Читать книгу Der Bergpfarrer Staffel 15 – Heimatroman - Toni Waidacher - Страница 10

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Markus Bruckner, der Bürgermeister von St. Johann, betrat mit stolzgeschwellter Brust die Gaststube des »Löwen«.

»Lokalrunde!« rief er lautstark und ließ sich an dem runden Stammtisch nieder, der gleich neben dem Tresen stand, hinter dem Sepp Reisinger eifrig damit beschäftigt war, Biergläser zu füllen.

Es war später Nachmittag, und viele Bauern und Knechte saßen schon zur Feierabendmaß im Wirtshaus.

»Ja, sag mal, Bürgermeister, seit wann sitzt dir denn das Geld so locker in der Tasche?« frotzelte Max Trenker.

Er spielte damit auf die Tatsache an, daß der Bruckner sich sonst eher schnell verdrückte, wenn es darum ging, mal eine Runde springen zu lassen.

Allgemeines Gelächter folgte auf diese Frage.

Der erste Mann des Ortes ließ sich davon allerdings nicht irritieren. Er zog ein Zigarrenetui aus der Jackentasche, nahm eine echte Havanna heraus und begann damit, sie genüßlich anzuzünden.

»Lacht nur«, meinte er nach dem ersten Zug und wedelte nonchalant den Rauch von seinem Gesicht weg. »St. Johann ist auf dem besten Weg, berühmt zu werden…«

Alle, die um ihn herum standen, Max Trenker, der Bäckermeister Terzing, Ignaz Herrnbacher, der Inhaber des Supermarktes, und Toni Wiesinger, der Arzt, sahen ihn neugierig an.

»Und net nur in ganz Deutschland«, fuhr Markus Bruckner mit wichtiger Miene fort. »Sogar in ganz Europa wird man von uns sprechen. Ach, was sag’ ich – in der ganzen Welt wird man uns kennenlernen.«

Max nahm einen Schluck und schüttelte den Kopf.

»Jetzt mach’s net so spannend«, sagte er. »Hast’ mal wieder eine Heilquelle auf Gemeindegrund entdeckt, oder was ist der Grund für deinen grenzenlosen Optimismus?«

Sepp kam mit einem schwerbeladenen Tablett an den Tisch, natürlich hatte er für sich auch ein Bier mitgebracht, und setzte sich dazu.

»St. Johann wird Schauplatz einer Fernsehserie«, verkündete der Bruckner-Markus und schaute triumphierend grinsend in die Runde. »Da staunt ihr, was? Da hat’s euch die Stimme verschlagen. Prost!«

»Was ist das denn jetzt wieder für ein Schmarrn?« wollte Max Trenker wissen und wischte sich den Mund ab. »Fernsehserie! Geht’s net ein bissel genauer?«

»Gemach«, winkte der Bürgermeister ab. »Ich spann euch ja net länger auf die Folter. Also, vor ein paar Wochen hat mein Büro eine Anfrage von seinem Fernsehsender erhalten, ob wir die Erlaubnis geben würden, daß hier eine… äh, Telenovela heißt das, glaub’ ich, gedreht werden darf.«

Markus Bruckner lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.

»Na ja, ich hab’ dann ein paarmal mit einem der Herren vom Fernsehen telefoniert und mir auch ein paar Unterlagen schicken lassen«, erzählte er, »und gerad’ eben bekam ich die Nachricht, daß in zwei Wochen das erste Team herkommt und alles vorbereitet, damit in der Woche darauf mit den Dreharbeiten begonnen werden kann.«

Beifallsheischend schaute er in die Runde.

»Na, was sagt ihr jetzt?«

Natürlich wurde diese Neuigkeit sofort diskutiert. Während die einen sich der Euphorie ihres Bürgermeisters anschlossen, waren andere eher skeptisch.

»Was ist denn das überhaupt, so eine Telenovela, oder wie das heißt?« rief ein Bauer von einem der Nachbartische herüber.

»Genau das, was deine Frau jeden Nachmittag im Fernsehen anschaut, während du auf dem Feld bist«, feixte ein anderer.

»Ein Fernsehserie halt«, antwortete der Bürgermeister. »Mit hübschen Madln und feschen Burschen, und Liebe und Romantik gehören freilich auch dazu. Ich sag’ euch, das wird ein Renner, wenn ›Rosen und Tränen‹ erst einmal über die Mattscheibe flimmert.«

»Und das soll also hier bei uns im Dorf gedreht werden?« hakte Max nach.

»Ja«, nickte Markus Bruckner. »Es geht darum, so eine Serie einmal im alpenländischen Milieu spielen zu lassen. Wie mir der zuständige Produzent erzählte, war vor geraumer Zeit einer seiner Mitarbeiter hier und hat sich umgeschaut. Und herausgekommen ist dabei, daß es genau bei uns die romantischen Orte gibt, die dafür gebraucht werden.«

»Und was sollen das für Orte sein?« fragte der Polizist.

»Na ja, das Dorf selbst natürlich, dann wollen s’ auf einer Almhütte drehen, oben an der Kachlachklamm.«

»Überall im Dorf?« wollte Max es genau wissen.

Markus Bruckner wand sich, schien irgend etwas noch für sich behalten zu wollen.

»Tja… in der Kirche…«, antwortete er stockend, »und vielleicht im Jagdschloß…«

»Und du denkst wirklich, daß mein Bruder dazu seine Einwilligung gibt?« lachte Max auf. »Das glaub’ ich nie und nimmer, Markus. Das schlag’ dir mal aus dem Kopf.«

Der Bürgermeister sah ihn beinahe flehentlich an.

»Bitte, Max«, sagte er, »diese Serie ist ungeheuer wichtig für St. Johann! Denk’ doch nur an das

Image, das wir als romantisches Dorf weltweit bekommen. Was glaubst’ wohl, wie das den Tourismus ankurbelt? Max, du mußt deinem Bruder gut zureden. Es steht dabei für uns viel auf dem Spiel.«

»Also, wenn’s richtig läuft, dann bau’ ich an«, meinte Sepp Reisinger sofort.

»Für dich ist da ohnehin einiges drinn«, meinte Markus. »Das Vorbereitungsteam wird in der Pension Edelweiß untergebracht, aber wenn nachher die ganzen Schauspieler kommen, dann geht’s erst richtig los – die sollen alle bei dir im Hotel wohnen.«

Die Augen des Wirtes leuchteten.

»Fang’ bloß net jetzt schon an, das Geld zu zählen«, mahnte Max. »Noch klingelt’s net in der Kasse. Und was deine Bitte angeht, Bürgermeister, ich glaub’ net, daß mein Bruder sich da wird beeinflussen lassen. Auch net von mir. Der entscheidet nämlich, nach bestem Wissen und Gewissen, selbst.«

Er zuckte die Schultern.

»Aber wer weiß«, setzte er schulterzuckend hinzu, »vielleicht ist er ja damit einverstanden, daß in der Kirche gedreht werden soll, und was Hubertusbrunn angeht, im Jagdschloß sind in den nächsten Woche eh keine Jugendgruppen untergebracht.«

Markus Bruckner holte tief Luft. Vor dem Gang zum Bergpfarrer hatte er am meisten Angst. Aber das, was Max eben gesagt hatte, machte ihm schon wieder ein bissel Mut.

»Also, Sepp, dann bring’ uns eine Runde Obstler, und dann stoßen wir auf die neue Telenovela ›Rosen und Tränen‹ an.«

Zustimmendes Gemurmel schien jetzt die Skeptiker zu übertönen, was freilich auch an der Freirunde liegen konnte…

*

»Eine Telenovela?«

Sebastian Trenker schaute seinen Bruder ungläubig an.

»Hier, bei uns?«

Max nickte.

»Der Bruckner sagt, die Fernsehleute während ganz wild darauf, hier zu drehen.«

»Ich weiß net«, meinte der Bergpfarrer. »Das gibt doch allerhand Aufregung, wenn so eine ganze Fernsehserie gedreht wird.«

Er breitete die Arme aus.

»Einerseits hat unser Bürgermeister natürlich recht, wenn das Dorf erst einmal im Fernsehen ist, gibt das natürlich einen gewissen Reklameeffekt. Andererseits – denk’ nur mal an diese Krankenhausserie, die vor über zwanzig Jahren im Schwarzwald gedreht wurde, Da sind die Zuschauer mit Bussen hingepilgert, um sich das alles anzuschauen. Ob ich soviel Auftrieb hier haben will, also das möcht’ ich bezweifeln.«

Sein Bruder schmunzelte.

»Ja, ich weiß noch. Die Mama hat’s sich auch immer angeschaut.«

Sebastian lächelte.

»Gott sei Dank hat sie aber genau zwischen Realität und Fernsehen unterscheiden können. Für sie war es eben nur Unterhaltung.«

»Dafür hat der Papa lieber die Sportschau eingeschaltet«, schwelgte Max in Erinnerung an die Eltern.

Er sah Sebastian fragend an.

»Und hättest’ was dagegen, wenn in der Kirche und im Jagschloß gedreht würd’?«

»Hubertusbrunn steht ja frei, und in die Kirche kommen tagtäglich Touristen und fotografieren oder machen Videoaufnahmen. Freilich werd’ ich mit den Verantwortlichen reden und mit ihnen alles absprechen müssen. Das Filmen ist während der Messe natürlich untersagt, aber sonst werd’ ich wohl kaum was dagegen haben können.«

»Da wird dem Bürgermeister aber ein Stein vom Herzen fallen«, grinste Max. »Der hat nämlich eine Heidenangst, daß du es verbieten würdest.«

Der Polizist schaute auf die Uhr.

»So, Claudia wird gleich zu Haus’ sein«, sagte er und stand auf. »Einen schönen Abend noch.«

»Euch auch«, erwiderte der Bergpfarrer und brachte seinen Bruder zur Tür. »Liebe Grüße an Claudia.«

»Richt’ ich aus!« Max verabschiedete sich mit einem kurzen Nicken, er hatte es sehr eilig, zu seiner Claudia zu kommen.

Sebastian schloß die Tür hinter ihm und ging nachdenklich in sein Arbeitszimmer. Dort setzte er sich hinter den Schreibtisch und ließ sich die Angelegenheit noch einmal durch den Kopf gehen.

Im Grunde hatte er nichts gegen das Projekt. Er hoffte nur, daß es während der Wochen, in denen St. Johann als Drehort herhalten sollte, zu keinen Komplikationen kam. Aufregung würde die ganze Sache schon genug mit sich bringen.

Das Telefon klingelte. Der Geistliche nahm den Hörer ab.

»Pfarrhaus St. Johann.«

»Guten Abend«, hörte er eine Frauenstimme. »Delta Film- und Fernsehproduktion, Brigitte Granzinger. Spreche ich mit Pfarrer Trenker?«

»Ja, der bin ich.«

»Grüß Gott, Hochwürden«, sagte die Frau.

»Herr Markus Bruckner hat mir Ihre Telefonnummer gegeben. Vielleicht haben Sie schon davon gehört, daß in Ihrem schönen Dorf eine Telenovela gedreht werden soll?«

»Das habe ich, in der Tat, Frau Granzinger.«

»Ja also…, ich bin die Produktionsassistentin. Der Bürgermeister rief vorhin an und äußerte die Vermutung, daß Sie vielleicht etwas dagegen einzuwenden hätten, wenn die Dreharbeiten in Ihrer Kirche stattfinden würden. Deshalb möcht’ ich mich gern’ mit Ihnen persönlich darüber unterhalten. Ich könnte übermorgen in St. Johann sein. Wäre es möglich, daß ich Sie dann aufsuche und wir darüber sprechen?«

»Das ist sehr gut möglich, Frau Granzinger. Es wär’ mir auch ein Anliegen, über das Ganze informiert zu werden.«

»Darf ich Ihren Worten entnehmen, daß Sie dem Projekt nicht gänzlich abgeneigt gegenüberstehen?« fragte sie hoffnungsvoll.

»Das dürfen Sie, ja«, schmunzelte Sebastian.

»Wunderbar.« Sie schien erleichtert aufzuatmen.

»Dann sehen wir uns am Freitag. Paßt Ihnen fünfzehn Uhr?«

»Ja, das paßt sehr gut, Frau Granzinger. Ich freue mich darauf, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

»Ich mich auch, Hochwürden. Bis übermorgen, und vielen Dank.«

Sebastian legte auf. Er schüttelte den Kopf bei dem Gedanken, daß der Bürgermeister erst Max vorgeschoben und dann bei der Frau vom Fernsehen angerufen hatte.

»Als wenn ich ihm gleich den Kopf abreißen tät’!« murmelte er und ging in die Küche zum Abendessen.

»Wer weiß, vielleicht werden S’ auch noch zum Fernsehstar«, meinte Sophie Tappert schmunzelnd, als sie sich über die Angelegenheit unterhielten.

Der gute Hirte von St. Johann sah seine Haushälterin in gespieltem Entsetzen an.

»Gott bewahre«, rief er, »das fehlte mir gerade noch!«

*

In ihrem Büro gab Brigitte Granzinger einen erleichterten Stoßseufzer von sich. Das Gespräch mit Pfarrer Trenker war beruhigend, hatte der Anruf des Bürgermeisters doch recht bedrohlich geklungen. Ein Verbot der Dreharbeiten in der Kirche hätte die ganze Produktion gefährdet. Dabei war alles schon weit fortgeschritten. Man hatte bereits die Schauspieler unter Vertrag genommen, und die ersten Drehbücher waren auch schon geschrieben.

Die junge Frau stand auf und fuhr sich durch das lange blonde Haar. Brigitte Granzinger war sechs­undzwanzig Jahre alt, schlank und mittelgroß. Sie hatte ein apartes Gesicht, in den Mundwinkeln zeigten sich zwei lustige Grübchen, wenn sie lachte.

Sie warf einen letzten Blick auf den aufgeräumten Schreibtisch, bevor sie in die leichte Jacke schlüpfte und das Büro verließ. Zwei Türen weiter klopfte sie an und betrat das ›Allerheiligste‹ der Delta Film- und Fernsehproduktion. Hier drinnen residierte der Chef der Firma, Hans Morgenthaler. Mit ihm saßen zwei weitere Männer in der elegant eingerichteten Besucherecke; Eduard Bachmann, genannt ›Eddy‹, und Thorsten Hofer, der Regisseur, der für die Fernsehserie verpflichtet worden war. Nachdem Markus Bruckner angerufen und seine Bedenken wegen Pfarrer Trenker geäußert hatte, waren sie zu einer Krisensitzung zusammengekommen. Es stand viel auf dem Spiel. Zwar hätte man notfalls auf einen anderen Ort ausweichen können, aber gerade St. Johann brachte genau das Flair mit, das man sich vorgestellt hatte, als ›Rosen und Tränen‹ ausgebrütet worden war.

Die drei Männer blickten der Produktionsassistentin gespannt entgegen.

»Und?« fragte Eddy Bachmann.

Brigitte lächelte.

»Ich habe übermorgen einen Termin in St. Johann mit dem Pfarrer«, erklärte sie. »Am Telefon klang er gar nicht so übel. Jedenfalls scheint er nicht grundsätzlich gegen unser Vorhaben zu sein. Gleich morgen reise ich ab.«

»Klasse!« rief Hans Morgenthaler erleichtert. »Komm, setz’ dich, Brigitte, darauf müssen wir anstoßen!«

»Aber nur ein Glas«, sagte sie. »Ich möchte gleich nach Hause und alles für die Reise vorbereiten.«

»Klar«, nickte der Chef. »Wie lange wirst du fort sein?«

»Das Team reist Anfang übernächster Woche an«, antwortete sie. »Ich denk’, daß ich gleich dort bleibe und alles vorbereite. Es gibt da noch ein paar Gespräche, die ich führen muß, vor allem mit ein, zwei Bauern, auf deren Höfen einige Szenen gedreht werden sollen.«

Sie nahm die Proseccoflasche aus dem Kühler und schenkte ein.

Thorsten Hofer sah sie mit wohlgefälligem Blick an. Sie hatten sich erst vor kurzem, im Laufe der Vorgespräche, kennengelernt, und der Regisseur ließ keinen Zweifel daran, daß ihm die junge Frau ausgesprochen gut gefiel. Mehrmals hatte er schon versucht, sie zum Essen einzuladen, doch Brigitte hatte sich bisher standhaft geweigert.

»Dann wäre es doch vielleicht von Vorteil, wenn ich Sie begleite«, meinte er. »Zusammen soll es uns schon gelingen, die Dörfler zu überreden.«

Dabei zwinkerte er ihr zu.

»Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist«, entgegnete sie charmant. »Vielleicht wären wir zu abgelenkt…!«

Thorsten Hofer verzog enttäuscht sein Gesicht, während die beiden anderen sich feixend angrinsten.

»Nein, im Ernst«, setzte Brigitte hinzu, »ich kenne die Leute dort. Sie sind Fremden gegenüber nicht unbedingt gleich aufgeschlossen. Es ist besser, wenn ich alleine hinfahre und erst einmal vorfühle.«

Außerdem gibt es noch einen anderen Grund, warum ich alleine ins Wachnertal will, dachte sie wenig später, als sie mit ihrem Wagen nach Hause fuhr. Einen sehr wichtigen Grund!

*

Brigitte Granzinger fuhr von der Bundesstraße ab und bog auf eine wenig befahrene Landstraße ein. Zwar verfügte ihr Auto über ein modernes Navigationssystem, aber das brauchte sie nicht, schließlich war ihr diese Gegend bekannt wie die eigene Westentasche.

Ein wenig Herzklopfen hatte sie gehabt, als sie am Morgen die Fahrt antrat, und ein bißchen Aufregung war immer noch da. Es war das erste Mal seit sieben Jahren, daß sie wieder nach Hause fuhr, und sie fragte sich, ob sie willkommen sein würde…

In Waldeck hatte sich kaum etwas verändert, stellte sie fest, als sie den Ort erreichte. Ein paar neue Häuser waren gebaut worden, wie es aussah, hatte man die Praxis des Doktors renoviert.

Brigitte fuhr langsam und schaute sich alles ganz genau an. Und plötzlich überkam sie ein Kribbeln und eine Unruhe, die sie zuerst nicht recht einordnen konnte. Als sie dann vor dem Elternhaus stand, wußte sie es – es war das überwältigende Gefühl, wieder daheim zu sein!

Die junge Frau strich ihre langen blonden Haare zurück und stieg aus. Ein paar Gesichter drehten sich neugierig nach ihr um. Sie blickte zurück, erkannte aber niemanden. Dann schritt sie zur Tür und legte den Finger auf den Klingelknopf.

Es dauerte eine Weile, bis sich hinter der Milchglasscheibe etwas rührte. Ein Schlüssel wurde herumgedreht, und die Tür öffnete sich einen Spalt.

»Grüß dich, Rosel«, sagte Brigitte zu ihrer Schwester. »Darf ich hereinkommen?«

Die Augen der Frau in der Tür weiteten sich.

»Du?« stieß Rosel Granzinger hervor.

Brigitte nickte.

Das Gesicht ihrer Schwester zeigte eine Mischung aus Überraschung und Widerwillen. Nach einigen Sekunden, die zäh zu zerrinnen schienen, gab sie den Weg frei.

»Hast’ dir ja Zeit gelassen«, sagte sie. »Na, dann komm herein, wenn du schon mal da bist.«

Ohne abzuwarten ging sie voran. Brigitte bemerkte das leichte Humpeln, als Rosel das rechte Bein nachzog.

Im Wohnzimmer bot sie ihr einen Platz an. Sie selbst setzte sich in einen alten, zerschlissenen Sessel. Brigitte bemerkte, daß er der war, in dem ihr Vater immer gesessen hatte. Sie schaute sich um. Die Stube sah noch genauso aus wie vor sieben Jahren. Überhaupt strahlte das ganze Haus immer noch denselben Geruch aus, den sie schon als Kind so gehaßt hatte. Selbst die Tapeten waren nicht erneuert worden.

Und Rosel?

Sie hatte sich verändert. Obwohl Brigitte nur ein Jahr jünger war, wirkte ihre Schwester sehr viel älter. Verhärmt sah sie beinahe aus, und das einfache Kleid, das sie anhatte, trug nicht gerade zu einem attraktiven Aussehen bei.

»Vielleicht hätt’ ich vorher anrufen sollen«, sagte Brigitte in das Schweigen hinein.

»Vielleicht hättest’ dich überhaupt mal melden sollen, in all den Jahren«, entgegnete ihre Schwester bissig. »Oder gar net erst fortgehen und mich mit allem hier allein lassen.«

Brigitte biß sich auf die Lippe.

Mit dieser Zurechtweisung hatte sie gerechnet und sie wußte, daß Rosel sie zu Recht ausstieß.

»Ich weiß«, sagte sie. »Es tut mir auch leid, aber was gescheh’n ist, ist nun mal gescheh’n, und ich kann’s net rückgängig machen.«

Rosels Gesicht war wie eine Maske.

»Was willst’ überhaupt hier?« fragte sie. »Treibt dich etwa dein schlechtes Gewissen nach Haus’? Das kann ich net glauben. Als du gleich nach Vaters Tod fort bist, da hast’ ja auch keines gehabt.«

»Wie willst du das wissen?« begehrte Brigitte auf. »Was weißt du davon, was ich gefühlt hab’? Du warst net dabei, als ich mir die schlimmsten Vorwürfe machte, aber ich hatte keine and’re Wahl. Ich mußte fort hier, wenn ich net ersticken wollte!«

Der Ausbruch ließ Rosel zusammenzucken. Sie betrachtete ihre Schwester. So etwas hatte sie schon früher erlebt. Sie, als die Ältere, war immer besonnen gewesen und darauf bedacht, es dem Vater recht zu machen, der es schwer hatte, nach dem frühen Tod seiner Frau, die ihn und zwei Töchter zurückgelassen hatte und ihm damit eine schwere Last aufbürdete. Brigitte hingegen hatte nie mit ihrer Meinung hinter dem Berg gehalten und sich gegen alles und jeden aufgelehnt. Selbst die Strenge des Vaters hatte sie nicht zu ändern vermocht. Später änderte es sich dann ein wenig. Karl Granzinger erkrankte nach einem Arbeitsunfall schwer und mußte zu Hause gepflegt werden. Die beiden Schwestern wechselten sich damit ab. Zwei Jahre dauerte der Kampf gegen die Krankheit, bis der ehemalige Sägemühlenarbeiter ihn verlor.

Am Tag nach seiner Beerdigung verschwand Brigitte und ließ nie wieder etwas von sich hören.

Bis heute.

»Wahrscheinlich ist es wirklich sinnlos, darüber zu streiten«, gab Rosel nach. »Du bist deinen Weg gegangen, hast getan, was du deiner Meinung nach hast tun müssen. Daran ist wirklich nix mehr zu ändern.«

Brigitte stand auf und ging zu ihrer Schwester. Sie ließ sich auf der Lehne nieder und legte den Arm um Rosel.

»Ich hab’ einen Fehler gemacht«, sagte sie leise. »Den, daß ich dich hier zurückgelassen hab’. Wir hätten das Haus verkaufen und zusammen fortgehen sollen. Dann wär’ alles anders gekommen.«

Rosel sah sie an, und plötzlich lief ihr eine Träne über das Gesicht. Brigitte küßte sie auf die Wange und wischte die Träne ab.

»Vielleicht ist es ja noch net zu spät«, meinte sie, »und wir können uns doch irgendwie zusammenraufen.«

»Meinst’ wirklich?« fragte Rosel, und so etwas wie ein Hoffnungsschimmer tauchte in ihren Augen auf.

»Ganz bestimmt«, nickte Brigitte. »Wir müssen’s halt versuchen.«

*

Sie stand auf und ging in die Küche.

»Hast’ Kaffee im Haus’?« rief sie.

»Im Küchenschrank«, antwortete Rosel. »Da, wo er immer steht.«

Brigitte nickte und öffnete lächelnd die Klappe.

Nein, es hatte sich wirklich nichts verändert. Es war immer noch so wie früher.

»Oben steht noch Kuchen drinn«, meinte ihre Schwester, die nachgekommen war. »Rührkuchen mit Rosinen.«

»Was? Sag’ mal, hast du geahnt, daß ich herkommen werd’?«

Rosel schmunzelte. Rührkuchen mit Rosinen, das war schon immer Brigittes Lieblingskuchen gewesen. Das Rezept stammte von der Mutter, und nach deren Tod war es die große Schwester gewesen, die ihn immer gebacken hatte.

»Was macht das Bein?« erkundigte sich Brigitte, als sie später wieder im Wohnzimmer saßen und Kaffee tranken.

Rosel zuckte die Schultern.

»Es geht so«, erwiderte sie. »Ich hab’ mich halt dran gewöhnt, und es schmerzt nur noch ein bissel, wenn’s einen Wetterumschwung gibt.«

Als junges Madl war sie von einem Baum gestürzt und hatte, neben einer Gehirnerschütterung, einen komplizierten Bruch des rechten Beines davongetragen. Zweimal mußte operiert werden, mit dem Ergebnis, daß sie das Bein nachzog.

»Manchmal ist’s zwar lästig«, meinte sie. »Hat aber auch den Vorteil, daß es mir die Burschen vom Leibe hält. Mit mir tanzen wollen s’ nämlich net.«

Sie sagte es so betont munter, daß es wie Galgenhumor klang, aber Brigitte glaubte auch eine gehörige Portion Bitterkeit aus den Worten herauszuhören.

»Dann hast’ keinen Freund?« fragte sie vorsichtig.

Rosel schüttelte den Kopf.

»Den brauch’ ich auch net«, behauptete sie fest.

Sie schenkte Kaffee nach.

»Jetzt aber mal zu dir«, sagte sie. »Wo lebst du, was machst du? Und warum bist hergekommen?«

Brigitte holte tief Luft.

»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete sie.

Am Tag nach der Beisetzung ihres Vaters, war sie nach München gefahren. Brigitte war eine gute Schülerin gewesen und hatte, im Gegensatz zu Rosel, die nach zwei Jahren auf dem Gymnasium abbrach, um den Vater zu pflegen, das Abitur gemacht. Eigentlich hatte sie nach dem schweren Unfall in der Sägemühle auch die Schulausbildung abbrechen wollen, doch ihre Schwester war strikt dagegen gewesen. Dank des guten Abiturs wurde sie an der Universität angenommen. Schon immer hatte sie das Fernsehen fasziniert, und so schlug sie eine entsprechende Richtung ein. Neben dem Studium arbeitete sie als »Mädchen für alles« bei einem Sender und bekam auf diese Weise die Chance, in ihren zukünftigen Beruf hineinzuschnuppern.

»Seit drei Jahren bin ich bei der Delta-Filmproduktion«, beendete sie ihren Bericht, »und seit einem Jahr Produktionsassistentin.«

Rosel nickte.

»Dann hast du’s ja geschafft.«

Die Worte klangen bewundernd und ohne Neid.

Brigitte griff über den Tisch nach ihrer Hand.

»Und das hab’ ich dir zu verdanken«, sagte sie. »Wenn du mich damals net davon abgehalten hättest, das Gymnasium zu schmeißen…«

Sie rührte Milch in ihren Kaffee.

»Und jetzt bin ich dabei, mein Baby zur Welt zu bringen«, lächelte sie.

Rosel sah sie überrascht an.

»Du bist schwanger? Man sieht ja gar nix.«

»Nein, nicht so«, schüttelte ihre Schwester den Kopf.

»Ich rede von einer Telenovela, die hier im Wachnertal gedreht werden soll. Genauer gesagt, in St. Johann und Umgebung. Ich hab’ mich mächtig ins Zeug gelegt, bis mein Chef endlich zustimmte. Morgen hab’ ich einen Termin mit Pfarrer Trenker. Der Bürgermeister von St. Johann hatte Bedenken, Hochwürden könne etwas gegen die Dreharbeiten in der Kirche haben. Es ist mir aus zwei Gründen wichtig, daß die Produktion hier stattfindet, und einer davon bist du, Rosel.«

Ihre Schwester lächelte.

»Ich freu’ mich, daß du zurückgekommen bist«, sagte sie. »Und was ist der and’re Grund?«

Brigitte schwieg einen Moment und schien in weite Ferne zu starren.

»Erinnerst du dich an den Tobias?« fragte sie.

Rosel kramte in ihrem Gedächtnis.

»Meinst’ den Burschen vom Rauchingerhof?«

»Richtig«, nickte Brigitte mit glänzenden Augen. »Weißt du was über ihn? Lebt er immer noch da droben?«

Rosel zuckte die Schultern.

»Keine Ahnung«, erwiderte sie. »Ich geh’ ja kaum unter die Leut’. Die Arbeit mach’ ich hier zu Haus’, am Computer, und sonst seh’ ich nur hin und wieder jemanden beim Einkaufen.«

Während ihrer Unterhaltung hatte sie schon erwähnt, daß sie vor ein paar Jahren einen Computer angeschafft hatte, mit dem sie Schreibarbeiten für verschiedene Firmen erledigte. Kein lukrativer Job, aber sie hatte ihr Auskommen. Miete brauchte sie nicht zahlen, weil das Haus den Schwestern gehörte, und zum Leben brauchte sie nicht viel.

»Warum fragst’ denn nach dem Tobias?« wollte Rosel wissen.

Brigitte neigte den Kopf.

»Er war meine erste große Liebe«, erwiderte sie. »Und irgendwie hab’ ich ihn nie vergessen können…«

»Na, dann besuch’ ihn doch einfach mal«, schlug ihre Schwester vor.

»So einfach, wie du dir das vorstellst, ist das net«, sagte Brigitte. »Wir sind damals im Streit auseinander gegangen. Tobias wollte, daß ich bleibe, ihn heirate und Bäuerin werd’, wenn er den Hof übernimmt. Ich wollt’, daß er mitkommt. Wir haben lang’ darüber gestritten, und dann bin ich ohne ihn fort.«

»Und jetzt hast’ Angst, daß er dich net mehr kennt.«

»Ja, oder daß er immer noch bös’ ist.«

Die junge Frau machte eine resignierende Handbewegung.

»Vielleicht jag’ ich da ja sowieso nur einem Hirngespinst nach.«

Sie trank ihre Tasse leer.

»Hauptsache ist, daß das mit den Dreharbeiten klappt. Sag’ mal, Rosel, hast’ viel zu tun, oder kannst deine Arbeit morgen mal liegen lassen?«

»Für die Woche bin ich fertig.«

»Prima, dann fahren wir morgen früh in die Stadt und machen einen kleinen Einkaufsbummel.«

»Einfach so?«

»Freilich einfach so. Oder willst’ bei dem herrlichen Wetter lieber in der Stube hocken?«

Rosel schien der Gedanke, in die Stadt zu fahren, unangenehm zu sein.

»Nein, natürlich net«, antwortete sie. »Aber, weißt du, ich ganz selten in der Stadt. Erstens, weil ich net viel Geld hab’, um großartig einzukaufen, und außerdem…«

Sie schaute an ihrem Kleid herunter.

»… außerdem hab’ ich auch nix Rechtes zum Anziehen.«

»Und genau das werden wir ändern!« sagte Brigitte bestimmt. »Und zum Friseur geh’n wir auch.«

»Ich…, ich gefall’ dir wohl net, was?« fragte die Schwester unsicher.

»Ach, Rosel!«

Brigitte nahm sie in den Arm.

»Natürlich gefällst du mir«, antwortete sie. »Aber ein bissel was hermachen sollst’ schon.«

Sie zwinkerte ihr zu.

»Wirst seh’n, dann klappt’s auch mit den Burschen.«

*

Pünktlich um fünfzehn Uhr am nächsten Tag klingelte Brigitte an der Tür des Pfarrhauses.

Am Morgen waren die beiden Schwestern, nach einem ausgiebigen Frühstück, in die Stadt gefahren. Rosel hatte sich vergeblich dagegen gesträubt.

»Schau doch bloß, wie ich aussehe«, hatte sie gesagt und an sich herunter gezeigt.

Brigitte betrachtete sie kritisch.

»Hm, die Hose ist wirklich net der Hit«, meinte sie.

Sie kramte in ihren Sachen, die noch auf dem Bett lagen.

»Probier mal die hier«, sagte sie. »Die müßte dir auch passen.«

Schon als junge Madln hatten sie oft ihre Kleidungsstücke getauscht; sie hatten die gleiche Figur.

»Du spinnst«, schüttelte Rosel den Kopf. »Die ist doch viel zu elegant!«

Es handelte sich um eine teure Designerjeans, die eng geschnitten war.

»Quatsch. Zieh’ sie einfach an.«

Brigitte suchte ein passendes Top heraus.

»Mit den Haaren werden wir was machen müssen«, überlegte sie und band sie zu einem Zopf zusammen.

Sie trat einen Schritt zurück und blickte Rosel an.

»Na also, geht doch.«

Zuerst suchten sie nach einem Friseur, was allerdings nicht ganz einfach war, weil die meisten nur Kunden bedienten, die einen festen Termin hatten. Nach einer längeren Suche hatten sie schließlich Glück. Rosels Haare wurden gewaschen und etwas geschnitten, dann bekam sie ein schicke Fönfrisur.

»So, und jetzt geh’n wir shoppen«, sagte Brigitte, als sie den Friseursalon wieder verlassen.

Zufrieden betrachtete sie ihre Schwester, die immer wieder mit der Hand nach der ungewohnten Frisur tastete.

In einer Boutique machten sie einen Großeinkauf: Hosen, zwei Kleider, zwei Röcke, dazu T-Shirts, Blusen, Pullis und Schuhe.

»Du bist total verrückt!« flüsterte Rosel, als sie an der Kasse standen, und sie den Betrag sah. »Das kann ich doch niemals bezahlen!«

Brigitte zückte ungerührt ihre Kreditkarte und unterschrieb den Beleg.

Es war nicht so, daß sie mit dem Geld nur so um sich werfen konnte, aber sie verdiente gut und lebte im Grunde recht sparsam. In den letzten Jahren hatte sie einiges sparen können und es machte ihr Freude, ihre Schwester zu beschenken.

»Hast du eigentlich einen Freund?« fragte Rosel, als sie beim Mittagessen in einem Restaurant saßen.

Insgeheim argwöhnte sie, daß Brigitte einen reichen Mann haben könne, der sie aushielt.

»Nein, den letzten hab’ ich vor vier Wochen in den Wind geschossen«, erwiderte die Schwester.

»Einfach so?«

Brigitte Granzinger drehte das Weinglas in den Händen. Um ihren Mund stand ein düsterer Zug.

»Ich glaub’, mit den Männern hab’ ich irgendwie kein Glück«, gab sie zu. »Die einen seh’n in mir nur eine attraktive Frau, die beim Fernsehen arbeitet, und wollen davon profitieren, um selbst beim Sender ein Fuß in die Tür zu bekommen. Die and’ren denken, sie bräuchten nur mit den Fingern zu schnippen und könnten alles von mir haben. Der letzte war übrigens verheiratet. Als ich das herausgefunden hatte, war bei mir der Ofen aus. Ich hab’ seine Sachen durch das Fenster auf die Straße geworfen und ein neues Türschloß einbauen lassen.«

Rosel wußte nicht, ob sie Mitleid haben sollte, oder schmunzeln.

»Na ja, konsequent warst’ ja schon immer.«

Am Abend vorher hatten sie sich noch lange unterhalten. Zuerst machten sie einen Spaziergang durch das Dorf und suchten den Friedhof auf, wo die Eltern in einem gemeinsamen Grab lagen. Brigitte erfuhr, wer noch alles in den vergangenen Jahren gestorben war, und daß die Praxis ein junger Arzt übernommen hatte. Nach dem Abendessen schauten sie sich die Fotoalben an, und zum ersten Mal seit langer Zeit hallte wieder ein Kichern und Lachen durch die Wohnung, wenn sie die Fotos betrachteten, die sie als Teenager zeigten.

Als Brigitte dann in ihrem alten Bett lag – Rosel hatte das Zimmer genauso gelassen, wie alles andere – da dachte sie wieder an Tobias Rauchinger. Sie sah ihn ganz genau vor sich. Groß war er und schlank. Das Gesicht hatte immer einen lausbübischen Ausdruck gezeigt, und alle Madln waren ganz verrückt nach ihm gewesen.

Heimlich mußten sie sich treffen, nachdem es auf der Kirchweih zwischen ihnen gefunkt hatte. Franz Rauchinger, der Vater, hätte nie geduldet, daß sein Sohn die Tochter eines Sägemühlenarbeiters liebt. Tobias hatte dennoch daran festgehalten, daß Brigitte die einzige Frau war, die er heiraten wollte. Irgendwann, hatte er gemeint, würde das auch der Vater einsehen müssen.

Sie hingegen hatte schon immer den Drang verspürt, aus Waldeck fortzugehen. In dem Dorf war alles zu klein, die Leute zu engstirnig.

Himmel, was war das für eine Befreiung, als sie auf das Gymnasium ging. Sie genoß schon allein die Tatsache, daß sie dadurch regelmäßig in die Stadt kam. Mit dem ersten Bus fuhr sie los und zögerte die Heimfahrt solange wie möglich heraus.

Als dann ihr Vater verunglückte, schienen damit auch alle ihre Träume zu platzen. Rosel brach sofort die Schule ab, und Brigitte wollte es ihr gleichtun.

»Das kommt überhaupt net in Frage!« hatte die Schwester aber kategorisch gesagt.

Und heute war Brigitte ihr sehr dankbar dafür.

*

»Frau Granzinger, net wahr?« begrüßte Sebastian die Besucherin. »Herzlich willkommen.«

»Grüß Gott, Hochwürden«, erwiderte sie. »Herzlichen Dank, daß Sie sich einen Augenblick Zeit nehmen.«

»In so einer wichtigen Angelegenheit ist Eile fehl am Platze«, sagte der Bergpfarrer lächelnd. »Aber kommen S’ doch erst einmal herein. Am besten setzen wir uns nach draußen. Meine Haushälterin hat Kaffee gekocht und einen Kuchen gebacken. Oder möchten S’ lieber Tee trinken?«

»Kaffee ist in Ordnung. Vielen Dank«, antwortete sie und folgte ihm durch den Flur und das Wohnzimmer, hinaus auf die Terrasse.

Dort war schon der Tisch gedeckt.

»Schön haben Sie’s hier«, sagte Brigitte und deutete auf den Pfarrgarten, in dem es prächtig grünte und blühte.

»Überlegen S’ vielleicht, ob der Garten als Drehort auch geeignet ist?« scherzte Sebastian.

Sie lachten beide. Dann kam Sophie Tappert und brachte den Kaffee und einen herrlichen Käsekuchen heraus.

Brigitte zog einen Plastikordner aus ihrer Tasche und reichte ihn über den Tisch.

»Das sind das Exposé und der vorläufige Drehplan«, erklärte sie. »Ich hab’ Ihnen die Unterlagen mitgebracht, damit Sie sich selbst ein Bild davon machen können, was hier passieren soll.«

Der Bergpfarrer nahm den Ordner entgegen und nickte.

»Danke. Bis wann brauchen S’ das zurück?«

»Überhaupt net«, erwiderte sie. »Lesen S’ das in aller Ruhe durch. Es kann natürlich sein, das noch mal was geändert wird, aber das betrifft net die Szenen, die in der Kirche spielen sollen. Die würden wir drehen, wann es Ihnen paßt. Natürlich außerhalb der Gottesdienste.«

Der gute Hirte von St. Johann war zwar kein Fachmann, aber er wußte, daß die einzeln gedrehten Szenen später erst zu einem Film zusammengefügt wurden.

»Ich kann Ihnen auch jetzt schon mit ein paar Sätzen erklären, worum es in der Geschichte geht«, bot Brigitte Granzinger an.

»Ja, das würd’ mich interessieren«, sagte Sebastian. »Aber nehmen S’ sich noch ein Stück von dem Kuchen.«

»Der ist wirklich ganz ausgezeichnet«, wandte sich die Besucherin an Sophie Tappert. »So was Gutes hab’ ich lang’ net gegessen.«

Sie trank einen Schluck Kaffee und lehnte sich zurück.

»Also, die Handlung spielt im dörflichen Milieu«, erzählte sie. »Ein junger Mann kehrt nach Jahren im Ausland in die Heimat zurück. Seinerzeit ist er im Streit mit dem Vater davongegangen, und der alte Bauer hat den Hof mehr recht, als schlecht über Wasser halten können. Als sein Sohn zurückkommt, verweigert der Vater ihm die Hand zur Versöhnung. Dabei könnte er dessen Hilfe gut gebrauchen, der Hof steht kurz vor der Zwangsversteigerung, aber der Alte bleibt stur.

Indes gibt es da noch eine junge Frau, der zweite Grund, warum der Sohn heimgekehrt ist. Sie war seine große Liebe, und er hat sie in der Fremde nie vergessen können.«

Brigitte machte eine kurze Pause und trank erneut.

»Na ja«, fuhr sie dann fort, »es gibt ein paar Verwicklungen, tragischer und humorvoller Art, und am End’ finden sich die zwei jungen Leute, und Vater und Sohn versöhnen sich wieder.«

Sebastian hatte zugehört. Er lä­chelte.

»Geschichten, wie sie das Leben schreibt«, sagte er. »Der Mensch, der sich das ausgedacht hat, muß sich aber doch sehr gut mit der Mentalität der Leute hier auskennen.«

Die junge Frau zuckte die Schultern.

»Na ja, die Drehbuchautoren arbeiten ja oft nach einer Vorlage, ein Roman oder so. In diesem Fall stammt die Grundidee von mir.«

Der Bergpfarrer sah sie überrascht an. »Ach, tatsächlich?«

»Ja. Ich hab’ lang’ überlegt, als es darum ging, dieses Format zu entwickeln, und dann…, dann bin ich einfach darauf gekommen, etwas als Grundlage zu nehmen, in dem ich mich auskenne.«

»Sie stammen aber net aus St. Johann?«

Brigitte schüttelte den Kopf.

»Aus Waldeck.«

Sebastian öffnete den Mund und schlug sich gegen die Stirn.

»Granzinger!« rief er. »Der Na­me kam mir gleich so bekannt vor. Ich hätt’s mir eigentlich denken müssen. Sie sind die Tochter von Karl Granzinger, der vor sieben Jahren an den Folgen eines Arbeitsunfalls verstorben ist.«

Sie nickte.

»Ja, Hochwürden, so ist es.«

»Aber wie sind Sie denn zum Fernsehen gekommen?« erkundigte sich Sebastian.

»Ach, das ist eine lange Geschichte…«

»Erzählen Sie«, forderte der Geistliche die Besucherin auf. »Geschichten interessieren mich immer.«

Brigitte begann zu erzählen, wie sie damals fortgegangen war, was sie alles erlebt hatte, und wie das Heimweh sie schließlich dazu gebracht hat, die Idee für die Telenovela zu entwickeln.

»In dieser Geschichte steckt auch ein großer Teil meiner persönlichen Erlebnisse«, erklärte sie. »Der Bauernsohn, der mir vorschwebt, hat einen realen Menschen als Vorbild. Es gibt einen Mann, den ich einmal sehr geliebt hab’. Ich hab’ mir vorgestellt, daß er uns’ren gemeinsamen Plan, zusammen fortzugehen, in die Tat umgesetzt hat.«

»Er ist aber geblieben.«

»Ja«, nickte Brigitte, und ein dunkler Zug huschte über ihr Gesicht.

»Darf ich fragen, wer er ist?«

»Er heißt Tobias. Tobias Rauchinger.«

Sebastian kannte den jungen Bauern, dessen Hof unterhalb des Zwillingsgipfel lag.

»Ich kenn’ den Tobias.«

Brigitte richtete sich auf.

»Wissen Sie, wie’s ihm geht?« fragte sie. »Ist er verheiratet? Leben seine Eltern noch?«

Für den Seelsorger war es klar, was diese Fragen bedeuteten. Brigitte Granzinger schien Tobias Rauchinger nie ganz vergessen zu haben. Nicht nur, daß er als Vorlage für den Hauptdarsteller von ›Rosen und Tränen‹ hatte herhalten müssen, sie war zurückgekehrt, um ihn wiederzusehen.

»Nein, verheiratet ist er net«, antwortete er. »Sein Vater ist vor fünf Jahren, glaub’ ich, verstorben, die Mutter im letzten Herbst. Der Tobias bewirtschaftet den Hof zusammen mit einem Knecht und der alten Resl.«

Brigitte nickte. Resl Oberleitner kannte sie nur vom Hörensagen. Auf dem Hof selbst war sie nie, wußte aber, wo er zu finden war.

«Sie würden ihn wohl gern’ wiedersehen, was?« fragte Sebastian Trenker.

Die junge Frau nickte.

»Ich weiß net, ob ich Ihnen zureden oder abraten soll. Tobias ist… wie soll ich’s ausdrücken… er scheint net für die Ehe geschaffen zu sein. Jedenfalls ist’s noch keinem der Madln, die sich für ihn interessieren, gelungen, ihn an sich zu binden…«

Brigitte verstand.

Ein Hallodri war er also, der Tobias Rauchinger. Einer, der das Leben auf die leichte Schulter nahm und die Feste feierten, wie sie fielen.

Aber vielleicht hatte dieser Lebenswandel ja auch einen Grund – nämlich den, daß er sie auch nie hatte vergessen können und seine Sehnsucht in flüchtigen Bekanntschaften ertränkte.

Ein Gedanke war es nur, der sich aber immer mehr in ihrem Kopf festsetzte.

Vielleicht auch, weil sie es nicht anders haben wollte…

»Gut, Hochwürden«, kam Brigitte Granzinger auf den eigentlich Grund ihres Besuches zurück, »Sie haben die Unterlagen da. Sollten S’ noch fragen haben, ich hab’ die Telefonnummern, unter denen ich zu erreichen bin, notiert. Ansonsten geh’ ich davon aus, daß wir Ihr Einverständnis zum Drehen in der Kirche und dem Jagdschloß haben.«

»Das haben Sie«, nickte der Bergpfarrer. »Ich wünsch’ Ihnen und Ihrem Team gutes Gelingen, und sollte es Probleme gebe, dann dürfen S’ sich jederzeit an mich wenden.«

Er brachte die Besucherin zur Tür. Winkend ging Brigitte den Kiesweg hinunter. Sebastian schaute ihr nach und dachte an das, was sie erzählt hatte.

Tobias Rauchinger – in vielem ähnelte er Max Trenker, der in seiner Junggesellenzeit auch nichts hatte anbrennen lassen. Sehr zum Leidwesen seines Bruders. Erst nachdem er Claudia kennengelernt hatte, drehte sich Max um hundertachtzig Grad und änderte seinen Lebenswandel.

Vielleicht konnte Brigitte Granzinger so etwas auch bei dem jungen Bauern bewirken. Sebastian wünschte es ihr jedenfalls.

*

Brigitte bemerkte, daß sie den Weg zum Rauchingerhof eingeschlagen hatte, als sie, statt nach Waldeck zu fahren, bereits auf der Bergstraße war. Abrupt trat sie auf die Bremse und hielt an.

»Was machst du denn?« murmelte sie fahrig und schaute aus dem Fenster.

Wollte sie das wirklich? Konnte sie einfach nach sieben Jahren, so mir nichts, dir nichts, bei ihm auftauchen?

Sollte sie einfach sagen: »Hallo, da bin ich.«

So, als wäre nichts geschehen? Als hätten sie sich nicht im Streit getrennt, und sie wäre nur mal eben für eine Stunde fortgewesen?

Einem Impuls folgend wollte sie kehrtmachen und zu ihrer Schwester fahren. Doch dann fuhr sie langsam wieder an, die Straße hinauf.

Tobias war schließlich der zweite Grund, warum sie in die Heimat zurückgekehrt war. Immer wieder hatte sie sich vorgestellt, wie es sein würde, wenn sie vor ihm stand. Tausendmal hatte sie es sich ausgemalt, wie er sie in die Arme schließen würde.

Aber war es wirklich so einfach?

Ihr Herz raste, als sie vor dem Hof hielt und ausstieg. Es war das erste Mal, daß sie herkam. Früher hatte er nie gewagt, sie mit nach Hause zu nehmen.

Es war niemand zu sehen, als sie zum Haus ging. Brigitte klopfte an die Tür und holte tief Luft. Eine ältere Frau öffnete und sah sie fragend an. Das mußte die Magd sein.

»Ja, bitte?«

»Grüß Gott«, sagte die junge Frau. »Granzinger mein Name. Ist der Tobias daheim?«

Resl Oberleitner musterte die junge Frau, die vor ihr stand, von oben bis unten. Brigitte war klar, daß sie in ihrer modischen Kleidung hier oben wie eine Exotin wirken mußte.

Die Magd schüttelte den Kopf.

»Nein, der Bauer ist net da. Kann ich was ausrichten?«

Plötzlich erschien ihr die Idee, einfach hierher gekommen zu sein, doch unsinnig. Natürlich war Tobias nicht da. Wahrscheinlich arbeitete er irgendwo auf dem Feld oder im Bergwald. Sie hätte vorher anrufen und ihren Besuch ankündigen sollen.

Sie lächelte. »Nein, vielen Dank. Wir kennen uns von früher, und ich war grad in der Gegend und hab’ gedacht, ich schau’ einfach mal vorbei. Einen schönen Tag noch.«

Sie drehte sich um und ging mit staksigen Schritten zu ihrem Auto. Die Blicke der Magd spürte sie dabei deutlich in ihrem Rücken. Beinahe fluchtartig wendete sie den Wagen und fuhr die Straße hinunter.

»Eine absurde Idee!« tadelte sie sich.

Wahrscheinlich hatte er in den Jahren nicht einen einzigen Gedanken an sie verschwendet.

Brigitte wäre es lieber gewesen, sie hätte ihre unüberlegte Aktion rückgängig machen können. Aber dazu war es zu spät. Ärgerlich über sich selbst fuhr sie nach Waldeck weiter und hielt vor dem Elternhaus. Sie stutzte, als sie das Auto sah, das davor abgestellt war. Es hatte ein Münchener Kennzeichen, und an den Türen prangte das Logo der Delta GmbH.

Jemand von der Firma?

Hoffentlich ist das Projekt nicht plötzlich durch irgendwas auf Eis gelegt worden, durchzuckte es sie.

Wenn extra jemand aus München hergekommen war, mußte das nicht unbedingt etwas Gutes bedeuten…

Sie schloß die Haustür auf und trat ein.

»Ich bin zurück«, rief sie.

»Wir sind im Wohnzimmer«, antwortete Rosel.

Brigitte durchquerte rasch den Flur und blieb in der Wohnzimmertür stehen.

»Tommy!« rief sie aus. »Was machst du denn hier?«

Thomas Berghoff saß auf dem Sofa und trank Kaffee. Er stand auf und kam ihr entgegen.

»Da staunst du, was?« meinte er grinsend, während sie sich umarmten und auf die Wange küßten. »Der Chef meinte, ich solle auch schon mal herfahren und dich unterstützen, falls es irgendwelche Probleme gibt. Das Team reist übrigens schon in der nächsten Woche an, genauer gesagt, am Montag. Hans hat das Projekt vorgezogen, es genießt jetzt oberste Priorität.«

»Klasse!« freute sie sich.

»Sag’ mal, warum hast’ eigentlich nie erzählt, daß du so eine hübsche Schwester hast?« fragte er lächelnd und schaute Rosel an.

Schmunzelnd bemerkte Brigitte, daß Rosel errötete.

»Hast’ denn schon eine Bleibe?« überging sie seine Frage.

Tommy zuckte die Schultern.

»Darum habe ich mich noch nicht kümmern können«, antwortete er.

»Der Chef hat mich gleich heute morgen, da war ich noch zu Hause, damit überfallen, daß ich herfahren soll. Da blieb mir nur Zeit, meine Sachen zu packen und abzudüsen.«

»Tja, dann müssen wir mal sehen, wo wir dich unterbringen«, meinte sie nachdenklich.

»Herr Berghofer könnt’ doch hier schlafen«, sagte Rosel schüchtern. »Wir haben doch Platz genug.«

Tommy grinste. Der Vorschlag schien ihm außerordentlich gut zu gefallen.

»Warum nicht«, stimmte auch Brigitte zu.

»Super«, freute er sich und ließ seinen Blick auf Rosel ruhen. »Aber bitte, ich heiße Tommy.«

Sie lächelte.

»Was ist denn mit den Zimmern für das Team?« erkundigte sich Brigitte.

»Alles klar«, nickte er.

»Martin hat den Auftrag bekommen, sich hinters Telefon zu klemmen. Er hat mich bereits informiert. Im Edelweiß klappt’s, weil die Wirtsleute dort gerad’ erst wiedereröffnet haben, nachdem sie von einer Reise zurückgekehrt sind. Und in der Pension Stubler haben wir sechs weitere Betten bekommen. Wenn ich jetzt also hier bei euch bleib’, dann reicht das dicke.«

»Na prima«, freute sie sich. »Dann können wir ja nächste Woche an die Arbeit gehen.«

Sie klatschte in die Hände.

»Und was machen wir mit dem Abend?«

»Wie wär’s, wenn ich euch zum Essen ausführte?« fragte Tommy Berghofer zurück.

»Eine prima Idee«, nickte Brigitte und zwinkerte ihrer Schwester zu. »Dann werden wir zwei Madln uns mal für dich hübsch machen.«

Rosel lief wieder rot an und senkte den Kopf.

»Ich glaub’, ich bleib’ lieber daheim«, murmelte sie verlegen.

»Auf gar keinen Fall!« protestierte der Kollege ihrer Schwester. »Die Gelegenheit, zwei so hübsche Madln auszuführen, die laß ich mir doch nicht entgehen!«

Dabei sah er sie an, daß Rosel ein ungewohnter Schauer über den Rücken kroch.

Aber es war ein herrliches Gefühl!

*

»Du, da war heut’ nachmittag eine Frau auf dem Hof, die hat nach dir gefragt«, erzählte Resl, als sie beim Abendessen saßen.

»Was für eine Frau?« fragte Tobias und schaufelte sich eine gewaltige Portion Bratkartoffeln auf den Teller.

In Gedanken ging er dabei seine Bekanntschaften durch und überlegte, welche es von den vielen es wohl gewesen sein mochte.

»Eine sehr schick angezogene Frau. Eine richtig elegante Dame kann man sagen«, erklärte die Magd. »Ich frag’ mich bloß, was die von dir wollte.«

»Hat die Dame auch einen Namen?« wollte er wissen.

»Granzinger heißt sie.«

Der Löffel entglitt seiner Hand und fiel polternd in die Schüssel.

»Paß doch auf!« rief die Magd. »Machst ja das gute Geschirr kaputt!«

»Wie war der Name?« fragte er leise, nachdem er sich von dem Schock erholt hatte.

»Granzinger, hat sie gesagt.«

Verwirrt griff der Bauer nach seinem Glas und trank einen Schluck Bier.

Brigitte?

Er schüttelte den Kopf. Das konnte unmöglich sein.

Sieben Jahre hatte sie sich nicht gemeldet, warum sollte sie es jetzt tun?

Vielleicht Rosel. Er hatte sie nie kennengelernt, weil damals niemand etwas über ihre Liebe wissen durfte. Aber Brigitte hatte oft von der Rosel erzählt. Aber auch die hatte keinen Grund hier aufzutauchen, wahrscheinlich wußte sie überhaupt nicht, daß es ihn gab.

»Bist’ sicher, daß du den Namen richtig verstanden hast?« fragte er nach.

Resl sah ihn mit blitzenden Augen an.

»Ich bin zwar alt, aber net taub«, erwiderte sie scharf. »Freilich hab’ ich ihren Namen richtig verstanden. Was ist denn das für eine? Hoffentlich net eine von deinen zahllosen Liebschaften. Wahrscheinlich aber doch. Bestimmt hast’ sie sitzenlassen, und jetzt kommt sie her, um dich zu beknien, zu ihr zurückzukommen.«

»Blödsinn«, behauptete er. »Wenn sie so eine feine Dame ist, wie du sagst, dann läßt sie sich bestimmt net mit mir ein. Abgesehen davon kenn’ ich überhaupt niemanden, der so elegant daherkommt.«

Allerdings wußte Tobias genau, daß er nur die halbe Wahrheit sagte. Gewiß, es stimmte, daß er ein Draufgänger und Hallodri war. Ein gebrochenes Herz mehr oder weniger machte ihm nichts aus. Aber mit einer ›Dame‹ hatte er sich nie eingelassen – jedenfalls hatte er nie bemerkt, daß unter den Touristinnen, die zu seinen bevorzugten ›Opfern‹ auf dem Tanzabend im ›Löwen‹ gehörten, eine gewesen wäre, auf die die Bezeichnung gepaßt hätte. Es war einfach ganz normale Frauen, die ihren Urlaub im Wachnertal verbrachten und ein bissel Abwechslung suchten. Aber der Name war eindeutig. Granzinger, so hieß Brigitte. Brigitte Granzinger, die einmal seine große Liebe war, für die er alles gegeben hätte, für die er sich selbst gegen den Vater durchgesetzt hätte, damit sie bei ihm blieb.

Und doch war sie gegangen, und er war geblieben. Zu kindlich waren ihm ihre Hirngespinste vorgekommen.

Zusammen fortgehen und in der Fremde das Glück suchen! Pah!

Tobias Rauchinger war ein pragmatischer Mann. Hier hatte er sein Zuhause und die Aussicht, eines Tages den Hof des Vaters zu übernehmen. Er hatte nicht verstanden, warum Brigitte fort wollte, und es auf ihr Alter geschoben. Ein Alter, in dem man eben Träume hat, die man sich nicht nehmen lassen will.

Dabei war er nur ein Jahr älter als sie, aber er fühlte sich viel erwachsener.

Der letzte Abend war ihm noch in guter Erinnerung. Sie hatten sich – wie immer – heimlich getroffen. Es war nicht das erste Mal, daß Brigitte davon sprach, fortzugehen. Doch die Krankheit ihres Vaters hinderte sie daran; sie wollte die Last der Pflege ihrer Schwester nicht alleine aufbürden. Aber an diesem Tag war Karl Granzinger beerdigt worden, und Tobias erkannte, daß es Brigitte vollkommen ernst war, mit dem, was sie sagte.

Seit jenem Abend hatte er nie wieder etwas von ihr gehört.

»Hast’ wirklich keine Ahnung, wer sie sein könnt’?« hakte die Magd nach.

Der junge Bauer schüttelte den Kopf.

»Hab’ ich net. Hat sie denn gesagt, daß sie noch mal herkommen will?«

»Nein, das hat sie net. Nur, daß ich Grüße ausrichten soll.«

Tobias zuckte gleichgültig die Schultern.

»Dann wird’s wohl net so wichtig gewesen sein«, meinte er.

Allerdings wollte ihm das Abendessen nicht mehr so richtig schmecken. Er stocherte in den Bratkartoffeln herum, nahm kaum etwas von den Spiegeleiern und trank nur hin und wieder einen Schluck Bier. Schließlich stand er auf und ging hinaus.

Draußen hatte die Dämmerung eingesetzt. Tobias spazierte über seinen Hof und dachte an Brigitte.

Das hier, das hätt’ dir alles gehören können, dachte er. Zu Füßen hätt’ ich dir den Hof gelegt und ein Heim für uns daraus gemacht. Kinder hätten wir schon haben können, so wie wir’s uns damals immer vorgestellt haben.

Und was ist geschehen?

Du hast nie wieder was von dir hören lassen, und ich hab’ mich in meinem Frust immer wieder and’ren Frauen zugewandt, nur um dich zu vergessen. Aber ich hab’s net können, das mit uns. Immer, wenn ich eine im Arm halte, dann stell’ ich mir vor, daß du es bist…

Er stand Scheunentor und schlug mit der Faust dagegen. Aber der Schmerz, den er spürte, konnte den in seinem Herzen nicht übertönen.

Der saß viel, viel tiefer!

*

Tommy Berghofer fühlte sich in der Gesellschaft der beiden Frauen ausgesprochen wohl. Wie Brigitte es versprochen hatte, schauten sie und Rosel umwerfend aus. Besonders die Ältere. Nichts ließ darauf schließen, daß Rosel ein graues Mäuschen wäre, der Eindruck, den sie auf Brigitte gemacht hatte, war gänzlich verschwunden. Sie trug eine von den neuen Hosen, dazu ein passendes Top. Die Haare waren so gefönt worden, wie es die Friseurin getan hatte, und wäre da manchmal nicht eine unsichere Bewegung, ein zaghafter Blick gewesen, dann hätte man meine können, Rosel hätte sich ihr Lebtag nicht anders gekleidet.

Zum Essen waren sie in die Stadt gefahren. Dort gab es ein Vielzahl von Wirtshäusern, angefangen von einfachen Kneipen, über gemütliche Gaststuben, bis hin zu teuren, eleganten Restaurants.

Letztere sparten sie allerdings aus. Brigitte wollte ihre Schwester nicht noch mehr in Verlegenheit bringen. Rosel hatte noch nie in einem vornehmen Lokal gegessen und sicher wäre es ihr peinlich gewesen, durch eine Ungeschicklichkeit beim Hantieren mit dem Besteck oder ähnlichem die Aufmerksamkeit der Leute auf sich zu ziehen. Es war ihr gestern schon aufgefallen, daß Rosel sich nicht wirklich wohlgefühlt hatte, als sie während ihres Einkaufsbummels eingekehrt waren. Und ihr schneller Vorschlag vorhin, zu Hause zu essen, war ein deutlicher Hinweis.

So aßen sie bei einem Italiener und tranken fruchtigen Rotwein zu ihren Pizzen und Nudelgerichten. Dabei ließen sie sich Zeit und unterhielten sich ausgiebig.

Wie schon am Tag zuvor hieß es dann auch immer: »Weißt du doch? Erinnerst du dich?«, als sie in Erinnerungen schwelgten.

Thomas Berghofer saß dabei und amüsierte sich. Immer wieder blickte er Rosel an, die leicht errötete, wenn sie es bemerkte und sich dann verlegen durch das Haar fuhr.

Tommy arbeitete seit einem Jahr für die Firma und war so etwas, wie der Assistent der Assistentin, nämlich Brigittes direkter Mitarbeiter. In den zwölf Monaten seiner Tätigkeit hatten sie zusammen schon einige Projekte betreut, und ›Rosen und Tränen‹ war das größte darunter.

Der junge Mann war Anfang dreißig. Erst spät war er zu seinem Beruf gekommen, nachdem er zuvor einige Jahre diesen und jenen Job gemacht hatte und sich nie richtig entscheiden konnte, was er nun eigentlich werden wollte. Bei der Delta GmbH schien er nun endlich das gefunden zu haben, wonach er immer gesucht hatte. Die Arbeit machte Spaß und er lernte interessante Leute kennen. Er hatte ein offenes, freundliches Gesicht. Die Haare waren etwas kürzer geworden, als er sie in seinen ›wilden‹ Jahren getragen hatte, und wenn er lachte, dann hatte er stets etwas von einem Lausbub an sich.

»Ich soll dich übrigens vom Thorsten Hofer grüßen«, meinte er, als sie beim Nachtisch saßen. »Ich glaube, er wäre sehr gerne selbst hergefahren…«

»Das kann ich mir gut vorstellen.« Brigitte schüttelte den Kopf. »Vielen Dank auch.«

»Wer ist denn das?« fragte Rosel.

Ihre Schwester verzog das Gesicht.

»Einer, der sich für den unwiderstehlichsten Mann der Welt hält«, antwortete sie. »Der Regisseur.«

Rosel schmunzelte.

»Na ja, manche Männer sind wohl so.«

»So wie der ist, kann er mir gestohlen bleiben!«

Tommy pfiff durch die Zähne.

»Das wird aber nicht leicht für dich, wenn ihr in der nächsten Zeit so eng zusammenarbeitet«, meinte er grinsend.

»Vielleicht macht er sich ja auch an die Rieser ran«, erwiderte Brigitte schmunzelnd und wandte sich an ihre Schwester. »Das ist die Schauspielerin, die die weibliche Hauptrolle bekommen hat, Bärbel Rieser. Man munkelt, Hofer habe sich sehr für sie eingesetzt. Wenn du verstehst, was ich meine…«

Rosel verdrehte die Augen.

»Du meine Güte. Geht das wirklich so zu bei euch? Nur gut, daß ich mit der ganzen Sache nix zu tun hab’! Das wär’ nix für mich.«

»Ach«, lehnte sich Tommy lächelnd hinüber, »wenn du magst, finden wir auch noch eine kleine Rolle für dich. So, wie du ausschaust.«

Dabei sah er ihr tief in die Augen. Entsetzen spiegelte sich in Rosels Gesicht wider.

»Auf gar keinen Fall!«

Brigitte lachte.

»Warum net?« sagte sie. »Ich werd’ darüber nachdenken und mit den Drehbuchautoren sprechen.«

»Untersteh’ dich!« warnte ihre Schwester.

Aber sie lachte mit. Es war ein schöner Abend, und sie genoß ihn in vollen Zügen. Wenn sie es recht bedachte, dann war es das erste Mal in ihrem Leben, daß sie wirklich ausging. Das gute Essen und der Wein hatten ihre Stimmung gehoben. Rosel Granzinger war glücklich, daß Brigitte heimgekehrt war, und sie sich ausgesprochen hatten.

Und Tommy…, der ließ ihr Herz ohnehin höher schlagen.

*

Das Wochenende wollten sie in aller Ruhe verbringen. Am Samstagmorgen frühstückten sie daheim. Dann gingen sie zu dritt einkaufen. Im Dorf gab es einen kleinen Laden, in dem man die wichtigsten Lebensmittel bekam, und im näheren Umkreis lagen Höfe, die ihre Erzeugnisse anboten.

Inzwischen hatte es sich herumgesprochen, daß Brigitte wieder nach Hause gekommen war. Immer wieder schauten Leute aus der Nachbarschaft herein, die sie begrüßen und erfahren wollten, wie es ihr in all den Jahren ergangen war. Bis zum späten Nachmittag mußte die junge Frau neugierige Fragen beantworten, und als der letzte Besucher gegangen war, saß sie in ihrem Sessel und schüttelte den Kopf.

»Man könnt’ meinen, irgendeine Berühmtheit sei zu Besuch.«

»Für die Leut’ bist du eine Berühmtheit«, erwiderte Rosel. »Du bist immer noch eine von ihnen, auch wenn du lang’ fort warst. Und vor allem dein Beruf ist es, der dich so interessant macht.«

»Was machen wir denn heut’ abend?« wechselte die Schwester das Thema. »In St. Johann findet doch bestimmt immer noch der Tanzabend statt, oder?«

»Ich glaub’ schon.«

»Wir wär’s, wollen wir net hinfahren und einen draufmachen?«

Rosel sah sie entsetzt an.

»Ich und tanzen?« fragte sie. »Wie stellst’ dir das vor? Mit dem Bein!«

»Entschuldige«, murmelte Brigitte.

»Daran hab’ ich net gedacht. Es… es tut mir leid.«

»Das muß es net. Aber natürlich könnt’ ihr gern’ fahren.«

Tommy saß auf dem Sofa und blätterte in einer Zeitschrift.

»Ich bleib’ auch da«, sagte er, als seine Kollegin in fragend ansah. »Tanzen, das ist nicht so meine Sache.«

Lügner, dachte Brigitte, ich weiß doch, wie gut du es kannst!

Mehrfach hatte sie Gelegenheit gehabt, mit ihm zu tanzen. Aber sie ahnte, was der Grund für seine Ablehnung war. Ihr war nicht entgangen, wie Tommy ihre Schwester immer wieder anschaute. Bestimmt hatte er sich in Rosel verguckt und wollte aus diesem Grund nicht mitfahren.

Sie lächelte.

»Okay, dann fahr’ ich alleine.«

Als sie später auf den Parkplatz des Hotels fuhr, war sie aufgeregt. Ein, zweimal hatte sie an dem Tanzabend teilgenommen. Gerade achtzehn Jahre alt war sie da. Aber das war nicht der Grund für ihre Aufregung, sondern die Möglichkeit, daß sie auf Tobias treffen konnte.

Sie stieg aus, schloß das Auto ab und reihte sich in die Schlange der Wartenden vor dem Eingang zum Saal ein. Von drinnen hörte man schon die Klänge der Blaskapelle, und die Leute vor und hinter ihr waren in gespannter Erwartung.

»Guten Abend, Frau Granzinger«, sprach sie jemand an.

Brigitte drehte den Kopf und sah Pfarrer Trenker in Begleitung eines jungen Paares.

»Möchten S’ sich zu uns an den Tisch setzen?« fragte der Geistliche.

Sie nickte.

»Sehr gern. Vielen Dank, Hochwürden.«

»Das sind übrigens meine Schwägerin, Claudia, und mein Bruder, Max«, stellte Sebastian seine Begleiter vor.

»Guten Abend«, sagte sie. »Brigitte Granzinger.«

»Frau Granzinger arbeitet für die Filmfirma«, erklärte der Bergpfarrer.

Am Tisch der Honoratioren wurde der jungen Frau ein Platz eingeräumt, und Brigitte lernte alle wichtigen Leute des Dorfes kennen; Dr. Wiesinger und Frau, den Bäcker und den Metzger, und natürlich Markus Bruckner.

»Schön, daß wir uns schon mal persönlich begegnen«, sagte der Bürgermeister und stellte ihr seine Frau vor. »Ich freu’ mich, daß es Ihnen gelungen ist, Hochwürden zu überzeugen.«

»Da hat’s gar net viel gebraucht«, lächelte sie. »Pfarrer Trenker ist ein angenehmer Gesprächspartner.«

»Dann wollen wir gleich mal auf das Projekt anstoßen«, sagte der Bruckner-Markus und bestellte eine Runde für den Tisch.

»Haben S’ denn schon mal in das Exposé reinschauen können?« wandte sie sich an den Geistlichen.

Sebastian nickte.

»Ja, und es hat mir gut gefallen. Eine sehr schöne Geschichte. Abwechslungsreich, voller Dramatik und Romantik. Ich gratuliere Ihnen dazu.«

»Vielen Dank. Das freut mich.«

Sie schaute sich um. An die dreihundert Leute schienen auf dem Saal zu feiern. Ob Tobias auch darunter war?

Schwer festzustellen, bei der Menge, die ständig in Bewegung war. Die Leute liefen hin und her, und auf der Tanzfläche herrschte ein großes Gedränge.

Allerdings war die Wahrscheinlichkeit, Tobias hier zu treffen, groß. Der Tanzabend war die einzige Abwechslung für die Bauern, die die ganze Woche über hart arbeiten mußten. Bestimmt ließ er sich diese Gaudi nicht entgehen.

Als die Getränke serviert waren, und sie angestoßen hatte, forderte Pfarrer Trenker Brigitte zu ihrer großen Überraschung zum Tanzen auf.

»Ich hätt’ gar net gedacht, daß ein Geistlicher tanzt«, meinte sie.

»Warum net?« entgegnete er schmunzelnd. »Tanzen ist doch etwas sehr Schönes.«

Und sie staunte nicht schlecht, als die ›Wachnertaler Bu’am‹ einen flotten Foxtrott anstimmten, und Hochwürden sie gekonnt führte.

Brigitte war begeistert, und der nächste Tanz gehörte ihnen auch.

»Kompliment, Hochwürden«, sagte sie. »So einen guten Tanzpartner findet man selten.«

»Ich darf das Kompliment zurückgeben«, erwiderte der Bergpfarrer lächelnd.

Sie gingen zum Tisch zurück.

Auf halbem Wege stockte ihr Schritt. Brigitte schaute unsicher zurück.

Doch, sie hatte sich nicht getäuscht, an einem der Tische saß Tobias Rauchinger, und ihre Blicke begegneten sich.

*

Markus Bruckner belegte sie gleich mit Beschlag. Brigitte war viel zu konfus, um auf die Fragen des Bürgermeisters zu antworten. Automatisch nickte sie oder schüttelte den Kopf, antwortete mit Ja oder Nein. Dabei sah sie immer wieder zu dem Tisch hinüber, an dem Tobias saß, den sie aber nicht sehen konnte, weil er von einem Pfeiler verdeckt wurde.

Sie entschuldigte sich und stand auf. Sebastians Blick folgte ihr, als sie hinüberging. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen, und sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.

»Guten Abend, Tobias«, sagte sie mit zitternder Stimme.

Er hob den Kopf und sah sie an. Neben ihm saß eine junge Frau, die ihren Arm um seine Schulter gelegt hatte. Sie blickte Brigitte ebenfalls an. Neugier lag in ihren Augen.

Der Bauer räusperte sich.

»Guten Abend…«

Unschlüssig stand sie vor dem Tisch, machte eine entschuldige Handbewegung.

Er sah immer noch gut aus. Älter zwar, männlicher und reifer, aber äußerst attraktiv.

»Ich dachte, ich hätt’ mich getäuscht«, sagte sie verlegen.

»Wer ist denn das?« fragte die Frau neben ihm.

»Eine alte Bekannte«, erwiderte Tobias kurz und machte sich nicht die Mühe, sie einander vorzustellen.

Dann blickte er Brigitte an.

»Das ist wirklich eine Überraschung.«

Sie versuchte zu lächeln, aber es wollte ihr nicht recht gelingen.

»Kann ich dich einen Moment sprechen«, bat sie.

Er zuckte die Schultern.

»Ich wüßt’ net, was wir zwei zu besprechen haben«, entgegnete er.

»Wer ist denn das?« fragte die Frau an seiner Seite noch mal.

Diesmal klang ihre Stimme unwillig, gereizt. Brigitte wußte nicht, was sie von der Begegnung erwartet hatte, aber gewiß nicht, daß er so kurz angebunden war.

So abweisend!

»Entschuldigung«, stammelte sie. »Ich wollt’ net stören.«

»Hast du aber«, rief die Frau ihr hinterher, als sie sich umdrehte und davonging.

»Ist alles in Ordnung?« fragte Pfarrer Trenker, als sie an den Tisch kam und nach ihrer Tasche griff.

»Ja, ja«, nickte sie. »Ich muß nur mal einen Moment an die frische Luft.«

Claudia und Max kamen gerade vom Tanzen zurück.

»Was hat sie denn?« erkundigte sich die Journalistin.

»Da drüben sitzt jemand, der ihr mal sehr viel bedeutet hat«, antwortete Sebastian. »Und ich glaub’, er bedeutet ihr immer noch sehr viel. Aber das Wiedersehen war wohl net so, wie die Brigitte es sich vorgestellt hat.«

Mit dieser Vermutung hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen.

Brigitte Granzinger atmete die frische Luft tief ein. Auf dem Saal war es unerträglich heiß. Hinzu kam die Hitze, die in ihr aufgestiegen war, als ihr klar wurde, daß es eine Dummheit war, zu hoffen, Tobias würde sie mit offenen Armen empfangen.

Langsam ging sie die Straße hinunter. Außer ihr hatten zahlreiche andere Gäste denselben Gedanken gehabt, draußen frische Luft zu schnappen. Sie standen zu zweit oder zu mehreren herum und unterhielten sich. Brigitte kannte niemanden von ihnen und setzte sich auf eine Bank, die abseits stand. Von hier aus schaute sie auf das Hotel und dachte, daß es besser gewesen wäre, wenn sie Tobias nicht angesprochen hätte.

Nichts von dem, was sie sich vorgestellt hatte, war eingetreten. Das Wiedersehen war ein einziges Fiasko gewesen, und Brigitte schalt sich im Nachhinein, daß sie so dumm war, anzunehmen, Tobias könne ungebunden sein und nur auf sie gewartet zu haben. Die Frau neben ihm hatte sie eines Besseren belehrt, abgesehen davon hätten Pfarrer Trenkers Worte gestern nachmittag sie schon warnen müssen.

Es sah jedenfalls nicht so aus, als wenn Tobias sie groß vermißt hätte, oder daß er gar auf seinem Hof saß und Trübsal blies. Wahrscheinlich hatte er sie sowieso längst vergessen.

Mit einem Mal schien ihr alles so unsinnig. Das Filmprojekt – sie hatte es nur so vorangetrieben, um einen Grund zu haben, wieder hierher zu kommen. Nun hatte es sich als Trugschluß erwiesen, ihre Rückkehr könne wieder etwas in Gang setzen, was vor sieben Jahren so abrupt abgebrochen wurde.

Als wenn man Gefühle auf Eis legen könne und sie wieder auftauen, wenn man sie brauchte!

Brigitte war so in Gedanken versunken, daß sie die Gestalt nicht bemerkte, die aus dem Eingang des Saales getreten war und sich von der Seite her näherte. Erst als Tobias fast direkt vor ihr stand, schaute sie auf.

»Ich muß schon sagen – du bist immer wieder für eine Überraschung gut«, meinte er. »Damals wollt’ ich’s net glauben, daß du deine Ankündigung wahrmachst und fortgehst. Und dann hätt’ ich nie gedacht, daß du jemals wieder zurückkommst. Da sieht man wieder, wie man sich täuschen kann.«

Brigitte antwortete nicht gleich.

»Es tut mir leid, wenn ich dich durch mein Auftauchen aus der Fassung gebracht haben sollte«, sagte sie schließlich. »Ich hoff’, du konntest trotzdem die Neugier deiner Freundin befriedigen.«

»Die Franzi ist net meine Freundin«, erwiderte er mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Und aus der Fassung gebracht hast’ mich heut’ abend auch net. Irgendwie hab’ ich damit gerechnet, daß du herkommen würdest, nachdem du gestern schon auf dem Hof warst.

Da, muß ich allerdings zugeben, da hast’ es tatsächlich geschafft, daß ich ein bissel durcheinander war.«

Er schaute auf sie herab. Allerdings stand er im Licht einer Straßenlaterne, so daß sie sein Gesicht nicht richtig erkennen konnte.

»Wie geht’s dir?«

Er zuckte die Schultern.

»Warum fragst’ danach. Es hat dich in all den Jahren doch auch net interessiert, wie’s mir geht.«

Die Antwort klang auf gewisse Art brutal. Brigitte zuckte unwillkürlich zusammen, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Warum bist’ so abweisend?« fragte sie leise. »Ich hab’ gedacht, nach all der Zeit könnten wir ganz normal miteinander reden. Gewiß hab’ ich net erwartet, daß du mir Vorwürfe machst. Mein Gott, Tobias, wir waren jung damals, und ich hatte meine Träume. Hast du eine Ahnung davon, wie es für ein siebzehnjähriges Madl ist, seinen kranken Vater zu pflegen und auf so vieles verzichten zu müssen?

Ja, ich wollt’ fort damals. Unter allen Umständen. Nix hätt’ mich halten können, dem allen zu entfliehen, und ich hätt’ mir gewünscht, daß du mitgekommen wärst. Vielleicht ist es in deinen Augen ein Fehler gewesen, aber ich bereue es net, diesen Schritt getan zu haben.«

Sie stand auf und sah ihm in die Augen.

»Entschuldige, daß ich deine Zeit beansprucht habe«, fügte sie hinzu. »Ich werd’ dich net mehr belästigen.«

Dann ging sie ohne einen weiteren Gruß zum Parkplatz und stieg in ihr Auto. Als sie an ihm vorüber fuhr, stand Tobias immer noch an der Bank und starrte vor sich hin.

*

Aus dem Radio erklang leise Musik. Rosel und Tommy saßen sich gegenüber. Sie hatten sich lange unterhalten. Über Gott und die Welt, dieses und jenes, seinen Beruf, seine Herkunft. Jetzt schwiegen sie. Rosel fröstelte, aber nicht weil ihr kalt gewesen wäre. Es war das erste Mal, daß sie mit einem Mann alleine war. Bisher hatte sie in der Liebe kein Glück gehabt. Als Teenager hatte sie von ihm geträumt, dem Prinzen auf seinem weißen Pferd, der kommen würde, um sie auf sein Schloß zu holen. Aber sie wußte, daß es nur ein Traum war. Das Handicap mit ihrem Bein machte ihr nur zu deutlich bewußt, daß sie nicht die attraktive Frau war, der die Männer nachschauten. Im Gegensatz zu ihrer Schwester hatte Rosel schon früh aufgegeben, sich Illusionen über ihr Leben zu machen. Nach Brigittes Weggang auf sich alleine gestellt, lernte sie rasch, sich einzurichten. Sie hatte ihre Arbeit, verließ selten das Haus und pflegte nur wenig Kontakt mit den Nachbarn.

Eine Verabredung mit einem Mann, ausgehen und sich amüsieren, das hatte es nie gegeben. Als Thomas Berghofer ihr gegenübersaß, da wuchs ihre Unsicherheit mit jeder Sekunde. Fast wäre es ihr lieber gewesen, er wäre mit nach St. Johann gefahren.

Tommy merkte indes schnell, wie sie sich fühlte, und gab sich alle Mühe, unbefangen zu plaudern, und es gelang ihm sogar, ihr die Befangenheit zu nehmen und sie zum Lachen zu bringen, als er Anekdoten aus seinem Leben erzählte.

»Magst’ noch was trinken?« fragte Rosel.

Er nickte und beobachtete sie, wie sie den Wein einschenkte.

»Sag’ mal, hast du eigentlich mal versucht zu tanzen?« fragte er, nachdem sie angestoßen hatten.

Die junge Frau zuckte zusammen und biß sich auf die Lippe.

Was sollte diese dumme Frage?

Er hatte doch gesehen, daß sie das Bein nachzog, wußte doch, daß sie seit dem Unfall hinkte.

Sie wollte schon eine ärgerliche Antwort geben, als er aufstand und sie an die Hand nahm.

»Komm«, sagte er sanft, »wir versuchen es mal.«

Rosel wollte sich wehren, aber ihr Widerstand erlahmte, als sie seine Hände auf ihrem Körper spürte. Ein langsamer Walzer wurde gespielt, und Tommy wiegte sie sanft hin und her.

»Geht doch«, lächelte er. »Ja, so ist es richtig. Zurück und seit und ran und rück und – ja. Du machst das wunderbar.«

Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt, das Herz schlug bis zum Hals hinauf, und sie hatte das Gefühl, ihre Beine würden jeden Moment nachgeben.

Tommy schien zu ahnen, was sie dachte.

»Keine Angst«, sagte er leise. »Ich halte dich.«

Sein Gesicht war ganz nah vor ihrem. Sie nahm den Geruch seines Rasierwassers wahr, als er sich zu ihr beugte.

»Weißt du, daß du eine wunderschöne Frau bist?« fragte er in ihr Ohr.

Wieder lief ein wohliger Schauer über ihren Rücken.

Auch wenn sie die Worte nicht glauben mochte, saugte sie jedes seiner Worte begierig in sich auf. Wollte noch mehr davon hören, wollte, daß er weitersprach.

»Rosel«, sagte Tommy zärtlich, »ich habe mich in dich verliebt. Das ist mir noch nie passiert, aber ich find’s wunderschön.«

Er sah sie an und bemerkte die Tränen in ihren Augen.

»Was hast du?« fragte er erschrocken.

»Habe ich etwas Falschen gesagt?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Warum weinst du dann?«

»Es…, es ist nur, weil noch kein Mann mir so etwas Schönes gesagt hat«, schluchzte sie.

Tommy hielt in der Bewegung inne und drückte sie an sich.

»Weil sie allesamt Dummköpfe sind«, lächelte er. »Und nicht sehen, wie wundervoll du bist.«

Ihr Körper schmiegte jetzt sich an ihn.

»Oh, Tommy«, rief sie mit erstickter Stimme, »küß mich. Nur ein einziges Mal möchte ich spüren, wie es ist.«

Er schüttelte den Kopf.

»Nein«, erwiderte er, »tausendmal sollst du es spüren.«

Vorsichtig berührte sein Mund ihre Lippen. Rosel lag selig in seinen Armen und erwiderte seine Zärtlichkeiten.

»Ich träume«, flüsterte sie, als er sie wieder freigab.

»Nein, kein Traum«, widersprach er. »Das ist das Leben, Rosel, und von jetzt ab sollst du es immer spüren.«

Die Haustür klappte, und sie fuhren auseinander wie zwei ertappte Sünder.

»Ist Brigitte schon zurück?« fragte sie ungläubig.

Sekunden später stand ihre Schwester im Wohnzimmer.

Sie sahen ihrem Gesicht an, daß der Abend nicht so verlaufen war, wie Brigitte es sich erhofft hatte.

»Was ist geschehen?« wollte Rosel wissen.

»Ich möcht’ net darüber reden«, erwiderte die Jüngere. »Morgen vielleicht.«

Sie nickte ihnen zu und ging die Treppe hinauf. In ihrem Zimmer warf sie sich auf das Bett und starrte an die Decke.

Wenigstens Rosel schien glücklich zu sein, dachte sie.

Jedenfalls war es nicht zu übersehen gewesen, daß es zwischen Tommy und ihrer Schwester gefunkt hatte.

*

Im ›Löwen‹ ging derweil die Gaudi weiter. Alle amüsierten sich, und das Bier floß in Strömen.

Tobias Rauchinger war wohl der einzige, der mit mürrischem Gesicht dasaß und teilnahmslos vor sich hin blickte.

»Mensch, was ist denn los?« fragte Franziska Brandner mehrmals.

Sie saß neben ihm und stieß ihn an.

»Das macht überhaupt keinen Spaß mit dir heut’«, beklagte sie sich. »Hat’s was mit dieser Frau zu tun?«

Er schüttelte unwillig den Kopf, aber sie ahnte, daß sie mit ihrer Vermutung recht hatte. Kurz nachdem die Fremde vom Tisch fortgegangen war, stand Tobias auf und verschwand. Franzi nahm an, er sei an den Tresen gegangen, wo der alte Hubert, sein Knecht, stand und sich mit den anderen unterhielt. Aber als er nach einer langen Zeit nicht an den Tisch zurückkam, war sie selbst nachschauen gegangen und sah ihn gerade wieder zur Tür hereinkommen.

Tobias war also draußen gewesen.

Als sie ihn fragte, antwortete er nicht, und das ging jetzt schon über eine Stunde so. Er saß am Tisch, trank sein Bier und schwieg.

»Also, wenn du’s net nötig hast, mit mir zu reden, dann kann ich ja geh’n«, schmollte sie.

Aber auch das schien ihn nicht zu interessieren. Franzi nahm ihre Jacke und die Handtasche und ging zu einem anderen Tisch, an dem ein paar Freundinnen von ihr saßen.

Tobias schien das nicht zu interessieren. Mit seinen Gedanken war er ohnehin ganz woanders.

Bei ihr…

Obwohl er durch die Magd ja wußte, daß Brigitte zurückgekehrt war, hatte ihn die Begegnung mit ihr doch mitgenommen. Als sie vor dem Tisch stand, war ihm nichts anderes eingefallen, als der Unsinn, den er dann von sich gegeben hatte. Kaum ausgesprochen, hatte er seine Worte schon bereut, und das war auch der Grund, warum er ihr nachgelaufen war.

Eigentlich hatte er sich für sein Benehmen entschuldigen wollen. Als sie dann aber auf der Bank saß und ihn so seltsam anschaute, da kam ihm der ganze Frust und Ärger wieder hoch. Sieben Jahre lang hatte er davon geträumt, sie wiederzusehen, ihr zu sagen, wie weh sie ihm getan hatte.

Und jetzt war der Augenblick gekommen, doch er hatte nicht die richtigen Worte gefunden, weil er viel zu aufgeregt war. So wurde aus der geplanten Aussprache nicht viel mehr als eine einseitige Schuldzuweisung, Vorwürfe, im Zorn ausgesprochen.

Tobias blickte erstaunt auf, als Pfarrer Trenker ihn ansprach. Der Bauer gehörte zur Kirchengemeinde Engelsbach, aber den Bergpfarrer kannte er natürlich.

»Ich würd’ mich gern’ einen Moment mit dir unterhalten«, sagte Sebastian Trenker. »Magst’ mit hinauskommen?«

Tobias nickte und folgte dem Geistlichen vor die Tür.

Dabei fragte er sich, was Pfarrer Trenker wohl von ihm wollte.

»Ich hab’ gestern eine junge Frau kennengelernt«, kam der gute Hirte von St. Johann ohne Umschweife auf das Thema. »Brigitte Granzinger – der Name sagt dir ja wohl was…«

Tobias zuckte die Schultern und nickte.

»Und heut’ abend habt ihr euch wiedergesehen. Brigitte hat mir erzählt, wie’s damals mit euch war«, fuhr Sebastian fort. »Sie ist mit großer Hoffnung heimgekehrt und glaubte, du würdest ihr verzeihen.«

Der Bauer verzog das Gesicht.

»Da macht sie sich’s ein bissel zu einfach«, sagte er.

»Du machst es dir einfach«, gab der Geistliche zurück. »Ich bin zwar net Zeuge eurer Unterhaltung gewesen, aber die Tatsache, daß Brigitte net mehr auf den Saal zurückgekommen ist, zeigt mir deutlich, daß es keine Aussprache war, die ihr hattet. Dein Gesicht, das du nachher am Tisch gezogen hast, sprach übrigens Bände.«

»Stimmt«, meinte Tobias, »ich wünschte, es wär nie zu dieser Begegnung gekommen.«

«Bist’ dir da ganz sicher?« fragte Sebastian. »Ich hab’ eher den Eindruck, du bist ärgerlich über dich selbst.«

Verblüfft starrte der Bauer ihn an. Die Menschenkenntnis des Geistlichen war unglaublich.

Oder konnte er Gedanken lesen?

»Tobias«, sagte der Bergpfarrer eindringlich, »es ist eine lange Zeit vergangen. Was immer auch geschehen ist, ihr habt euch einmal sehr gern’ gehabt. Brigitte weiß, daß es ein Fehler war, im Streit auseinander zu gehen, und sie würd’ sehr viel drum geben, wenn ihr euch wieder versöhnen könntet. Vor allem auch, weil sie länger im Wachnertal bleiben wird.«

»Für immer?« fragte Tobias überrascht.

»Das weiß ich net. Ob Brigitte für ganz hierbleibt, wird die Zukunft zeigen. Nein, sie hat hier zu tun. Eine Fernsehserie soll hier gedreht werden, vielleicht hast’ ja schon davon gehört, und Brigitte ist Produktionsassistentin in der Firma, die das Projekt durchführt. Es ist als net ausgeschlossen, daß ihr euch hin und wieder über den Weg lauft, und da wär’s doch für euch beide besser, wenn ihr euch unbefangen gegenübertretet.«

»Was raten Sie mir also?« fragte der Bauer, schon sehr viel zugänglicher geworden.

»Daß du ihr die Hand reichst«, erwiderte Sebastian, »und mit der Brigitte redest. Über alles, was dir auf dem Herzen liegt. Du wirst’ seh’n, danach schaut die Welt viel schöner aus.«

Tobias Rauchinger lächelte schief.

»Vielen Dank für den Rat, Hochwürden«, sagte er. »Ich hoff’, daß ich Gelegenheit hab’, ihn zu beherzigen.«

*

»Ich bin wohl mit falschen Vorstellungen hergekommen«, bekannte Brigitte Granzinger, als sie am nächsten Morgen beim Frühstück saßen.

Nach einer fast schlaflosen Nacht war es eine Erleichterung für sie, mit ihrer Schwester und dem Kollegen darüber sprechen zu können.

»Ich versteh’ den Tobias net«, sagte Rosel. »Nach so langer Zeit sich noch so anzustellen! Ich mein’, natürlich war er damals gekränkt. Aber das ist doch schon so lang’ her. Da sollte man annehmen, daß er net mehr nachtragend ist.«

»Vielleicht bedeutet das aber auch, daß er dich immer noch liebt…«, meinte Tommy.

»Das glaub’ ich ganz sicher net«, schüttelte Brigitte den Kopf. »Pfarrer Trenker hat erzählt, daß Tobias die Herzen der Madln reihenweise bricht, der zieht sich net in ein Schneckenhaus zurück und leckt seine Wunden. Mich wird er ganz schnell vergessen haben, und als ich jetzt plötzlich wieder vor ihm stand, da kam seine ganze Wut hoch, die er all die Zeit hinuntergeschluckt hat.«

Sie zuckte die Schultern.

»Ich werd’ ihm halt aus dem Weg geh’n, solang’ ich hier bin.«

Sie schaute die beiden an.

»Habt ihr wenigstens einen schönen Abend gehabt?«

Rosel lief rot an, und Tommy grinste.

»Es war sehr schön«, antwortete er und legte seinen Arm um Rosel. »Wir wollen kein Geheimnis daraus machen.«

Brigitte lächelte.

»Daß du meine Schwester aber net enttäuschst!« warnte sie.

Er beugte sich zu Rosel und gab ihr einen Kuß auf die Wange.

»Nie im Leben!«

»Ich freu’ mich für euch«, sagte Brigitte glücklich und sah auf die Uhr. »Zeit für den Kirchgang.«

Ihre Schwester sah sie erstaunt an.

»Was sind denn das für Töne?« fragte sie. »Früher bist’ recht selten am Sonntag in die Kirche gegangen.«

»Da mußte ich ja auch«, erwiderte Brigitte. »Heut’ kann ich selbst entscheiden.«

»Unser Pfarrer ist…, na ja, ein bissel seltsam«, meinte Rosel.

»Wieso?«

»Pfarrer Eggensteiner hat vor einem Jahr die Gemeinden übernommen. Aber mit seiner Art hat er sich net viele Freunde gemacht. Seit kurzem gibt’s in Engelsbach aber einen jungen Vikar, der bei den Leuten besser ankommt.«

»Eigentlich möcht’ ich lieber nach St. Johann fahren«, sagte Brigitte. »Zum einen will ich Tobias net begegnen, zum anderen möcht’ ich noch mal mit Pfarrer Trenker reden. Wenn’s möglich ist, würd’ ich mir gern’ mal das Jagdschloß anschauen.«

Rosel nickte und sah Tommy an.

»Fährst du auch mit?«

»Na klar«, lächelte er. »Ich will schließlich mit dir zusammensein.«

Brigitte sah die beiden verträumt an.

»Ach ja«, seufzte sie, »irgendwie ist die Liebe doch was sehr Schönes.«

»Ich hoff’, du hast den Gedanken daran net ganz aufgegeben«, sagte Rosel.

»Ich weiß net«, zuckte die Schwestern die Schultern, »ich hab’ das Gefühl, daß ich darin kein Glück hab’. Also stürz’ ich mich in die Arbeit, damit ich auf and’re Gedanken komme.«

Sie fuhren zu dritt nach St. Johann. Die Glocken riefen schon zur Messe, als sie das Auto an der Straße parkten.

Pfarrer Trenker stand an der Tür und begrüßte die Gläubigen. Mit jedem sprach er ein paar Worte, erkundigte sich nach denen, die wegen einer Krankheit zu Hause bleiben mußten, und gab jenen, denen die Folgen der durchfeierten Nacht noch anzusehen waren, einen augenzwinkernden ›Kommentar‹.

»Frau Granzinger«, begrüßte er Brigitte.

»Ich freu’ mich, daß Sie hergekommen sind. Sind S’ gestern abend gut nach Haus’ gekommen?«

Die junge Frau nickte und stellte dem Geistlichen ihre Schwester und Thomas Berghofer vor.

»Hochwürden, wär’s möglich, daß ich Sie nachher kurz spreche?« fragte sie dann.

Der Bergpfarrer nickte.

»Freilich. Ich wollt’ mich ohnehin noch mit Ihnen in Verbindung setzen.«

»So voll wie hier ist’s in Engelsbach aber nie«, flüsterte Rosel, als sie sich eine Bank suchten.

Tatsächlich waren kaum noch Plätze frei, und es kamen immer mehr herein. Das Stimmengemurmel verstummte, als ein Glöckchen ertönte, und Pfarrer Trenker mit zwei Ministranten vor den Altar trat.

Das Nachfolgende erstaunte Brigitte.

Ihre Abneigung gegen Kirchenbesuche rührte aus der Erfahrung ihrer Jugend her. Sie erinnerte sich mit Schaudern, daß der Geistliche immer vom Fegefeuer und der Hölle gesprochen hatte, in der alle Sünder früher oder später landen würden.

Ganz anders hingegen Pfarrer Trenker!

Hochwürden predigte das Wort Gottes, so wie er es verstand, sprach von der Liebe und Güte des Herrn, und anstatt mit demütig gesenktem Kopf zu lauschen, wirkten die Leute frei und unbefangen. Die Gemeinde amüsierte sich über die Späße des Geistlichen, und so mancher Lacher hallte von den Mauern des ehrwürdigen Gebäudes wider.

»Mensch, der Pfarrer ist ja eine Wucht«, flüsterte Tommy, der zwischen den Schwestern saß. »Können wir den nicht irgendwie in die Drehbücher einbauen?«

Den Gedanken hatte Brigitte tatsächlich auch gehabt. Allerdings war sie skeptisch.

»Die Idee ist net schlecht«, gab sie zurück. »Aber ich fürcht’, Hochwürden wird sich net darauf einlassen.«

»Frag’ ihn doch mal.«

Sie schmunzelte.

»Mal sehen.«

*

Nach der Messe verabschiedete Sebastian die Gläubigen wieder an der Tür. Rosel und Tommy waren schon vorausgegangen, Brigitte wartete, bis der Geistliche die Tür wieder hinter sich schloß.

»Wollen wir in die Sakristei gehen?« schlug er vor.

Sie nickte und folgte ihm.

In dem Raum, der alle möglichen Funktionen hatte, warteten die zwei Buben, die Sebastian bei der Messe assistiert hatten. Alois Kammeier war derweil dabei, die Kerzen zu löschen und die Gesangsbücher einzusammeln.

»So, ihr habt eure Sache sehr gut gemacht«, sagte Sebastian zu den Ministranten und zückte seine Geldbörse. »Da, aber net gleich wieder für Eis oder Bonbons ausgeben, sonst beschweren sich eure Mütter bei mir, daß ihr schon vor dem Mittagessen genascht habt.«

Die beiden bedankten sich und verließen mit einem glücklichen Lächeln die Sakristei. Der Bergpfarrer entledigte sich des Meßgewands und zog sein Jackett über.

»Was haben S’ denn auf dem Herzen, Frau Granzinger?« fragte er.

»Ich wollt’ fragen, ob ich vielleicht heut’ nachmittag das Jagdschloß besichtigen kann«, antwortete sie.

»Freilich«, nickte der Bergpfarrer. »Allerdings müßt’ ich mitfahren. Das Ehepaar, das dort als Hausmeister tätig ist, befindet sich für ein paar Tag’ in Urlaub, und Vikar Moser, der sonst da ist, mußte kurzfristig zu seinen Eltern fahren. Aber das ist alles kein Problem. Ich könnt’ Ihnen gegen drei Uhr alles zeigen. Wollen Sie herkommen?«

»Ja«, nickte Brigitte. »Das paßt mir auch gut.«

Sebastian sah sie einen Moment an.»Ich hab’ gestern abend noch mit Tobias gesprochen«, sagte er dann. »Ihre Begegnung ist wohl net so verlaufen, wie Sie gehofft haben…?«

»Leider net.« Sie schüttelte den Kopf. »Tobias war… sehr brüsk. Deshalb bin ich dann gleich gefahren. Es tut mir sehr leid, daß ich mich net mehr verabschiedet hab’.«

»Schon gut. Sie hatten sicher andere Dinge im Kopf.«

Er holte tief Luft.

»Es ist für Sie beide net einfach«, fuhr er fort. »Tobias scheint immer noch sehr gekränkt zu sein, und ich weiß net, ob er seine Meinung noch mal ändert. Ich hab’ jedenfalls versucht, ihm zuzureden, daß er darüber nachdenkt, ob es net doch einen Weg gibt, daß Sie sich ganz normal begegnen können.«

Brigitte spürte ein Würgen im Hals. Ein dicker Kloß bildete sich, der nicht verschwinden wollte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Sebastian sah sie prüfend an.

»Sie lieben ihn noch immer, net wahr?« fragte er.

Sie nickte stumm und wischte sich über das Gesicht.

»Ich war jung damals«, sagte sie leise. »Ich wollt’ einfach nur fort. Brigitte und ich, wir haben uns’ren Vater gepflegt und wenn wir’s auch gern’ getan haben, so mußten wir doch auf vieles verzichten. Wir beide hatten Träume und Pläne, was uns’re Zukunft anging, und zumindest ich wollte nachholen, was ich versäumt hatte.«

Sie blickte den Geistlichen schuldbewußt an.

»War das ein Fehler? War ich zu egoistisch?«

Der gute Hirte von St. Johann schüttelte den Kopf.

»Niemand kann von dem Weg abweichen, den das Schicksal einem vorherbestimmt hat«, erwiderte er. »Sie sind den ihren gegangen, auch wenn Sie dabei geliebte Menschen zurücklassen mußten. Gewiß hatte auch Tobias seine Träume von einer Zukunft mit Ihnen. Daß sie geplatzt sind, ist aber net Ihre Schuld, Brigitte.«

»Danke, Hochwürden«, lächelte sie. »Ihre Worte bedeuten mir sehr viel.«

Rosel und Tommy warteten vor der Kirche. Sie hielten sich an den Händen und schauten glücklich aus.

»Wenigstens meine Schwester hat ihr Glück gefunden«, sagte Brigitte, als sie ihnen entgegen gingen.

Sie reichte dem Geistlichen die Hand.

»Bis heut’ nachmittag, Hochwürden, und noch mal vielen Dank.«

»Keine Ursache. Sie wissen ja, daß Sie sich jederzeit an mich wenden können, und das gilt natürlich net nur für den Fall, daß es mit dem Filmprojekt Probleme geben sollte.«

Er verabschiedete sich von ihr und den beiden anderen und ging zum Pfarrhaus hinüber.

»Hast du ihn darauf angesprochen?« fragte Tommy, als sie den Kiesweg hinuntergingen.

Brigitte wußte im ersten Moment nicht, was er meinte.

»Na, ob er eine Rolle übernehmen würde.«

»Ach, das hab’ ich ganz vergessen«, erwiderte sie. »Aber das kannst du ja heut’ nachmittag übernehmen. Pfarrer Trenker zeigt uns Hubertusbrunn.«

»Und was machen wir bis dahin?«

»Wie wär’s, wenn wir zum Mittagessen ins Wirtshaus gehen?« schlug Brigitte vor. »Da sparen wir uns nämlich eine Fahrt.«

»Gute Idee«, nickte Tommy.

»Schon, aber zu Haus’ steht das Essen im Kühlschrank«, wandte Rosel ein.

»Das wird ja nicht schlecht«, meinte er. »Außerdem macht es mir Spaß, euch auszuführen – geht nämlich alles auf Geschäftskosten.«

Da es noch recht früh war, fanden sie einen freien Tisch im Kaffeegarten des Hotels. Die Mittagskarte bot eine große Auswahl an frischen Gerichten, und es fiel ihnen schwer, sich zu entscheiden. Schließlich wählten sie die Spezialität des Hauses: Fangfrische Forelle, auf ›Müllerinnen-Art‹ gebraten.

Es schmeckte köstlich, allein Brigitte merkte, daß sie keinen rechten Appetit hatte. Sie ließ die Hälfte des Fisches auf dem Teller liegen und schaute nachdenklich vor sich hin. Rosel sah ihre Schwester an. Brigitte tat ihr leid, aber sie hatte keine Ahnung, wie sie ihr helfen konnte.

Tommy, der neben ihr saß, bemerkte den Blick. Auch er machte sich Gedanken um seine Kollegin. Von der Telenovela versprachen sich alle Beteiligten sehr viel. Er hoffte, daß Brigitte, trotz ihrer persönlichen Krise, in der Lage war, das Projekt zu meistern. Auch wenn Eddy Bachmann letztendlich als Produzent die Zügel in den Händen hielt, so lastete doch der Hauptteil der Arbeit auf seiner Assistentin.

»Schaut net so«, sagte Brigitte in die Stille hinein, die am Tisch herrschte.

Sie hatte sehr wohl die Blicke der beiden gespürt.

»Ich werd’s überleben.«

*

Auf dem Rauchingerhof hatte Resl das Mittagessen fertig. Hubert Krammler saß schon am Tisch. Eigentlich fehlte nur noch der Bauer.

Die Magd schaute ärgerlich auf die Uhr. Schon zwölf durch, und Tobias lag immer noch im Bett!

»Wo bleibt er denn bloß?« fragte der Knecht und spielte mit seiner Gabel.

In der Küche duftete es verführerisch nach Schweinsbraten und Blaukraut, in einem dritten Topf schwammen die Knödel im Kochwasser. Die Magd hatte ihn schon auf die Herdseite gezogen, damit die zarten Knödel nicht zerfielen.

Kopfschüttelnd ging sie aus der Küche, durchquerte die Diele und klopfte an die Tür der Schlafkammer.

»Bist immer noch net wach?« rief sie. »Das Essen ist fertig. Es verkocht mir ja alles, wenn du net gleich kommst.«

»Ich hab’ keinen Hunger«, erklang es hinter der Tür.

Resl zuckte die Schultern. Irgendwas stimmt mit dem Bauern nicht. Und bestimmt hatte das was mit der vornehmen Dame zu tun, die vorgestern hier auf dem Hof aufgetaucht war. Da war die Magd ganz sicher. Als sie Tobias am Abend davon erzählt hatte, war er schon ganz merkwürdig gewesen. Kaum, daß er das Essen angerührt hatte. Und dann den ganzen Abend dieses Schweigen.

Achtzehn Jahre war sie nun schon auf dem Hof, aber so hatte sie ihn noch nie erlebt.

Oder?

Resl kramte in ihrer Erinnerung. Doch, da war mal was, vor ein paar Jahren, da hatte Tobias auch so seltsame Anwandlungen gehabt. Aber so genau wußte sie nicht mehr zu sagen, was da vorgefallen war, und sehr lange hatte der Zustand dann ja auch nicht angehalten.

Liebeskummer kann man wohl ausschließen, überlegte sie, während sie zur Küche zurückging und das Essen auf den Tisch brachte.

In der Beziehung hatten eher die Madln Probleme, die der junge Bauer reihenweise abschleppte…

Abgeschleppt hat, verbesserte sie sich, denn seit Tobias mit der Franziska Brandner zusammen war, hatte er sich da etwas gebessert.

Zumindest bekam sie nicht mehr mit, daß die Frauen anriefen und sich beklagten, Tobias habe keine Zeit mehr für sie.

Lange hatten seine Beziehungen ja nie gehalten, und Resl war es eigentlich auch ganz normal vorgekommen, daß der Bauer sich erst einmal austoben wollte, ehe er sich für immer an eine band. Aber dann hatte es doch überhand genommen. Mehr als einmal mußte sie die Madln trösten, die sich bei ihr ausweinten, und wenn sie Tobias ins Gewissen redete, dann lachte er nur darüber.

»Kommt er net zum Essen?« fragte Hubert.

Er war schon über sechzig und arbeitete noch länger als Resl auf dem Hof.

Sie schüttelte den Kopf und setzte sich.

»Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast«, sprach sie, anstelle des Bauern, das Tischgebet.

Man war nicht übermäßig fromm, aber das tägliche Dankeschön für die guten Gaben war eine Selbstverständlichkeit auf dem Hof. Indes hätte Resl es gerne gesehen, wenn Tobias regelmäßiger zur Heiligen Messe am Sonntag gegangen wäre. Pfarrer Eggensteiner schaute sie immer vorwurfsvoll an, wenn sie und Hubert alleine in der Kirche erschienen.

Schad’ um das schöne Essen, dachte sie, als sie den Tisch wieder abräumte. Na ja, gibt’s morgen halt Reste.

Hubert war in seine Kammer gegangen, und sie machte sich an den Abwasch. Resl hatte gerade den letzten Teller abgetrocknet, als Tobias hereinkam.

»Ist noch was da?« fragte er mit kratziger Stimme.

Die Magd sah ihn an, sagte aber nichts.

Ihr Blick indes sprach Bände…

Dem Bauern war deutlich anzusehen, daß er auf dem Tanzabend dem Alkohol mehr zugesprochen hatte, als ihm guttat.

Wortlos wärmte sie ihm das Essen auf und stellte den Teller vor ihn auf den Tisch.

»Schau net so«, sagte Tobias. »Ich weiß…«

Beinahe mitleidig sah sie ihn an und setzte sich. Als sie auf den Hof gekommen war, hatte sie ihn noch als kleinen Bub erlebt. Die Eltern lebten noch, aber für Resl war Tobias auch so etwas, wie ihr Sohn. Und jetzt ahnte sie instinktiv, wie eine Mutter, daß ihn etwas quälte.

»Was ist denn los?« fragte sie und setzte sich zu ihm. »Ist’s wegen der Frau von neulich?«

Tobias hatte eine Gabel Kraut in den Mund geschoben.

»Ich hab’ sie gestern abend wiedergesehen«, murmelte er.

»Was ist denn mit ihr?«

Er nahm die Mineralwasserflasche und schenkte sich ein Glas voll ein, das er in einem Zug leerte.

»Die Brigitte und ich, wir waren einmal ein Liebespaar«, antwortete er.

»Was?« rief die Magd überrascht. »Davon weiß ich ja gar nix.«

Er grinste schief.

»Keiner hat was davon gewußt, damals.«

»Wie lang’ ist’s denn her?«

Tobias lehnte sich zurück.

»Vor sieben Jahren, da hat sie mich verlassen und ist fortgegangen. Nach München. Ich hab’ danach nie wieder was von ihr gehört – bis vorgestern.«

Resl sah ihn stumm an.

Sieben Jahre, das kommt hin. Sie erinnerte sich an das, was sie vorhin überlegt hatte. Genauso war er damals auch gewesen. Hatte nicht gesprochen und seinen Kummer in sich hineingefressen.

»Gestern abend, da stand sie plötzlich vor mir, und ich hab’ in meiner Wut Dinge gesagt, die ich lieber für mich behalten hätt’«, fuhr der Bauer fort. »Ich könnt’ mich ohrfeigen, daß ich net meinen Mund gehalten hab’.«

Die Magd ahnte, was in ihm vorging.

»Du hast sie nie vergessen können, was?«

Tobias nickte.

»Nein«, antwortete er. »Und ich liebe sie immer noch. Vielleicht sogar noch mehr, als früher. Jedesmal, wenn ich eine Frau im Arm hielt’, dann dacht’ ich nur an Brigitte. Aber durch meine Dummheit von gestern hab’ ich wohl meine einzige Chance vertan.«

Draußen hupte ein Auto.

»Das ist Franzi«, sagte Tobias. »Die hat mir noch gefehlt!«

»Ich dachte, daß sie und du…«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich mag sie«, gab er zu. »Aber sie ist net die Frau, die ich heiraten möcht’.«

Die Haustür klappte. Der Bauer legte seinen Zeigefinger auf den Mund.

»Kein Wort zu ihr«, sagte er hastig.

Resl schüttelte den Kopf, und Franziska Brandner stürmte herein.

»Grüß euch«, rief sie in ausgesprochen guter Stimmung.

Sie umarmte Tobias und gab ihm einen Kuß. Resl stand auf und sah seinen gequälten Blick.

Himmel, was soll das noch werden, dachte sie und ging hinaus.

*

»So, diesen Weg entlang, und dann sind wir gleich da«, erklärte Sebastian Thomas Berghofer den Weg.

Sie hatten sich am Pfarrhaus getroffen und waren mit einem Wagen gefahren. Die beiden Schwestern saßen auf der Rückbank.

»Der Wald ist ja wirklich romantisch«, meinte Tommy und drehte kurz den Kopf zu Brigitte. »Eddy wird begeistert sein.«

Wirklich aus dem Häuschen geriet er aber, als sie vor dem Jagdschloß hielten. Schon durch die Bäume hatten sie die weißen Mauern sehen können.

»Ich werde verrückt!« rief Brigittes Kollege. »Daß es so was überhaupt noch gibt!«

Er schaute den Geistlichen an.

»Und das gehört wirklich Ihnen?«

Sebastian lächelte.

»Ja, ich hab’ es geschenkt bekommen.«

Während sie ausstiegen und langsam zum Tor gingen, erzählte er ihnen, wie es dazu gekommen war.

Das Schloß gehörte ursprünglich einem Baron Maybach, der zusammen mit seiner Frau bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Lange Jahre stand Hubertusbrunn verlassen dar und drohte, zu verfallen. Markus Bruckner wurde auf das Anwesen aufmerksam, und in seinen Bemühungen, St. Johann für den Tourismus attraktiver zu machen, malte er sich schon aus, in dem Schloß ein Spielcasino einzurichten. Wahrscheinlich sah er im Geiste bereits Nobelkarossen davor parken und elegant gekleidete Leute die Stufen hinaufschreiten.

Und die Chance, das zu verwirklichen, war groß. Hubertusbrunn stand auf Gemeindegrund, einen Besitzer gab es scheinbar nicht, und die Frist, bis das Jagdschloß in den Besitz der Gemeinde übergehen würde, weil sich niemand fand, der Anspruch darauf erhob, lief in Bälde ab.

Indes hatte der Bürgermeister die Rechnung ohne den Bergpfarrer gemacht. Sebastian Trenker ließ nichts unversucht und forschte nach Nachfahren des Barons

Er wurde tatsächlich fündig, denn just zu diesem Zeitpunkt brach die Magd eines Bauern ihr Schweigen. Bevor sie sich auf dem Hof verdingte, war sie als Kinderfrau im Schloß angestellt. Nach dem Tode des Ehepaares nahm sie sich derer Tochter an und gab sie als ihr eigene aus. Niemand stellte all die Jahre Fragen, und so wuchs Michaela, Baroneß Maybach, auf dem Hof auf, zusammen mit dem Sohn des Bauern.

Waren sie zunächst auch wie Bruder und Schwester, so blieb es doch nicht aus, daß sie sich ineinander verliebten. Indes war der Bauer dagegen, seinen Sohn einem Madl zu geben, das nichts hatte – nicht einmal eine richtige Herkunft.

Das war der Moment, in dem die Magd die Vergangenheit ihres Mündels enthüllte. Auch wenn es noch einige Widerstände zu überwinden gab, so winkte dem jungen Paar letztendlich das Glück, denn dafür sorgten die ›Mutter‹ der Baroneß und der gute Hirte von St. Johann gemeinsam. Michaela wollte das Schloß allerdings nicht behalten. Sie war zwar nicht mehr die arme Tochter einer noch ärmeren Magd. Aber alles Geld der Welt hätten sie nicht vom Hof ihres Mannes fortlocken können, und so machte sie dem Bergpfarrer Hubertusbrunn zum Geschenk.

Sebastian Trenker wollte es indes nicht für sich nutzen. Hier bot sich ihm die Chance, einen Lebens­traum zu verwirklichen. Aus dem Jagdschloß wurde eine Begegnungsstätte für Jugendliche aus aller Welt, die sich alleine durch Spenden und geringe Kostenbeteiligung trug.

»Ich bin platt!« sagte Tommy begeistert. »Brigitte, das ist die dollste Geschichte, die ich je gehört habe. Die müssen wir unbedingt einbauen!«

Er blickte Sebastian an.

»Und Sie, Hochwürden, müssen eine Rolle in ›Rosen und Tränen‹ spielen!«

»Ich?« Der Geistliche lachte. »Ich glaub’ net, daß ich mich zum Schauspielern eigne. Aber danke für das Angebot.«

Brigitte und Rosel lächelten, als sie Tommys enttäuschtes Gesicht sahen.

»Kommen Sie, ich führe Sie herum«, sagte Sebastian und schloß die Tür auf.

Die Besucher schauten sich ausgiebig um. Hin und wieder steckten Brigitte und Tommy die Köpfe zusammen und überlegten und beratschlagten. Schließlich nickten sie zufrieden.

»Einige der Folgen spielen in einem Schloß, wo der spätere Heimkehrer als Verwalter tätig ist«, erklärte Brigitte Granzinger. »Hubertusbrunn ist geradezu ideal dafür. Allerdings…«

»Ja?«

»… es müßten ein paar Umbauten vorgenommen werden«, sagte sie. »Aber selbstverständlich wird nach Abschluß der Dreharbeiten alles wieder so hergerichtet, wie’s jetzt ist.«

»Wie lange, rechnen Sie, werden S’ hier drehen?« fragte Sebastian.

Brigitte sah Tommy an.

»Vierzehn Tage…«, meinte er.

»Eher drei Wochen«, meinte sie. »Um sicherzugehen.«

»Hm, das ist ein Problem. Die nächsten Gruppen kommen zwar erst wieder im September. Aber bis dahin sollte ein bissel renoviert werden. Ich fürcht’, das kollidiert mit Ihrem Zeitplan.«

»Ich mache Ihnen eine Vorschlag, Hochwürden«, sagte Brigitte. »Wir übernehmen das Renovieren, wenn wir hier fertig sind, umsonst und zusätzlich zu der Summe, die wir Ihnen als Nutzungsgebühr zahlen werden.«

»Das wär’ ja wunderbar«, freute sich der Geistliche. »Aber geht denn das? Ich mein’, der Aufwand, die Zeit.«

»Unsere Jungs sind Spitze«, meinte Tommy. »Die machen das im Handumdrehen.«

»Und was die Kosten dafür angeht, die werd’ ich uns’rem Chef schon schmackhaft machen«, versprach Brigitte. »Wenn der das hier erstmal sieht, kann er gar net anders, als einverstanden zu sein.«

»Dann wär’ das ja geklärt!« Sebastian Trenker nickte zufrieden.

Sie gingen wieder hinaus und spazierten durch den Park, schauten die Sportanlagen an und den kleinen Weiher, der hinter dem Schloß lag.

»Da kann man nur eins sagen – herrlich romantisch!«

Brigitte atmete tief durch. Natürlich hatte sie bestimmte Vorstellungen gehabt, bevor sie hergekommen war. Aber die wurden alle übertroffen.

*

Am nächsten Tag traf die Vorausmannschaft ein. Brigitte und Tommy fuhren am Vormittag nach St. Johann, um die Leute zu empfangen und unterzubringen. Für die Lagebesprechung hatten sie einen Raum im Hotel angemietet, wo sie gleichzeitig beköstigt wurden. Zwar war schon vieles im Vorfeld, von München aus, geklärt worden, aber Brigitte und Tommy hatten dennoch alle Hände voll zu tun.

Natürlich sorgte die Ankunft der Filmleute für Aufregung, und wenn auch noch nicht eine einzige Kamera aufgebaut war, so kamen die Dörfler doch immer wieder zusammen, schauten neugierig und waren stolz darauf, daß ihr Ort Mittelpunkt einer Fernsehserie werden sollte.

Ein paar Tage später kam Brigitte spätabends, müde und zerschlagen, in Waldeck an. Den ganzen Tag war sie unterwegs gewesen mit den Bauern, auf deren Höfen gedreht werden sollte, um die letzten Details abzuklären. Morgen wollte sie zu einer Almhütte hinauf, um sich mit dem Senner zu unterhalten. Und in der nächsten Woche sollten dann der Regisseur und die Schauspieler eintreffen. Dann würde es in St. Johann erst richtig rund gehen. Zu dem Troß gehörten nämlich auch noch Kameraleute, Tontechniker, Beleuchter, Maskenbildner und eben alles, was für eine aufwendige Produktion notwendig war.

Rosel und Tommy empfingen sie mit einem leckeren Abendessen. Brigitte warf die Schuhe von sich und streckte die Beine aus.

»Mensch, bin ich aufgeregt«, rief sie aus.

Ihr Kollege lächelte. Er kannte diesen Zustand nur zu gut. In der Endphase, wenn die Produktion kurz bevorstand, packte sie immer dieses Fieber.

Klappte alles so, wie man es geplant hatte? Hatte man mögliche Pannen bedacht? Gab es im letzten Moment ungeahnte Komplikationen?

Es war ein Zustand, den sie alle haßten und gleichzeitig herbeisehnten!

Brigitte ging an diesem Abend zeitig schlafen. Zwar hatte sie nicht vor, in aller Herrgottsfrühe aufzubrechen, und das längste Stück des Weges würde sie ohnehin mit dem Auto zurücklegen. Aber sie wollte die Tour auf die Alm ausgeruht antreten.

Dennoch lag sie lange wach. Es wollte ihr einfach nicht gelingen, einzuschlafen.

Tobias – die letzten Tage hatte sie kaum an ihn gedacht, weil sie ohnehin nicht wußte, wo ihr der Kopf stand. Doch jetzt, als sie im Bett lag und Ruhe hatte, da sah sie ihn vor sich. Ruhelos warf sie sich hin und her und versuchte, das Bild wieder loszuwerden. Doch er war hartnäckig, stand vor ihr, redete und dann…, dann nahm er sie in die Arme und küßte sie.

Durch das Klingeln des Weckers aufgeschreckt, fuhr Brigitte hoch.

Ein Traum, dachte sie, es war nur ein Traum.

Aber so intensiv, daß sie glaubte, immer noch seinen Mund auf ihren Lippen zu spüren.

Einen Moment blieb sie noch liegen und dachte darüber nach, was dieser Traum bedeuten könnte, dann warf sie die Decke ab und lief ins Bad.

Die Dusche weckte ihre Lebensgeister. Als sie zwanzig Minuten später die Treppe herunterkam, begrüßte sie verführerischer Kaffeeduft. Tommy hatte frische Semmeln besorgt, und der Tisch war mit allerhand Leckereien gedeckt.

»Kümmerst du dich nachher um die Zimmerliste«, bat sie den Kollegen. »Ich möcht’ net, daß es Schwierigkeiten gibt, weil der Hofer net die Suite bekommt, von der er meint, daß sie ihm zusteht.«

»Geht klar«, nickte er. »Ich kann ja dafür sorgen, daß die Rieser gleich neben ihm wohnt…«

Er grinste dabei.

»Von mir aus«, zuckte sie die Schultern. »Aber ich glaub’, die ist inzwischen mit dem Dings da…, na, wie heißt er noch gleich, der Nebendarsteller?«

»Du meinst Hansi Berger?«

»Ja, genau den. Mit dem ist sie, glaub’ ich, liiert.«

»Himmel, geht das bei euch zu«, schüttelte Rosel den Kopf. »Wenn man das so hört, dann könnt’ man denken, das stimmt doch alles, was in den Klatschspalten steht.«

Tommy beugte sich über den Tisch und gab ihr einen Kuß.

»Ganz so schlimm ist es nicht«, meinte er. »Von dem, was die Zeitungen schreiben, stimmt nur die Hälfte, und davon ist das meiste auch noch gelogen.«

»Ich muß los«, unterbrach Brigitte den Plausch.

Sie packte ihre Brotzeit in einen Rucksack und gab ihrer Schwester einen Kuß auf die Wange.

»Bis heut’ abend, ihr zwei«, sagte. »Wenn was ist, ruf’ mich auf dem Handy an.«

Es war herrliches Wetter. Sie hatte eine nicht mehr neue Jeans angezogen und über die Bluse einen leichten Pulli gestreift. Den Anorak würde sie später getrost ausziehen können. Neben ihr auf dem Beifahrersitz lag ein Hut gegen die Sonne.

Brigitte fuhr in Richtung Engelsbach. Sich der Nähe zum Rauchingerhof bewußt, mußte sie wieder an den seltsamen Traum denken. Sie war wohl eingeschlafen, während Tobias ihr noch im Kopf herumspukte.

Es war schön gewesen, als sie tatsächlich geglaubt hatte, er würde sie küssen. Allerdings wußte sie auch, daß es nur ein Traum bleiben würde.

Zur Brachneralmhütte führte ein kurviger Wirtschaftsweg hinauf. Brigitte hatte sich vorgenommen, das Auto irgendwann stehen zu lassen und das letzte Drittel zu Fuß zurückzulegen. Vielleicht kam sie an der frischen Luft auf andere Gedanken.

Immer wieder schaute sie sich um. Eine schöne Gegend war das hier. Berge, Almwiese, Ziegen und Kühe, die sich das saftige Gras und aromatische Kräuter schmecken ließen.

Ein richtiges Bergidyll.

An einer Stelle, an der sie das Auto abstellen konnte, hielt sie an und schaute auf die Karte. Ihre Berechnung war wohl richtig gewesen, bis zur Hütte konnte sie es in einer knappen Stunde geschafft haben.

Sie stieg aus, schnallte den Rucksack um und band den Anorak um die Hüfte. Dann schloß sie den Wagen ab und marschierte los.

*

Georg Hirchlacher lebte schon seit einigen Jahren auf der Brachnerhütte. Früher war er als Knecht auf einem Bauernhof angestellt gewesen, als dann die Stelle hier oben frei wurde, hatte er sofort zugegriffen. Er war geschickt im Umgang mit den Tieren, und das Käsen erlernte er von einem Kollegen, der drüben, auf der anderen Seite des Tales als Senner arbeitete – Franz Thurecker.

Mittlerweile waren es an die zwanzig Jahre, die Georg nun schon jede Saison alleine, nur in Gesellschaft einiger Kühe, Ziegen und eines Hütehundes verbrachte. Aber das Leben gefiel ihm. Der Fünfzigjährige, dem man den Senner aufgrund seines Aussehens sofort abnahm, war genügsam. Was ihm vielleicht gefehlt hätte, wäre eine Frau, aber nicht jede war für die Arbeit und die Einsamkeit hier oben geschaffen, und so hatte es sich nie ergeben, daß sich eine fand.

Der Senner kontrollierte das Feuer unter dem Kessel, in dem die Milch vorsichtig und langsam erhitzt wurde. Im Gegensatz zu anderen Hütten, wurde auf der Brachneralm ausschließlich Sennenwirtschaft betrieben. Sie war kein ausgewiesenes Wanderziel, wie etwa die Kandereralm oder andere im Wachnertal. Indes kam es schon mal vor, daß sich Wanderer hierher verirrten und dann natürlich auch beköstigt wurden. Sie mußten mit dem vorliebnehmen, was Georg für sich zubereitet hatte, und wenn es gar nichts Warmes gab, servierte er eben eine zünftige Brotzeit mit kernigem Speck und Rauchwurst.

Das schmeckte immer!

Nachdem er die Temperatur der Milch geprüft hatte, nickte er zufrieden und ging in das Reifelager. Hier standen Regale, hoch bis unter die Decke, in denen die Käselaibe ruhten und geduldig gepflegt wurden. Das bedeutete, der Senner nahm sie einzeln heraus, überwachte den Grad ihrer Reife und bürstete sie mit Salzlake gewissenhaft ab.

Georg stutzte, als er draußen eine Stimme hörte. Er ging hinaus und sah eine junge Frau, die vor der Hütte stand und sich neugierig umschaute.

»Grüß Gott«, sagte er und schritt auf sie zu.

Er war ein wenig verwundert, zu so früher Stunde schon Besuch zu bekommen. Die Wanderer kamen – wenn überhaupt – erst am späten Mittag.

»Grüß Gott, Herr Hirchlacher«, erwiderte die Frau.

Und wieder wunderte sich Georg. Diesmal darüber, daß sie seinen Namen kannte.

»Brigitte Granzinger von der Delta-Filmproduktion«, stellte sie sich vor.

Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.

Richtig, der Bauer hatte ihm davon erzählt, als er das letzte Mal heraufgekommen war, um den fertigen Käse abzuholen.

Jemand habe ihm geschrieben, hatte er gesagt, ob er die Erlaubnis geben würde, hier oben zu drehen.

Georg war zwar nicht davon begeistert, aber die Alm gehörte dem Huberbauern, und so konnte er nichts dagegen einwenden.

»Schön haben Sie’s hier oben«, sagte die Frau und schaute in die Runde.

Dann lächelte sie ihn an.

»Tja, ich bin heraufgekommen, um mit Ihnen über die Dreharbeiten zu sprechen«, erklärte sie. »Wir sind in St. Johann stationiert, und in der nächsten Woche soll es losgehen. Ich dachte, es wäre eine gute Idee, mich vorher mit Ihnen zu unterhalten.«

Sie hob entschuldigend die Hände.

»Wir werden versuchen, Ihren Tagesablauf so wenig wie möglich zu stören«, setzte Brigitte hinzu.

»Hauptsache, Sie stören die Viecher net«, brummte der Senner. »Sonst geben s’ am End’ keine Milch mehr.«

Oha, dachte sie, begeistert ist er ja net grad…

»Lieber Herr Hirchlacher«, lächelte sie, »bitte, es liegt wirklich net in uns’rem Interesse, Ihren Rhyth­mus durcheinander zu bringen. Gerad’ deswegen bin ich heraufgekommen, um Sie über alles zu informieren, damit Sie Bescheid wissen, was auf Sie zukommt.«

»Schon gut«, nickte er. »Mögen S’ ein Glas’l Milch?«

Sie nickte.

»Gern’.«

Er verschwand in der Hütte und kam kurze Zeit später mit einem Glas Milch zurück. Brigitte trank. Der Aufstieg war zwar nicht beschwerlich gewesen, aber er hatte sie durstig gemacht.

»Lecker!« kommentierte sie den Genuß.

»Das machen die Kräuter«, meinte Georg.

»Die geben der Milch das richtige Aroma. Das schmeckt man nachher auch in der Butter und dem Käse.«

Brigitte hatte sich auf eine Bank gesetzt, die vor der Hütte stand. Der Senner gesellte sich dazu.

»Einen Film wollen S’ also da heroben drehen.«

»Nun ja, zumindest ein paar Sequenzen, die Teil einer ganzen Reihe, einer sogenannten Telenovela, sind.«

Er zuckte die Schultern.

»Ich schau’ net fern. Um was für eine Geschichte handelt’s sich denn?«

Brigitte erzählte es ihm. Georg hörte zu und nickte hin und wieder.

»Klingt interessant. Wer hat sich das denn ausgedacht?«

»Ich.«

Er blickte sie erstaunt an.

»Können S’ denn so was?« fragte er. »Ich mein’, kennen S’ sich denn mit den Bergen aus?«

»Also, die eigentlichen Folgen werden von professionellen Drehbuchautoren geschrieben«, erklärte sie. »Aber die Grundidee stammt schon von mir, und ja, ich kenn’ mich hier aus. Ich bin nämlich in Waldeck geboren und aufgewachsen.«

»Respekt!« nickte er. »Und wann soll’s hier losgehen?«

»In etwa zwei Wochen. Wir drehen mit zwei Teams, von denen eines in St. Johann arbeitet und das and’re dann heraufkommt. Den genauen Termin teilen wir Ihnen aber vorher noch durch den Herrn Huber mit.«

Plötzlich schien er ganz interessiert und stellte viele Fragen. Brigitte beantwortete sie geduldig und freute sich darüber, daß der Senner sich, nach seiner ersten Brummerei, jetzt so umgänglich zeigte. Sie blieb sogar länger als geplant und ließ sich die Hütte, die Käserei und das Reifelager zeigen. Es waren ein paar nette Stunden, die sie hier oben verbrachte, ehe sie sich wieder auf den Heimweg machte.

Mit einem großen Stück Käse im Rucksack, das Georg Hirchlacher ihr gegeben hatte, ging sie den Wirtschaftsweg zurück.

Wenn doch nur alles im Leben so problemlos ablaufen würde, dachte sie.

Und natürlich kam ihr Tobias dabei in den Sinn…

Brigitte hatte die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht, als sie auf der Wiese unterhalb von sich einen Traktor fahren sah. Offenbar wurde die Wiese gemäht. Als sie näher kam, glaubte sie, nicht richtig zu sehen.

Es war niemand anderer als Tobias Rauchinger, der auf dem Traktor saß.

Und er fuhr genau in ihre Richtung!

*

Brigitte war unwillkürlich stehengeblieben und schaute zu ihm hin. Der junge Bauer kurvte über die Wiese, ohne sie wahrzunehmen.

Oder doch?

Plötzlich erstarb der Motor, und es trat eine schon unheimliche Stille ein.

Unheimlich deshalb, weil Tobias aus dem Führerhaus sprang, stehenblieb und herüberblickte. Natürlich hatte er sie auch erkannt. Minutenlang standen sie sich gegenüber, dann setzte er sich in Bewegung. Ihr Herz klopfte bis zum Hals hinauf, als er vor ihr stand.

»Hallo, Brigitte«, sagte er mit belegter Stimme.

»Hallo.« Sie nickte ihm grüßend zu.

»Was tust du hier oben?«

»Ich…, ich war droben, auf der Alm, um mit dem Herrn Hirchlacher wegen der Dreharbeiten zu sprechen.«

»Ach ja, du bist ja beim Fernsehen.«

»Net direkt«, korrigierte sie. »Die Firma, für die ich arbeite, drehte Filme für verschiedene Sender.«

Er nickte verstehend und steckte die Hände in die Hosentaschen.

Grad so, als würd’ er fürchten, sonst auf mich loszugehen und zu erwürgen, dachte sie.

Natürlich war diese Annahme unsinnig, wurde ihr gleich darauf bewußt. So ruhig wie er jetzt vor ihr stand, hätte sie ihn sich am Samstagabend gewünscht.

»Gut, daß ich dich treff’«, sagte er, und seine Stimme klang ein wenig unsicher. »Ich…, ich wollt’ da was mit dir bereden. Das am Samstag, also, es tut mir leid. Es war net richtig, was ich da zu dir gesagt hab’…«

Plötzlich, ohne daß sie es verhindern konnte, traten ihr Tränen in die Augen.

»Ich freu’ mich sehr, daß du das sagst, Tobias.«

»Ich hab’ mich wie ein Esel benommen«, entschuldigte er sich ein zweites Mal. »Wenn ich könnt’, würd’ ich’s rückgängig machen.«

Sie lächelte.

»Deine Entschuldigung bedeutet mir sehr viel«, sagte sie. »Aber, ich hab’ auch meinen Anteil daran. Ich hätt’ net so, ganz ohne Vorwarnung, zu dir kommen sollen. Und das, was mal zwischen uns war, verdient es net, daß wir so miteinander umgehen.«

»Ja, da hast du völlig recht«, stimmte er ihr zu. »Ich war überrascht und wußte net recht, wie ich reagieren sollte.«

Er schaute zu Boden.

»Es hat sehr wehgetan, damals, als du gegangen bist«, setzte er hinzu, »und ich hab’ lang’ gebraucht, bis ich damit fertig geworden bin.«

»Ich hab’s mir net leicht gemacht«, erwiderte Brigitte. »Aber ich mußte es nun mal tun. Sonst wär’ ich net glücklich geworden, und das, Tobias, das hat bestimmt nix mit dir zu tun gehabt.«

»Und ich konnt’ diesen Weg net mit dir gehen.«

»Ja, so war es«, nickte sie. »Weißt du, Pfarrer Trenker hat einen sehr weisen Satz zu mir gesagt. Jeder Mensch muß den Weg gehen, den das Schicksal ihm bestimmt, und deiner war ein anderer als der meinige.«

Tobias zog die Hände aus den Taschen und hob sie ihr beinahe bittend entgegen.

»Glaubst du«, fragte er zaghaft, »daß… wir ihn jetzt zusammen… gehen könnten, diesen Weg?«

Brigitte versuchte den dicken Kloß hinunterzuschlucken, der plötzlich in ihrer Kehle steckte.

›Rosen und Tränen‹ – das war ihr ›Kind‹. Sie hatte sich diese Geschichte ausgedacht und darum gekämpft, daß sie verwirklicht wurde. Allein mit dem Ziel, wieder zurückzukehren.

Zu ihm!

Er machte einen Schritt auf sie zu und breitete seine Arme aus. Sie flog ihm entgegen, und dann standen sie eng umschlungen auf der Bergwiese und küßten sich.

Zum ersten Mal, seit sieben Jahren.

»Nie hab’ ich dich vergessen«, flüsterte er. »Du warst in meinen Träumen und Gedanken immer bei mir.«

»Mir ist’s net anders ergangen, Tobias«, erwiderte sie glücklich. »Unzählige Male hab’ ich diesen Augenblick herbeigesehnt, mir ausgemalt, wie es sein würde, wenn du mich in den Armen hältst.«

Sie küßten sich erneut, und Tobias strich ihr sanft über das Haar. Seine Augen strahlten und hatten ihren alten Glanz, den sie so sehr vermißt hatte.

Langsam gingen sie zu ihrem Auto.

»Am liebsten würd’ ich nie wieder von dir geh’n«, sagte sie. »Aber ich muß. Die Arbeit wartet net.«

Sie lächelte.

»Und das mit uns…«

Fragend blickte der Bauer sie an.

»Es wird ein neuer Anfang sein!« vollendete Brigitte ihren Satz. »Ach, wenn ich doch nur Zeit hätte. Es gibt so viel, was ich dir sagen will, worüber wir reden müssen.«

»Wir werden die Zeit haben«, versprach er. »Jetzt, wo wir uns wiedergefunden haben, gehört uns alle Zeit der Welt.«

Ein Abschiedskuß, aber kein Abschied für immer. Wie im Traum fuhr Brigitte ins Tal hinunter und wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte, vor lauter Glück. Irgendwie tat sie beides und dachte dabei an den Mann, den zu lieben sie nie aufgehört hatte.

*

Für Rosel war die schönste Zeit ihres Lebens angebrochen. Sie, die sich immer für ein häßliches Entlein gehalten hatte, war ein schöner Schwan geworden, dem man ansah, wie glücklich er über diese Veränderung war.

Vor ein paar Tagen noch hätte sie es nicht für möglich gehalten, daß die Eintönigkeit des Alltags so eine Wendung hätte nehmen können. Durch die Liebe, die Tommy ihr entgegenbrachte, war sie aufgeblüht wie eine schöne Blume.

Früher war es ihr sinnlos vorgekommen, auf ihr Äußeres zu achten. Freilich lief sie nicht in Lumpen herum, aber ihre Kleider waren einfach und ohne Chic. Jetzt suchte sie sich aus all den neuen Sachen, die ihre Schwester für sie gekauft hatte, das heraus, was ihr für den Tag gefiel, frisierte sorgfältig ihr Haar und benutzte sogar das sündhaft teure Parfüm, das Brigitte ihr geschenkt hatte.

Sie stand in der Küche und schnitt Gemüse. Frisch zu kochen hatte früher auch nicht zu ihrem Alltag gehört. Ein-, zweimal wurden größere Mengen zubereitet und bei Bedarf aufgewärmt. Aber seit es Tommy in ihrem Leben gab, sorgte sie dafür, daß stets frische Sachen im Haus waren.

Während Rosel das Gemüse in einen Topf gab und auf den Herd stellte, überlegte sie, daß es endlich an der Zeit wäre, die Wohnung zu renovieren. Seit dem Unfall des Vaters war das nicht mehr geschehen. Ihr war es bisher egal gewesen, doch jetzt hatte sich alles geändert.

Sie lief zur Tür, als sie draußen ein Auto hörte. Wann immer er es zwischen seiner Arbeit einrichten konnte, kam Tommy nach Waldeck.

»Hallo, Schatz«, begrüßte er sie und gab ihr einen Kuß. »Viel Zeit hab’ ich net, aber ich wollt’ dich unbedingt sehen.«

Sie umarmte ihn spontan und gab ihm einen langen Kuß. Dabei war es ihr egal, daß wahrscheinlich die Nachbarn hinter der Gardine standen und sie dabei beobachteten.

»Magst’ einen Kaffee trinken?« fragte sie.

»Gerne«, sagte er und folgte ihr ins Haus.

Sie setzten sich in die Küche, und Tommy erzählte von der Arbeit. Es schien alles bestens zu klappen, und dem Beginn der Dreharbeiten stand nichts mehr im Wege.

»Heut’ abend wollen wir uns gemütlich zusammensetzen«, erzählte. »Die Jungs vom Team sind schneller als erwartet. Und da können wir uns mal eine Pause gönnen. Nach dem Abendessen fahren wir nach St. Johann, okay?«

»Ich freue mich«, antwortete sie und stand auf, um die leeren Tassen abzuräumen. »Übrigens, ich hab’ mir überlegt, die ganze Wohnung von einem Maler renovieren zu lassen.«

Tommy zuckte die Schultern.

»Denkst du wirklich, das lohnt sich noch?« fragte er.

Sie sah ihn verwirrt an.

»Wie meinst du das?«

Er zeigte wieder sein lausbubhaftes Grinsen und kam zur ihr.

»Was hast du denn gedacht?« sagte er, während er Rosel in seine Arme schloß. »Wenn wir hier fertig sind, kommst du natürlich mit nach München!«

Ihr Gesicht spiegelte ihre Überraschung wieder.

»Nach München?«

»Na klar«, nickte er. »Hast du geglaubt, wenn die Dreharbeiten abgeschlossen sind, düse ich wieder ab, und das war’s dann mit uns?«

Rosel schluckte.

Ja, so ähnlich hatte sie tatsächlich gedacht. Für sie war es ein schönes Erlebnis, aber sie wäre nie im Leben darauf gekommen, daß es für ihn so ernst sein könnte.

»Du hast es angenommen, nicht wahr?« hakte er nach.

Sie nickte.

»Rosel, ich liebe dich!« rief er aus. »Und ich will für immer mit dir zusammensein!«

»Das…, das ist ja ein Heiratsantrag«, stammelte sie glücklich.

Eine Träne stahl sich in ihr Auge und rollte über ihre Wange.

»Natürlich ist das ein Antrag«, lachte er. »Du bist die Frau, die ich mir immer gewünscht habe. Wir werden heiraten und in meine Wohnung ziehen.«

Er zuckte die Schultern.

»Na ja, sie wird wahrscheinlich zu klein werden, wenn wir Kinder haben«, setzte er hinzu. »Aber dann ziehen wir eben um oder bauen ein Haus.«

»Ach, Tommy«, seufzte sie, »das kann doch alles net wahr sein. Halt’ mich ganz fest, damit ich weiß, daß es net nur ein Traum ist.«

»Kein Traum, Liebes«, schüttelte er den Kopf.« Wir zwei gehören zusammen.«

Liebevoll küßte er sie, und Rosel wußte, daß er es wirklich so meinte, wie er es sagte.

*

Tobias Rauchinger fuhr mit einem glücklichen Lächeln zum Hof zurück. Als er am Morgen zum Mähen aufgebrochen war, da hatte er nicht geahnt, was für eine Wendung dieser Tag nehmen würde. Jetzt, wo er sich mit Brigitte ausgesprochen hatte, und sie sich wieder gut waren, da schien die Sonne noch heller zu strahlen, die Wiesen noch grüner zu sein, und der Himmel noch blauer.

Indes erhielt seine euphorische Stimmung einen Dämpfer, als er in die Einfahrt bog und Franziskas Auto neben der Scheune stehen sah.

Tobias fuhr den Traktor an die Seite und sprang ab.

»Auch das noch«, murmelte er, während er über den Hof ging.

Franziska saß bei Resl in der Küche. Sie schaute auf, als er eintrat, und ein mißlungenes Lächeln ging über ihr Gesicht.

Seit dem letzten Sonntag hatten sie sich nicht mehr gesehen. Im Streit waren sie auseinandergegangen, nachdem sie ihm heftige Vorwürfe wegen seines Verhaltens auf dem Tanzabend gemacht hatte.

Tobias erinnerte sich nur zu gut daran…

Zwar hatte sie ihn mit einem Kuß begrüßt, doch dann stellte er sehr schnell fest, daß ihre gute Laune nur aufgesetzt war.

»Sag’ mal, was war denn gestern abend mit dir los?« wollte sie wissen.

»Was soll gewesen sein?« hatte er mit einer Gegenfrage geantwortet.

»Also, diese Frage ist wirklich überflüssig«, sagte sie, sichtlich verärgert. »Erst redest’ kaum mit mir und dann verschwindest klammheimlich, nachdem du dich betrunken hast.«

Als habe sie erst jetzt sein Aussehen bemerkt, deutete sie auf seine zerknittertes Hemd und die Hose.

»Hast’ etwa darin geschlafen?«

Er machte eine unwirsche Handbewegung. Tatsächlich konnte er sich kaum an Einzelheiten erinnern. Nur, daß er wieder hineingegangen war, nachdem Pfarrer Trenker ihn angesprochen hatte, und er sich später zu seinem Knecht an den Tresen gestellt hatte.

Hubert war es, der ihn dann am Morgen nach Hause gefahren und ins Bett gebracht hatte. Aber davon wußte der Bauer nichts mehr.

Franziska setzte sich auf einen Stuhl und sah ihn durchdringend an.

»Ich weiß net, was passiert ist, aber es muß was mit dieser Frau zu tun haben, die dich angesprochen hat. Wer ist sie?«

»Das geht dich nix an«, erwiderte Tobias barsch.

»Also doch«, nickte sie, scheinbar die Wahrheit wissend. »Eine Urlauberin vom letzten Jahr, nehme ich an. Damals hast’ sie beglückt, und jetzt ist sie wieder hergekommen, um die Beziehung aufzuwärmen.«

»Red’ net so einen Unsinn!«

Franzi biß sich auf die Lippe.

Sie wußte genau, welcher Ruf Tobias vorauseilte, als sie sich mit ihm einließ. Ein Hallodri sei er, der wie ein Schmetterling von einer Blume zur anderen flog, hatte es eine Freundin von ihr ausgedrückt. Aber sie hatte ihn haben wollen, um alles in der Welt. Schon lange war ihr klar, daß sie sich in den attraktiven Bauern verliebt hatte.

Zwar winkte ihr auch das Glück, hier die Bäuerin zu werden, sie selbst hatte nur die Wahl auf dem Hof des Vaters zu bleiben und später ihre Bruder als Magd zu dienen, wenn der einmal alles erbte, aber das war nicht unbedingt ausschlaggebend. Es war der Mann, der sie ansprach, und den sie für sich gewinnen wollte. Sie konnte ihr Glück kaum fassen, als es ihr wirklich gelang, und seit sie ein Paar waren, schien Tobias tatsächlich die Finger von anderen Madln zu lassen.

Diese andere Frau mußte wirklich was ganz Besonderes sein, überlegte sie eifersüchtig, wenn sie es schaffte, ihn doch durcheinander zu bringen!

Nach dem mißlungenen Abend war sie zum Rauchingerhof gefahren, in der Hoffnung, Tobias’ Laune habe sich gebessert. Doch das war ein Trugschluß.

»Ich will jetzt wissen, wer diese Frau ist«, setzte sie alles auf eine Karte, »oder du bist mich los!«

Er hatte sie nur angesehen und mit der Schulter gezuckt.

»Dann geh’ doch«, hatte er geantwortet.

Und Franzi war aufgesprungen und hinausgestürmt.

Vier Tage hielt sie es aus. Sie rief nicht an und suchte auch nicht die Orte auf, von denen sie wußte, daß Tobias dort anzutreffen sei. Doch dann wurde die Sehnsucht übermächtig, und die Angst, er könne diese andere Frau getroffen haben. Deshalb war sie heute zum Hof gefahren, in der Hoffnung, es würde wieder alles gut werden.

*

Als der Bauer die Küche betrat, sprang Franziska auf und lief ihm entgegen.

»Da bist’ ja«, sagte sie und umarmte ihn stürmisch.

»Grüß dich«, nickte er und machte sich wieder frei.

Unsicher schaute Resl zu ihnen hinüber.

Hoffentlich hab’ ich mich net verplappert, dachte sie.

Franziska war vor einer guten Stunde hereingekommen und hatte sich zu ihr gesetzt.

»Wie geht’s?« fragte sie. »Gibt’s was Neues?«

Resl zuckte nur die Schultern und legte die Wäsche zusammen, die sie eben von der Leine genommen hatte.

Wie sollte es ihr schon gehen? Und was sollte es Neues geben?

Der Tagesablauf war immer der gleiche. Morgens aufstehen und das Frühstück machen, während die Männer sich um die Viecher kümmerten. Dann Hausputz, der Garten, Essen kochen, Waschen und Bügeln. Tagaus, tagein. Überraschungen gab es in Resls Leben nicht, und das war auch gut so.

»Sag’ mal«, wollte Franziska etwas aus ihr herauslocken, »was ist denn mit dem Tobias? Du weißt ja daß wir uns am Sonntag gestritten haben. Hat er sich wieder beruhigt?«

Die Magd zuckte die Schultern.

»Ich kann nix Ungewöhnliches an ihm feststellen«, antwortete sie. »Er ist so wie immer.«

Was allerdings nur die halbe Wahrheit war. Tobias war keineswegs mehr derselbe Mensch, der er war, bevor diese Brigitte hier aufgetaucht war. Aber er hatte sie gebeten, die Sache für sich zu behalten und Franzi gegenüber nichts davon zu erwähnen.

Das Madl blickte sie durchdringend an.

»Wirklich?«

Die Bauerntochter beugte sich zu Resl und legte ihre Hand auf ihren Arm.

»Du weißt doch, daß wir uns im Grunde mögen«, sagte sie. »Vor ein paar Tagen noch, ehe es zu diesem Streit kam, da hat der Tobias mich gefragt, ob ich seine Frau werden will. Du kannst dir net vorstellen, wie glücklich ich darüber war und ich hab’ natürlich Ja gesagt. Leider ist dieser dumme Streit jetzt da. Ich möcht’ ihn so gern’ beenden.«

Die Magd hatte sie erstaunt angesehen.

»Heiraten will er dich?« fragte sie ungläubig.

»Ja«, behauptete Franziska und nickte nachdrücklich. »Ich hab’s erst auch net glauben wollen, aber er hat’s wirklich ernstgemeint.«

Resl lächelte.

»Na, dann kann ich euch ja nur alles Gute wünschen. Wann soll denn die Hochzeit sein?«

»Darüber haben wir noch net gesprochen. Aber lang’ wollen wir net mehr warten«, antwortete Franzi, in vollem Bewußtsein, daß sie Resl eine faustdicke Lüge auftischte. »Allerdings…«

Sie machte ein trauriges Gesicht.

»… allerdings ist da dieser dumme Streit. Wenn ich nur wüßt’, was in den Tobias gefahren ist!«

Die Magd atmete tief durch. Daß der Bauer heiraten wollte, gefiel ihr außerordentlich. Schon lange war ihr Tobias’ Lebenswandel ein Dorn im Auge, und Franziska war bestimmt keine schlechte Wahl. Als Tochter eines reichen Bauern würde sie bestimmt eine reiche Mitgift bekommen und gewiß konnte sie gut arbeiten und kannte sich mit allem aus, was man als Bäuerin wissen mußte.

»Na ja, es ist so…«, sagte sie schließlich, »diese Frau hat ihn ziemlich durcheinander gebracht.«

»Die Urlauberin?« fragte das Madl sofort.

»Keine Urlauberin«, schüttelte Resl den Kopf. »Die Brigitte Granzinger arbeitet bei einer Filmfirma, die irgendwas in St. Johann drehen. Sie und Tobias kennen sich von früher. Da sind s’ wohl ein heimliches Liebespaar gewesen. Die Brigitte stammt aus Waldeck, hat er erzählt, und ist seinerzeit nach dem Tod des Vaters nach München gegangen. Sie hatten Streit deswegen, aber er hat sie nie so recht vergessen können. Und nun stand sie plötzlich wieder vor ihm und hat das alles wieder aufgewühlt.«

Sie schaute Franziska verschwörerisch an.

»Wenn du ihn zurückgewinnen willst, dann mußt’ dafür sorgen, daß er diese Frau vergißt«, sagte sie eindringlich. »Aber verrat’ ihm net, daß du’s von mir weißt.«

Franziska war bei den Worten der Magd heiß und kalt geworden. Sie schüttelte den Kopf.

»Keine Angst. Von mir erfährt er nix«, versprach sie. »Aber danke, daß du’s mir gesagt hast.«

»Ich glaub’ da kommt er«, meinte Resl.

Franzi schaute auf. Das Motorengeräusch des Traktors war nicht zu überhören. Als Tobias dann in die Küche trat, sprang sie auf und tat, als wäre nichts geschehen.

Der Bauer ging zum Kühlschrank und nahm einen Milchkrug heraus. Nachdem er getrunken hatte, setzte er sich auf seinen Platz auf der Eckbank. Resl nahm den Wäschekorb und ging hinaus.

Franziska setzte sich neben ihn und legte ihren Arm um seinen Hals.

»Bist’ noch bös’, wegen dem dummen Streit vom Sonntag?« fragte sie und streichelte sein Nackenhaar.

»Net!« Er schüttelte unwillig den Kopf und wollte ihren Arm von sich nehmen.

Doch sie hielt seine Hand fest.

»Tobias, was soll das?« rief Franziska ärgerlich. »Himmel ja, wir haben uns gestritten. Aber das ist doch Schnee von gestern. Man muß doch auch mal verzeihen können, und wenn ich’s recht bedenk’, dann bin net ich es, die zu Kreuze kriechen muß.«

Tobias schwieg und starrte zu Boden.

»Aber ich bin bereit, einen Schlußstrich zu ziehen«, sagte sie in versöhnlicherem Ton. »Komm, gib mir einen Kuß, und wir vergessen alles.«

Endlich hob er den Kopf und sah sie an.

»Es ist was geschehen, Franziska, worüber ich mit dir reden muß.«

Ihr Herz klopfte bis zum Hals hinauf.

Aha, dachte sie, jetzt kommt die Generalbeichte.

»Du weißt, daß ich dich mag«, fuhr der junge Bauer fort. »Aber ich hab’ dir nie gesagt, daß ich dich liebe.«

Franzi biß sich auf die Lippen. Es stimmte. Sie hatte oft beteuert, wie sehr sie ihn liebte, daß er alles für sie bedeutete. Doch ähnliche Worten waren ihm nie über die Lippen gekommen.

»Aber ich hab’s gedacht…«, flüsterte sie.

»Es tut mir leid«, erwiderte er. »Aber es ist nun mal so, daß ich keine der Frauen, mit denen ich zusammen war, wirklich geliebt hab’. Es mag brutal klingen und verwerflich, aber es ist so.«

»Hat sie’s also geschafft!« rief sie wütend und verletzt.

Verblüfft sah er sie an.

»Ja, schau’ net so«, sagte sie. »Ich weiß alles über dich und diese and’re Frau. Hast’ wirklich geglaubt, ich wäre so dumm, net zu merken, daß da was zwischen euch war? Schon im Löwen, als sie am Tisch stand, hab’ ich’s gewußt.«

Sie rüttelte an seiner Schulter.

»Mensch, Tobias, vergiß sie! Sie hat dich verlassen und all die Jahre net einmal an dich gedacht. Und sie wird wieder gehen, wenn sie hier mit ihrer Arbeit fertig ist. Glaubst’ etwa, daß so eine hierbleibt und Bäuerin wird?«

Der Bauer schaute sie irritiert an. Ja, das hatte er tatsächlich geglaubt. Für ihn kam eine andere Überlegung gar nicht in Frage.

»Wach’ auf«, fuhr Franziska fort. »Die führt doch ein ganz and’res Leben, als wir hier. Wahrscheinlich macht sie sich lustig über dich und lacht sich tot, weil du ihr wie ein Hündchen hinterherläufst.«

»Schweig!« brüllte er sie an. »Was weißt du denn? Brigitte und ich, wir haben uns ausgesprochen. Wir lieben uns immer noch und werden zusammenbleiben.«

Er stand mit einem Ruck auf.

»Es tut mir leid, wenn du dir falsche Hoffnungen gemacht hast«, fuhr er in gemäßigtem Tonfall fort. »Aber ich hab’ nie zu dir gesagt, daß es zwischen uns mehr geben würde. Schon gar net hab’ ich daran gedacht, dich zu heiraten.«

Franziska kämpfte mit Tränen. Schluchzend stand sie auf und wandte sich zur Tür.

»Das wirst du noch bereuen«, drohte sie. »So laß ich mich von dir net behandeln!«

»Franziska, wart’«, rief er.

Ihm war klar, daß er es ihr anders hätte sagen müssen. Aber so richtig einfühlsam hatte er noch nie sein können, das hatte erst wieder das Gespräch gezeigt, das er am Samstag mit Brigitte geführt hatte.

Besser gesagt, seine Lawine von Vorwürfen.

»Bleib’, ich wollt’ dich net so verletzen«, rief er noch einmal.

Aber da war sie schon zur Tür hinaus.

Als er sich umdrehte, stand Resl hinter ihm. Sie blickte kleinlaut an.

»Ich fürcht’…, ich hab’ da eine Dummheit gemacht«, sagte sie leise.

»Wieso?« Er sah sie irritiert an. Was meinte sie nur?

»Na ja, die Franzi hat gesagt, daß sie hergekommen ist, um sich mit dir auszusöhnen. Und als sie dann von euren angeblichen Heiratsplänen gesprochen hat…, da hab’ ich ihr von der Brigitte erzählt…«

Schuldbewußt senkte sie den Kopf.

»Bist’ mir jetzt bös’?«

Tobias hatte sich schon gefragt, woher Franziska so genau über Brigitte Bescheid wußte. Jetzt war es ihm klar.

»Ach was«, meinte er und nahm die Magd in den Arm. »Vielleicht war’s sogar ganz gut, daß du’s ihr gesagt hast.«

*

»Kommst du nachher auch mit?« fragte Tommy beim Abendessen. »Wir wollen uns alle treffen und ein bißchen feiern.«

Brigitte schüttelte den Kopf.

»Keine Zeit«, antwortete sie und nahm sich noch mal von der Suppe, die Rosel gekocht hatte.

»Wieso?« fragte ihr Kollege irritiert. »Es ist doch soweit alles in Ordnung. Die Vorbereitungen laufen prima, und auf Hubertusbrunn sind die Jungs fast schon fertig.«

»Was ich vorhab’, hat auch nix mit der Arbeit zu tun«, sagte Brigitte und lächelte geheimnisvoll.

Ihre Schwester sah sie prüfend an.

»Sag’ mal, was ist los mit dir?« fragte sie. »Du kommst mir irgendwie verändert vor.«

»Vermutlich hat ihr der Ausflug auf die Alm gutgetan«, witzelte Tommy. »Also, heraus mit der Sprache! Der Senner ist ein fescher Bursche, nicht wahr?«

»Wirklich lecker die Suppe«, meinte Brigitte, ohne auf seine Worte einzugehen.

»Jetzt spann uns net auf die Folter«, verlangte Rosel. »Irgendwas ist doch geschehen. Du hast dich zwar sieben Jahre lang net blicken lassen, aber ich kenn’ dich immer noch gut genug. Diesen Gesichtsausdruck hattest’ als Kind schon, wenn du was für dich behalten wolltest.«

»Also gut«, gab Brigitte sich geschlagen. »Ich fahr’ gleich nach dem Abendessen zum Rauchingerhof.«

Rosel sah sie verblüfft an, und Tommy hätte sich beinahe an der Suppe verschluckt, die er gerade löffelte.

»Zu Tobias?« fragte ihre Schwester.

Sie nickte.

»Wir haben uns heut’ zufällig getroffen« erzählte sie. »Obwohl ich net weiß, ob es wirklich ein Zufall war, oder Schicksal. Jedenfalls war er ganz anders, als am Samstag. Wir haben uns unterhalten, und das wollen wir heut’ abend fortsetzen.«

Sie sah die beiden glücklich an.

»Wir haben dir auch was zu sagen«, meinte Tommy und nahm die Hand ihrer Schwester. »Wir werden heiraten. Rosel kommt mit nach München, wenn wir hier fertig sind.«

Brigitte riß erstaunt die Augen auf.

»Was? Donnerwetter, überstürzt ihr da nix?«

»Nein!« sagte er bestimmt und schüttelte den Kopf. »Wir beide sind viel zu lange allein gewesen. Rosel hatte nur dieses Haus hier, und ich meine Arbeit im Kopf. Wir haben viel versäumt, und das muß alles nachgeholt werden.«

Viel versäumt, dachte sie, das haben Tobias und ich auch. Sieben lange Jahre.

Brigitte stand auf und umarmte ihre Schwester.

»Dann wünsch’ ich euch von Herzen Glück«, sagte sie gerührt und küßte Rosel auf die Wange.

Sie gab Tommy ebenfalls einen Kuß.

»Willkommen in der Familie, Schwager«, lachte sie. »Ich bin sicher, daß Rosel bei dir in guten Händen ist.«

Als sie später zum Rauchingerhof fuhr, konnte sie es noch immer nicht glauben. Die beiden meinten es wirklich ernst.

Und sie? Würde sie nach Abschluß der Dreharbeiten ebenfalls nach München zurückgehen?

So sehr sie sich auch freute, daß zwischen Tobias und ihr wieder alles in Ordnung schien, so sehr brannte ihr aber auch eine Frage auf der Zunge, von deren Beantwortung alles abhing. Brigitte hatte weder Pfarrer Trenkers Worte vergessen, noch die Frau, mit der Tobias am Tisch gesessen hatte. Auch wenn er nachher behauptete, sie sei nicht seine Freundin, so wollte sie doch ganz genau wissen, in was für einem Verhältnis er zu ihr stand.

Diese Franzi hatte ihr durch Worte und Gesten jedenfalls deutlich zu verstehen gegeben, daß Tobias für sie mehr war, als nur ein guter Bekannter…

Der Bauer stand mit seinem Knecht zusammen, als Brigitte auf den Hof fuhr. Resl saß auf der Bank, vor dem Haus. Tobias kam auf sie zugelaufen, als sie ausstieg. Er schloß sie in die Arme und gab ihr einen Begrüßungskuß. Dann stellte er sie seinen Leuten vor. Der Knecht reichte ihr die Hand und grinste freundlich. Die Magd hingegen wirkte verlegen.

»Komm, ich zeig’ dir alles«, sagte Tobias und nahm ihre Hand.

»Schön hast du’s hier«, meinte sie nach einem ausgiebigen Rundgang.

»Na ja, der Urgroßvater hat den Grundstein gelegt«, zuckte er die Schultern. »Und ich bemüh’ mich halt, es zu bewahren.«

»Mit Erfolg«, betonte sie.

Die Sonne war untergegangen. Tobias deutete auf die Bank im Garten. »Setz’ dich.«

Sie nahm Platz und er hockte sich neben sie. Dann legte er seinen Arm und sie und zog sie an sich.

»Schön, daß du da bist«, sagte er. »Du weißt gar net, wie sehr ich diesen Augenblick herbeigesehnt hab’!«

Sie lächelte und lehnte sich an ihn. Ihr Blick glitt hinüber zu den Spitzen der Zwillingsgipfel, deren schneebedeckten Kuppen in den Himmel hineinzuragen schienen.

»Bist du glücklich?« fragte er.

»Ja«, antwortete sie. »Sehr, glücklich, Tobias.«

»Erzähl’ mir von dir«, bat der junge Bauer. »Wie ist es dir ergangen? Ich will alles von dir wissen.«

»Ach, du lieber Himmel«, rief sie lachend. »Wo soll ich denn da anfangen?«

»Am besten am Anfang«, meinte er.

Es dauerte eine Weile, bis sie alles erzählt hatte. Wie sie damals mit einem lachenden und einem weinenden Auge nach München gefahren, von der Zeit ihres Studiums und den Gelegenheitsjobs, und von der Chance, die sie bei der Delta GmbH. bekommen hatte.

»Hier war’s all die Jahre wie immer«, sagte Tobias. »Erst ist der Vater gestorben, zwei Jahr’ später die Mutter. Ich hab’ mich in die Arbeit gestürzt, und ansonsten lief das Leben an mir vorbei.«

Ein wenig Resignation klang aus seinen Worten, doch er richtete sich gleich wieder auf und sah sie an.

»Aber jetzt ist alles anders geworden«, fuhr er fort, und seine Augen leuchteten. »Jetzt weiß ich, worauf ich all die Jahre gewartet hab’.«

Er wollte sie an sich ziehen. Doch sie zog sich zurück.

»Was ist?« fragte Tobias ein wenig erstaunt, weil er mit dieser Reaktion nicht gerechnet hatte.

»Ich muß dich etwas fragen«, antwortete Brigitte. »Die Frau, mit der du am Samstag im ›Löwen‹ warst…, du hast gesagt, sie sei net deine Freundin…«

Er erwiderte ihren Blick.

»Das stimmt auch«, sagte er dann. »Ich geb’ zu, ich hab’ mich in viele Abenteuer gestürzt, und die Franzi war nur eines davon. Aber ich hatte nie ernste Absichten, und das weiß sie auch.«

Er blickte sie durchdringend an.

»Du mußt mir glauben, Brigitte, ich bin frei. Frei für dich und eine gemeinsame Zukunft!«

Sie atmete erleichtert auf.

»Ich glaube dir«, versicherte sie.

»Und wie geht’s mit uns weiter?« fragte Tobias. »Wenn deine Arbeit hier fertig ist, wirst dann nach München zurückgehen?«

»Ich hab’ darüber nachgedacht«, erwiderte Brigitte. »Es ist eine schöne Arbeit, die ich habe. Damals hab’ ich mir nix and’res gewünscht. Doch inzwischen…«

Sie lächelte.

»Inzwischen hab’ ich eingesehen, daß man nur wirklich glücklich sein kann, wenn man mit dem Menschen, den man liebt, zusammen ist.«

»Das hast du sehr schön gesagt«, flüsterte er und nahm ihr Gesicht in seine Hände. »Ich werd’ alles tun, daß du dieses Glück spürst.«

*

Am Wochenende gab es für die Leute von der Produktionsfirma nichts mehr zu tun. Alles war vorbereitet, und am Montag konnten die Filmaufnahmen beginnen.

Das galt allerdings nicht für Brigitte. Gerne hätte sie die beiden Tage mit Tobias verbracht. Sie war, wann immer es ihre Zeit erlaubte, zu ihm gefahren, oder sie hatten sich für einen Moment in St. Johann getroffen, aber am Samstag reisten die wichtigsten Leute des Projekts an. Neben der Filmcrew waren es vor allem die Darsteller. Die Firma hatte eine ganze Reihe hochkarätiger Schauspieler aufgeboten, um ›Rosen und Tränen‹ zu einem Erfolg werden zu lassen, und sie alle wollten umsorgt werden und das Gefühl haben, noch prominenter und wichtiger zu sein, als die Kollegen.

Zudem waren für diesen Tag die Komparsen ins Hotel bestellt worden. Brigitte wollte mit ihnen noch einmal durchgehen, wann und wo sie zur Verfügung stehen mußten.

Es war schon später nachmittag, als sie sich müde und abgespannt auf ihrem Stuhl zurücklehnte. Auf dem Tisch vor ihr lag ein Wust Papiere, der Kaffee daneben war längst kalt geworden. Sie trank ihn trotzdem aus und ordnete den Papierkram zu einem Stapel. Gerade wollt sie ihn in ihre Mappe stecken und den Raum verlassen, als jemand hereinkam.

Zuerst dachte Brigitte, es sei einer der Komparsen, der etwas vergessen habe, doch dann erkannte sie Franziska Brandner, die abwartend an der Tür stand und sie ansah.

Seit dem Abend auf dem Hof, an dem Tobias ihr versicherte, daß zwischen ihm und dem Madl nichts mehr sei, hatte Brigitte keinen Gedanken mehr an die Bauerntochter verschwendet. Doch als sie dort jetzt stand, mit eisiger Miene, da ahnte sie, daß dieser Besuch nichts Gutes bedeutete.

Für einen Moment wirkte Franziska verunsichert, doch dann straffte sich ihre Gestalt und sie kam mit hocherhobenem Haupt herüber.

»Grüß Gott«, nickte Brigitte ihr zu. »Was wünschen Sie?«

»Daß Sie die Finger von meinem Bräutigam lassen!« antwortete Franzi in scharfem Ton. »Was fällt Ihnen ein, nach sieben Jahre hier wieder aufzutauchen und so zu tun, als wären S’ überhaupt net fortgewesen?«

Brigitte Granzinger spürte, wie sie rot anlief.

»Darf ich fragen, was Sie meine Angelegenheiten angehen?« fragte sie und bemühte sich, ihrer Stimme einen sicheren Klang zu geben, obgleich sie innerlich zitterte.

»Weil’s auch meine Angelegenheit ist, wenn Sie mir den Mann fortnehmen wollen«, stieß die Bauerntochter hervor. »Bevor Sie herkamen, war alles in Ordnung zwischen Tobias und mir. Sie haben alles durcheinandergebracht und setzen nun alles dran, eine wunderbare Liebe zu zerstören!«

Ihre Augen schleuderten bei diesen Worten Blitze.

Brigitte schürzte die Lippen.

»Ich glaub’, Sie verwechseln da was«, sagte sie, betont sachlich. »Soviel mir bekannt ist, hat Tobias die Beziehung zu Ihnen beendet. Und zwar schon, bevor ich hergekommen bin.«

Franziska Brandner schüttelte vehement den Kopf.

»Das ist eine Lüge!« rief sie aus. »Erst nachdem Sie vor ihm standen, da fiel ihm plötzlich ein, daß er Sie immer noch liebt. Aber können S’ das mit Ihrem Gewissen vereinbaren? Sind die Leute beim Fernsehen so und zerstören das Glück andrer Leute?«

Sie strich sich mit einer zärtlichen Geste über den Bauch.

»Und das Glück eines Kindes, das noch net einmal geboren ist…«, setzte sie leiser hinzu.

Dann schlug sie die Hände vor das Gesicht, und ihre Schultern zuckten.

Brigitte starrte aus aufgerissenen Augen an. Jeder Satz war wie ein Peitschenhieb auf sie niedergefahren, und ganz besonders der letzte.

»Sie… Sie sind…?«

»Ja«, erwiderte Franziska eiskalt, »ich trag’ sein Kind unter dem Herzen, und Sie wollen ihm den Vater wegnehmen!«

»Das hab’ ich net gewußt«, hauchte Brigitte.

Diese Neuigkeit brachte sie völlig durcheinander. Tobias wurde Vater und er hatte es ihr verschwiegen. Oder ahnte er es gar nicht?

»Weiß Tobias das überhaupt?« fragte sie.

»Freilich weiß er es. Sonst hätt’ er mir wohl kaum die Ehe versprochen.«

Franziska sah sie an, und sie fragte sich, ob diese Frau vielleicht log.

Aber nein, dachte sie, so schamlos wird sie nicht sein, solch eine Lüge aufzutischen.

Brigitte Granzinger räusperte sich, während sie versuchte, dieses Gefühl von Abscheu gegenüber Tobias zu unterdrücken.

»Ich versichere Ihnen, daß ich davon keine Ahnung hatte«, sagte sie. »Und ich kann Ihnen versprechen, daß ich nicht die Absicht habe, Ihnen Tobias fortzunehmen, und einem ungeborenen Kind den Vater.«

Sie streifte ihre Jacke über und nahm die Mappe mit den Unterlagen.

»Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen…«

Sie schaute auf, aber Franziska Brandner hatte den Raum schon verlassen. Brigitte ließ sich wieder auf den Stuhl sinken und versuchte Ordnung in das Chaos in ihrem Kopf zu bringen.

Wie durch eine Wand nahm sie das Klingeln ihres Handys wahr und drückte automatisch eine Taste, um das Gespräch entgegenzunehmen.

»Hallo, Schatzl«, hörte sie Tobias’ Stimme. »Wo steckst du?«

»Im Hotel«, erwiderte sie.

»Hast’ noch lang’ zu tun?« fragte er.

»Nein, ich bin fertig.«

»Prima, dann können wir uns ja nachher treffen. Kommst’ zu Hof? Wir fahren dann später zum Tanzabend.«

Himmel, was tust du? fragte sie sich.

Sitzt hier und telefonierst mit ihm, grad so, als wenn nix gewesen wäre!

»Wir können uns net treffen«, antwortete sie. »Wir werden uns überhaupt net wiedersehen, Tobias. Bitte, ruf’ net mehr an. Laß mich in Ruhe!«

Sie drückte rasch auf die Taste, bevor er noch etwas sagen konnte. Dann schlug sie die Hände vor das Gesicht und weinte bitterlich.

*

Als sie eine Viertelstunde später aus dem Hotel trat, da fragte sie sich, ob es wirklich so ein guter Einfall gewesen war, zurückzukehren und etwas fortsetzen zu wollen, das beendet worden war, als sie damals ging. Wahrscheinlich war es ein Wunschtraum, den sie mit aller Macht hatte erfüllen wollen, doch die Wirklichkeit hatte gezeigt, daß das Leben nicht so wollte, wie man es gerne hatte.

Brigitte stand unschlüssig vor ihrem Auto. Nach Waldeck zu fahren, danach stand ihr nicht der Sinn. Rosel und Tommy hatten sich so mit ihr gefreut, als sie ihnen von Tobias und sich erzählte. Sie konnte es ihnen jetzt nicht sagen, wie maßlos enttäuscht sie worden war.

Sie schloß das Auto auf, warf die Mappe auf den Sitz und sperrte wieder ab. Langsam ging sie durch die Straßen und schritt wenig später den Kiesweg zur Kirche hinauf. Früher wäre es ihr nicht in den Sinn gekommen, dort Trost zu suchen, aber die Begegnung mit Pfarrer Trenker hatte einiges bei ihr verändert.

Brigitte hatte sich in die erste Bankreihe vor dem Altar gesetzt und ließ sich noch einmal alles durch den Kopf gehen, was Franziska Brandner gesagt hatte. Wenn sie es hätte einrichten können, wäre sie sofort nach München zurückgefahren.

Aber das war unmöglich. Alle, die mit dem Projekt zu tun hatten, warteten fieberhaft auf den Beginn der Dreharbeiten, und sie war nun einmal dafür verantwortlich, daß alles reibungslos über die Bühne ging.

Sie machte sich Vorwürfe. Weil sie auf Tobias hereingefallen war, weil sie überhaupt diese idiotische Idee hatte, ihn sehen zu wollen und weil geglaubt hatte, es würde alles wieder so werden, wie früher.

Plötzlich schüttelte sie ein irres Lachen. Der Gedanke, sie würde als Bäuerin auf seinem Hof leben, kam ihr mit einem Mal so absurd vor, daß sie gar nicht anders konnte.

*

Zur selben Zeit fuhr Tobias Rauchinger wie ein Wahnsinniger nach St. Johann. Er hatte keine Ahnung, was in Brigitte gefahren war, daß sie so etwas zu ihm gesagt hatte. Er wußte nur, daß irgendwas vorgefallen sein mußte. Etwas, das sie ihn im falschen Licht sehen ließ.

Aber was?

So sehr er sich den Kopf zermarterte, der junge Mann kam nicht darauf.

Als er am Hotel ankam, sah er sofort ihr Auto auf dem Parkplatz stehen. Er lief zum Eingang und stürmte in die Halle.

»Ich suche Frau Granzinger«, sagte er zu der Haustochter, der hinter der Rezeption stand. »Von dieser Filmfirma.«

Die junge Frau nickte.

»Ich weiß. Aber ich glaub’, sie ist net mehr da. Der Klubraum ist leer, meine Kollegin hat gerad dort aufgeräumt.«

»Wo könnte sie denn hingegangen sein?« fragte er.

Die Angestellte zuckte ratlos die Schultern.

»Hierhin kommt sie jedenfalls net so schnell wieder zurück. Der Raum ist erst für morgen mittag wieder reserviert.«

Tobias bedankte sich und ging wieder hinaus. Vor dem Hotel blieb er stehen, unschlüssig, wohin er gehen sollte, um Brigitte zu finden.

Schließlich lief er zum Pfarrhaus. Brigitte hatte erzählt, daß in Hochwürdens Jagdschloß gedreht werden sollte. Vielleicht war sie zu ihm gegangen, um noch etwas abzuklären.

Während er den Kiesweg hinaufmarschierte, grübelte er wieder darüber nach, was vorgefallen sein könnte, daß sie die gerade wieder zu erblühende Beziehung schon wieder beendete.

Das konnte doch nur ein Irrtum sein!

Franziska kam ihm kurz in den Sinn. Aber er verwarf den Gedanken gleich wieder. Die Bauerntochter schien seine Entscheidung akzeptiert zu haben, jedenfalls hatte sie sich nicht wieder gemeldet.

Und ihre unterschwellige Drohung?

Unsinn, schüttelte er den Kopf, das war nicht mehr als eine leere Worthülse.

Pfarrer Trenker öffnete selbst, als Tobias klingelte.

»Grüß dich«, sagte der Geistliche erstaunt. »Was führt dich zu mir?«

»Ich such’ Brigitte«, erwiderte der Bauer hastig. »Ist sie zufällig bei Ihnen?«

»Nein, ist sie net.« Der Bergpfarrer schüttelte den Kopf. »Aber komm erstmal herein und erzähl, was los ist.«

»… ich bin dann gleich losgefahren«, beendete Tobias wenig später seinen Bericht.

»Aber im Hotel war sie net mehr.«

Sebastian machte ein nachdenkliches Gesicht.

»Hm«, sagte er, »es freut mich natürlich, daß ihr euch ausgesöhnt habt. Um so weniger versteh’ ich ihre Reaktion. Wahrscheinlich hast du recht, irgendwas muß vorgefallen sein, was sie so hat reagieren lassen. Hast du’s schon bei ihr zu Haus’ in Waldeck versucht? Vielleicht ist sie ja mit dem Kollegen gefahren, mit dem Herrn Berghofer.«

Tobias schlug sich vor die Stirn.

»Daran hab’ ich noch gar net gedacht.«

»Na, dann werd’ ich mal dort anrufen.«

Der Anruf brachte allerdings kein Ergebnis. Brigitte sei nicht zu Hause und würde auch nicht erwartet, antwortete ihre Schwester.

Um Rosel Granzinger nicht zu beunruhigen, hatte Sebastian nichts weiter gesagt. Als er auflegte, machte er allerdings ein besorgtes Gesicht.

»Wenn ihr Auto noch auf dem Parkplatz steht, und sie net mit jemand anderem gefahren ist, dann kann sie net weit sein«, sagte er nachdenklich.

»Laß uns mal in der Kirche nachschauen.«

Sie verließen das Pfarrhaus und gingen hinüber. Als sie den Vorraum betraten, und Tobias Brigitte auf der Bank sitzen sah, atmete er erleichtert auf.

»Wart’ hier«, wies Sebastian ihn an. »Ich red’ erst allein’ mit ihr.«

Er ging durch das Mittelschiff. Sie mußte ihn zwar kommen hören, wandte sich aber nicht um.

»Guten Abend, Brigitte«, sagte der gute Hirte von St. Johann. »Ich hab’ Sie gesucht. Ist alles in Ordnung?«

Ihrem Gesicht sah er allerdings an, da nichts in Ordnung war. Sie schüttelte den Kopf.

»Bis vor einer Stunde hab’ ich’s noch geglaubt«, erwiderte sie. »Dann hatte ich ein Gespräch, das mir die Augen öffnete.«

»Über Tobias?« fragte er.

Sie schaute überrascht.

»Wieso…?«

Der Geistliche lächelte.

»Wer hat mit Ihnen gesprochen?« wollte er wissen, ohne auf ihre Frage einzugehen.

Sie zögerte einen Moment.

»Die Frau, mit der er angeblich keine Beziehung hat, die Mutter seines ungeborenen Kindes.«

Sebastian runzelte die Stirn.

»Tobias wird Vater?«

Brigitte nickte und schilderte den Verlauf des Gespräches mit Franziska Brandner.

Der Bergpfarrer hörte schweigend zu.

»Haben S’ den Tobias gefragt, was er dazu sagt?« erkundigte er sich, als sie fertig war.

»Wozu soll ich ihn denn da noch fragen?« reagierte sie fast ärgerlich. »Natürlich wird er es net zugeben. Aber ich bin sicher, daß sie die Wahrheit gesagt hat. Mit so etwas treibt man doch kein Schindluder!«

»In dieser Sache kann man erst sicher sein, wenn man beide Seiten gehört hat«, belehrte er sie. »Was, wenn Sie ihm Unrecht tun, wenn Franziska die Schwangerschaft nur erfunden hat, um Sie unter Druck zu setzen, damit Sie Tobias wieder freigeben?«

Fassungslos sah sie ihn an.

»Ziehen Sie so etwas denn in Betracht?« fragte sie ungläubig.

Sebastian lachte auf.

»Sie glauben gar net, was man alles in Betracht ziehen muß«, antwortete er.

»Glauben S’ mir, Brigitte, ich besitz’ genug Menschenkenntnis um zu wissen, daß Tobias sich niemals wieder mit Ihnen eingelassen hätte, wenn er der Franziska verpflichtet wär’. Er mag ein Hallodri und Weiberheld sein. Aber für so niederträchtig halt’ ich ihn net. Und jetzt wollen wir erstmal hören, was er dazu zu sagen hat.«

Er winkte und bedeutete dem Bauern, zu kommen. Tobias öffnete die Tür und stürzte zu Brigitte.

»Was um alles in der Welt ist los?« rief er.

»Es gibt da eine schwerwiegende Anklage gegen dich«, sagte Sebastian. »Und nur du alleine bist in der Lage, sie zu entkräften.«

Tobias stand wie ein begossener Pudel da, als er hörte, was Brigitte ihm vorwarf.

»Aber daran ist kein einziges wahres Wort!« beteuerte er. »Diese Franziska! Na wart’, die werd’ ich mir kaufen!«

»Es nützt keinem etwas, wenn du sie zur Rede stellst«, schüttelte der Bergpfarrer den Kopf. »Sie wird alles abstreiten, und am End’ steht Aussage gegen Aussage. Worauf es ankommt ist, ob ihr beide so viel Vertrauen zu einander habt, daß ihr ins Reine kommt.«

Tobias sah Brigitte bittend an.

»Ich schwöre dir, ich liebe nur dich, und es gibt keine andere Frau in meinem Leben!«

Irgendwie schien sie zu zweifeln.

»Ich glaube ihm«, meinte Sebastian augenzwinkernd. »Rosen und Tränen, vielleicht steht das ja für euch beide.«

Tobias streckte sehnsuchtsvoll die Arme aus. Langsam, wie in Zeitlupe, stand Brigitte auf und nahm seine Hände. Der gute Hirte von St. Johann war sich sicher, daß sie sich gleich küssen würden und entfernte sich diskret. Aber als er im Vorraum stand, drehte er sich noch einmal um und schmunzelte zufrieden…

Der Bergpfarrer Staffel 15 – Heimatroman

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