Читать книгу Über der Teufelsschlucht: Schwert und Schild - Sir Morgan, der Löwenritter Band 53 - Tomos Forrest - Страница 5
Оглавление1. Kapitel
Es hatte ihn erneut erwischt.
Besonders ärgerte es Shawn, dass es diesem unangenehmen Burgvogt gelungen war, ihn und seine Freunde zu überwältigen, weil sie sich zu sicher gefühlt hatten. Wieder einmal. Und das schmerzte mehr als jeder Schlag ins Gesicht, als jeder abgewehrte Hieb mit einer Klinge, die ihm mit der Wucht eines Steinschlages getroffen hatte und für einen kurzen Moment den Arm lähmte.
Alles war vorüber, und die jetzige Situation erforderte seine ganze Konzentration, wollte er überleben.
Shawn bewegte tastend den rechten Fuß auf dem Seil, versuchte, seine Balance zu finden und seinen Atem zu beruhigen. Der zweite folgte langsam nach, und die Zuschauer tief unter ihm hielten unwillkürlich den Atem an. Das konnte nicht gut gehen! Warum hatte sich der kleine Gaukler auf ein so gefährliches Unternehmen überhaupt eingelassen? Das mochten sich die meisten wohl fragen, die vom Burghof hinauf zu dem mächtigen Wehrturm starrten, aus dessen schmaler Fensterluke sich eben der Gaukler gezwängt hatte, um nun auf dem gespannten Seil ein paar Schritte zu machen.
Aber auch Shawn fragte sich zum wiederholten Mal, was zum Teufel eigentlich in ihn gefahren war, als er sich großspurig mit dem Burgvogt von Caerhays Castle angelegt hatte. Natürlich hatte Shawn ihn provoziert, als er sich erkundigte, wie ihm das Bad bekommen wäre, das er kürzlich im Fluss etwas unfreiwillig genommen hatte. Mutig war es ja von dem Kleinwüchsigen, sich über den Burschen in dessen Situation noch lustig zu machen.
Der Kerl hatte aber auch eine ganz besondere Art, Shawn schon aufgrund seiner Körpergröße herauszufordern. Denn Sir Dalvin Craigthon war ein rothaariger, breitschultriger Hüne und mochte gut und gern seine sechseinhalb Feet messen.
Damit hatte er sich drohend vor dem gefangenen Shawn aufgebaut, gehässig und sehr laut gelacht und ihm verkündet, dass er ihn nicht wie die anderen Geiseln töten würde, sollte sich Sir Morgan nicht ihm ausliefern. Oh nein, für Shawn hatte er sich etwas ganz Besonderes ausgedacht und wollte sich damit etwas bei ihm revanchieren, weil er doch offenbar das Wasser so liebte. Er kündigte an, ihn mit der auf dem Burghof stehenden Wurfmaschine bis ins Meer zu schleudern. Das Trebuchet war eine beeindruckende Maschine, die auf dem gewaltigen Burghof jedoch ausreichend Platz hatte. Wie Sir Dalvin Craigthon dazu anfügte, war es ihm mehrfach Dank dieses Katapultes gelungen, Angreifer schon auf große Distanz zu beschießen und von seinem Anwesen fernzuhalten.
Das ganze Geschehen der letzten Stunden zog noch einmal an Shawn vorüber, als er jetzt den nächsten Schritt probierte und spürte, wie das Seil bedenklich schwankte. Aber er hatte die Balancierstange gut tariert, die Balance machte ihm mit jedem Schritt immer weniger Sorge, wohl aber die Entfernung. Shawn hatte behauptet, dass er auf einem Seil über die berühmte Teufelsschlucht gehen konnte, und der Burgvogt nahm ihn beim Wort. Ein Bogenschütze musste ein dünnes Hilfsseil auf die andere Seite schießen, wo mehrere Helfer bereit standen, um das eigentliche Seil nachzuziehen und auf der Gegenseite fest an mehreren kräftigen Bäumen zu befestigen.
„Jetzt wird das Großmaul sehr schweigsam, nicht wahr?“, hatte der riesige Sir Craigthon mit ätzendem Tonfall gesagt und dabei verächtlich auf ihn herabgesehen.
Shawns Blut kam dadurch erneut in Wallung, und sein braunes Gesicht hatte sich zu einer wütenden Grimasse verzogen, als er trotzig entgegnete:
„Niemals, das ist für mich eine Kleinigkeit!“
„Gut, du wirst es mir beweisen. Uns allen. Am morgigen Tag.“
Shawn schlug die Arme unter und wippte auf den Fersen vor und zurück.
„Das werde ich tun. Aber nicht umsonst. Wenn ich es auf die andere Seite schaffe, lässt du meine Gefährten frei.“
Erneut lachte der Burgvogt laut heraus.
„Du gefällst mir immer mehr, Gaukler! Aber wahrscheinlich haben wir alle viel mehr Spaß, wenn du in die Teufelsschlucht fällst und nicht mehr von dir übrig bleibt als ein kleiner, hässlicher Fleck!“
„Das wird nicht geschehen. Ich laufe über das Seil wie ... wie ein junges Eichhörnchen. Und du lässt dafür meine Gefährten frei!“
Der Burgvogt sah ihn mit abschätzendem Blick eine Weile schweigend an, dann lachte er zum dritten Mal laut heraus.
„Gut, einverstanden, das wird ein Spaß!“
Damit wandte er sich wieder um und wollte das feuchte Kellergewölbe verlassen, in dem die drei Rebellen gefangen gehalten wurden.
„Halt, so wird das nichts!“, rief Shawn hastig. „Du musst einen heiligen Eid schwören, dass du uns freilässt, wenn ich die andere Seite auf dem Seil erreiche. Beim Leben deiner Mutter und deiner Seligkeit!“
Noch einmal schwieg der Riese kurz, dann antwortete er:
„Gut, einverstanden, du hast mein Wort. Aber ich bin mir ganz sicher, dass du es noch nicht einmal bis zur Hälfte schaffst!“
Damit schlug er die Tür wieder hinter sich zu, und die drei Rebellen hörten, wie die schweren Riegel erneut vorgeschoben wurden. Eine Weile herrschte Schweigen zwischen ihnen, schließlich war es Brychan, der Bogenschütze, der hastig die Worte ausstieß:
„Du musst vollkommen verrückt geworden sein, Shawn! Über die Teufelsschlucht gelangst du niemals!“
Auch Jory, der Reiterhauptmann und dritte Gefangene, protestierte heftig gegen den Plan des kleinen Gauklers. Aber Shawn ließ sich nicht davon abbringen.
„Überlegt doch mal, wie wir sonst aus diesem Kellergewölbe entkommen wollen! Nur durch Verrat kann dieser Sir Craigthon von unserem Vorhaben erfahren haben. Nur wenige wussten, dass wir auf dem Weg zur Nordküste waren. Jetzt besteht er darauf, dass wir ihm helfen, unsere Freunde in einen Hinterhalt zu locken, um sich das Silber auf einfache Weise unter den Nagel zu reißen. Falls wir uns weigern, wird er uns einen nach dem anderen hinrichten lassen – und dabei ist er sich sehr sicher, dass beim Anblick von Blut noch jeder von uns reden wird. Aber dann haben wir keine Chance mehr, zu entkommen. Also, lasst es mich morgen versuchen, wenn es nicht gelingt und ich abstürze, bin ich kaum besser dran als ihr, die ihr mir mit Sicherheit rascher ins Jenseits nachfolgen werdet, als wir uns im Moment vorstellen können!“
Das war der Stand der Dinge, und nun setzte Shawn einen Fuß nach dem anderen bei seinem beschwerlichen Weg über das Seil, wartete kurz das jetzt auch heftiger werdende Schwanken des Seiles ab und erkannte, dass Brychan mit seiner Warnung nicht falsch gelegen hatte. Der Bogenschütze hatte ihn an diesem Morgen noch einmal stumm umarmt, nachdem er ihn auf die Aufwinde in der Teufelsschlucht verwiesen hatte. Diese Aufwinde kamen vom Atlantik, von der Keltischen See, herüber, heulten plötzlich und vollkommen unvermutet durch die Schlucht und hatten ihr den Namen gegeben. Wer sich in der Nähe befand, meinte, viele Teufel aus der Schlucht zu hören, die alle zugleich ihren grässlichen Gesang angestimmt hatten.
Sei kein Narr und konzentriere dich auf dein Seil!, schalt Shawn sich selbst. In diesem Augenblick fiel sein Blick in die Tiefe, und rasch hob er den Kopf wieder, um auf den noch immer so fernen Punkt auf der anderen Seite zu starren, wo sich das Seil um die Bäume schlang. Aus der Tiefe war ein Windstoß zu ihm gekommen, vollkommen unvermutet und mit einem langgezogenen, wimmernden Ton, als würde dort tatsächlich ein Teufel nach ihm rufen und sich über die lange Wartezeit beklagen.
Ja, heul du nur, du Bestie!, dachte Shawn. Mich sollst du nicht bekommen, das bin ich meinen Freunden schuldig!
Er hatte keinen Augenblick an dem gegebenen Wort des Burgvogtes gezweifelt, wohl aber seine beiden Gefährten. Insbesondere Brychan, der Bogenschütze, traute ihrem Kerkermeister nicht über den Weg.
„Der Mann hat falsche Augen, Shawn! Sein Lächeln verzieht nur die Mundwinkel, seine Augen glühen dabei förmlich und er hatte Mühe, seine Schadenfreude vor dir zu verbergen! Gib mir einen Pfeil und meinen guten Bogen, und ich will mich allein ihm gegenüber zur Wehr setzen – aber nur auf eine Distanz. Der Bursche kämpft nicht ehrlich, und ich traue ihm keinen Zoll breit!“
Shawn musste in der Erinnerung unwillkürlich lächeln. Brychan und Jory waren gute Freunde, vielleicht die besten, die er unter den Rebellen hatte. Aber der Burgvogt hatte sein Wort gegeben, und einen Eid würde ein Ritter doch niemals brechen – oder doch? Genau in diesem Augenblick, mitten über der Teufelsschlucht, als ein erneuter Aufwind das Seil zum Schwingen brachte, kam ihm dieser Gedanke und lief brennend heiß durch seinen Kopf, bevor er ihn gewaltsam verdrängte.
Aber nein! Ein Ritter bricht keinen Eid! Jetzt sieh dich vor, warte diesen Wind ab, dann geh einfach weiter und vermeide den Blick nach unten. Wie oft bist du schon über ein Seil gelaufen, schon in frühesten Kindertagen war das Jonglieren, Purzelbäume schlagen und das Seillaufen deine Leidenschaft! Also los, Shawn, du hast ein Ziel! Vorwärts!
Seine Hände umkrampften die Balancierstange, aber stetig setzte er Fuß um Fuß weiter, während die Menschen auf dem Burghof den Atem anhielten und mit jeder neuen Windböe befürchteten, dass der Kleine zu ihnen herab geschleudert wurde. Die Soldaten vergaßen ihren Wachdienst auf den Zinnen von Caerhays Castle und starrten nur noch auf das schwankende Seil.
In diesem Augenblick hätten sich jeder Feind ungefährdet bis dicht an die mächtigen, steil aufragenden Burgmauern heranschleichen können.
Und wie sie es geplant hatten, achtete tatsächlich niemand auf das kaum vernehmbare Plätschern aus dem Burggraben.
*
Schließlich waren die Männer am Ablauf angelangt, atmeten noch ein paarmal tief durch, bevor sie sich in das trübe, nach den verschiedensten Abfällen widerlich stinkende Wasser sinken ließen und durch den Ablaufkanal zwängten. Einer nach dem anderen erreichte den gemauerten Teil im Inneren der Burg, wo ihnen nun aber ein Gitter den weiteren Weg versperrte. Glücklicherweise stand hier das Wasser niedrig, weil sich der Ablauf zum Graben stark neigte. Die Männer packten die eisernen Gitter und begannen mit ihrer Arbeit, bis der erste nach Luft rang und schließlich einen Stoffstreifen vom Waffenrock riss, um sich Mund und Nase zu verbinden. Das Beispiel machte Schule, und wenig später setzten die Männer ihre schwere Arbeit fort, bemerkten schließlich, dass sich der erste Stab im maroden Mauerwerk löste, und arbeiteten mit doppeltem Eifer weiter.
Sehr viel Tageslicht gab es bei ihrer Arbeit nicht, aber es genügte, um die Stäbe zu erkennen, die man hier wohl angebracht hatte, um bei einer Belagerung dem Feind jeglichen Zugang zu versperren. Der hünenhafte Schotte war sich sicher, dass es ihnen in der nächsten Stunde gelingen würde, auch dieses Hindernis zu überwinden. Dann wollte man den Überraschungseffekt ausnutzen, die Wachen auf Caerhays Castle ausschalten und sich des Burgvogtes bemächtigen.