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Weihnachten in Radebeul – 1902

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Das Dienstmädchen blickte den späten Besucher verwundert an. Im ersten Augenblick war sie buchstäblich zusammengezuckt, denn der Fremde hatte eine so große Ähnlichkeit mit ihrem Dienstherrn, dass sie annahm, er selbst hätte seinen Schlüssel vergessen und wäre noch einmal ausgegangen. Aber das konnte ja gar nicht sein, sie hatte ihm vor einer knappen halben Stunde eine Flasche Rheinwein in das Arbeitszimmer bringen müssen und dabei die strenge Anweisung erhalten, dass er keinerlei Störungen wünschte.

Das Mädchen kannte die Eigenschaften des Hausherrn zur Genüge und wusste, was das bedeutete. Sie war nun im dritten Jahr bei dem Herrn Doktor angestellt und glücklich über diese Arbeitsstelle. Hier gab es nicht viel für sie auszuhalten, zumal es in den letzten Monaten ruhig in der Villa geworden war. Besucher waren selten geworden, aber das kam dem Herrn nur gelegen, konnte er doch endlich ungestörter arbeiten.

„Der Herr möchte aber nicht gestört werden. Ich habe ausdrückliche Anweisung erhalten, niemand vorzulassen!“

Das schien den Besucher nicht sonderlich zu beeindrucken. Vielmehr machte er Anstalten, einzutreten, und als das Mädchen ausrief: „Aber ich bitte Sie – wen darf ich denn melden, wenn es so dringend ist?“, antwortete der Fremde nur lächelnd:

„Dr. Karl Winter aus Amerika, zuletzt Chicago. Ich werde mich beim Hausherrn selbst einführen. Und jetzt bitte, Fräulein, ich habe nicht vor, hier draußen Wurzeln zu schlagen.“

Er schob das noch immer zögernde Dienstmädchen kurzerhand mit einem freundlichen Lächeln beiseite und gab ihr seinen breitrandigen, schwarzen Hut in die Hand. Anschließend zog er den schweren, gefütterten Ledermantel aus und überreichte ihn ebenfalls. Die junge Frau schnappte sichtlich nach Luft und wollte protestieren, aber der Fremde machte nur eine nachlässige Handbewegung.

„Keine Sorge, ich bin mit dem Hausherrn sehr intim. Zudem kenne ich mich gut aus, hängen Sie einfach alles an die Garderobe und bringen Sie mir einen Kaffee und ein zweites Weinglas in das Arbeitszimmer.“

„Aber Herr, so geht das doch nicht – ich kann, weiß Gott, nun wirklich keinen Fremden ...“

Der Besucher trat dicht an sie heran, und mit großen Augen erkannte sie, dass der Mann sogar die gleiche Augenfarbe wie ihr Dienstherr hatte. Auch sein Bart war in gleicher Weise ausrasiert, wenn auch vielleicht eine Spur voller und noch nicht ganz so ergraut.

„Er hat doch bestimmt eine Weinflasche kommen lassen, nicht wahr? Um diese Zeit passt das ja auch, zumal am heutigen Tag. Aber den Kaffee schön stark, Miss, und ohne Milch und Zucker, verstanden?“

Damit drehte er sich auf dem Absatz um und ging zum Arbeitszimmer, wo er, ohne erst noch anzuklopfen, die Tür öffnete und mit einem fröhlichen: „Ich melde mich einmal selbst an!“ eintrat.

Das Dienstmädchen stand noch wie vom Donner gerührt und erwartete in jedem Augenblick, dass ihr Herr nach ihr klingelte – aber alles blieb ruhig. Schließlich zuckte sie die Schultern, hing den schweren Ledermantel auf, legte den Hut auf die Ablage und ging zur Köchin, um ihr von dem unglaublichen Vorfall zu berichten und zugleich den Kaffee zu bestellen.

Als der Fremde mit seinem fröhlichen Ausspruch in das Arbeitszimmer eintrat, sah der Herr des Hauses erstaunt auf. Vor ihm waren zahlreiche Papierbogen auf dem Schreibtisch verteilt, Tintenfass und metallene Federhalter in mehrfachen Ausführungen dazwischen.

„Das ist doch gar nicht möglich, Karl, dass du ausgerechnet zu Weihnachten mir die Freude deines Besuches machst!“, rief der Hausherr fröhlich aus, nahm seine Brille ab und erhob sich. „Komm an meine Brust, mein Bruderherz!“

Gleich darauf umarmten sich die beiden gleichgroßen Männer und klopften sich herzlich auf den Rücken. Wer sie in diesem Moment gesehen hätte, wäre vermutlich davon ausgegangen, dass er hier zwei fast gleichaltrige Geschwister vor sich hatte – wenn nicht sogar ein Zwillingspaar.

Die beiden drückten sich jetzt die Hände, und der Hausherr sagte dazu fröhlich: „Das ist also die berühmte Schmetterfaust, die mit einem einzigen Schlag jeden Gegner ins Reich der Träume versetzt!“

Der Besucher drückte noch einmal kräftig zu und antwortete:

„Und das ist die berühmte Hand, die diese Faust in so vielen Geschichten unsterblich machte! Ach, Charly, was gäbe ich darum, wenn ich deine Fantasie besäße!“

„Na, du bist gut – hast du mir nicht in so manchen langen Nächten deine Erlebnisse zu lebendig geschildert, als wäre ich dabei gewesen? Bist du es nicht, der immer neue Geschichten von den Lagerfeuern in mein bescheidenes Haus trägt und dafür sorgt, dass ich meine Leser damit erfreue?“

Der Besucher machte nur eine abwehrende Bewegung und schüttelte dazu den Kopf, während er sein Gegenüber musterte.

„Charly, Charly – wie lange ist es her, dass wir uns das letzte Mal so fröhlich begrüßt haben?“, fragte er dabei.

„Na, ein gutes Jahr, will ich wohl meinen!“, lachte der Hausherr. „Aber komm, setzt dich hierher, und ich werde dem Mädchen gleich sagen, dass sie ein zweites Glas bringen soll. Unser Wiedersehen muss natürlich gefeiert werden.“

„Schon geschehen!“, lachte der Besucher. Und wie zur Bestätigung klopfte es leise an der Tür zum Arbeitszimmer, und das Mädchen steckte vorsichtig seinen Kopf durch die nur einen Spalt geöffnete Tür.

„Nur keine Angst, unser Besucher beißt nicht! Ah, du hast einen Kaffee für ihn mitgebracht, das ist recht. Und wie mir meine Nase sagt, ist er gut und stark geraten. Da will ich gern ebenfalls genießen!“

„Habe schon die Kanne und eine Tasse auf dem Flur abgestellt, Herr Doktor!“, antwortete das Mädchen mit einem Knicks.

„Ach was, Doktor! Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich den Titel nicht mehr hören will. Schriftsteller bin ich und darf mir dazu einbilden: ein recht erfolgreicher. Das ist in den Augen meiner Leser wichtig, nichts weiter.“

Die beiden Männer schwiegen jetzt, als das Mädchen die zweite Tasse hereinholte und sie ebenfalls füllte.

„Noch besser wäre jetzt natürlich ein starker, arabischer Mocca – aber den werden wir uns nach dem Essen gönnen, nicht wahr, Karl? – Es ist gut, Veronika, Sie können uns jetzt getrost allein lassen. Ach ja – sagen Sie doch der Köchin, dass wir einen Gast haben! Er bleibt natürlich auch über Nacht!“

„Sehr wohl, Herr Doktor!“, antwortete das Mädchen scheu, wagte kaum einen Blick zu dem Fremden, den ihr Dienstherr mit dem gleichen Vornamen angesprochen hatte, den er ebenfalls führte – und war erleichtert, als sie die Tür wieder hinter sich zuziehen konnte.

Doch auf dem Flur blieb sie noch einen Moment stehen und lauschte.

Die beiden Männer schienen tatsächlich gute, alte Freunde zu sein, denn jetzt klang herzhaftes Lachen heraus.

Das Mädchen zuckte die Schultern und dachte für sich: Zweimal Karl, und sehen sich ähnlich wie zwei Hühnereier. Na, mir soll es egal sein. Ich werde die Köchin fragen, ob sie den Fremden kennt, denn in den beiden vergangenen Jahren war ich zu Weihnachten stets bei meinen alten Eltern und habe einen eventuellen Besuch nicht erleben können. Mal sehen, was mir die Friederike dazu erzählen kann!

Und während sie neugierig in die Küche eilte, um sich mit der Köchin auszutauschen, tranken die beiden Freunde im Arbeitszimmer ihren Kaffee aus und gingen anschließend dazu über, eine Zigarre anzuzünden.

„So, mein lieber Karl – oder sollte ich in seliger Erinnerung an gemeinsame Tage in Ernstthal wieder KaWe sagen?“, begann der Schriftsteller erneut die Unterhaltung, nachdem beide mächtige Rauchwolken an die Zimmerdecke geblasen hatten. Sie hatten sich damals auf diesen Namen geeinigt, die Buchstaben auch in Lautschrift geschrieben, denn KaWi für Karl-Wilhelm gefiel keinem von beiden.

„Wie du möchtest, wenn ich bei Charly bleiben darf!“, lachte der Besucher, und nun schenkte der Hausherr beide Gläser voll und reichte eines hinüber. „Karl Friedrich und Karl Wilhelm – da bot sich doch der KaWe für mich an!“

„Natürlich! Zweimal Karl aus Ernstthal – und wieder einmal ist es Weihnachten, und wir beide sitzen zusammen bei einem Glas Wein – fast wie damals, als wir noch Kegelbuben waren und uns die Leute nie auseinanderhalten konnten!“

„Was für eine herrliche Zeit – trotz allem!“

„Nur haben wir damals ein Glas Limonade brüderlich geteilt, und uns gar nicht vorstellen können, einmal ein Glas Wein oder auch nur Bier zu genießen!“

Die beiden äußerlich so ähnlichen Männer lachten fröhlich auf.

„Blutsbrüderschaft mit roter Limonade!“, bemerkte Charly und sah den Jugendfreund an. „Und was ist aus uns beiden geworden! Du der Weltreisende und Abenteurer, der ich immer sein wollte – und ich? Wenn diese unselige Geschichte mit der Taschenuhr nicht gewesen wäre, wer weiß, was ich dann noch ...“

Hier brach der Schriftsteller aber im Satz ab.

Beide wurden plötzlich ernst, ihre Gedanken schienen in die gemeinsam verbrachten Tage der Kindheit in Ernstthal zurückzugehen. Und gut gegangen war es damals keinem der beiden Karls, weder dem aus der Weberfamilie noch dem Sohn des Forstbeamten, dessen Vater viel zu früh bei einem Schusswechsel mit Wilderern starb. Die Folge für ihn war nach dem rasch folgenden Tod der Mutter dann das Waisenhaus, aber der Junge aus dem Forsthaus hatte nach dem sehr guten Schulabschluss seinen Weg gemacht, Medizin studiert, schon sehr jung seinen Doktortitel erworben und eine Anstellung bei der Berliner Charité erhalten. Aber im Klinikbetrieb merkte er rasch, dass er hier nicht seine Lebenserfüllung finden würde.

Dann erschienen mehrere interessante Bücher über die Auswanderung, und KaWe las sie alle, verfolgte auch die Berichte in der Lokalpresse, und als es schließlich um die Gelegenheit ging, zusammen mit einer Auswanderergruppe nach New York zu reisen, packte er kurzerhand zusammen und führte von dem Tag an über viele Jahre in Nordamerika ein sehr abenteuerliches Leben, später auch in der Südsee und sogar in den orientalischen Ländern. Dabei kam ihm neben seiner Fertigkeit im Reiten und Schießen sehr oft auch sein medizinisches Wissen zugute. Wo es ihm möglich war, half er auf seinen Reisen den Einheimischen oder Mitreisenden, zufälligen Bekanntschaften oder auch einmal für eine kurze Zeit in einem der Spitäler aus, wenn seine Reisekasse klamm geworden war.

„Aber weißt du, Charly“, unterbrach der Besucher die plötzlich eingetretene Stille, die beiden unangenehm wurde, „ich habe doch wieder meine alten Jagdplätze drüben am White River in Arkansas aufgesucht, war in Texas und schließlich – rate!“

Der so Angesprochene schaute überrascht auf und lächelte.

„Jetzt sag nicht, dass du bei den Mescaleros gewesen bist!“

„Doch!“, nickte der vergnügt, „ich war wieder einmal bei meinen einstigen Nachbarn und habe sogar meine Farm aufgesucht!“

„Nicht möglich – ich hatte geglaubt, dass du nach den dortigen Erlebnissen geschworen hattest, nie wieder dorthin zurückzukehren, weil die Erinnerungen einfach zu traurig waren!“

Als der Besucher nicht sofort antwortete, legte der Schriftsteller seine Hand auf die des Freundes, der ihn nachdenklich ansah.

„Doch, ich war einmal wieder in meiner alten Gegend. Und ja, ich habe es nicht bereut. Lange saß ich an ihrem Grab und habe Zwiesprache mit ihr gehalten. Danach ging es mir wirklich gut, es muss diese Unruhe gewesen sein, die mich dazu brachte, die lieben, alten Stätten wieder aufzusuchen, die du in deinen wundervollen Geschichten unsterblich gemacht hast.“

„Wie gern, wirklich – wie gern wäre ich dabei an deiner Seite gewesen, KaWe! Ich kann es mir lebhaft vorstellen, wie du auf deinem Mustang über die Ebene galoppierst – der prächtige Rappe mit seinem wilden Temperament, dem feurigen Blick und der guten, indianischen Schule, der auf Schenkeldruck reagiert und dir treu folgt, wohin du mit deinen Blutsbrüdern reitest!“

Jetzt lächelte der Besucher und schüttelte dabei den Kopf.

„Charly, Charly – da ist wieder der alte Fabulierer, der aus jeder Szene gleich einen ganzen Roman fertigt! Mustang ja – Rappe nein, diesmal war ich auf einem Pinto, einem Tigerschecken, der so gar nichts mit deinen beiden berühmten Rappen gemeinsam hatte. Ich musste das Tier, das mir als geschultes in Tucson verkauft wurde, noch einmal regelrecht zureiten, was meine Weiterreise um zwei Tage verschob. Aber dann sind wir gut zurechtgekommen.“

„Und ...“, fuhr Charly zögernd fort, „bist du auch ...“

„Am Grab beim Metsur River gewesen, möchtest du wissen? Ja, natürlich habe ich auch sein Grab aufgesucht. Es wird dich freuen, wenn ich dir berichte, dass auch die Ansiedlung der Bayern, der du den Namen Helldorf-Settlement gegeben hast, blüht und gedeiht. Mittlerweile ist es ein richtiges Städtchen geworden und zahlreiche Neusiedler aus Deutschland haben sich bei den Bayern in der Nachbarschaft angesiedelt.“

„Das freut mich für dich, KaWe, und ich hoffe, dass damit nicht wieder alte Wunden aufgerissen wurden. Erst bei ihrem Grab, dann bei dem ihres Bruders – das muss dich doch sehr aufgewühlt haben!“

Der Besucher antwortete nicht, sondern ließ seinen Blick stumm über die zahlreichen Gegenstände im Arbeitszimmer wandern. Überall hingen Gegenstände und ein paar aufgespannte Felle, die von den Reisen des Schriftstellers zeugen sollten. Neben dem Fenster stand der gewaltige, ausgestopfte Löwe, auf den KaWe jetzt deutete.

„Wir müssen einmal ausführlich über deine letzte Reise sprechen, Charly. Das kam bei meinem letzten Besuch viel zu kurz, und ich hatte den Eindruck, dass dich deine Orientreise irgendwie nicht – richtig befriedigt hatte. Jedenfalls stelle ich das auch in deinen Romanen fest, die mir freundlicherweise deine Frau immer gleich nach dem Erscheinen an die bekannte Adresse geliefert hat. – Apropos, wo ist deine Frau überhaupt? Sie wird doch nicht ausgerechnet zu Weihnachten verreist sein?“

Jetzt war es an dem Schriftsteller, tief aufzuseufzen. Er griff zur Weinflasche und schenkte ihnen den Rest daraus ein, hob sein Glas und stieß mit seinem Besucher an.

„Das ist leider ein ganz trauriges Kapitel, KaWe, über das ich nicht reden möchte. Nur so viel – wir werden uns trennen.“

„Was? Im Ernst? Das kann ich mir gar nicht vorstellen – du und Emma seid ein so schönes Paar, und ich glaubte, dass die Orientreise eurer Ehe gut bekommen würde!“

Charly schüttelte betrübt seinen Kopf, antwortete aber nicht direkt, sondern leerte sein Weinglas in einem Zug.

„Was war deine letzte Station, mein lieber Blutsbruder?“, erkundigte er sich gleich darauf wieder in erzwungen klingendem, heiteren Tonfall.

KaWe lachte fröhlich auf und klopfte auf seine Jackentasche.

„Das war Chicago, mein Freund, und von dort habe ich dir mein Weihnachtsgeschenk mitgebracht.“

„Weihnachtsgeschenk? Du bist verrückt, KaWe, seit wann schenken wir uns etwas?“, antwortete der Gastgeber, aber sein Besucher beugte sich mit geheimnisvoller Miene etwas vor und raunte:

„Diesmal schon, weil es darum geht, meinem besten Freund in der alten Heimat aus einer Verlegenheit zu helfen!“

„Verlegenheit? Was meinst du aber genau?“

Der Besucher lächelte.

„Nun, mein lieber Charly, du weißt, welchen Anteil ich an dir und deinem Leben nehme. Wir beide wurden früher oft für Zwillinge oder zumindest wirkliche Brüder gehalten. Und ohne Übertreibung, wurden wir in den vielen Jahren, die wir uns nun kennen, wirklich so etwas wie Zwillinge. Während ich mich in der Weltgeschichte herumtreibe und das eine oder andere kleine Abenteuer erlebe, über das ich dir schreibe, machst du aus mir eine Romanfigur, die in Amerika wie im Orient geradezu unbesieglich erscheint. Meine Henry machst du mit einem Federstrich zum Zaubergewehr, und während ich ...“

„Scht!“, unterbrach ihn lächelnd der Schriftsteller und legte bedeutsam den Finger auf die Lippen. Dann nickte er mit dem Kopf zur Tür hinüber. „Das Mädchen horcht bestimmt an der Tür und muss ja nicht gleich alles erfahren, auch wenn sie nun schon einige Jahre bei uns ist und nur von der Orientreise erfahren hat. Aber ja, dir kann ich nichts verheimlichen. Diese Reise hat mich verändert, KaWe, sehr verändert ...“

Er starrte hinüber zum Schrank, an dem die Silberbüchse lehnte, und erneut entfuhr seiner Brust ein tiefer Seufzer.

„Ich weiß, Charly, denn ich folge deinen literarischen Spuren ebenso wie du meinen Reisetritten. Du versuchst, die Menschheitsfrage zu erklären, die großen Fragen: Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? und in deinen Reiseromanen mithilfe deiner unsterblichen Helden zu klären. Das ist nicht, was ich an deinen Werken so schätze, aber ich akzeptiere durchaus, dass du dich mit fortschreitendem Alter auch literarisch veränderst – wie ja das Leben stets Veränderung ist. Ich habe vom Verlag den Silberlöwen 3 erhalten und die Veränderung deutlich bemerkt. Aber gut, Charly, wenn es den Lesern gefällt, so wird dir auch hier der Erfolg recht geben. Indes nutzte ich die beiden ersten Bände, die mir dein Verleger zuschickte, und berichtete darüber einem Herrn, den ich durch Zufall in meinem Hotel in Chicago kennenlernte.“

„Du machst mich neugierig, KaWe – du sitzt mit einem Amerikaner im Hotel und unterhältst dich mit ihm über meinen Roman Im Reiche des silbernen Löwen? Wie ist das zu verstehen?“

„Ganz einfach, Charly. Wir kamen ins Gespräch – der Herr stammte aus Leipzig, hatte dort studiert und war an die Deutsch-amerikanische Universität nach Chicago gegangen und hatte dort einen Lehrauftrag für deutsche Literatur. Er kannte deinen Namen und hatte sogar ein paar Werke von dir bereits gelesen – ich rannte also offene Türen bei ihm ein.“

Der Schriftsteller schien plötzlich, alles andere um sich zu vergessen.

Gebannt schaute er den Jugendfreund an, als der lächelnd fortfuhr:

„Kurz und gut, ich gab ihm meine beiden Bände, die ich im Reisegepäck führte, bevor ich zu einer kleinen Reise in die Umgebung aufbrach. Wir verabredeten, dass ich danach noch einmal bei ihm vorbeischauen würde – und das tat ich natürlich auch. Professor William Huwe – so nannte sich der gute Mann inzwischen amerikanisiert – schwärmte von der Lektüre und wollte von mir wissen, wie man in Deutschland einen so begnadeten Schriftsteller wohl zu Lebzeiten ehren würde.“

„Das wollte er von dir wissen? Und – was hast du ihm gesagt?“

„Nun – ich habe nichts von den begeisterten Besuchern in der Villa Shatterhand erzählt und auch nichts von deinen Vortragsreisen. Damit schien er nicht einverstanden zu sein, und ich erwähnte, dass man dir ehrenhalber in Frankreich den Doktortitel verliehen habe.“

„Frankreich!“, sagte der Schriftsteller mit einer seltsamen Stimme, auf die der Besucher jedoch nicht einging.

„Ja, wenn ich mich recht erinnere, stammt dein Ehrendoktor doch von der Universität Rouen – richtig?“

Charly nickte nur stumm, und sein Besucher fuhr in seiner fröhlichen, temperamentvollen Art fort: „Und jetzt bringe ich dir noch eine weitere Ehrendoktorwürde mit, verliehen von der Deutsch-amerikanischen Universität in Chicago!“

„Was sagst du da?“, rief der Schriftsteller und war so rasch aufgesprungen, dass sein Stuhl polternd umkippte.

Lächelnd hatte der Besucher den Umschlag aus der Innentasche seiner Jacke gezogen und überreichte ihn mit einer leichten Verbeugung dem Freund. „Hier bitte, mein Blutsbruder, und – fröhliche Weihnachten! Du sollst einmal sehen, wie diese Menschen, die dir Übles wollen – dieser Schmierfink Lebius und Hermann Cardauns oder wie sie heißen mögen – in staunendes Schweigen versinken, wenn sie davon erfahren!“

Der Schriftsteller hatte inzwischen die Urkunde entfaltet und überflogen.

„Eine amerikanische Universität! Freund, Blutsbruder, Karl – du hast mir eine unglaubliche Freude bereitet! Aber einmal im Ernst gesprochen ...“ Hier hielt der Gastgeber inne und schien noch einmal zur Tür zu sehen, bevor er fortfuhr: „Das wird doch sicher nicht ohne Geld möglich gewesen sein?“

„Charly, das soll dir aber vollkommen egal sein. Ich meine, du verdienst weit mehr als diese Auszeichnung, als die Ehrendoktorwürde für deinen Silbernen Löwen, und wenn ich ...“

Ein zögerliches Klopfen unterbrach ihn, und als der Hausherr ein unwilliges „Ja, bitte?“ hören ließ, erschien der Kopf des Dienstmädchens erneut.

„Herr Doktor, es ist aufgetragen!“, sagte sie zaghaft, und KaWe schlug dem Freund lachend auf die Schulter.

„Da hast du es, Charly, auch sie nennt noch immer den Titel, der dir nun wirklich zusteht. Komm, ich habe einen gewaltigen Hunger und könnte wohl einen ganzen Bären allein vertilgen, wenn ich mich nicht irre!“

*


Was für ein fantastischer Traum!, ging es ihm an diesem Morgen durch den Kopf. So lebendig, dass ich heute jeden Eid schwören möchte, dass sich alles so abgespielt hat, wie ich es noch immer vor Augen habe. Gut, dass ich das heute Morgen noch vor dem Frühstück und frisch aus dem Gedächtnis aufgeschrieben habe!

Der Schriftsteller hatte gerade die zweite Tasse Kaffee geleert und starrte sinnend an die Wand seines Arbeitszimmers, als das Mädchen schüchtern klopfte und sich erkundigte: „Noch eine Tasse, Herr Doktor?“

May schrak auf und schien mit seinen Gedanken ganz weit weg gewesen zu sein.

„Wie? Ja, natürlich, gern, ich kann heute gar nicht richtig wach werden.“

Das Mädchen schenkte ein und blieb dann neben dem Tisch stehen. May sah zu ihr auf und erkannte, dass sie noch etwas auf dem Herzen hatte.

„Da ist ein Hut an der Garderobe hängen geblieben, den ich vorher noch nicht bei Ihnen gesehen habe, Herr Doktor. So ein großer, schwarzer, mit breiter Krempe. Hatten Sie denn noch so spät Besuch? Ich habe es gar nicht läuten gehört!“

„Wie? Ein Hut – was für ein Hut?“

„Ich hole ihn!“, rief das Dienstmädchen, verschwand auf dem Flur und kehrte gleich darauf mit dem schwarzen Hut in der Hand zurück.

Verwundert drehte ihn der Schriftsteller hin und her, dann entdeckte er das etwas verblichene Schild im Inneren.

„John B. Stetson Company in Saint Joseph, Missouri“, las er und drehte ihn verwundert in der Hand. Er wies starke Spuren einer langen Nutzung auf und hatte die klassische Form eines sogenannten Campaign hat. Schließlich setzte er ihn sich auf und stellte fest, dass er für seinen Kopf zu klein war.

Kopfschüttelnd gab er ihn dem Mädchen zurück.

„Keine Ahnung, wem der gehört. Hängen Sie ihn einfach wieder an die Garderobe. Wer weiß, wie lange er da schon hängt, ohne dass wir ihn beachtet haben.“

Das Dienstmädchen wollte etwas erwidern, schwieg dann aber und ging mit dem Hut und der leeren Kaffeekanne aus dem Arbeitszimmer, in dem ihr Herr heute das Frühstück eingenommen hatte.

––––––––


ENDE

Nicht nur Weihnachtsfest und Gänsebraten - Weihnachten mit meinen Helden

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