Читать книгу Der Bergpfarrer Extra 2 – Heimatroman - Toni Waidacher - Страница 3

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Christian Albersdörfer war in den Vorstand der Raiffeisenbank von St. Johann berufen worden. Am nächsten Montag sollte der Siebenunddreißigjährige den Dienst antreten. Er fuhr aber bereits am Freitagnachmittag bei der Pension ›Alpenrose‹ vor, die etwas außerhalb St. Johanns lag und die seine Schwester Pauline zusammen mit ihrem Mann betrieb.

Pauline erwartete ihren jüngeren Bruder schon. Sie stand am Fenster und schaute voller Ungeduld hinaus. Als nun der Wagen mit dem Münchner Kennzeichen anhielt rief sie aufgeregt: »Michel! Michel, sie sind da!«

Michael Wagner kam aus dem Wohnzimmer. »Na endlich«, sagte er lächelnd. »Ich hab’ schon befürchtet, du platzt vor Ungeduld.«

»Ach du …« Pauline eilte nach draußen, ihr Gatte folgte ihr.

Soeben stieg Christian Albersdörfer aus dem Auto. Er war dunkelhaarig, schlank und etwa eins achtzig groß. Sein schmales, markantes Gesicht zeigte ein natürliches Lächeln, als er seiner Schwester und deren Mann zuwinkte. Er öffnete die hintere Tür seines Autos und sagte: »Steig aus, Kleines. Den Gurt hast du ja schon geöffnet. Bist ein gescheites Madel.«

Die fünfjährige Jana strahlte ihn mit ihren braunen Rehaugen an und kletterte aus dem BMW.

Nun waren auch Pauline und Michael bei ihnen angelangt. Während Michael seinem Schwager die Hand reichte, hob Pauline ihre kleine Nichte in die Höhe und rief lachend: »Na, du kleine Maus, endlich seid ihr da, – du und dein Papa!« Sie küsste die Kleine, einen glücklichen Glanz in den Augen. »Freust du dich, Mauserl?«

Jana nickte und Pauline drückte sie wieder fest an sich. Ihr selbst waren Kinder versagt geblieben, und so gehörte die ganze Mutterliebe der kleinen Tochter ihres Bruders.

Michael und Christian hatten einen kräftigen Händedruck gewechselt, und nun fragte Michael: »Wie war die Fahrt? Wir haben euch schon vor zwei Stunden erwartet. Gab’s Probleme auf der Autobahn?«

»Und was für welche! Die Wochenendurlauber, die aus Richtung München nach Garmisch zum Schifahren unterwegs waren, haben die ganze Autobahn hoffnungslos verstopft. Kilometerlange Staus, Stop-and-go. Wir haben fast dreimal so lang für die Strecke gebraucht als sonst.«

»Ja, das kann ich mir denken«, nickte Michael und wandte sich seiner Frau zu. »Darf ich die Kleine auch begrüßen, Schatz?«, fragte er mit einem Lächeln um die Lippen. »Immerhin hab’ ich sie auch schon seit Allerheiligen nimmer gesehen.« Er nahm Jana auf die Arme und lächelte sie an. »Grüaß di, Jana-Maus …«

Indes umarmten sich Christian und seine Schwester, und Pauline sagte: »Ich freu’ mich ja so, Christian, ich kann es kaum beschreiben, wie ich mich freu’. Bei uns im Haus findest du mit deiner Tochter genügend Platz, auch wenn im Sommer die Urlauber wieder kommen und die Pension voll ist. Aber darüber haben wir uns ja schon unterhalten. Ich hab’ für dich und das Madel schon alles vorbereitet. Euer Gepäck holen wir dann ins Haus. Jetzt kommt erst mal herein.«

Sie gingen ins Haus. Michael trug die kleine Jana auf dem Arm, sie hatte ihre Ärmchen um seinen Hals geschlungen.

Schließlich saßen sie im Esszimmer am Tisch und Pauline sagte: »Ich koch’ uns Kaffee. Warum hast du denn net angerufen und uns gesagt, dass ihr im Stau steckt, Christian. Ich hab’ regelrecht auf glühenden Kohlen gestanden.«

»In der Hektik hab’ ich, ehe wir losgefahren sind, vergessen, mein Handy aufzuladen. Ich hab’ dann die Jana, damit ihr die Zeit net so lang’ wird, einen Videofilm anschauen lassen und Nullkommanix war der Akku leer.«

»Ich bin vor Sorge fast vergangen«, versetzte Pauline, zuckte mit den Schultern und fügte hinzu: »Aber jetzt seid ihr ja wohlbehalten angekommen. Ich geh’ jetzt und koch’ Kaffee.« Sie schaute Jana an. »Und du, kleiner Engel, bekommst wie immer, wenn du bei mir bist, deinen Kinderkaffee. Den magst du doch?«

»Ja, Tante, und Erdbeerkuchen«, antwortete das Kind mit heller Stimme und viel Begeisterung.

»Natürlich, Kleines. Die Tante hat alles besorgt, was du magst.« Sie verließ das Esszimmer.

»Und sonst?«, fragte Michael. »Alles klar?«

»Im Großen und Ganzen – ja«, antwortete Christian. »Alina macht keine Probleme. Ich hab’ mich des Eindrucks net erwehren können, dass sie ziemlich erleichtert war, weil sich alles in ihrem Sinn ergeben hat.« Ein bitterer Zug kerbte sich in seine Mundwinkel. »Ob sie glücklich wird, weiß ich net. Ich kann’s mir kaum vorstellen.« Mit einem vielsagenden Blick auf seine Tochter fügte er hinzu: »Reden wir jetzt net drüber. Es wär’ sicherlich net so gut.«

»Das denk’ ich auch«, pflichtete Michael bei und strich der kleinen Jana zärtlich über die dunklen Haare, die zu einem Zopf geflochten waren.

Pauline brachte den Erdbeerkuchen auf einem gläsernen Tablett herein und stellte es auf den Tisch. Sie hatte den Kuchen bereits geschnitten.

»Der schaut aber lecker aus«, lobte Christian.

»Ihr wollt sicher doch auch Sahne dazu?«, fragte seine Schwester.

Jana nickte eifrig.

»Dem kann ich mich nur anschließen«, lachte Christian.

Während Pauline den Tisch deckte, ergriff ihr Mann wieder das Wort: »Es ist schon Tagesgespräch in St. Johann, dass du als neues Mitglied des Bankvorstandes zurückkehrst. Ich schätz’, du wirst dich auch ganz offiziell beim Bürgermeister vorstellen.«

»Ja. Gleich am Montag, nachdem ich mich bei meinen Kollegen in der Bank vorgestellt hab’, hab’ ich beim Bruckner einen Termin. Ist er immer noch der Alte, der ständig bestrebt ist, sein St. Johann zu einer Touristenhochburg im Wachnertal zu machen?«

Michael nickte. »Da war einiges in den vergangenen zwei Jahren. Erst wollte er eine Freilichtbühne für Open-Air-Festivals in St. Johann etablieren, dann war’s eine Sommerrodelbahn, und jetzt will ein Unternehmen aus Innsbruck eine Biogasanlage und ein Blockheizkraftwerk auf dem Gelände des Bundschererhofs errichten. Vorige Woche war deswegen eine Gemeinderatssitzung, bei der auch Pfarrer Trenker gesprochen hat. Er war’s, der die Freilichtbühne und die Sommerrodelbahn verhindern hat können. Jetzt kämpft er gegen die Biogasanlage. Ich war net bei der Sitzung. Soweit ich aber gehört hab’, ist unser Gemeinderat auch dagegen. In Waldeck und Engelsbach hingegen ist man dafür. Ich denk’, da ist noch net das letzte Wort gesprochen.«

»Den Pfarrer möcht’ ich auch begrüßen«, erklärte Christian. »Wie geht’s denn der Nadine? Pauline hat mir erzählt, dass sie ihrem Bruder zwei Beziehungen ruiniert hat. Ist sie denn immer noch so verbiestert?«

»Dass sie so geworden ist«, mischte sich Pauline ein, »daran bist du net ganz unschuldig.«

»Ich weiß«, murmelte Christian. »Es hat halt net sollen sein. Sie hat net weg gekonnt von St. Johann, vielleicht hat s’ auch gar net weg gewollt. Wer weiß das schon so genau? Und dann ist alles so gekommen, wie’s gekommen ist. Dass die Entwicklung net so glücklich war, hat kein Mensch voraussehen können.«

»Schicksal«, philosophierte Pauline und verließ das Esszimmer, um den Kaffee zu holen.

»Der Thorsten ist wieder verliebt«, erzählte Michael. »Und zwar in die Lang-Annika. Anfangs hat die Nadine auch wieder versucht, querzuschießen. Das ist sogar so weit gegangen, dass sie den Hof verlassen hat. Ich glaub’, sie hat irgendwo im Bayrischen Wald eine Stellung angetreten. Aber schon nach kurzer Zeit ist sie wieder aufgetaucht. Warum, weiß ich net. Spielt ja auch keine Rolle. Ich denk’, es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie die Annika wieder vergrault hat.«

Pauline brachte die Kanne mit dem Kaffee und ein kleines Kännchen, in dem sie den mit Zucker und Milch verrührten Malzkaffee für Jana zubereitet hatte. Sie stellte alles auf den Tisch. »Ich schlag’ nur noch schnell die Sahne, dann setz’ ich mich zu euch. Schenkt euch nur schon Kaffee ein und bedient euch am Kuchen. Die Sahne kommt sofort.«

»Danke«, sagte Christian und sein Blick begegnete dem seiner Schwester. Es waren Blicke voller Wärme …

*

Es war ein klarer Samstagabend, an dem sich die Teilnehmer an der Nachtwanderung, die Pfarrer Trenker organisiert hatte, vor dem Pfarrhaus trafen. Der Mond hing über den Bergen im Osten, und die zerklüfteten Bergketten, die das Wachnertal begrenzten, hoben sich scharf und schwarz wie Scherenschnitte gegen den glitzernden Sternenhimmel ab. Das Mond- und Sternenlicht ließ den Schnee, mit dem dort oben alles bedeckt war, hell aufschimmern.

Da es sehr kalt war, bildeten sich vor den Gesichtern der Wanderer beim Atmen weiße Dampfwolken. Jeder hatte sich eine Mütze über die Ohren gezogen, trug eine dick gefütterte Jacke, Winterstiefel und warme Handschuhe.

Thorsten Sommerauer und Annika hatten sich ebenso wie Nadine bereit erklärt, an der Wanderung teilzunehmen. Wieder dabei war der ganze Deininger-Clan, inklusive Philipp, der fest entschlossen war, seine Nicole auf Händen zu tragen und ihr, wenn es nötig war, den Himmel zu Füßen zu legen. Und diesmal war auch Markus Bruckner, der Bürgermeister, mit von der Partie.

Die ganze Gruppe war versammelt und Sebastian sagte: »Der Georg und die Franzi bereiten alles vor. Es gibt wieder gegrillte Steaks und Bratwürsteln, außerdem Bier und Wein und natürlich auch nichtalkoholische Getränke.«

Der Pfarrer trug einen Packen Fackeln unter dem Arm, die er nun verteilte. Als er Bruckner eine reichte, sagte er: »Dass du gekommen bist, Markus, freut mich ganz besonders. Du wirst sehen, es wird gar net so schlimm, wie du vielleicht fürchtest. Und hinterher bist du stolz auf dich, weil du dich entschlossen hast, mitzugehen.«

»Tja, Hochwürden, was tut man net alles? Sie kennen mich doch. Wenn ich mich in eine Sach’ verbeiß’, dann geb’ ich mich net so schnell geschlagen. Nachdem sie mir die Wettschuld net erlassen, werd’ ich mit Ihnen die Wallfahrt nach Altötting machen. Und ich werd’ die Streck’ laufen ohne zu klagen. Die heutige Wanderung seh’ ich als spezielles Training an. Natürlich sind die Würsteln und das Bier hinterher eine schöne Dreingabe, aber der Hauptgrund dafür, dass ich mitgeh’, ist der Durchhaltewille.«

»Das ist lobenswert, Markus«, grinste Sebastian und sagte laut: »Und los gehts. Die Fackeln zünden wir an, sobald der Ort endet und uns die Straßenlaternen kein Licht mehr spenden. Es ist zwar eine ziemlich helle Nacht, aber das Licht der Fackeln bringt schon eine besonders stimmungsvolle Atmosphäre. In jedem von uns steckt doch ein kleiner Romantiker.«

Sie marschierten los. Sebastian, Severin Kaltenecker und der Bürgermeister gingen voraus, die Paare folgten.

Nadine ging am Schluss der kleinen Gruppe mit ihrem Bruder und Annika. Sie war bemüht, sowohl mit Thorsten als auch mit Annika ein gutes Verhältnis zu bewahren. Vor ihnen stapften Philipp Deininger und Nicole händchenhaltend durch den Schnee. Noch befanden sie sich innerhalb der Ortschaft. Die klare, eisige Luft war mit dem Geruch von Holzrauch geschwängert, der aus den Kaminen stieg; irgendwo bellte ein Hund.

Schließlich lag der Ort hinter ihnen und sie zündeten die Fackeln an. Die Flammen flackerten und rußten, Licht und Schatten wechselten auf dem Schnee, schließlich aber brannten sie ruhig, und man setzte den Weg zum Ainringer Forst fort.

»Am Montag, um neun Uhr, hat sich der Albersdörfer-Christian bei mir angekündigt«, sagte Bruckner. »Er und seine Tochter wohnen bei seiner Schwester. Ich hab’ ihn gefragt, ob er eine Wohnung mieten wird oder vielleicht sogar ein Haus hier baut, aber er hat gemeint, dass er und sein Töchterl bei der Pauline gut aufgehoben sind.«

Sebastian stutzte. »Er und seine Tochter? Was ist denn mit seiner Frau?«

»Er ist geschieden, hat er mir erzählt.«

»Dann hat wohl er das Sorgerecht für seine Tochter?«, murmelte Sebastian.

»Darüber haben wir net gesprochen«, antwortete der Bürgermeister. »Aber es wird wohl so sein, nachdem er die Kleine mitbringt.«

Sebastian begann sich Gedanken zu machen. War vielleicht sogar die Scheidung der Grund für Christian Albersdörfer, sich nach St. Johann versetzen zu lassen? »Ist was dagegen einzuwenden, Markus, wenn ich am Montag um neun Uhr dabei bin, wenn sich der Christian bei dir meldet?«

»Was sollt’ dagegen einzuwenden sein, Hochwürden?«, kam Bruckners Gegenfrage. »Ich würd’ mich sogar freuen. Denn wenn ich nix mehr zu sagen weiß, dann können ja Sie das Wort ergreifen.«

Sebastian lachte. »Du bist wieder mal sehr uneigennützig, Markus. Ich frag’ mich, ob die Nadine schon weiß, dass der Christian nach St. Johann zurückkehrt.«

»Es hat sich gewiss im Ort herumgesprochen«, versetzte der Bürgermeister.

»Ich hab’ mit der Traudl darüber gesprochen«, sagte Severin. »Sie hat’s tatsächlich schon gewusst. Die Erbling-Maria hat’s ihr beim Herrnbacher erzählt, und wenn’s die Erbling mal auf der Pfanne hat, dann weiß es bald das ganze Dorf.«

»Ob’s den Sommerauerhof schon erreicht hat, ist fraglich«, gab Sebastian zu bedenken. »Der Thorsten und die Nadine haben schon immer ein bissel zurückgezogen gelebt und sich verhältnismäßig wenig um andere Leut’ gekümmert. Ich glaub’, ich unterhalt’ mich mal ein bissel mit der Nadine. Wenn sie’s noch net gehört hat, kann ich sie schonend drauf vorbereiten.«

»Da bricht er mal wieder durch, der gute Hirte, der in Ihnen steckt, Hochwürden«, schmunzelte der Bürgermeister. »Der Platz da oben…«, er wies zum Himmel hinauf, »… ist Ihnen mal sicher.« Über Bruckners rundes Gesicht huschten Licht- und Schattenreflexe und in seinen Augen spiegelte sich die Flamme seiner Fackel.

Sebastian glaubte ein spitzbübisches Glitzern in ihnen wahrnehmen zu können. »Und dir ist das Fegefeuer gewiss, denn du den guten Hirten auf den Arm zu nehmen versuchst, Markus«, erwiderte er lächelnd. »Aber wenn deine schwarze Seele gereinigt ist, hol’ ich dich zu mir hinauf. Ohne dich wär’s da oben …«, jetzt deutete auch er hinauf zum flirrenden Firmament, »… sicher sehr, sehr langweilig.«

Nach diesen Worten blieb Sebastian zurück.

Er konnte noch hören, dass Bruckner etwas zu Severin sagte, was es war, hatte er allerdings nicht verstehen können.

Sicher ein nicht ganz ernst gemeinter Kommentar.

Jürgen Deininger und Katrin, Paul und Steffi, sowie Tanja und Harald Hohenegger stapften an ihm vorbei, ebenso Philipp und Nicole. Sie lächelten dem Pfarrer zu und der erwiderte das Lächeln, und dann kamen Thorsten, Annika und Nadine.

Sebastian hielt den Blick auf Letztere gerichtet und sagte: »Willst du die beiden frisch Verliebten net ein bissel allein lassen, Nadine? Sie haben sich gewiss Dinge zu sagen, die für das Ohr eines Dritten ganz und gar net bestimmt sind.«

»Die Nadine stört uns kein bissel, Hochwürden«, beeilte sich Annika zu sagen und nahm ihre zukünftige Schwägerin bei der Hand. »Wir unterhalten uns sehr angeregt.« Sie lachte auf. »Wenn der Thorsten und ich uns was zu sagen haben, das nur für uns bestimmt ist, finden wir schon eine Gelegenheit.«

»Das glaub’ ich gern«, erwiderte Sebastian. »Dennoch würd’ ich gern ein paar Schritte mit dir gehen, Nadine.«

»Gern«, sagte Nadine.

Annika und Thorsten gingen weiter.

»Was gibt’s denn, Hochwürden? Sie möchten doch net von ungefähr ein Stück mit mir gehen. Falls Sie wissen möchten, wie’s auf dem Hof läuft, dann kann ich nur sagen, wir vertragen uns. Die Annika und ich sind auf dem besten Weg, net nur Schwägerinnen zu werden, sondern auch beste Freundinnen.«

»Das freut mich«, erklärte Sebastian. »Und das sag’ ich net nur so. Ich freu’ mich für dich, für den Thorsten und für die Annika. Wenn ihr das beibehaltet, ist euch eine glückliche Zukunft sicher. Doch das ist net der Grund, weshalb ich mit dir sprechen möcht’. Aber gehen wir doch weiter.«

Sie setzten sich in Bewegung. Thorsten und Annika waren schon einige Schritte vor ihnen. Sie befanden sich jetzt auf einem Feldweg zwischen verschneiten Äckern, Feldern und Wiesen.

»Was gibt’s denn, Hochwürden?«

Sebastian überlegte, wie er beginnen sollte. Er wollte nicht mit der Tür ins Haus fallen. »Ich weiß net, ob du’s schon gehört hast, Nadine«, sagte er. »Bei der Raiffeisenbank wird ab Montag der Nachfolger vom Schraml-Hubert anfangen. Sicher ist dir bekannt, dass der Hubert in Rente gegangen ist.«

»Ja, ja, ich hab’ davon gehört. Ist das für mich irgendwie bedeutsam?«

»Möglicherweise.«

Nadine schaute den Pfarrer von der Seite an. »Sie machen mich neugierig, Hochwürden.«

»Kannst du dir net denken, wer die Nachfolge im Vorstand der Bank antritt?«

Nadine machte noch zwei Schritte, und währenddem schien ihr eine Idee zu kommen. Sie hielt an, als wäre sie gegen ein unsichtbares Hindernis gelaufen. »Jetzt sagen S’ bloß …«, ächzte sie.

Sebastian nickte.

*

Das Herz schlug Nadine bis zum Hals hinauf, in ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. ›Christian!‹, schrie eine Stimme in ihr. ›Er kommt nach St. Johann zurück! Er – und seine Familie. Wir werden uns begegnen, und … und …‹ Sie wusste selbst nicht, was dann sein würde. Einer Ohnmacht nahe stammelte sie: »Ist – er – etwa – schon – da?«

Sebastian wusste es nicht und sagte dies Nadine auch. Betroffen registrierte er, dass genau das eingetreten war, was er auf keinen Fall beabsichtigt hatte. Die alte Wunde, die die Trennung von Christian Albersdörfer damals bei Nadine hinterlassen hatte, war aufgebrochen.

Nadine entrang sich ein Laut, der sich anhörte wie verzweifeltes Schluchzen.

Sebastian verspürte ein grenzenloses Gefühl des Mitleids. Die Zweiunddreißigjährige war in all den Jahren scheinbar nicht darüber hinweggekommen. Es hatte sie verbittert und hart werden lassen. Er begann einiges zu verstehen. »Du hast es net gewusst?«, fragte er.

»Nein«, würgte sie hervor. Ein tiefer Atemzug folgte. »Warum tut er mir das an?« Ihre Stimme war dünn wie ein Windhauch. Mit fahriger Geste strich sie sich über das Gesicht. »Er – er muss doch wissen, dass – dass …« Ihre Stimme brach.

»Es tut mir leid, Nadine«, murmelte der Pfarrer. »Ich wollt’ dich darauf vorbereiten, nachdem mir Frau Tappert erzählt hat, dass ihr – der Christian und du – einmal ein Paar wart. Es ist schließlich einige Jahre her.«

»Fast sieben Jahre, Hochwürden.« Nadines Schultern strafften sich, ihr Gesicht nahm einen entschiedenen Ausdruck an. »Es muss Ihnen net leid tun. Im Gegenteil. Ich bin froh, dass Sie’s mir gesagt haben. Wenn er hier Bankdirektor wird, wird er auch wieder hier wohnen, und ich werd’ ihm zwangsläufig irgendwann über den Weg laufen. Jetzt bin ich wenigstens drauf vorbereitet. Wir sollten weitergehen, Hochwürden. Die anderen haben schon angehalten und warten auf uns. Es war bei mir nur eine momentane Betroffenheit. Schreiben Sie’s meiner Überraschung zu.«

»Ist wirklich alles in Ordnung, Nadine?«, fragte Sebastian besorgt.

»Ja. Ich war damals selbst schuld, dass wir net zusammengekommen sind.« Nadines Stimme hatte an Festigkeit gewonnen. Sie sprach mit kühler Sachlichkeit. »Wär’ ich mit ihm nach München gegangen und seine Frau geworden, hätt’ ich meine Eltern im Stich gelassen. Sie wissen ja, die Mama war nimmer die Gesündeste, und der Papa hat auch nimmer so gekonnt, wie er gern’ gewollt hätt’. Allein hätt’ der Thorsten das alles net auffangen können. Der Christian hat in München sein Glück gefunden. Ich gönn’s ihm.« Nadine bewegte sich auf die kleine Gruppe zu, die angehalten hatte.

Sebastian holte sie mit zwei langen Schritten ein. »Der Christian ist nur mit seiner kleinen Tochter gekommen«, sagte er. »Das Glück, das er deiner Meinung nach gefunden hat, endete mit einer Scheidung.«

Erneut stockte Nadine im Schritt, ihr Gesicht zuckte zu Sebastian herum, verdutzt brach es über ihre Lippen: »Er ist geschieden? Wieso ist seine Tochter bei ihm? Normalerweise bleiben die Kinder doch bei der Mutter.«

Sie gingen weiter.

»Das kann ich dir auch net sagen«, musste Sebastian zugeben. »Aber es gibt sicherlich einen Grund dafür. Vielleicht hat er das Sorgerecht übertragen erhalten. Vielleicht hat er auch nur ein Umgangsrecht, und das nimmt er im Moment wahr.«

»München hat ihm also kein Glück gebracht«, entrang es sich Nadine versonnen.

Sebastian hatte den Eindruck, dass sie die Worte unbewusst ausgesprochen, dass sie lediglich laut gedacht hatte. »Ich werde ihn am Montag treffen, wenn er sich beim Bürgermeister vorstellt«, sagte er. »Dann wird er mir sicherlich erzählen, wie es um seine persönlichen Verhältnisse bestellt ist. – Es stimmt, Nadine. Irgendwann wirst du ihm begegnen. Wenn es so weit ist, solltest du dich net scheuen, auf ihn zuzugehen. Ihr habt euch gegenseitig nix vorzuwerfen.«

»Es würd’ für mich net einfach sein, Hochwürden«, gestand Nadine. »Daher werd’ ich versuchen, ihm so gut es geht aus dem Weg zu gehen.«

»Wenn es so weit kommt, Nadine, dann versuch’ dich so unbefangen wie möglich zu geben. Das ist mein Rat. Ihr werdet euch sicher des Öfteren über den Weg laufen, und es wär’ gut, wenn ihr euch dabei in die Augen schauen könnt’, ohne schlechtes Gewissen, ohne Verlegenheit und ohne Scheu. Das seid ihr euch selber schuldig, denn es gibt keinen Grund für ein anderes Verhalten.«

»Ich werd’ Ihren Rat beherzigen, Hochwürden«, versprach Nadine, dann kamen sie bei den anderen an und setzten ihre Wanderung fort.

Sebastian setzte sich wieder mit dem Bürgermeister und Severin an die Spitze, Nadine gesellte sich ihrem Bruder und Annika hinzu. Ihr Innerstes war aufgewühlt. Es gelang ihr nicht, den Aufruhr ihrer Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Die kühle Sachlichkeit und Entschlossenheit, die sie eben noch an den Tag gelegt hatte, zerbröckelten wie poröses Mauerwerk.

Von all den Gedanken, die durch ihren Kopf wirbelten, blieb immer nur der eine übrig: ›Christian kommt nach St. Johann zurück. Und er ist wieder frei!‹

Sie fuhr regelrecht zusammen, als Thorsten sagte: »Was war’s denn Wichtiges, was dir der Pfarrer zu sagen gehabt hat, Nadine?«

»Eigentlich nix von Belang«, antwortete sie. »Nur, dass ab heut’ der Albersdörfer-Christian im Vorstand unserer Bank sitzt und dass er am Montag seinen Dienst hier in St. Johann antritt.«

Nadine hatte sich Mühe gegeben, so emotionslos wie möglich zu klingen, doch es war ihr nicht so recht gelungen. In ihrer Stimme schwang etwas mit, das sehr wohl verriet, wie sehr sie die Mitteilung erschüttert hatte. Es gab ihrem Bruder zu denken. »Ich hoff’ doch, Nadine«, murmelte er, »dass du über die Geschicht’ von damals hinweg bist.«

»Natürlich. Reden wir nimmer davon. Ich bin dem Pfarrer dankbar, dass er mich informiert hat. Andernfalls wär’ ich vielleicht dem Christian irgendwann vollkommen ahnungslos über den Weg gelaufen. Jetzt kann ich mich darauf vorbereiten. Du musst dir keine Gedanken machen, Thorsten. Ich hab’ mit der Vergangenheit abgeschlossen. Es war ja net der Christian, der damals das Ende unserer Beziehung eingeläutet hat. Du kennst die Geschichte.«

›Ja‹, erwiderte Thorsten in Gedanken, ›ich kenn’ sie. Du hat sie mir in den vergangenen Jahren tausendmal unter die Nase gerieben…‹ Er verdrängte es. Seit Nadine wieder zu Hause war, bemühte sie sich um ein gutes Verhältnis sowohl zu ihm als auch zu Annika. Deshalb behielt er seine Gedanken für sich und sagte: »Ihr seid ja net im Bösen auseinandergegangen, Nadine. Es waren die Umständ’, die dazu geführt haben. Darum musst du dich auch vor einer Begegnung mit ihm net fürchten.«

»Ich hab’ keine Angst davor«, versicherte Nadine. »Allerdings werd’ ich versuchen, die Begegnung so lang’ wie möglich zu vermeiden.«

Sie wusste selbst nicht, warum sie Thorsten verschwieg, dass Christian geschieden war und lediglich mit seiner kleinen Tochter nach St. Johann zurückkehrte. Machte sie sich vielleicht sogar Hoffnungen, dass die Liebe zwischen ihr und Christian wieder aufblühte? Oder befürchtete sie, dass Thorsten ihr genau dies auch unterstellen würde?

*

Georg und Franzi Meyerling hatten wieder im Speisesaal des Jagdschlosses Hubertusbrunn für den Pfarrer und seine Gäste gedeckt. Wenige Minuten, ehe sie ankamen, rief Sebastian den Verwalter an und meldete, dass er die Nacken-Steaks und Bratwürste auf den Grill legen könne.

Im Speisesaal war es behaglich warm. Der Duft der brutzelnden Würste stieg den Ankömmlingen in die Nase. Sie entledigten sich ihrer dicken Winterkleidung und schlüpften in die Filzhausschuhe, die Georg bereitgestellt hatte.

Philipp Deininger kümmerte sich fürsorglich um Nicole und erwies sich als Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle. Die Blicke, die die beiden miteinander wechselten, verrieten alles über die Gefühle, die sie füreinander empfanden. Es war Liebe pur.

Jürgen Deininger entging es nicht, und er beobachtete es voller Zufriedenheit. Ihm war anzusehen, wie sehr ihm die Entwicklung behagte. Gab es vielleicht doch noch eine Chance, sich mit seiner Familie in Landshut auszusöhnen? Er hatte in den vergangenen Tagen oft daran gedacht.

Bürgermeister Bruckner saß neben Sebastian am Tisch. Beide hatten sich ein Weißbier eingeschenkt, und nun prosteten sie sich zu. »Na, Markus, wie geht’s dir denn?«, fragte Sebastian.

»Blendend«, erwiderte der. »Mir tun weder die Füß’ weh, noch fühl ich mich verausgabt. Ich könnt’ Bäume ausreißen. Und das sag’ ich ohne jede Übertreibung, Hochwürden. So gut hab’ ich mich schon lang’ nimmer gefühlt.«

Sie prosteten sich zu und tranken einen Schluck.

»Dann greif’ zu, Markus«, forderte Sebastian den Bürgermeister auf. »Du hast dir eine anständige Mahlzeit verdient.«

»Das lass ich mir net zweimal sagen«, grinste Bruckner.

Sebastians Blick suchte Nadine, die links von ihrem Bruder saß und den Kopf gesenkt hielt. Er musste nicht raten, was sie beschäftigte. Er fragte sich, ob es richtig gewesen war, sie an diesem Abend über Christians Rückkehr nach St. Johann zu informieren. ›Wahrscheinlich hast du ihr dadurch den ganzen Abend verdorben!‹

Georg Meyerling und seine Frau Franzi brachten auf einem großen Tablett die gegrillten Steaks und Bratwürste und die hungrigen Wanderer bedienten sich. Es gab verschiedene Soßen und Senf sowie frisches Brot. Alle griffen tüchtig zu und man ließ es sich schmecken.

Nach dem Essen saß man noch eine Weile zusammen, unterhielt sich, lachte viel und die frisch gebackenen Paare wechselten verliebte Blicke.

Nadine jedoch redete kaum, zeigte nicht ein einziges Lächeln und saß die meiste Zeit völlig in sich gekehrt am Tisch. Sie hatte kaum etwas gegessen und schien die gute Stimmung um sich herum überhaupt nicht wahrzunehmen.

Sebastian begann sich Sorgen um sie zu machen und beschloss, auf dem Heimweg noch einmal mit ihr zu reden. Er musste ihr klarmachen, dass es ein Fehler wäre, zu versuchen, gedanklich in der Vergangenheit zu verharren und den Blick für die Zukunft zu verlieren.

Der Bürgermeister stieß Sebastian leicht an und murmelte: »Ich beobacht’ die Nadine schon eine ganze Weile, Hochwürden. Es scheint sie ziemlich mitzunehmen, dass der Albersdörfer-Christian wieder in St. Johann leben wird. Sie ist mit uns gegangen, um den Abend zu genießen, und nun scheint’s, dass sie die Nachricht in ein seelisches Tief versetzt hat.«

»Das scheint mir auch so«, seufzte Sebastian, »darum werd’ ich auf dem Rückweg noch einmal mit ihr reden. Früher oder später hätt’ sie’s sowieso erfahren, dass der Christian hier arbeiten und leben wird. Jetzt kann sie sich wenigstens drauf einstellen.«

Bruckner nickte beipflichtend.

Nach einiger Zeit schlug Sebastian vor, wieder den Heimweg anzutreten. Sie tranken aus und zogen sich die warmen Wintersachen an. Ehe sie gingen, bedankte sich der Pfarrer bei Georg und Franzi Meyerling für ihre Mühen und das erstklassige Essen, dann brach die Gruppe auf.

Sebastian gesellte sich zu Thorsten Sommerauer, Annika und Nadine und sagte zu ihr: »Ich hab’ das Gefühl, dass wir noch einmal reden müssen, Nadine, denn ich glaub’, du machst dir viel zu viele Gedanken.«

»Es ist net so einfach für mich, Hochwürden«, murmelte Nadine.

»Ich will dir helfen, es zu verarbeiten und dich drauf einzustellen«, gab Sebastian zu verstehen.

Thorsten nahm Annika bei der Hand, nickte dem Pfarrer ernst zu, und sie ließen die beiden allein.

Sebastian und Nadine bildeten nun den Schluss.

»Du machst dir das Leben selber schwer, Nadine«, begann Sebastian, nachdem sie ein paar Schritte nebeneinanderher gegangen waren. »Die Sache von damals ist Geschichte. Dazwischen liegen mehrere Jahre, und Christian hat während dieser Zeit eine Familie gegründet. Seine Ehe ist allerdings gescheitert, und nun kommt er zurück, um hier zu arbeiten und zu leben. Dass es damals nix geworden ist mit euch beiden war der besonderen Situation zuzuschreiben, in der du dich damals befunden hast.«

»Ich hatt’ damals eine moralische Verpflichtung, Hochwürden«, murmelte Nadine. »Meine Liebe war wohl net groß genug, um ihr den Vorrang zu geben. Unsere Liebe hatte wegen der räumlichen Trennung keine Chance. Als er sich dann neu verliebt hat, war für mich der Zug abgefahren.« Zuletzt hatten ihre Worte ziemlich wehmütig geklungen.

»Aber nun ist Christian wieder frei«, gab Sebastian zu bedenken. Er ließ seine Worte wirken.

»Ja, er ist wieder frei. Wir beide sind allerdings älter geworden. Heute Abend habe ich einige Male daran gedacht, ob es möglich sein könnte, dort weiterzumachen, wo wir vor knapp sieben Jahren standen. Aber ich denk’, es hat sich viel zu viel geändert. Mich hat die Zeit verbittert, ich bin unduldsam und ungerecht geworden, und ich wär’…« Fast erschreckt brach sie ab.

»Was wolltest du sagen, Madel?«, hakte Sebastian nach.

»Den Christian haben die sieben Jahre sicher auch zu einem anderen Menschen geformt. Mit seiner Ehe hat er Pech gehabt, und nun wird er ein gebranntes Kind sein. Er ist sicher net bereit, sich so schnell neu zu binden.«

»Mich würd’ interessieren, was du vorhin sagen wolltest, Nadine. Meine Frage hast du net beantwortet. Was wärst du?«

Kurze Zeit herrschte Schweigen. Schließlich aber stieß Nadine hervor: »Ich wollt sagen, Hochwürden, dass ich über Leichen gegangen wär’, um meinen Platz auf dem Hof zu behaupten. Ich war immer der Meinung gewesen, dass es, nach allem, was ich diesem Hof geopfert habe, legitim war, den ersten Platz dort einzunehmen.«

»Und jetzt bist du anderer Meinung?«

Nadine nickte. »Mir ist klar geworden, dass ich net länger das Leben meines Bruders bestimmen darf. Das war die Stunde, in der ich auch mit der Vergangenheit abgeschlossen hab’. Aber jetzt …«

»Jetzt hat sie dich plötzlich wieder eingeholt«, sagte Sebastian. »Das muss jedoch an deiner Einstellung deinem Bruder und der Annika gegenüber nix ändern, Nadine. Auch ich geh’ davon aus, dass die vergangenen Jahre net nur dich, sondern auch den Christian geprägt haben. Fakt ist, dass ihr euch mal geliebt habt.«

»Meinerseits stünd’ einer neuen Liebe mit ihm nix entgegen«, murmelte Nadine. »Den ganzen Abend über, seit S’ mir gesagt haben, dass er zurückkommt, war ich voller Zweifel, ob meine Gefühle zu Christian noch die alten sind. Jetzt bin ich mir ziemlich sicher, Hochwürden, dass ich ihn noch genauso liebe wie damals. Es hat mir das Herz gebrochen, als ich ihn gehen lassen musste. Aber da war die moralische Pflicht den Eltern und dem Hof gegenüber.«

»Warst du auf den Christian wütend, als du gehört hast, dass er geheiratet hat?«, fragte Sebastian.

»Ich weiß es net. Zu dieser Zeit war alles zwischen uns längst beendet.« Nadine seufzte und fuhr fort: »Getroffen hat’s mich natürlich schon. Ja, es hat sehr, sehr wehgetan. Ich denk’ aber, es ist immer schmerzlich, wenn etwas, das man selber gern gehabt hätt’, plötzlich ein anderer bekommt.«

»Aber irgendwann hast du dich doch damit abgefunden«, sagte der Bergpfarrer.

»Ich hab’s zumindest geglaubt, Hochwürden. Jetzt weiß ich, dass ich ihn nie vergessen hab’. Der Platz in meinem Herzen hat immer ihm gehört. Ob ich in seinem Herzen noch einen Platz einnehm’, ist jedoch fraglich.«

»Wenn ihr zusammengehört, dann werdet ihr auch wieder zusammenfinden«, verlieh Sebastian seiner Überzeugung Ausdruck. »Dass Christian eine Tochter hat, dürft’ für dich ja keine Rolle spielen.«

»Net die geringste«, versicherte Nadine.

*

Christian Albersdörfer betrat am Montag kurz vor neun Uhr das Vorzimmer des Bürgermeisters.

Die Sekretärin erhob sich und kam lächelnd um ihren Schreibtisch herum. »Grüaß di, Christian. Du bist ja ein richtig schneidiger Mann geworden in den vergangenen sieben Jahren. Ich glaub’, einmal hab’ ich dich gesehen, als du das Grab deiner Eltern besucht hast. Aber das ist auch schon eine geraume Zeit her.«

»Servus«, erwiderte Christian den Gruß und reichte der Vorzimmerdame die Hand. »Ja, es stimmt. Zu Allerheiligen bin ich immer nach St. Johann gekommen. Dazwischen nur hin und wieder, und dann nur für ein paar Stunden. München ist ja schließlich net aus der Welt. Da kann man leicht mal einen Abstecher nach St. Johann unternehmen.«

»Ja, das stimmt. Mein Mann und ich fahren auch öfter mal in die Hauptstadt und shoppen ein bissel. Wenn die Sonne scheint, hat unsere Hauptstadt eine richtiggehende südländische Atmosphäre.«

»Wenn man dort lebt und arbeitet, wird das irgendwann zum Alltag«, versetzte Christian.

»Ja, dann ist’s dort wie überall«, lachte die Sekretärin. »Ich hab’ gehört, du hast eine kleine Tochter.«

»Stimmt. Die Jana ist fünf. Sie ist jetzt in der Obhut meiner Schwester, bei der wir wohnen.« Christian schaute auf die Uhr. Es war neun. In diesem Moment wurde gegen die Bürotür geklopft, im nächsten Moment wurde sie geöffnet und Pfarrer Trenker erschien.

»Pünktlich sind S’ ja wie ein Mauerer«, sagte die Vorzimmerdame und hieß ihn willkommen.

Sebastian ging auf Christian zu und reichte ihm die Hand. »Servus, Christian. Freut mich, dich wieder mal zu sehen. Und noch mehr freut es mich, dass du dich entschlossen hast, in die Heimat zurückzukehren. Man weiß erst, was man an der Heimat hat, wenn man in der Ferne ist. Ein altes Sprichwort, das sicherlich seine Gültigkeit hat, gell?«

Christian schüttelte die Hand des Pfarrers und lachte erfreut. »Habe die Ehre, Herr Pfarrer. Ich bin auch froh, wieder daheim zu sein. Sie kommen doch net gar wegen mir ins Bürgermeisteramt?«

»Doch, als mir der Markus gesagt hat, dass du dich heut’ um neun Uhr bei ihm vorstellst, hab’ ich gefragt, ob ich dabei sein könnt’. Schließlich kennen wir beide uns ja sehr gut und ich hätt’ dich bei passender Gelegenheit eh aufgesucht, um dir grüß Gott zu sagen.«

»Es ist mir eine Ehre, Herr Pfarrer«, erklärte Christian.

In der Zwischenzeit hatte die Sekretärin den Bürgermeister informiert, dass Christian und der Pfarrer eingetroffen waren.

»Schicken S’ die beiden herein«, sagte Bruckner. »Und tragen S’ bitte in den Kalender mit Rotstift ein, dass der Pfarrer Trenker heut’ zum ersten Mal nach Ankündigung kommt.«

»Du meinst, ich hab’ gewissermaßen einen Termin bei dir vereinbart«, sagte Sebastian mit einem Grinsen um den Mund von der Tür her und machte einen Schritt ins Büro.

»Etwa net?«

»Im weitesten Sinne – ja. Guten Morgen, Markus. Ich hoff’, du hast dich gut erholt von unserem Marsch am Samstagabend.«

»Ich kann net klagen, Hochwürden. Wenn S’ mich weiterhin so rannehmen, krieg’ ich eine Kondition wie ein Junger.«

»Du bist freiwillig mitgegangen«, verteidigte sich der Pfarrer.

»Ein freiwilliges Muss, Hochwürden. Will ich mir doch zu Pfingsten keine Blöße geben. Wären Sie net so unerbittlich …«

Sebastian lachte amüsiert auf.

Jetzt trat Christian Albersdörfer neben ihn. »Grüß Gott, Herr Bruckner.«

Der Bürgermeister erhob sich und kam jovial lächelnd um den Schreibtisch herum, hielt Christian die Hand hin und sagte: »Grüaß Ihnen, Herr Albersdörfer. Ich darf Sie auch im Namen des Gemeinderats auf das Herzlichste in St. Johann Willkommen heißen!«

Nach einem kräftigen Händedruck sagte Christian: »Danke, Herr Bruckner. Sieben Jahre sind eine lange Zeit. Körperlich war ich in dieser Zeit in München. Mit dem Herzen aber war ich immer in St. Johann. Ich bin froh, wieder daheim zu sein.«

»Setzen wir uns doch, meine Herren«, lud Bruckner seine Besucher dazu ein, an dem runden Besprechungstisch Platz zu nehmen. Sie ließen sich nieder.

»Kochen S’ uns doch bittschön einen Kaffee«, sagte der Bürgermeister an seine Sekretärin gewandt. »Sie trinken doch ein Tasserl?« Er schaute erst Christian, dann den Pfarrer fragend an.

Der Bergpfarrer Extra 2 – Heimatroman

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