eher wie ein gefährliches Knurren. „Ich hatte erwartet, die Geburt unseres Herrn am morgigen Abend mit meiner Frau feiern zu können. Stattdessen sieht es so aus, als würden wir eher in diesem elenden Schneesturm in die Irre reiten! Was für eine Idee, am Tag vor der Geburt unseres Herrn diesen langen Ritt auf sich zu nehmen! Wäre da nicht die dringende Aufforderung des Abtes gewesen, die Reliquie bei ihm abzuholen, weil er nicht für ihre Sicherheit bürgen konnte – ich wäre niemals losgeritten! Noch einmal werde ich auf die Träume des Abtes nichts geben!“

„Aber seine Ahnungen, dass die Reliquie in der Heiligen Nacht gestohlen wird, war doch berechtigt, oder? Schließlich konnten wir beim strengen Verhör einen der Laienbrüder seiner Strafe zuführen!“, antwortete der Waffenmeister.

Heinrich machte eine unwillige Handbewegung.

„Ja, natürlich, aber jetzt irren wir mit der Reliquie durch die Nacht und haben keine Aussicht, dieses verfluchte Schneetreiben zu verlassen!“

„Ich weiß, dass die Sicht durch die hereinbrechende Nacht nicht besser wird, Herr Heinrich. Und dennoch weiß ich auch, dass wir auf dem rechten Weg sind. Dort drüben stehen die drei gewaltigen Eichen dicht zusammen. Im Sommer bildet ihr Laubwerk ein Dach. Jetzt sehen sie aus wie drei gewaltige Krieger, die den Zugang zum Burgberg schützen wollen.“

Die Köpfe der Männer drehten sich in die Richtung, in die der Arm des Waffenmeisters wies.

„Dietrich hat recht, Herr! Diese drei Stämme sehen wirklich wie Wachen aus!“, antwortete einer von ihnen, und Heinrich trieb sein Pferd wortlos an. Die anderen wechselten leise ein paar Worte miteinander, die ihr Herr nicht vernehmen konnte, denn erneut packte die Reiter eine kräftige Sturmbö und wirbelte so viel Schnee auf, dass ihr Herzog gleich darauf wie hinter einer Wand verschwunden war.

„Können wir nicht Unterschlupf in der Ruine finden?“, rief einer der Männer dem Waffenmeister zu, aber der Wind riss ihm die Worte von den Lippen. Dietrich hatte ihn nicht verstanden, und der Kriegsknecht erhob seine Stimme und brüllte die Frage zu seinem Nachbarn hinüber.

„Da gibt es keinen Schutz, kein Dach mehr. Ein paar Mauerreste wohl noch, aber man hat die Burg vor gut einhundert Jahren vollkommen zerstört. König Heinrich IV. wollte das damals verhindern, aber die Bauern stürmten auf den Berg und zündeten den Palas an.“

„Trotzdem sollten wir dort Zuflucht suchen. Es ist alles besser, als hier durch den Schneesturm zu reiten!“

Die Antwort des Waffenmeisters wurde erneut durch das Sturmbrausen verweht, und nun mussten die Männer hintereinander reiten, weil der Pfad dicht mit Bäumen bestanden war. Der Waffenmeister machte sich Sorgen um seinen Herrn, denn Herzog Heinrich war nur ein Stück von ihm vorausgeritten, aber schon in dem dichten Schneetreiben nicht mehr zu erkennen.

„Herr Heinrich!“, rief der alte Ritter voller Sorge und mit sehr kräftiger Stimme. „So wartet doch, Herr! Der alte Pfad ist nicht ohne Gefahren!“

Der Herzog aber wollte nicht auf seine Begleiter warten. Er spürte schon seit längerer Zeit, wie die Kälte unangenehm von unten am ihm heraufkroch. Die Stiefel ließen es zu, dass er die Zehen bewegen konnte, aber er befürchtete schon, dass sie ihm erfrieren konnten.

Die Beinlinge waren zwar auch mit Fell ausgeschlagen, aber das lange Sitzen im Sattel kühlte die Reiter aus, trotz ihrer winterlichen Kleidung. Alle froren bereits erbärmlich, aber die Männer bissen die Zähne fest zusammen und trieben ihre Pferde immer weiter durch den tiefen Schnee an.

Dietrich, der alte Waffenmeister, wurde jetzt von einer seltsamen Unruhe gepackt.

Wo war sein Herr?

Noch einmal rief er nach ihm, aber der dicht um sie wirbelnde Schnee schien jedes Geräusch aufzufangen. Wäre nicht immer wieder eine heulende Sturmbö um ihre Köpfe getobt, hätten sie den Eindruck gewonnen, langsam im Schnee zu versinken, inmitten einer lautlosen Welt.

Heinrich trieb sein Pferd in blinder Wut und Verzweiflung an.

Zweimal war es schon ausgerutscht und sein Reiter war jetzt auf der Hut. Doch als er gerade zwischen zwei dicht zusammenstehenden Bäumen hindurchritt, ereilte ihn das Schicksal. Ein Ast schüttelte die Schneelast auf ihn herunter, und dadurch war Heinrich abgelenkt. Fast gleichzeitig geriet sein Pferd ins Rutschen, und während der Reiter noch vergeblich versuchte, sein Gesicht von den Schneemassen zu befreien, um sich zu orientieren, spürte er, wie sein Pferd mit ihm eine Schräge hinunterrutschte, auf der es kein Halten mehr gab. Der Herzog konnte sich auch nicht aus den Steigbügeln lösen, sie schienen zusammen mit dem Schnee an den Stiefeln festgefroren zu sein.

Mit zunehmender Geschwindigkeit rutschten die beiden immer tiefer den Abhang hinunter.

„Mein Gott, wie soll das enden!“, stieß Heinrich einen Stoßseufzer aus und griff unwillkürlich unter den Umhang an seinen Hals. Dort hing an einer Lederschnur die kleine Phiole mit dem kostbaren Inhalt, der Grund für den Ritt über die Harzberge.

„Herr, steh’ mir bei!“

Dann schien mit einem Schlag alles vorbei zu sein.

Pferd und Reiter prallten gegen ein schweres Hindernis und verschwanden gleich darauf unter einer gewaltigen Schneemenge, die auf sie herunterfiel. Für einen kurzen Moment geschah danach nichts mehr, doch dann arbeitete sich das Pferd schnaufend und stampfend unter dem Schnee hervor und versuchte, auf die Beine zu kommen. Mehrere Male rutschte es dabei immer wieder aus, bis es Halt fand und mit einem ängstlichen Wiehern von der Stelle floh, an der es seinen Reiter verloren hatte.

Als Heinrich wieder zu sich kam und erschrocken seine Augen aufriss, war nur fast undurchdringliche Schwärze um ihn. Aber er befand sich nicht mehr unter dem Schnee, sondern zwischen Mauern, so viel konnte er gegen den Sternenhimmel ausmachen. Der Schneesturm hatte aufgehört, und seitlich von seinem Aufenthaltsortes erkannte er das Glitzern des Abendsterns. Das war irgendwie ein beruhigender Anblick, wenn er auch sonst nur dicht beisammenstehende, schwarze Stämme erkannte. Mühsam erhob sich der Herzog, stützte sich an der Wand ab und versuchte, etwas von der unmittelbaren Umgebung zu unterscheiden.

Es war, seltsam genug, innerhalb dieser Mauern nicht mehr so kalt wie während des Rittes. Noch etwas erkannte er dankbar. Hier, wo er stand, gab es keinen Schnee. Aber die Dunkelheit, an die sich seine Augen längst gewöhnt hatten, ließ keine Orientierung zu. Die ertastete Wand diente ihm dazu, sich durch den Raum zu bewegen, bis er auf eine zweite Wand stieß. Sie schien im Winkel mit der anderen zu stehen und bildete vermutlich das Ende des Raumes.

Auch hier tastete sich Herzog Heinrich entlang und spürte dabei den heftigen Kopfschmerz, der ihn immer wieder überfiel und wie in Wellen verschwand. Doch jetzt hatte er Zuversicht gefasst, denn irgendwo musste es einen Ausweg aus diesem Haus geben. Kurz darauf stieß er auf die dritte Wand, die auf gleiche Weise abzweigte, und wurde unruhig.

Was, wenn er gleich darauf auf die vierte Wand traf und feststellen musste, dass es keine Tür, keinen Ausgang gab? Aber war so etwas überhaupt denkbar?

Natürlich, sagte er sich in seinem Zwiegespräch. Wenn ich nämlich von oben in einen gemauerten Schacht gefallen bin. Aber müsste dann nicht das Loch in der Decke erkennbar sein? Der Abendstern steht seitlich und sehr tief, dort ist die Sicht frei – nicht aber direkt über mir.

Jetzt wurde der Boden leicht abschüssig, und immer noch mit einer Hand die Wand abtastend, bewegte Heinrich sich vorsichtig vorwärts, dabei immer einen Fuß vor den anderen setzend.

Der Untergrund schien trocken zu sein, die noch immer nassen Sohlen seiner Stiefel fanden Halt, und beim Tasten mit den Füßen erkannte er, dass auf der Schräge immer einige Steine aus dem Untergrund hochstanden und dadurch beim Abwärtsgehen Halt gaben. Dann kam der Moment, an dem Herzog Heinrich erstarrte.

Ganz weit vor ihm in der ihn umgebenden Schwärze schien ein winziges Licht zu glimmen. Bevor er sich entschloss, darauf zuzugehen, spürte er, wie etwas an seinem Hals warm wurde. Rasch tastete er unter seinem Waffenrock am Rand des Kettenhemdes entlang und bekam die Lederschnur zu fassen.

Die Phiole! Sie fühlt sich plötzlich ganz warm an! Heinrich hielt das kleine Stück mit zwei Fingern fest und schickte ein Dankgebet zum Himmel. Schließlich ging er langsam, immer noch vorsichtig mit dem Fuß den Untergrund prüfend, weiter. Das winzige Licht wurde größer und größer und zudem wurde die Luft um ihn wärmer.

Brennt denn dort in der Tiefe ein Feuer?

Plötzlich durchzuckte ihn ein Gedanke, der ihn sofort an die Stelle bannte.

Was nun, wenn ich bei dem Absturz getötet wurde und ich mich jetzt ... auf das Tor der Hölle zubewege? Man sagt doch, dass der Leibhaftige die Sünder mit dem Höllenfeuer empfängt, und wenn ich aufrichtig bin ... ein großer Sünder war ich mein ganzes Leben lang! Aber Herr – ich habe dir zu Ehren gerade eine Pilgerfahrt ins Heilige Land gemacht. Und zu deinen Ehren wurde auf meinen Befehl in Braunschweig mit dem Bau eines neuen Gotteshauses begonnen. Ich schwöre dir, Herr, dass dieser Bau deiner Lobpreisung würdig wird, und ich verspreche dir ...

Hier brach Heinrich seinen Gedankengang ab, denn eine neue Idee tauchte da plötzlich auf. Die Phiole!

Diese kostbare Reliquie würde ihn vor der Hölle bewahren!

Es war gar nicht denkbar, dass dieser kleine Behälter, den er in Jerusalem für eine unglaubliche Menge Silber gekauft hatte, ihn auf dem Weg in die Hölle begleiten würde.

Heinrich richtete sich stolz auf und wusste, dass er durch die Hand Gottes geschützt wurde. Schließlich enthielt die Phiole einen Blutstropfen dessen Sohnes Jesus Christus. Bei diesem Gedanken fasste er neuen Mut und beeilte sich, den schier endlosen, gemauerten Gang zu durchqueren.

Irgendwann musste er doch ein Ende haben!

Als er spürte, dass die Neigung des Ganges aufhörte und der Boden nun in vollkommen ebener Richtung lag, blieb Heinrich erneut stehen und sah verwirrt auf das Licht, das nun wieder kleiner wurde, als wäre ihre Nährquelle dabei, zu verlöschen.

Das darf nicht sein! Brenn weiter, führe mich aus dieser Dunkelheit!, bat Heinrich im Stillen, aber das Licht verkleinerte sich erneut zu dem winzigen Punkt, der ihn bis hierher geführt hatte. Schließlich umgab ihn wieder völlige Finsternis, und mit ausgestreckten Händen ging er langsam weiter, bis er an ein neues Hindernis stieß. Diesmal ertasteten seine Finger kein Mauerwerk, sondern massives Holz.

Verzweifelt griff er daran in alle Richtungen, bis er eine Verriegelung ertastete, die er jedoch von seiner Seite nicht lösen konnte.

Aber es kann doch nur eine Tür sein! Wohin führt sie mich, wenn ich sie aufbekomme?

Heinrich konzentrierte sich auf das metallene Viereck, tastete es sorgfältig ab und bekam allmählich eine klare Vorstellung von dieser Verriegelung. Erneut keimte in ihm Hoffnung auf, denn er hatte noch immer sein Schwert am Gürtel und würde damit den Schlosskasten lockern oder sogar aus dem Holz brechen können.

Rasch zog er es aus der Scheide, und während er mit der rechten Hand den Kasten erneut abtastete, zwängte er die Klinge seitlich in das Holz und versuchte, hinter die Vorrichtung zu gelangen. Doch diese Bemühungen waren vergeblich, er musste versuchen, die Spitze des Schwertes zunächst in das harte Holz zu treiben und damit eine Vertiefung hinter dem Eisenkasten zu schaffen. Erst dann würde er sein Schwert als Hebel einsetzen können.

Fieberhaft arbeitete Heinrich in der Dunkelheit und spürte, wie ihm dabei der Schweiß den Nacken hinunterlief, doch das konnte ihn nicht weiter stören. Hier unten war es erstaunlich warm, und je mehr er sich bemühte, die Schwertspitze in das Holz zu treiben, desto wärmer wurde ihm zumute.

Plötzlich hielt er in seiner Arbeit inne und lauschte.

Da war ein Geräusch auf der anderen Seite der Tür, und Heinrich drückte seinen Kopf dicht an das Holz. Ein leises Schaben war zu vernehmen, und nun hieb der Herzog mit der Faust heftig gegen das Holz und rief dabei, so laut er konnte. Als er innehielt, drang aus weiter Ferne ein Ton zu ihm, den er zunächst nicht einordnen konnte.

Dann aber hätte er laut aufjubeln können, denn der Ton wurde lauter und konnte nur von einem Horn stammen.

„Hierher!“, schrie er aus Leibeskräften. „Ich bin hinter der Tür!“

Erneut lauschte er und vernahm nun deutliche Schläge auf Metall.

Was auf der anderen Seite vor sich ging, konnte er nur ahnen.

Möglicherweise hatte ihn jemand gehört und schlug auf den Riegel ein, um die Tür zu öffnen. Doch leider war es gleich darauf wieder still, und Heinrich schlug noch einmal an die Tür und brüllte laut.

Sehr gedämpft vernahm er jetzt erneutes Klopfen und schrie noch einmal so laut, dass es im Gang hinter ihm zu dröhnen schien.

Endlich, die Erleichterung! Deutliches Kreischen schwerer Riegel auf der anderen Seite, etwas polterte auf den Boden.

Erneute Stille.

Jetzt folgte das Splittern von Holz, schwere Schläge gegen die mächtige Tür, und endlich fielen die ersten Lichtstrahlen zu ihm herein.

„Weiter, lasst nicht nach, Freunde, gleich ist sie offen!“, rief er in seiner Begeisterung laut. Weiteres Holz splitterte und nun gab es einen handbreiten Bereich, durch den das flackernde Licht einer Öllampe in seinen dunklen Raum fiel.

Jetzt hatte man wohl diese alte Eichentür, die sich vollkommen verkeilt haben musste, freigeschlagen, und mit dem Aufziehen der Tür strömte frische, aber auch kühle Luft zu ihm herein. Das Licht von verschiedenen Fackeln blendete Heinrich, und als er ein paar Schritte nach vorn durch die offene Tür machte, musste er sich die Hand vor die Augen halten.

„Herr Heinrich!“, rief eine Stimme laut. „Gütiger Herr im Himmel! Wie ist das möglich?“

„Bist du das, Ekbert?“, erkundigte sich Heinrich, der sich nicht sicher war, ob im Hall des Ganges dort wirklich die Stimme seines treuen Ministerialen erklungen war.

„Ich bin es, Herr, ich bin es wirklich! Aber wie kommt Ihr in diesen alten, längst zugemauerten Gang?“

„Ich weiß es nicht, Ekbert, und es ist mir auch egal – du bist es, und das bedeutet, ich befinde mich nicht mehr in den verschneiten Bergen, sondern in meiner Burg!“

„Ja, Herr, aber – wie seht Ihr aus? Was habt Ihr alles durchgemacht?“

Verwundert sah Heinrich an sich hinab und staunte selbst über den Zustand seiner Bekleidung. Umhang und Helm hatte er schon nicht mehr gehabt, als er erwacht war. Aber sein Waffenrock war schmutzig, nass und zerrissen, die Schuhe mit dickem Schlamm verkrustet, und mit einem Mal fühlte er sich, als wäre er tagelang durch diesen seltsamen Gang gewandert.

Heinrich schwankte und musste sich an der Wand abstützen, aber schon waren seine Männer bei ihm, hakten ihn unter und begleiteten ihn durch den beleuchteten Gang hinauf in den Palas.

Die Tür zum großen Saal wurde geöffnet, und ein leiser Schrei drang an Heinrichs Ohr.

„Herr, erbarme dich!“, hatte eine Frauenstimme gerufen, und als Heinrich einen Schritt auf den Saal zumachte, erblickte er eine Frauengestalt, die auf der Schwelle zusammengesunken war.

„Mathilde, um des lieben Himmels willen, was machst du?“, rief Heinrich besorgt aus, und noch ehe es einer der Begleiter verhindern konnte, kniete er neben seiner jungen Frau auf dem Boden und drückte ihren Kopf an seine Brust. „Es ist alles gut, ich bin hier, bei dir!“

„Heinrich!“, flüsterte sie nur und hob das tränenüberströmte Gesicht ihm entgegen. Das Licht der Fackeln an den Wänden beleuchtete diese seltsame Szene. Ekbert, der den beiden gefolgt war und jetzt in der Bewegung erstarrte, räusperte sich dezent.

Aber die beiden Eheleute hatten keine Augen und Ohren für die anderen, die jetzt den großen Saal betraten. Mathilde bedeckte das Gesicht ihres Mannes mit zahlreichen Küssen, lachte und weinte zugleich und dankte immer wieder Gott für die wunderbare Errettung ihres Mannes.

Schließlich hatte sie sich so weit gefasst, dass sie die letzten Tränen fortwischte und sich aus der unbequemen Haltung erhob.

„Aber Heinrich, eines nur musst du mir verraten – wo bist du die ganze Zeit über gewesen?“

Zunächst verstand ihr Mann nicht, was sie meinte.

Verwundert schaute er von Mathilde zu Ekbert, und als hinter dem Ministerialen Bewegung entstand und ein graubärtiger Ritter vortrat, erkannte er seinen Waffenmeister.

„Herr – Ihr seid es wahrhaftig! Es ist ein Wunder, und das in der heutigen Nacht!“

Auch Dietrich beugte das Knie vor dem herzoglichen Paar, und Heinrich griff dankbar zu einem Becher, den ihm einer der Männer reichte. Er nahm einen kräftigen Schluck und ließ den Wein gleich darauf bis auf den letzten Tropfen in seinen Hals laufen, schloss genussvoll dabei die Augen und sagte dann mit heiserer Stimme:

„Was ist geschehen, Dietrich, und was meinst du mit der heutigen Nacht?“

Rasch schoben andere Ministeriale dem herzoglichen Paar bequeme Stühle zu, und als sie saßen, war es Mathilde, die Heinrichs Hand ergriff und mit leiser Stimme erklärte:

„Heute ist die Heilige Nacht, in der Christus, unser Herr, zu Bethlehem geboren wurde. Und der Herr hat mir dich in dieser Nacht zurückgegeben!“

„Aber das ist nicht möglich!“, rief der Herzog verwundert aus und blickte von Mathilde zu Ekbert und Dietrich, die ihn schweigend ansahen. „Sprecht doch, was heißt denn heute Heilige Nacht? Wir sind am Tag vor Christi Geburt, macht mich doch nicht irre! Wir wollten morgen in Braunschweig eintreffen, dann gerieten wir in einen wahren Schneesturm, ich rutschte mit meinem Pferd einen Abhang hinunter – und wurde ohnmächtig!“, erklärte Heinrich. „Aber das war am Tag vor Christi Geburt, ich weiß doch wohl noch, wann ich mit der Phiole aus dem Kloster aufgebrochen bin!“

Jetzt war es Dietrich, der vortrat und sich verneigte.

„Erlaubt mir, Herr, zu sprechen, wie wir Euer Verschwinden erlebt haben.“

„Natürlich, Dietrich, berichte, was in dem Schneesturm geschah!“

„Nun, Herr Heinrich – wir haben Euch aus den Augen verloren. Das Schneetreiben und die Dunkelheit nahmen uns die Sicht. Plötzlich war nichts mehr von Euch zu sehen. Wir haben Euch gesucht und gerufen, aber der Sturm hat unsere Stimmen verschluckt, der Schnee alle Spuren verwischt.“

„Ja, und weiter?“

„Wir haben dann weit nach Mitternacht notdürftig Schutz in der alten Königsburg gefunden, unter einer mächtigen Eiche, die über eine Mauer gestürzt war und einen halbwegs guten Schutz vor dem Sturm bot.“

„Gut, wahrscheinlich war das die Stelle, wo ich in den Gang gestürzt bin. Habt ihr das Loch denn nicht gefunden? Es kann doch unmöglich vom Schnee gefüllt worden sein!“, rief Heinrich aus.

„Herr – wir haben bei Tageslicht alles abgesucht. Da gab es keinen Gang, nur den Mauerrest und die umgestürzte Eiche. Erst, als wir aufgeben wollten, entdeckten wir eine Strecke von dem Unterschlupf entfernt Euer Pferd. Es war in einen Abgrund gestürzt und hat die Nacht nicht überlebt.“

Heinrich wurde sichtlich unruhiger, je mehr er erfuhr.

„Aber – dann muss ich mich dort in unmittelbarer Nähe befunden haben! Gab es da nicht auch Mauerwerk?“

Dietrich schüttelte heftig den Kopf.

„Nein, Herr Heinrich. Dort gab es nur den nackten Felsen, und als es gegen Mittag ging, haben wir beschlossen, nach Braunschweig zu reiten und mit ausgeruhten Männern und Seilen zurückzukehren, um den Abgrund nach ... Eurem Leichnam abzusuchen.“

„Nach meiner ... Leiche?“, rief Heinrich entrüstet aus.

„Verzeiht, Herr – aber was konnten wir anderes glauben? Auch Ihr müsst dort mit dem Pferd abgestürzt sein und vom Schnee bedeckt in der Nähe liegen. Etwas anderes war nicht erklärbar.“

Die um ihn Versammelten schwiegen, und es war schließlich Mathilde, die mit einem schweren Seufzer ihren Kopf an seine Schulter lehnte.

„Es war dann Ekbert, der unruhig wurde und schließlich darauf bestand, dass er einmal zu dem alten Gang gehen wollte, der als Fluchtweg früher zur Mühle führte. Du wirst dich erinnern, dass du selbst angeordnet hast, diesen Gang zu verschließen. Das war lange vor unserer Hochzeit, und du hattest mir nur davon erzählt, weil es diese alte Geschichte gab von dem treulosen Ritter des Widukind-Bundes, der dich verraten hatte.“

Bei diesen Worten verfinsterte sich Heinrichs Miene. Die alte Geschichte hatte er längst verdrängt, aber bei der Erwähnung des Ganges stand ihm alles wieder deutlich vor Augen.

„Und Ekbert habe ich es schließlich zu verdanken, dass er die aufgequollene und verzogene Tür aufschlagen ließ, weil er ... was, Ekbert? Wie bist du darauf gekommen?“

Der Ministeriale hatte die Worte seines Herzogs schweigend verfolgt und nickte jetzt nur dazu, bevor er antwortete: „Ja, Herr Heinrich, es war ein ... ein unbestimmtes Gefühl, als ob mir jemand ins Ohr flüsterte, dass ich den Gang öffnen sollte.“

„Ein ... Gefühl, Ekbert? Ich habe die Öffnung des Ganges einem Gefühl zu verdanken, nicht meinem Rufen und Lärmen?“

Ekbert zuckte mit den Schultern.

„So ist es wohl, Herr. Wir konnten Euch nicht hören, aber ... da war etwas anderes.“

Erneut schwieg der Gefolgsmann des Herzogs, und ungeduldig scharrte Heinrich mit den Füßen.

„Was war da, Ekbert? Du machst mich wild, wenn du nicht weitersprichst!“

„Da war etwas ... Seltsames, Herr Heinrich. In dem dunklen, unbeleuchteten Gang erblickte ich am Ende einen winzigen Lichtpunkt, der mich neugierig machte. Ich rief nach den Wachen, die dann mit ein paar Fackeln kamen und mir beim Aufbrechen der Tür halfen.“

„Und ... das Licht?“

„War verschwunden, als wir mit den Fackeln und den Äxten kamen!“, ergänzte Ekbert.

„Die Phiole!“, flüsterte Heinrich und griff an den Hals, zog die Lederschnur hervor und berührte die kleine Phiole.

Mathilde beugte sich zu ihm und betrachtete erstaunt den kleinen Gegenstand.

„Das ... das ist die Reliquie mit dem heiligen Blut ... unseres Herrn Jesu Christi?“, hauchte sie.

„Die ich aus dem Kloster holte, weil der Abt, dem ich sie überlassen hatte, sich weigerte, sie im Kloster zu zeigen. Er hatte Angst, dass eine solche Kostbarkeit gestohlen würde. Dann kam noch sein Traum dazu, der ihm zeigte, wie einer der Laienbrüder den Diebstahl ausführen wollte. Tatsächlich konnten wir den Mann finden und für seine ruchlose Tat bestrafen.“

„Dann verdankst du der Reliquie ...“, begann Mathilde, wurde aber gleich stürmisch von ihrem Mann unterbrochen.

„Weißt du, was das bedeutet, Mathilde?“

Heinrich war aufgesprungen, so erregt war er. Er lief ein paar Schritte auf und ab, während seine Frau ergänzte:

„Das bedeutet zumindest, dass der Herr dich mir zurückgegeben hat. Mehr will ich gar nicht wissen, Heinrich. Du bist in der Nacht vor seiner Geburt verunglückt und hattest eine Reliquie bei dir, in der sich ein Tropfen seines Blutes befand. Und sie hat dafür gesorgt, dass dir nichts geschehen konnte. Der Unfall, ja, der ist passiert. Aber dann wurdest du mir in der Nacht zurückgegeben, die wir die Heilige Nacht nennen.“

Bei diesen Worten verstummte das leise Gemurmel der Ministerialen im Hintergrund. Die Nachricht von der Rückkehr ihres verschollenen Herrn hatte alle in den großen Saal des Palas geführt.

Truchsess, Mundschenk, Kanzler, Marschall – sie alle waren zusammen mit ihren Frauen und den Knappen herbeigeeilt, um das Wunder seiner Rückkehr zu erleben.

„Heinrich, wir werden künftig die Heilige Nacht auf eine besondere Weise begehen!“, fuhr Mathilde fort und deutete mit der Hand auf die Phiole am Hals ihres Mannes.

„Ja“, antwortete Heinrich, „und ich weiß auch schon, auf welche Weise das geschehen wird. Mir ist ein Licht erschienen, das mich durch einen langen, dunklen Gang bis in meine eigene Burg sicher geleitet hat. Und Ekbert erschien das Licht, um mir die Tür zu öffnen. Das ist ein Zeichen, und daran werden wir künftig erinnern.“

Mathilde hatte sich erhoben und blickte ihrem Mann ins Gesicht.

Es war ein schöner Anblick – der große, breitschultrige Mann mit den langen, dunklen Haaren, die fast bis auf seine Schultern fielen. Hier und da konnte man selbst bei dieser Beleuchtung silbrige Fäden darin wie auch in seinem Bart erkennen. Aber ein Blick in das von Wind und Wetter gebräunte Gesicht des Herzogs zeigte seine Willenskraft, die das Alter noch längst nicht gebeugt hatte.

Und dazu die junge, fast kindliche Herzogin, Tochter der Königin von England, Eleonore von Aquitanien, Schwester Richard Löwenherz’, die seit fünf Jahren die Frau Heinrich des Löwen war. Vor einem Jahr war ihre Tochter Richenza geboren, und wer die jugendliche Herzogin aufmerksam betrachtete, konnte erkennen, dass sich ihr Leib wieder zu runden begann.

Heinrich schloss sie zärtlich in ihre Arme und sprach über ihren Kopf zu seinen Ministerialen:

„In jedem Jahr werden wir der Nacht, in der unser Herr und Heiland geboren wurde, mit vielen Lichtern gedenken. Ich möchte, dass wir den großen Saal des Palas mit vielen Öllämpchen beleuchten – nicht mit den alten, rußenden Kienfackeln, sondern mit den kleinen Öllichtern, die eine Erinnerung an das Wunder sein sollen, durch das ich aus der Finsternis, in die mich eine unbekannte Macht gestürzt hat, zurückgeführt wurde. Die Reliquie mit dem Blut des Erlösers hat mich errettet. Ich werde darüber nachdenken müssen, wie wir sie in Zukunft ehren und aufbewahren können. Vielleicht bauen wir einen eigenen Altar dafür in meiner neuen Kirche – wir werden sehen. Jetzt aber, meine Freunde, feiern wir diese besondere Nacht! Lasst uns fröhlich und dankbar sein, lasst uns trinken, essen und tanzen! Holt die Musici, meine Getreuen, spielt uns auf, und lasst die Köche unsere Öfen zum Glühen anheizen, damit wir ein vortreffliches Mitternachtsmahl zelebrieren können!“

Mathilde zog ihn fest an sich, und als er sich über sie beugte, um sie zu küssen, hauchte sie: „Niemals soll ein Mensch aus dem Geschlecht der Welfen diese Nacht vergessen, in der du, Geliebter, mir durch die Gnade des Herrn zurückgegeben wurdest!“

„So sei es, Mathilde. Und wir werden das aufschreiben lassen, damit es für unsere Nachkommen erhalten bleibt!“

Bei dieser Bemerkung strich er seiner Frau zärtlich über den Bauch, und im Jubel der Ministerialen wurden durch die Mägde und Knechte rasch zahlreiche kleine Öllämpchen herbeigeschafft, entzündet und auf der langen Tafel verteilt, bevor das Küchenpersonal nun die schnell zubereiteten Köstlichkeiten auftragen musste.

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ENDE

Nicht nur Weihnachtsfest und Gänsebraten - Weihnachten mit meinen Helden

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