Читать книгу Der Bergpfarrer Staffel 15 – Heimatroman - Toni Waidacher - Страница 7

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»… dem Herrn Staatsanwalt ist es also nicht gelungen, Herrn Brunner eine Mitschuld an dem Unfall eindeutig nachzuweisen. Im Gegenteil, das Gutachten des Sachverständigen und die Zeugenaussagen sprechen dagegen. Ich beantrage daher für meinen Mandanten Freispruch in allen Punkten. Vielen Dank.«

Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen nahm Alexandra Sommer Platz und ignorierte das säuerliche Gesicht des Staatsanwalts auf der anderen Seite.

Hubert Brunner, ihr Mandant, war angeklagt, einen Verkehrsunfall verursacht zu haben, bei dem gottlob zwar niemand verletzt worden, aber ein Sachschaden von etlichen tausend Euro entstanden war.

Nach dem Plädoyer zog sich das Gericht zur Beratung zurück und verkündete zehn Minuten später das Urteil – Freispruch.

Während der Richter die Begründung vorlas, schaute Alexan­dra zur spärlich besetzten Zuschauerbank hinüber. Elke winkte ihr lächelnd zu, und die junge Rechtsanwältin grüßte mit einem kaum merklichen Kopfnicken zurück.

Nach der Urteilsverkündung bedankte sich Hubert Brunner bei ihr.

»Wegen der Kosten brauchen S’ sich keine Gedanken zu machen«, sagte die Anwältin. »Die trägt die Staatskasse.«

Ihr Mandant verabschiedete sich erleichtert, und Alexandra legte ihre Robe ab.

»Du warst brillant!«

Elke war herübergekommen und umarmte sie.

»Gehen wir was essen?«

Die Anwältin sah auf die Uhr.

»Gerne«, sagte sie und nickte ihrer Freundin lächelnd zu. »Der nächste Termin ist erst heut nachmittag.«

Die beiden Frauen verließen das Gerichtsgebäude und traten hinaus auf die Straße. Herrlicher Sonnenschein lag über der bayerischen Landeshauptstadt; seit Tagen hatte er nicht mehr geregnet.

Sie gingen in ein italienisches Restaurant, das Alexandra öfter aufsuchte, wenn sie bei Gericht zu tun hatte. Zwar herrschte um die Mittagszeit großer Andrang, aber Franco, der gutaussehende Besitzer, hielt für die Rechtsanwältin immer einen Tisch frei. Seit Alexandra ihn einmal erfolgreich verteidigt hatte, war er nicht nur äußerst hilfsbereit, nein, Franco lag ihr zu Füßen…

»Ich nehme den Salat von der Mittagskarte«, sagte sie zu dem Kellner.

Elke entschloß sich ebenfalls dazu. Der Salat war auf großen Tellern angerichtet, er bestand aus Radicchio, Fenchel und gebratener Entenleber, und war mit einem leckeren Balsamico-Essig und Olivenöl angemacht. Ein Glas Weiß­wein und etwas Brot rundeten das Mahl ab.

»Und, bist du schon aufgeregt?« erkundigte sich die Freundin, während sie den Salat genossen.

Alexandra lächelte.

»Nicht mehr und nicht weniger als vor einem Prozeß«, antwortete sie.

Elke hätte beinahe das Besteck fallengelassen. »Also hör mal!« empörte sie sich. »Hier geht’s ja wohl um ein bissel mehr, als um einen Prozeß vor Gericht. Immerhin bist du im Begriff, vor den Traualtar zu treten. Das kann man doch net miteinander vergleichen!«

»Natürlich, du hast recht«, räumte die junge Anwältin ein. »Ich hab’ auch nur einen Scherz gemacht. Natürlich bin ich aufgeregt. Schließlich ist es ja ein Schritt, der viele Veränderungen mit sich bringt.«

»Gott sei Dank«, stieß Elke Holtmann aus. »Ich dachte für einen Moment wirklich, du würdest das alles auf die leichte Schulter nehmen.«

Alexandra Sommer nahm ihr Weinglas und drehte es in den Händen.

Sie war sechsundzwanzig Jahre alt und von schlanker Gestalt. Das anmutige Gesicht wurde von dunklen, schulterlangen Haaren umrahmt, die braunen Augen konnten träumerisch oder streng blicken – je nach Stimmungslage. Seit zwei Jahren arbeitete sie als Sozius in einer alteingesessenen Münchner Anwaltskanzlei und seit einem Dreivierteljahr war sie mit Dr. ­Adrian Heller verlobt – zumindest inoffiziell, denn eine öffentliche Feier mit Verlobungsanzeige und Ring hatte es nie gegeben.

»Das sind doch nur Äußerlichkeiten«, hatte Adrian gesagt, als sie ihn darauf ansprach.

Der Chefarzt einer Privatklinik war von dem Vorschlag, ihre Verlobung öffentlich bekannt zu machen, nicht begeistert gewesen, und so hatte Alexandra nicht weiter darauf gedrungen.

»Nein, auf die leichte Schulter nehme ich es gewiß net«, erwiderte sie. »Ich habe es wirklich gut überlegt und hoffe, daß es kein Fehler ist…«

Elke blickte sie wie erstarrt an.

»Du hast Zweifel?« fragte sie.

Alexandra trank einen Schluck Wein, ehe sie achselzuckend antwortete.

»Ob es richtig oder falsch ist, weiß man immer erst hinterher«, sagte sie.

Die Freundin legte die Hand auf ihre Schulter.

»Das kenn’ ich«, meinte sie betont heiter. »Das ist die Panik, die beinahe jeden Menschen vor diesem Schritt befällt. Als Franz und ich geheiratet haben, da wollte ich noch am Morgen vor der Trauung weglaufen. Meine Mutter mußte eine Stunde auf mich einreden, bis sie mich endlich überzeugt hatte.«

Die junge Anwältin schaute auf die Uhr.

»Ich muß los«, sagte sie und winkte nach dem Kellner.

Vor dem Restaurant verabschiedeten sie sich. Während Elke zum Parkhaus ging, in dem sie ihr Auto abgestellt hatte, legte Alexandra die Strecke zur Kanzlei zu Fuß zurück. Sie befand sich in der Nähe des Gerichtsgebäudes.

Der Nachmittag verging mit zwei Terminen und einem Gespräch mit dem Seniorpartner, und dann stand einem gemütlichen Wochenende nichts mehr im Wege.

Hoffentlich hat Adrian keinen Dienst, dachte die Anwältin, während sie aus dem Auto stieg und auf das Einfamilienhaus zuging, das sie von den Eltern geerbt hatte.

Aber viel Hoffnung hatte sie nicht. Als Chefarzt mußte Adrian oft genau dann in der Klinik sein, wenn sie frei hatte…

*

Es kam genauso, wie sie es geahnt hatte.

»Tut mir leid, Schatz«, sagte der attraktive Arzt beim Abendessen. »Schöller ist heut mittag zu einem Kongreß nach Hamburg gefahren und wird erst am Dienstag wieder da sein. Ich muß für ihn einspringen.«

Er legte tröstend seinen Arm um Alexandra.

»Dafür machen wir es uns am nächsten Wochenende schön«, versprach er.

Die Anwältin hatte nur genickt und sich vorgenommen, halt das Beste aus den beiden Tagen zu machen. Samstagfrüh fuhr sie in die Kanzlei und holte ein paar Akten, um sie zu Hause durchzuarbeiten. Der Prozeß war zwar erst in zwei Wochen angesetzt, aber es konnte auch nicht schaden, wenn sie sich schon jetzt mit den Fakten vertraut machte.

Nachmittags saß sie im Garten des Hauses und studierte den Fall. Auf dem Tisch stand ein Glas Apfelsaft, an dem sie hin und wieder nippte. Alexandra merkte, daß sie sich irgendwie nicht auf ihre Arbeit konzentrieren konnte. Sie lehnte sich zurück und dachte an die bevorstehende Hochzeit. Am nächsten Ersten sollte sie stattfinden. Adrian besaß eine Penthousewohnung, direkt in der City. Da er nach der Hochzeit zu ihr ziehen wollte, überlegten sie, die Wohnung zu verkaufen. Ein Makler war bereits beauftragt worden, leider hatte sich bisher kein Interessent gefunden. Andererseits wäre es wohl leichter gewesen, das Haus zu verkaufen und zu ihm in die Stadt zu ziehen, aber Alexandra mochte sich einfach nicht davon trennen. Ihre Eltern hatten das Haus vor dreißig Jahren gebaut. Hier war sie aufgewachsen und hatte eine glückliche Kindheit verlebt. Sie hing einfach an ihrem Heim, das auch mit vielen Erinnerungen an Klaus und Thea Sommer verbunden war, die so früh verstarben.

Alexandra brachte das Glas und die Akten ins Haus. Bis zur Hochzeit gab es noch viel zu tun. Mit der großen Liste in der Tasche fuhr sie zum Englischen Garten und spazierte durch die blühende Anlage. Auf den Wiesen lagen zahlreiche Sonnenanbeter, einzeln oder in Gruppen, Spaziergänger führten ihre Hunde aus, und irgendwo saß ein Straßenmusiker und spielte auf seiner Gitarre.

Die junge Anwältin hatte sich auf eine Bank gesetzt und schaute auf die Liste. Gäste waren darauf notiert, Termine für die Anprobe des Hochzeitskleides, den Friseur und andere wichtige Kleinigkeiten, die nicht vergessen werden durften. Alexandra hatte noch vor zwei Tagen die Einladungen hinausgeschickt. Adrian und sie hatten einen großen Bekanntenkreis, und es würden wohl an die hundertzwanzig Gäste sein, die an dem Ereignis teilnahmen.

Ihr Herz pochte schneller, als Alexandra daran dachte, und plötzlich waren wieder diese Zweifel da, ob es wirklich der richtige Schritt war, den zu gehen sie beabsichtigte.

Es war nämlich keineswegs so, daß immer eitel Sonnenschein in der Beziehung zu Adrian geherrscht hätte. Der attraktive Arzt hatte zahlreiche Verehrerinnen und gab deren Werben nur zu gerne nach. Mehr als einmal hatte Alexandra vor der Entscheidung gestanden, sich für immer von ihm zu trennen. Doch dann hatte Adrian gebeten und gebettelt, ihr ewige Treue geschworen, und sie konnte nicht anders, als ihm zu verzeihen.

In der letzten Zeit hatte sie indes keinen Grund gehabt, an seinen Worten zu zweifeln, und so versuchte sie jetzt, sich zu beruhigen. Bestimmt hatte Elke recht, und es war nur die übliche Aufregung vor der Hochzeit.

Sie sah auf die Uhr. Wenn nichts Besonderes anlag, dann sollte Adrian jetzt eigentlich Zeit für sie haben. Alexandra nahm ihr Handy heraus und wählte die Nummer der Privatklinik. Der Arzt hatte auch ein Mobiltelefon, das aber während seiner Dienststunden ausgeschaltet war.

»Sommer hier«, sagte sie. »Würden Sie mich bitte mit Dr. Heller verbinden?«

»Einen Moment, Frau Sommer«, antwortete die Frau in der Telefonzentrale.

Es herrschte einen Moment Stille, dann tutete es zweimal, bis sich die Stimme wieder meldete.

»Tut mir leid«, sagte die Frau. »Dr. Heller ist gar nicht in der Klinik. Er hat bis Montag frei.«

Alexander spürte, wie ein heißer Blutstrom durch ihre Adern schoß, sie spürte plötzlich ihr Herz, das bis zum Hals klopfte.

»Danke…«, murmelte sie verwirrt und beendete die Verbindung.

Adrian war nicht in der Klinik, er hatte gar keinen Dienst, wie er behauptete! Wieder einmal war sie belogen worden!

Sie drückte die Taste ihres Handys, unter der seine Privatnummer gespeichert war. Es lief nur der Anrufbeantworter, dann versuchte sie es auf seinem Mobiltelefon. Der Arzt hatte es nicht eingeschaltet, und Alexandra vernahm nur die elektronische Stimme, die ihr sagte, sie könne eine Nachricht hinterlassen.

Sie verzichtete darauf. Mit einem dicken Kloß im Hals starrte sie die Liste an, die auf ihren Knien lag, und Tränen stiegen ihr in die Augen. So überzeugend hatte er geklungen, als er erklärte, er müsse für den Kollegen einspringen, und sie hatte ihm geglaubt!

Darauf vertraut, daß seine Eskapaden endlich vorüber waren, und es für eine gemeinsame Zukunft keine Hindernisse mehr gäbe.

Welch ein Irrtum!

Noch bis zur Dämmerung saß sie auf der Bank und dachte nach. Tausend Gedanken gingen ihr durch den Kopf, und sie grübelte darüber nach, was sie jetzt unternehmen, wie sie Adrian begegnen sollte.

Sie wußte es nicht. Nur eines stand fest, sie wollte und konnte sein Verhalten nicht länger tolerieren. Einmal mußte es genug sein, und sie würde die Konsequenzen aus seiner neuerlichen Verlogenheit und Untreue ziehen.

Heiraten? Ihn? Nie im Leben!

*

»Papa, wann sind wir endlich da?«

Peter Reinicke lächelte und schaute in den Rückspiegel.

»Es dauert net mehr lang’«, versprach er und deutete nach vorne durch die Windschutzscheibe. »Schau, da kannst’ schon die Berge seh’n.«

Martin reckte den Kopf.

»Donnerwetter, sind die riesig!« rief er aus.

Der Bub drehte sich nach hinten. Im Kofferraum des Kombis lag auf einer Decke ein dunkelbraunes Etwas, zusammengerollt zu einem Fellbündel.

»Biene, schau nur!«

Die Berner-Senner-Hündin öffnete ein Auge, schaute ihn kurz an und wedelte mit dem Schwanz.

»Biene hat auch genug von der Fahrt«, sagte Martin zu seinem Vater.

»Wir haben es ja geschafft. Wir sind in St. Johann angekommen.«

Peter Reinicke fuhr durch den Ort und suchte die Straße, in der die Pension lag. Martin blickte unterdessen aus dem Fenster.

»Na, gefällt’s dir?« fragte sein Vater.

»Hmm, sehr gut.«

»So, jetzt aber nix wir raus aus dem Auto.«

Sie hatten vor der Pension gehalten. Martin öffnete die hintere Tür und stieg aus. Biene stand schon an der Klappe des Kofferraums und wartete darauf, herausgelassen zu werden. Der Bub nahm die Leine und legte sie an. Die Hündin wartete geduldig und sprang erst auf ein Zeichen Martins auf die Straße – wofür sie natürlich kräftig gelobt wurde. Unterdessen hatte Peter die beiden Koffer genommen und trug sie zur Haustür hinauf, die im selben Moment geöffnet wurde.

»Grüß Gott und herzlich willkommen«, rief Ria Stubler. »Der Herr Reinicke aus München, net wahr?«

»Ja, grüß Gott, Frau Stubler.«

Er deutete auf den Bub.

»Das ist mein Sohn, Martin, und das da ist die Biene. Schön, daß wir sie mitbringen durften.«

»Hunde sind kein Problem«, lächelte die Wirtin. »Und Sie haben ja gesagt, daß Ihre Biene ganz artig ist.«

»Das ist sie wirklich«, sagte Martin eifrig. »Außerdem beschützt sie uns, wenn Einbrecher kommen, Frau Stubler.«

»Das ist ganz prima, aber ich kann dich beruhigen; in St. Johann gibt’s keine Einbrecher, und im übrigen kannst’ ruhig Ria zu mir sagen.«

Der Bub strahlte sie an. Peter kannte diese Reaktion bei seinem Sohn schon. Immer wenn eine ältere Frau nett zu ihm war, dann freute sich der Bub, als stünde der Weihnachtsmann vor ihm. Was vor allem wohl daran lag, daß Martin seine Mutter nie kennengelernt hatte. Nach der Geburt verstarb Petra Reinicke an einer schweren Infektion im Kindsbett.

»Am besten gehst du gleich mit ihr Gassi«, sagte Peter. »Ich bring’ derweil die Koffer auf das Zimmer.«

Ria hatte schon den Schlüssel in der Hand.

»Ein netter Bub«, meinte sie, während sie den Kaufmann durch den Flur führte.

»Ja«, lächelte der Vater, »er ist auch mein ganzer Stolz.«

Das Zimmer lag im Erdgeschoß. Eine Tür führte auf die Terrasse hinaus.

»Dann wünsch’ ich Ihnen und dem Martin einen schönen Aufenthalt«, sagte Ria, nachdem sie erklärt hatte, wann es Frühstück gab.

Peter packte rasch aus und verstaute die Sachen im Kleiderschrank. Das Zimmer war groß und geräumig, die beiden Betten standen zusammen, dazu Tisch und Sessel. Es gab ein Fernsehgerät und Telefon, und ein Bad gehört ebenso dazu. Er öffnete die Terrassentür und ließ die frische, nach Blumen und wilden Kräutern riechende Luft hereinströmen.

Endlich Urlaub, dachte der Mann, den haben wir uns aber auch redlich verdient!

Peter Reinicke betrieb in München ein kleines Computerfachgeschäft. Der studierte Informatiker hatte sich vor sieben Jahren selb­ständig gemacht. Eigentlich in der Hoffnung, mehr Zeit für seinen Sohn zu haben, doch das hatte sich als Trugschluß herausgestellt. Zwölf und noch mehr Stunden war er manchmal in der Firma beschäftigt und konnte von Glück sagen, daß Oma Bruckner, die freundliche Nachbarin aus dem Nebenhaus, es als ihre größte Erfüllung ansah, für Martin da zu sein.

»Ich wüßt’ wirklich net, was ich ohne Sie anfangen würd’«, sagte er so manches Mal zu ihr, wenn er sich bei der Sechzigjährigen mit einem Abendessen oder einen Ausflug in den Tierpark Hellabrunn bedankte.

»Das mach’ ich doch gern’«, antwortete Therese Bruckner stets. »Ich selbst hab’ ja keine Kinder und Enkel schon gar net.«

Und manchmal kam es dann vor, – wenn Martin gerade nicht in der Nähe war – daß die Nachbarin den Zeigefinger erhob.

»Aber trotzdem kann ich kein Ersatz für eine richtige Mutter sein«, sagte sie dann. »Sie müssen sich nach einer Frau umschauen, Herr Reinicke.«

Natürlich hatte sie recht. Nur das war leichter gesagt, als getan. Für Peter gab es nichts Schöneres, als die wenige freie Zeit mit seinem Sohn zu verbringen. Die beiden waren wie eingeschworene Freunde und freuten sich auf jede gemeinsame Unternehmung.

Wie hätte er da eine Frau kennenlernen sollen?

Freilich – es war nicht so, daß Peter Reinicke überhaupt nie Kontakt zu ihnen hatte. Daß Martin eine Mutter brauchte, war ihm schon lange klar. Nach einer angemessenen Zeit der Trauer hatte er durchaus versucht, eine Gefährtin zu finden, die ihn und den Sohn lieben würde. Und häßlich konnte man ihn nun wirklich nicht nennen. Peter Reinicke war über eins­achtzig groß und schlank. Er hatte ein sympathisches Gesicht, mit blonden, leicht gewellten Haaren, außerdem konnte man sich blendend mit ihm unterhalten. Alles in allem ein Typ, der in weiblicher Gesellschaft Aufsehen erregte.

Leider stellte sich sehr bald heraus, daß die Frauen wohl an dem Mann interessiert waren, aber einen Rückzieher machten, wenn sie hörten, daß es Peter nur im Doppelpack gab. Irgendwann hatte er es schließlich ganz aufgegeben.

Martin und Biene kamen von ihrem Spaziergang zurück. Für die Hündin hatten sie den großen Korb mitgebracht, in dem sie zu Hause immer schlief. Dazu Trink- und Freßnapf und ein paar Dosen Hundefutter.

»Was machen wir denn jetzt?« fragte Peter, nachdem Martin sich die Hände gewaschen hatte.

Der Bub kratzte sich am Ohr.

»Irgendwie hab’ ich da was von Eisessen in Erinnerung«, erwiderte er trocken. »Oder, Biene?«

Biene schlug mit dem Schwanz auf den Boden.

»Siehst du, sie meint es auch.«

Peter strich seinem Sohn über den Kopf. Zwar hatte es an der Autobahnraststätte schon ein Eis gegeben. Aber erstens war Urlaub, und zweitens konnte er dem Bub sowieso keinen Wunsch abschlagen.

»Na, dann los«, lachte er und zog das Jackett über.

*

Es war eine Entscheidung aus dem Bauch heraus. Still und ohne viel Aufsehen zu machen, hatte Alexandra einen Brief an Adrian geschrieben und ihm mitgeteilt, daß sie für ein paar Tage verreisen würde. Danach wollte sie ihn nie mehr wiedersehen.

Der einzige Hinweis auf seinen neuerlichen Betrug lautete: »Du weißt schon, es ist wegen Deines angeblichen Wochenenddienstes…«

Als sie am Samstagabend nach Hause gekommen war, hatte sie sich gleich hingesetzt und überlegt, welcher der Weg war, den sie jetzt gehen mußte. Noch einmal würde sie auf Adrian nicht hereinfallen. Aber ihr war klar, daß sie ihm auf keinen Fall wieder begegnen wollte. Wenn er erst einmal vor ihr stand und sie bittend anschaute, tausend Ausflüchte und Entschuldigungen hervorbrachte, bestand die Gefahr, daß er sie wieder herumkriegen würde, wie so oft.

Am Sonntag meldete er sich nicht, aber das war ihr ganz recht. Alexandra hatte lange überlegt. Es war nicht ganz leicht, sich einfach ein paar Tage frei zu nehmen. Aber nach einem Gespräch mit dem Seniorpartner, der Verständnis für ihre Situation zeigte, stand ihrem Urlaub nichts mehr im Wege. Dr. Behringer hatte sich bereit erklärt, die anstehenden Prozesse für sie zu übernehmen.

Natürlich war ihr bewußt, daß es eine Tortur für sie sein mußte, wenn sie ausgerechnet dorthin fuhr, wo sie und Adrian so schöne Tage verlebt hatten. Auf der anderen Seite würde diese Radikalkur eine heilende Wirkung auf sie haben und ihr helfen, sich nicht nur räumlich, sondern auch innerlich von ihm zu trennen. Allerdings wollte sie nicht im Hotel wohnen, sondern sich ein Zimmer in einer Pension nehmen.

Aus Erfahrung wußte sie, daß St. Johann ein begehrtes Urlaubsziel war, und fürchtete schon, keine Unterkunft mehr zu finden. Doch zumindest in diesem Punkt schien das Schicksal es gut mit ihr zu meinen, gleich bei ihrem ersten Anruf hatte sie Glück und konnte ein Zimmer für vierzehn Tage buchen. So fuhr sie am Montagmorgen mit einem lachenden und einem weinenden Auge los – nachdem sie den Brief an Adrian eingeworfen hatte.

St. Johann hatte ihr schon bei ihrem ersten Besuch gefallen. Es war ein beschaulicher Ort, in dem die Zeit stehengeblieben zu sein schien. Alexandra erinnerte sich an die Tage, die sie mit Adrian hier verbracht hatte, und plötzlich überkam sie Wehmut.

War es vielleicht doch ein Fehler gewesen, hierher zu fahren?

Allerdings war es jetzt zu spät, diese Frage zu stellen. Sie hatte die Straße erreicht, in der die Pension Stubler stand, und stieg aus. Als die Anwältin an der Haustür klingelte, öffnete eine ältere Frau, die sie lächelnd ansah.

»Frau Sommer?«

Alexandra nickte.

»Schön, daß Sie da sind. Hatten S’ eine gute Fahrt?«

»Vielen Dank, ja.«

Das Zimmer lag im ersten Stock, mit Blick auf die Berge. Ein umlaufender Balkon bot die Möglichkeit, sich nach draußen zu setzen und das Panorama zu genießen.

Alexandra packte die Reisetasche aus. Als sie das Handy auf den Tisch legte, überlegte sie einen Moment, es einzuschalten. Doch dann unterließ sie es. Außer Dr. Behringer wußte niemand, nicht einmal die engsten Freunde, wohin sie gefahren war. Sollte es tatsächlich etwas Dringendes geben, würde sich der Seniorpartner mit ihr über die Telefonnummer der Pension in Verbindung setzen.

Die junge Anwältin stand auf dem Balkon und schaute zu den Bergen hinüber. Sie kannte sie alle. Himmelsspitz und Wintermaid, den Kogler. Auf allen dreien waren sie und Adrian gewesen, hatten die Kandereralm mit ihrem knorrigen Senner, dem Thurecker-Franz, besucht und die Streusachhütte unterm Wendelstein.

Aber das war einmal, hatte sich in einem anderen Leben abgespielt, und nun war sie ihr, um sich und ihr jetziges Leben neu zu ordnen.

Alexandra stieß einen tiefen Seufzer aus, dann wandte sie sich ab, ging ins Zimmer zurück und nahm ihre Handtasche vom Tisch. Sie schloß die Tür hinter sich und lief die Treppe hinunter. Als sie auf die Straße trat, hatte sie sich fest vorgenommen, keinen Gedanken mehr an Adrian zu verschwenden. Auch wenn es ihr noch so schwerfallen würde.

Daß es nicht leicht war, merkte sie, als sie den Kaffeegarten des Hotels betrat.

Wie oft hatten sie hier zusammen gesessen!

Sie vermied es, den Tisch anzusteuern, den Adrian immer für sie beide hatte reservieren lassen. Statt dessen ging sie in den hinteren Teil des Gartens, wo hohe Bäume Schatten spendeten und vor der Sonne schützten. Allerdings merkte sie schnell, daß es seinen Vorteil hatte, wenn der Tisch reserviert war. Es war nämlich voll hier, und freie Plätze gab es kaum noch.

Ob sie jemanden bitten sollte, sich an seinen Tisch setzen zu dürfen?

Eigentlich war es nicht ihre Art, so etwas zu tun. Andererseits hätte sie wirklich gerne einen Kaffee getrunken, und sie wußte, daß die Leute in der Regel nichts dagegen einzuwenden hatten.

Alexandra schaute sich um und sah einen Tisch, an dem ein Mann und ein Junge saßen. Dem Bub zu Füßen hatte es sich ein großer, brauner Hund gemütlich gemacht. Die Anwältin trat näher und deutete auf einen freien Stuhl.

»Entschuldigen S’ die Frage«, sagte sie, mit einem verlegenen Schulterzucken, »aber dürfte ich mich dazu setzen? Die anderen Tische sind schon alle besetzt.«

Erstaunt nahm sie wahr, daß der Mann aufstand und eine Verbeugung andeutete.

»Aber selbstverständlich«, erwiderte er mit einem freundlichen Lächeln. »Bitte schön, nehmen S’ ruhig Platz.«

»Vielen Dank«, nickte Alexan­dra und setzte sich.

Donnerwetter, dachte sie dabei, der hat tatsächlich noch gute Manieren!

Sie hatte nicht sehr oft beobachten können, daß ein Mann sich erhob, wenn eine Frau sich dazusetzte, und freute sich über diese Kavaliersgeste.

»Reinicke, mein Name«, stellte der Mann sich vor. »Peter Reinicke, und das ist Martin, mein Sohn.«

»Alexandra Sommer, angenehm«, erwiderte sie und sah den Bub an. »Das ist aber ein lieber Hund.«

»Biene ist eine Hundedame«, belehrte er sie und schaute sie neugierig an. »Machst du auch Urlaub hier?«

»Sei net so neugierig«, tadelte der Vater ihn.

»Seien S’ net so streng«, lächelte Alexandra und wandte sich wieder dem Kleinen zu. »Ja, ich mache auch Urlaub in St. Johann. Ich bin gerad’ erst angekommen.«

»Wir sind auch erst seit heute hier«, erzählte Martin fröhlich. »Und wir haben ein ganz tolles Zimmer in einer Pension.«

Peter Reinicke räusperte sich.

»Ich glaub’ net, daß es die Frau Sommer interessiert, wo wir wohnen«, sagte er.

Es war ihm sichtlich peinlich, daß sein Sohn die Frau so mit Beschlag belegte.

»Ach, lassen Sie ihn doch«, schmunzelte die Anwältin. »Ich wohne auch in einer Pension.«

»Uns’re heißt Stubler«, rief Martin sofort.

»Stell dir vor, meine auch«, lachte Alexandra, und ihr Lachen war so ansteckend, daß Peter mit einfiel.

Martin strahlte sie an.

»Du gefällst mir«, sagte er. »Möchtest du mal mit mir und Biene Gassi gehen?«

Die junge Frau zuckte die Schultern.

»Warum net – wenn deine Eltern nix dagegen haben…«

»Ich hab’ nur Papa«, sagte der Bub und schaute plötzlich ein wenig traurig drein.

»Oh«, kam es Alexandra über die Lippen, »das wußte ich net.«

»Können S’ ja auch net«, erwiderte Peter und schüttelte den Kopf.

»Meine Frau ist schon bald nach Martins Geburt gestorben…«

Betretenes Schweigen machte sich breit. Alexandra hatte sich schon gefragt, wo die dazugehörige Frau wohl sein mochte. Doch dann hatte sie nur zwei Kuchenteller auf dem Tisch gesehen.

Die Bedienung trat heran und fragte nach Alexandras Wünschen. Sie bestellte einen Kaffee. Im selben Moment erkannte das Madl sie.

»Frau Sommer, net wahr?« sagte sie mit einem strahlenden Gesicht. »Ich hab’ gar net gewußt, daß sie in diesem Jahr wieder hier sind. Ist der Herr Dr. Heller net mitgekommen?«

»Ich bin alleine hier«, antwortete die Anwältin. »Und ich wohne auch net hier im Hotel.«

Die Bedienung nickte nur kurz und verschwand. Alexandra sah Peter entschuldigend an.

»Tja, es tut mir wirklich leid…«

»Schon gut«, erwiderte er.

Sie blickte auf Martin.

»Dann nehme ich deine Einlandung zum Gassi gehen also an.«

»Prima«, freute sich der Bub.

»Aber nur, wenn Sie wirklich Lust dazu haben«, schränkte Peter ein, dem es immer noch peinlich war, wie sehr sein Sohn die Frau vereinnahmte.

Eine überaus attraktive Frau, wie er festgestellt hatte. Leider wohl nicht alleinstehend, die Frage nach dem Herrn Dr. Heller, die die Bedienung gestellt hatte, war ja eindeutig gewesen.

*

»Sind Sie zum ersten Mal in St. Johann?« erkundigte sich Alexan­dra, nachdem ihr der Kaffee gebracht worden war.

Peter nickte.

»Dann müssen S’ sich unbedingt die Kirche anschauen«, setzte die Anwältin hinzu. »Die ist wirklich sehenswert.«

»Was kann man denn noch hier machen?« wollte Martin wissen.

»Ach, da gibt es viele Möglichkeiten«, erzählte sie. »Reiten zum Beispiel. Ganz in der Nähe gibt es einen Ponyhof. Oder man kann zum Schwimmen an einen schönen See fahren. Du wirst schon seh’n, die Zeit hier wird dir net lang’ werden.«

Sie lächelte den Bub an. Martin hatte ein niedliches Gesicht, das dem seines Vaters ähnelte. Schon als sie sich gesetzt hatte, gefiel ihr seine unkomplizierte Art, mit der er sie angesprochen hatte.

»Ich hab’ dir doch auch schon gesagt, was wir alles unternehmen werden«, meinte sein Vater. »Erinner dich an die vielen Prospekte, die wir angeschaut haben.«

»Bist’ schon mal auf einem Pferd gesessen?« fragte Alexandra.

Martin schüttelte den Kopf.

»Ich würd’ aber gern mal«, antwortete er. »Es ist bloß so, daß Papa net reiten mag. Er sagt, daß er nie Zeit dafür hat.«

Peter Reinicke spürte, wie er vor Verlegenheit rot anlief.

»Die Arbeit…« Er zuckte entschuldigend die Schultern. »Aber ich gelobe Besserung. Hier im Urlaub bin ich nur für dich da.«

»Dann darf ich Reiten lernen?« rief Martin mit leuchtenden Augen.

»Ja, du darfst, und wir werden zum Schwimmen fahren und eine Bergwanderung machen und überhaupt alles, was du möchtest.«

Martin rutschte von seinem Stuhl, rannte um den Tisch herum und gab seinem Vater einen dicken Kuß auf die Wange.

»Ich geh’ mal mit Biene«, sagte er.

»Aber bleib’ in der Nähe«, ermahnte Peter ihn.

Der Bub stand stramm und salutierte.

»Jawohl!«

Dann nahm er die Leine auf und spazierte davon.

Alexandra lächelte.

Es war bestimmt nicht einfach, den Bub alleine großzuziehen, wenn man auch noch für das tägliche Brot sorgen mußte.

»Darf ich fragen, was Sie beruflich machen?«

»Ich hab’ eine kleine Computerfirma«, antwortete er. »Mit zwei Angestellten sogar. Aber wenn sie einerseits auch ein Erfolg ist, so zwingt sie mich andererseits meine Zeit, die ich lieber mit meinem Sohn verbringen würd’, ihr zu widmen. Aber so ist es nun mal – das eine, was man will, das and’re, was man muß.«

»Ja, das kenn’ ich«, nickte sie. »Der Beruf kann einen wirklich aufreiben.«

»Sind Sie auch selbstständig.«

»Ja, ich bin seit ein paar Jahren Mitinhaberin einer Anwaltskanzlei«, nickte sie.

Sie unterhielten sich eine ganze Weile über das Für und Wider einer selbstständigen Tätigkeit. Aber für beide stand fest, daß sie in ihren Berufen glücklich waren und darin Erfüllung fanden.

»Jedenfalls weiß ich jetzt, an wen ich mich wenden kann, wenn ich einmal anwaltlichen Beistand brauche«, lächelte Peter Reinicke.

»Und ich, wenn mal wieder der Computer im Büro streikt«, lachte sie zurück.

Er schaute sie an und fragte sich, warum sein Herz die ganze Zeit schneller klopfte…

Himmlisch schaute sie aus!

Und Martin schien sie in ihr Herz geschlossen zu haben.

Aber, was red’ ich mir da denn ein, fragte sich Peter in Gedanken. Bloß weil sie zufällig an uns’ren Tisch geraten ist, gut ausschaut und sehr sympathisch ist, mußt’ net gleich sonstwas denken!

Dennoch konnte er nicht anders, als sie immer wieder verstohlen zu betrachten. Wenn man lange Jahre einen Menschen entbehrt hatte, an den man sich anlehnen konnte, ihm seine Wünsche, Ängste und Träume mitteilen, dann war das wohl eine ganz normale Reaktion. Aber Hoffnungen brauchst’ dir da net zu machen, es gibt ja einen Mann an ihrer Seite, auch wenn er grad net da ist.

Martin kam zurück.

»Dann gehen wir mal in die Pension zurück«, sagte Peter und stand auf.

»Kommst du mit?« fragte Martin Alexandra sofort.

Sein Vater schüttelte den Kopf.

»Jetzt fall der Frau Sommer net auf den Wecker!« sagte er. »Sie wird schon alleine bestimmen, wann sie geht und wann net.«

Martin machte ein betretenes Gesicht, und Peter tat es im selben Moment leid, so heftig reagiert zu haben.«

»Jetzt schimpfen S’ doch net«, sagte Alexandra und sah Martin an. »Ich bleib’ noch ein bissel sitzen. Aber heut’ abend geh’n wir mit der Biene Gassi. Versprochen!«

Der Bub strahlte sie an.

»Ich hole dich dann von deinem Zimmer ab.«

Die Anwältin nickte lächelnd und sah ihnen hinterher.

Der Kleine war ja wirklich ein Goldstück, und sein Vater ein sehr sympathischer Mann…

Aber Vorsicht! ermahnte sie sich, du bist net hergekommen, um dich mit einem and’ren zu trösten, sondern den zu vergessen, der dich so bitter enttäuscht hat. Also gib dich gar net erst irgendwelchen törichten Gedanken hin.

*

Sebastian Trenker schaute auf die Ansichtskarte, die am Morgen mit der Post gekommen war. Marion und Andreas hatten sie geschrieben, aus den Flitterwochen in Kanada, wo die Frischvermählten sich seinerzeit kennengelernt hatten. Der Bergpfarrer mußte schon ein wenig schmunzeln, die Karte hatte beinahe vierzehn Tage gebraucht, um von Übersee nach St. Johann zu gelangen. In der nächsten Woche schon würden sein Cousin und dessen Frau schon wieder zu Hause sein.

»Hochwürden, der Herr Kam­meier hat vorhin angerufen und gebeten, Sie möchten noch mal in die Kirche kommen«, sagte die Haushälterin.

Sebastian nickte.

»Danke schön, Frau Tappert. Ich wollt’ ohnehin gleich hinübergehen.«

Er reichte ihr die Ansichtskarte.

»Die beiden scheinen sehr glücklich zu sein«, meinte er dabei. »Ich freu’ mich für sie.«

Der gute Hirte von St. Johann zog sein Jackett über und verließ das Pfarrhaus.

Herrliches Wetter, dachte er, eigentlich müßt’ ich jetzt bald wieder in die Berge, in der nächsten Woche komm’ ich wohl kaum dazu.

Es standen ein paar wichtige Termine an, und an den beiden nächsten Sonntagen fanden gleich mehrere Taufen statt. Es war wohl wirklich die vorerst letzte Gelegenheit, eine Bergtour zu unternehmen.

Alois Kammeier, der Mesner von St. Johann, erwartete den Geistlichen in der Sakristei. Vor ihm stand ein Berg Pakete auf dem Boden.

»Ach, du liebe Zeit, was ist das denn? Doch net etwa die Kerzenlieferung, die wir schon so lange erwarten?«

Sebastian schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

Der Mesner machte ein Gesicht, dem man nicht entnehmen konnte, ob ihm zum Lachen oder Weinen zumute war.

»Doch«, antwortete er. »Nur haben s’ uns statt zweihundert gleich zweitausend geschickt.«

»Du meine Güte, wo sollen wir denn damit hin? Die können wir doch unmöglich alle hier in der Sakristei lagern.«

»Am besten schicken wir sie wieder zurück«, schlug Alois Kammeier vor.

»Ja, eine and’re Möglichkeit seh’ ich auch net«, nickte der Bergpfarrer. »Packen S’ uns’re zweihundert aus, und ich ruf’ den Lieferanten an, daß er die and’ren wieder abholt.«

Kopfschüttelnd verließ er die Sakristei. Da warteten sie nun schon sieben Wochen darauf, daß die Kerzen endlich geliefert würden, und dann bekamen gleich die zehnfache Menge der Bestellung…

Der Lieferant wollte mit der Zeit gehen und hatte darum gebeten, die Bestellungen nur noch über das Internet zu machen. Das Ergebnis sah man jetzt. Erst hatte es über Gebühr gedauert, bis eine Bestätigung kam, dann trafen die Kerzen nicht ein, und, nach mehrmaliger Reklamation und Nachfrage, nun das.

In Zukunft werd’ ich wieder wie gewohnt den Bestellschein ausfüllen und mit der Post abschicken, dachte Sebastian, während er die Kirche verließ.

Er wollte wieder zum Pfarrhaus hinübergehen, als ihm eine junge Frau auffiel, die den Kiesweg heraufkam.

»Alexandra!« rief Sebastian. »Hab’ ich mich doch net getäuscht. Schön, Sie zu sehen. Wo ist denn Adrian?«

Seit sie das erste Mal in St. Johann Urlaub gemacht hatten, waren die Anwältin und der Arzt auch an Wochenenden hergekommen – wenn es für beide gepaßt hatte und sie gemeinsam frei gehabt hatten. Nachdem sie die Bekanntschaft des Geistlichen gemacht hatten, ergab es sich, daß sie Pfarrer Trenker auf eine Bergtour begleiteten. Damals ahnte noch niemand, daß die Hochzeitsglocken für sie beide niemals läuten würden.

Alexandra Sommer lächelte, aber es war kein glückliches Lächeln.

»Ich bin allein da«, antwortete sie nach der Begrüßung.

Der Bergpfarrer ahnte sofort, was los war.

»Kommen S’«, sagte er, »wir gehen ins Pfarrhaus. Frau Tappert hat heut’ morgen einen Apfelkuchen gebacken, von dem sie uns bestimmt ein Stückchen abschneidet. Und dann erzählen S’ mir alles.«

Die Haushälterin ließ sich natürlich nicht lange bitten, und schon bald standen Kuchen, Kaffee und Schlagrahm auf dem Terrassentisch.

Alexandra rührte nachdenklich in ihrer Tasse.

»Ich hab’ lange Zeit gedacht, er würd’ sich ändern«, sagte sie leise. »Und immer wieder hab’ ich ihm verziehen. Aber diesmal konnt’ ich es net mehr.«

Sie hatte lange und ausführlich erzählt. Sebastian hörte zu, ohne sie zu unterbrechen. Die Anwältin merkte, wie gut es ihr tat, sich endlich einmal alles von der Seele zu reden. Außer mit Dr. Behringer hatte sie mit sonst niemanden über die Angelegenheit gesprochen.

»Es ist wirklich schad’«, sagte Pfarrer Trenker. »Ich hatte von ­Adrian einen ebenso guten Eindruck, wie von Ihnen, Alexandra. Ich denk’, Ihre Entscheidung, gerade hierher zu kommen, war richtig. Wenn Sie sich hier noch einmal all das vor Augen halten, was er Ihnen angetan hat, wird es Ihnen bestimmt leichter fallen, darüber hinwegzukommen.«

Er lächelte.

»Und ich werd’ das Meinige tun, Sie von trüben Gedanken abzulenken«, setzte er hinzu. »Wie wär’s, hätten S’ Lust auf eine Bergtour?«

Ein Lächeln glitt über das Gesicht der Anwältin, während sie nickte.

Nachdem Peter Reinicke und sein Sohn gegangen waren, hatte sie noch eine Weile im Kaffeegarten des Hotels gesessen. Ein Besuch im Pfarrhaus stand fest, und sie hatte sich entschlossen, ihn gleich zu machen.

»Ich hab’ auch meine Wandersachen mitgebracht«, sagte sie.

»Na, prima. Dann können wir ja gleich am Donnerstag aufsteigen«, schlug der Seelsorger vor. »Ich hole Sie vom Hotel ab.«

»Ich wohne diesmal in der Pension Stubler«, stellte sie richtig.

»Bei der Ria, da wohnen S’ mindestens genauso gut wie im Lö­wen.«

Sie unterhielten sich über die geplante Tour. Alexandra wollte am liebsten zur Kandereralm hinauf und dem Senner dort oben einen Besuch abstatten.

»Das machen wir«, versprach Sebastian. »Der Franz wird sich freuen, Sie wiederzusehen.«

Es dämmerte schon, als die Anwältin zur Pension zurückging. So schnell hatte der Bergpfarrer sie nämlich nicht wieder fortgelassen. Die Einladung zum Abendessen lehnte sie allerdings ab.

»Haben S’ sich schon was für morgen vorgenommen?« erkundigte er sich.

»Mal sehen«, lächelte Alexan­dra. »Ich hab’ da nämlich einen kleinen Verehrer, der zusammen mit seinem Papa in der Pension wohnt. Der Martin würd’ gern’ Reiten lernen, aber ich hab’ den Eindruck, daß sein Vater net so ganz begeistert davon ist. Vielleicht fahre ich mit dem Bub zum Ponyhof hinaus.«

»Gibt’s denn keine Mutter?« fragte der Geistliche.

Alexandra schüttelte den Kopf und erzählte, daß Peter Reinickes Frau bald nach der Geburt des Jungen gestorben war. Sebastian nickte verstehend und winkte ihr zum Abschied.

Dann wurde sein Blick nachdenklich. Ein alleinerziehender Vater, dessen Sohn ein Auge auf die attraktive Anwältin geworfen hatte…, das bot viel Spielraum für ungeahnte Möglichkeiten.

Vielleicht war ja net nur der Sohn interessiert…

*

»Aufstehen, Schlafmütze!«

»Um Himmels willen! Jetzt schon? Es ist doch noch dunkel draußen!«

Peter Reinicke öffnete ein Auge und blinzelte seinen Sohn an. Martin stand vor dem Bett, fertig angezogen, und zog an der Decke.

»Von wegen«, widersprach er. »Die Sonne scheint schon längst. Ich war mit Biene draußen und außerdem hab’ ich jetzt Hunger!«

»Na ja, dann…«

Seufzend schälte sich Peter aus der Bettdecke. Er wußte genau, daß der kleine Quälgeist ihm keine Ruhe lassen würde. Das kannte er von zu Hause, da war Martin auch immer der Erste, der aufstand – leider auch am Wochenende, wenn man mal hätte ausschlafen können.

Aber natürlich hatte der Bub recht. Es war herrlicher Sonnenschein draußen, und es wäre eine Sünde gewesen, jetzt noch liegenzubleiben.

Eine Viertelstunde später marschierten sie auf die Terrasse, wo die Wirtin gedeckt hatte. Biene ging dabei brav an Martins Seite.

»Guten Morgen«, begrüßte Ria sie. »Haben S’ gut geschlafen?

»Ja, ganz wunderbar, Frau Stub­ler.«

»Und du?« beugte sie sich zu dem Bub hinunter.

»Prima«, versicherte Martin. »Und jetzt hab’ ich ganz großen Hunger.«

»Na, dann setz’ dich mal«, lachte Ria. »Ich bring’ gleich das Frühstück. Was möchtest’ denn trinken? Einen Kakao vielleicht?«

Der Bub nickte.

Peter Reinicke hatte sich unterdessen umgesehen und die anderen Gäste begrüßt, die schon beim Essen saßen. Sein Herz schlug schneller, als er Alexandra Sommer an einem der Tische sitzen sah. Sie nickte lächelnd herüber.

»Ich hoff’, es macht Ihnen nix aus, daß ich Sie mit der Frau Sommer zusammensetze«, sagte Ria Stubler.

Peter schüttelte den Kopf.

Ganz im Gegenteil, dachte er…

Die Anwältin war erst vor ein paar Minuten heruntergekommen. Sie begrüßte Vater und Sohn.

»Ein herrliches Wetter, was?«

»Ganz wunderbar«, bestätigte Peter und nahm ihr gegenüber Platz. »Genauso haben wir uns das vorgestellt.«

Dabei sah er sie an, daß Alexandra sich unwillkürlich fragte, ob er wirklich das Wetter meinte oder etwas anderes.

Die Wirtin brachte das Frühstück. Die drei staunten über die große Platte mit der Wurst und dem Käse, den Töpfchen mit den Marmeladen und Honig, den Korb mit den frischen Semmeln und Laugenbrezeln.

»Das ist alles für uns?« fragte Peter Reinicke ungläubig.

»Langen S’ nur tüchtig zu«, schmunzelte Ria. »Und wenn S’ wollen, dann machen S’ sich ruhig noch ein paar Semmeln für unterwegs. Ich bring’ Ihnen gern’ Papier zum Einwickeln.«

»So gut hab’ ich lange net gefrühstückt«, sagte Alexandra, als sie es sich schmecken ließen. »Es ist alles so köstlich und frisch. Den Käse hier, den müssen S’ unbedingt probieren! Magst du Käse, Martin?«

»Sehr gern’«, nickte er eifrig und schaute sie und seinen Vater nachdenklich an. »Warum sagen Erwachsene eigentlich immer Sie zueinander?«

Alexandra und Peter wechselten einen Blick.

»Ja, weißt du, das ist eben eine höfliche Art, sich zu begegnen, wenn man einander net kennt«, erklärte der Vater.

»Wieso? Wir kennen Alexandra doch, und ich sag’ doch auch Du zu ihr. Warum ihr net? Gestern abend haben wir zusammen im Gasthaus gegessen und jetzt sitzen wir wieder an einem Tisch.«

Der gemeinsame Besuch im Wirtshaus hatte sich allerdings zufällig ergeben. Ria Stubler hatte ihnen angeboten, einen Tisch zu reservieren, als die Anwältin dazukam. Auf die Frage der Wirtin, ob sie einen Tisch für sich haben wolle, hatte Alexandra den Kopf geschüttelt.

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Herr Reinicke?«

»Natürlich net«, hatte er erwidert. »Also, einen Tisch bitte, Frau Stubler.«

Und so kam es, daß sie gemeinsam zu Abend aßen und sich dabei blendend unterhielten. Alexandra hatte sich nach der Schule erkundigt und gehört, daß Martin ein guter Schüler war. Dabei verriet sie, daß sie selbst nie wirklich Lust zum Lernen hatte.

»Allerdings ist ja doch noch was aus mir geworden«, meinte sie schmunzelnd.

Wenn es nach Martin gegangen wäre, dann hätten sie noch stundenlang sitzenbleiben können, doch angesichts des ersten Urlaubstages, an dem sie früh aufgestanden waren, und der Fahrt hierher, wurde der Bub doch schnell müde, und sie gingen frühzeitig zur Pension zurück.

An Martins Argument war nichts hinzuzusetzen. Die beiden Erwachsenen sahen sich an.

»Ja, warum eigentlich net?« fragte die Anwältin schulterzuckend. »Von mir aus…«

»Gerne«, nickte Peter.

Martin strahlte, wie ein Honigkuchenpferd.

»Und was haben Sie sich…, ich meine, was hast du dir für heut’ vorgenommen?« stotterte Peter Reinicke.

Alexandra lächelte.

»Es fällt noch net so leicht«, entschuldigte er sich.

»Wir gewöhnen uns dran«, meinte sie und sah Martin an, der bereits seine zweite Semmel aß. »Hättest’ Lust, mit mir zu einem Ponyhof zu fahren?«

Der Bub machte den Mund auf.

»Mit richtigen Ponys?« fragte er.

»Ja, freilich. Richtige Ponys, auf denen man reiten kann.«

Sie sah Peter an.

»Oder habt ihr schon was and’res vor?«

»Nein, nein«, schüttelte er den Kopf. »Es ist nur so…«

»Papa ist als Bub mal vom Pferd gefallen«, verriet Martin.

»Alte Petze«, gab sein Vater ihm einen gutgemeinten Stubser. »Na ja, es stimmt schon. Seitdem hab’ ich eine gesunde Abneigung gegen alles, was vier Hufe hat und wiehert.«

»Ach, Papa, bitte!«

»Du darfst ja«, beruhigte Klaus seinen Sohn. »Ich möcht’ nur net, daß du Alexandra gleich so mit Beschlag belegst. Vielleicht möcht’ sie in ihrem Urlaub ja auch ausruhen und net andauernd mit Kindern unterwegs sein.«

»Das ist schon in Ordnung«, sagte die Anwältin. »Ich hätt’s ja net gesagt, wenn ich’s net wollen würd’.«

»Und was machst du solang’?« fragte Martin seinen Vater.

»Tja, ich weiß net…«

»Komm doch einfach mit«, schlug Alexandra vor. »Fahren wir eben zu dritt.«

»Zu viert«, rief der Bub sofort. »Biene muß auch mit!«

»Natürlich«, lachte sie. »Die werden wir doch net hier zurücklassen.«

*

Das Angebot von Ria Stubler, sich eine Brotzeit für unterwegs zu machen, hatten sie dankbar angenommen. Außerdem waren genug Wasser- und Saftflaschen eingepackt worden, als sie zum Ponyhof unterwegs waren.

Da der Kombi größer war, als Alexandras PKW, und die Hündin dabei war, hatten sie sich für Peters Auto entschieden. Martin saß glücklich auf der Rückbank und schaute aus dem Fenster.

Wie eine richtige Familie, dachte er.

Aber schon gleich darauf mußte er an die anderen Male denken, wenn Papa eine Freundin gehabt hatte, und sie zusammen einen Ausflug machten. Irgendwie hatte er immer das Gefühl gehabt, daß die netten Worte der Frauen nicht so gemeint waren, wie sie gesagt wurden. Schon früh hatte er ein Gespür dafür entwickelt, wer es ehrlich meinte. Meistens waren die Freundinnen dann ganz schnell wieder verschwunden gewesen, und er hatte nichts wieder von ihnen gehört.

Vielleicht würde es mit Alexan­dra nicht anders sein…

Doch, irgendwie anders war sie schon. Schließlich hatte sie von sich aus angeboten, ihn mitzunehmen, und gestern abend war sie tatsächlich mitgekommen, als er mit Biene Gassi gehen mußte.

Und dann erst das gemeinsame Abendessen!

Schon dann, als sie im Gasthaus saßen, hatte er sich gefreut, sie kennengelernt zu haben.

Vielleicht, dachte der Zehnjährige hoffnungsvoll, ist sie ja keine Eintagsfliege.

So nannte er die anderen Verflossenen seines Vaters heimlich.

Der Ponyhof lag idyllisch vor dem Panorama der Berge. Er bestand aus dem Haupthaus, in dem die Gäste übernachteten, den Stallungen und einem weiteren Haus, das erst vor ein paar Jahren erbaut worden war. Dort wohnten die Besitzer. Eine junge Studentin hatte den Hof von einer Tante geerbt. Damals war es ein heruntergekommenes Anwesen, das eigentlich nur noch zum Abriß taugte. Mit tatkräftiger Unterstützung zweier Freundinnen gelang es der jungen Frau, den Hof wieder aufzubauen. Neben Übernachtungsgästen und Kindergruppen, die hier das Reiten lernten, kamen auch viele Tagesbesucher, die ein Pony mieteten und ausritten.

»Also, wenn’ recht ist, dann mach’ ich’s mir hier gemütlich«, deutete Peter Reinicke auf die Sonnenterrasse, auf der Tische und Stühle standen.

Er hatte sich vor der Abfahrt mit reichlich Lesestoff eingedeckt und wollte zwischendurch einen Spaziergang mit Biene machen.

Alexandra und Martin gingen zu den Stallungen. Der Bub war ganz aufgeregt. Eine junge Angestellte betreute die Ponys.

»Tja, am besten suchen wir erst einmal eine Reiterkappe für dich aus«, meinte sie. »Ich heiß’ übrigens Carola.«

Sie gingen in den hinteren Teil des Stalles, in dem Kappen in den verschiedensten Größen in einem Regal lagen.

Die Rechtsanwältin hatte ihre eigene dabei, außerdem trug sie Reithosen und Stiefel.

»Sie haben doch auch Islandponys«, sagte sie. »Wäre da jetzt noch eins frei?«

»Aber ja. Waren Sie schon mal bei uns?« fragte Carola Hofraiter.

Alexandra erzählte, daß sie schon zweimal auf dem Hof gewesen war.

»Ach, dann kennen S’ sich ja aus. Schauen S’ zur Koppel, hinter dem Stall. Da können S’ sich eins aussuchen. Ich geh’ mit dem Bub zu den Shetlands.«

Martin hatte eine passende Kappe gefunden. Die Frau nickte zufrieden, nachdem sie überprüft hatte, ob die Größe wirklich richtig war. Dann suchte sie ein paar Kinderreitstiefel heraus und half ihm, sie anzuziehen.

»So, jetzt schaust’ schon wie ein richtiger Reiter aus«, meinte sie schmunzelnd. »Dann holen wir jetzt das Pony, und dann kannst mit deiner Mama einen tollen Ausritt machen.«

Martins Herz klopfte vor Aufregung. Daß Alexandra nicht seine Mama war, stellte er nicht richtig. Er wünschte es sich ja…, zumindest solang’, bis die Ferien zu Ende waren.

In der Koppel standen ganz viele Ponys. Helle, braune, schwarze und gefleckte. Martin konnte sich gar nicht satt sehen. Immer wieder streichelte er die weichen Nüstern der Tiere und wußte nicht, für welches er sich entscheiden sollte.

»Nimm mal dies hier«, sagte Carola. »Das ist die Lissi. Sie ist ganz artig und hat ihren Reiter noch nie abgeworfen.«

Lissi war eines der gefleckten Ponys. Aus dem Stall hatten sie Sattel und Zaumzeug mitgenommen. Nachdem es angelegt war, schwang sich Martin auf den Rücken des Ponys.

»Hey, du machst das ja wie ein Indianer«, lobte Carola lächelnd.

Der Bub strahlte voller Stolz.

»So, paß auf.«

Carola erklärte ihm, wie er sitzen und die Zügel halten sollte. Dann ließ sie Lissi langsam im Schritt gehen.

»Ganz toll machst du das«, rief sie und sah sich nach Alexandra um, die auf einem Islandpony geritten kam. »Sind Sie sicher, daß Ihr Sohn noch nie auf einem Pferd saß?«

Die Anwältin schluckte.

Natürlich, die Frau mußte ja annehmen, daß sie Martins Mutter sei.

»Es ist wirklich das erste Mal«, lächelte sie. »Prima, Martin.«

»Viel Spaß«, wünschte Carola Hofraiter.

Im Schritt ging es über den Hof.

»Papa! Biene!« rief Martin und schaute erhobenen Hauptes zur Terrasse. »Schaut mal!«

Peter Reinicke winkte.

»Fall bloß net runter«, lachte er.

»Keine Sorge, Martin ist erstaunlich sattelfest. Bis später«, sagte die Anwältin.

Peter sah ihnen nach. Bewundernd schaute er auf Alexandras Gestalt, die aufrecht im Sattel saß, und sein Herz schlug schneller.

Eine tolle Frau! Mein Gott, da könnt’ ein Traum wahr werden…

*

Sie ritten im leichten Trab über die Wiese.

»Ja, so ist es gut«, lobte Alexandra den Bub. »Immer schön die Schenkel andrücken.«

Sie selbst hatte als junges Madl Reitunterricht gehabt. Leider ließ ihr der Beruf nicht mehr die Zeit, diesem Hobby öfter zu frönen. Deshalb war sie dankbar gewesen, als Adrian seinerzeit vorschlug, zum Ponyhof zu fahren.

Es war bei ihrem ersten Urlaub in St. Johann gewesen.

Und jetzt reite ich hier mit einem kleinen Jungen, den ich gestern noch gar net gekannt habe, dachte sie, und sein Vater schaut grad so aus, als wenn er mir gefährlich werden könnt. Dabei hab’ ich doch erst mit einem Mann gebrochen.

Und wie heißt es immer?

Gebranntes Kind scheut das Feuer!

Genau, und darum muß ich aufpassen, daß ich mich net in ihn verliebe, in den sympathischen Peter Reinicke.

Nein, sie wollte nicht, daß das passierte. Schließlich war sie hergekommen, um einen anderen zu vergessen und nicht, um sich gleich wieder einen neuen Mann zu angeln.

Also – Vorsicht!

»Kannst’ noch?« fragte Alexan­dra.

Martin saß mit rotglühenden Wangen auf dem Pony und nickte.

»Gut, bis da vorn«, deutete sie auf den beginnenden Wald. »Da machen wir erstmal eine Pause und dann kehren wir wieder um.«

»Schon?«

Die Anwältin lächelte. Diese Reaktion war ihr nicht unbekannt. Genauso enttäuscht war sie früher auch gewesen, wenn der Reitlehrer die Stunde ihrer Meinung nach viel zu schnell beendete. Aber aus eigener, leidvoller Erfahrung wußte sie, daß Martin noch lange etwas von diesem ersten Mal etwas haben würde…

»Es ist besser«, sagte sie, als sie rasteten. »Der Sattel ist nämlich ziemlich hart. Im Moment merkst’ es noch net, aber heut’ abend wirst’ es bestimmt spüren. Aber keine Angst, das geht vorüber.«

»Kommst’ heut’ abend wieder mit, wenn ich mit Biene eine Runde geh’?« fragte Martin.

Alexandra zuckte die Schultern.

Peter hatte recht, der Bub belegte sie ganz schön mit Beschlag. Aber er war ein Lieber, und als sie jetzt sein erwartungsvolles Gesicht sah, konnte sie ihm den Wunsch kaum abschlagen.

»Also gut«, willigte sie ein.

Wieder strahlte er sie an.

»Was machst’ eigentlich so den ganzen Tag?« erkundigte sie sich. »Ich meine, nach der Schule, wenn dein Vater in der Firma ist.«

»Dann bin ich bei Oma Bruckner«, erklärte er. »Das ist uns’re Nachbarin, die paßt auf mich auf.«

»Aha, und sonst gibt’s keine Verwandten?«

Martin schüttelte den Kopf. Betrübt, wie es Alexandra vorkam.

»Nur Tante Lotti«, sagte er. «Mamas Schwester. Aber die wohnt in Ulm. Manchmal besuchen wir sie in den Ferien.«

»Und dein Papa hat sonst überhaupt keine Verwandtschaft mehr?« fragte die Anwältin.

»Nee, die sind alle schon tot. Papa war ein Einzelkind, genau wie ich.«

»Aber du würdest wohl schon gern’ Geschwister haben, oder?«

»Schon. Aber wie soll das geh’n? Papa hat ja keine Frau.«

Alexandra horchte auf ihren Herzschlag und fragte sich, ob sie sich darüber ärgern sollte, daß ihr Puls so zu rasen angefangen hatte. Außerdem hatte sie plötzlich das Gefühl, den Kleinen auszufragen, und das wollte sie nun ganz und gar nicht.

»Na ja, manchmal ist es net leicht, die Richtige zu finden«, meinte sie und wollte das Thema beenden.

Doch Martin sah sie begeistert.

»Du«, sagte er hastig, »du wärst die Richtige… und… ich würd’ dich auch mögen, als meine Mama.«

Ihr Herz tat unwillkürlich einen Hüpfer, als sie ihn so reden hörte. Es war ganz offenbar, daß der kleine Bursche sich in sie verliebt hatte.

»Ach, Martin, du kennst mich doch gar net«, lächelte sie. »Vielleicht bin ich ja eine böse Stiefmutter…«

Er schüttelte vehement den Kopf. »Du? Nie!« kam es im Brustton der Überzeugung aus seinem Mund.

»Komm, ich glaube, wir müssen zurückreiten«, beendete sie das Gespräch, das für sie immer heikler wurde. »Sonst sorgt sich dein Vater am End’ noch, wo wir bleiben.«

Peter Reinicke hatte unterdessen gemütlich Kaffee getrunken und gelesen. Als Biene auf sich aufmerksam machte, war er eine große Runde mit der Hündin gelaufen und anschließend wieder zum Ponyhof zurückgekehrt. Während der ganzen Zeit waren seine Gedanken bei Alexandra und seinem Sohn. Nicht weil er sich gesorgt hätte, sondern weil ihm dieses Bild nicht aus dem Kopf gehen wollte, wie die beiden vom Hof geritten waren.

Wann hätte so etwas einmal eine der Frauen gemacht, die er kennengelernt hatte?

Er konnte sich nicht daran erinnern. Überhaupt, Alexandra war ganz anders, als alle, die er kannte. Es tat ihm gut, zu sehen, wie sie sich um Martin kümmerte, ohne daß sie dazu verpflichtet gewesen wäre. Und er spürte, wie gut sie ihm tat, mit einem kleinen Lächeln, eine Geste, die etwas ausdrückte, was er lange entbehrt hatte – Zuneigung.

Jedenfalls glaubte er es in ihrem ganzen Wesen zu lesen.

Oder war es ganz einfach nur Freundlichkeit, die man jemanden entgegenbrachte, den man im Urlaub kennengelernt hatte?

Vielleicht solltest’ deine Erwartungen net zu hoch schrauben, holte er sich in die Wirklichkeit zurück. Immerhin gibt’s da noch diesen Herrn Heller, der, warum auch immer, net mitgekommen ist.

Biene schaute hoch und wedelte mit dem Schwanz, als sie die beiden Reiter erkannte. Peter stand auf und ging ihnen entgegen.

»Na, Sohnemann«, sagte er – nicht ohne einen gebührenden Abstand zum Pony zu wahren, »wie war dein erster Ausritt?«

»Super, Papa«, antwortete Martin begeistert. »Am liebsten würd’ ich morgen wieder herkommen.«

»Na, darüber reden wir noch«, meinte der Vater. »Jetzt bring’ mal erst das Pony zurück.«

Er sah Alexandra an und lächelte.

»Vielen Dank.«

Sie lächelte zurück.

»Dein Sohn ist ein Naturtalent.«

Peter schien etwas sagen zu wollen, und sie glaubte zu wissen, was.

»Jetzt behaupte aber net, das hätt’ er von dir!« setzte sie mit einem spitzbübischen Lächeln hinzu.

»Niemals«, beteuerte er und lachte sie dabei genauso spitzbübisch an.

*

»Ja, das ist aber ein seltener Besuch«, rief Sebastian Trenker, als er die Haustür geöffnet hatte und sich Florian Decker gegenüber sah. »Kommen S’ herein.«

Er führte den jungen Mann, der als Vikar in Engelsbach arbeitete, in die Küche, wo Sophie Tappert mit den Vorbereitungen für das Mittag­essen beschäftigt war.

»Nehmen S’ Platz«, forderte er den Besucher auf. »Wie geht’s meinem Amtsbruder? Hat er inzwischen verwunden, daß wir ihm den kleinen Streich gespielt haben?«

Der Streich, von dem der Bergpfarrer sprach, war gar nicht so klein gewesen…

Seit Blasius Eggensteiner die Pfarrei in der Nachbargemeinde übernommen hatte, liefen ihm die Gläubigen fort und kamen lieber nach St. Johann in die Messe. Auf Sebastians Betreiben wurde Florian Decker als Vikar nach Engelsbach beordert. Dabei hatte der Geistliche schon geahnt, daß er damit bei Pfarrer Eggensteiner auf Unmut stoßen würde, denn Florian entsprach so ganz und gar nicht dem Bild, das Blasius von einem Hilfspfarrer hatte.

Über die langen Haare, die der junge Mann zum Zopf gebunden trug, hätte er vielleicht noch hinwegsehen können. Nicht aber darüber, daß sein Untergebener ausgewaschene Jeans und T-Shirt einer Soutane vorzog – von den Sandalen, die er an den nackten Füßen trug, ganz abgesehen…

Indes kam der neue Vikar bei der Dorfjugend an. Sie fanden die Art, wie er sich gab, einfach ›cool‹, und die Tatsache, daß Florian lieber Rockmusik hörte, als Kirchenklänge, tat ein übriges.

Auf einer Wanderung hatte er eine alte, halb zerfallene Jagdhütte entdeckt, die schon seit Jahren nicht mehr genutzt wurde. Florian machte den Besitzer ausfindig und bekam die Erlaubnis, die Hütte wieder herzurichten und sie als Jugendtreffpunkt zu benutzen. Auf einem dieser Treffen traten die Burschen und Madln mit einem Vorschlag an ihn heran.

Sie wollten einen Tanzabend veranstalten und den Erlös einer wohltätigen Organisation spenden. An sich war das eine löbliche Absicht, gegen die niemand Einwände haben konnte – bis auf Pfarrer Eggensteiner.

Der Tanzabend sollte nämlich in seiner Kirche stattfinden!

Sebastian Trenker ahnte gleich, daß dieses Ansinnen bei seinem Amtsbruder auf Ablehnung stoßen würde. Indes ließ er nichts unversucht, den Jugendlichen zu helfen und intervenierte beim Bischof. Ottfried Meerbauer zeigte zu­nächst zwar Verständnis für Blasius Eggensteiners Empörung, ließ sich aber von Sebastian überzeugen, daß die Veranstaltung zeigen würde, wie fortschrittlich die Kirche war. Zusammen heckten sie einen Plan aus, der in aller Heimlichkeit ausgeführt wurde.

Während Blasius im bischöflichen Ordinariat weilte, wo er mit Kaffee und Himbeertörtchen und einem opulenten Abendessen verwöhnt wurde, wurde seine Kirche in eine Diskothek verwandelt. Zwar wütete der Geistliche, als er dahinter kam, darüber, daß man ihn aufs Glatteis geführt hatte, da aber selbst Bischof Meerbauer in die Angelegenheit involviert war, blieb ihm letzten Endes nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

»Deswegen bin ich hier«, antwortete Florian Decker auf die Frage des Bergpfarrers. »Seit dem Tanzabend schweigt Hochwürden sich aus. Kein Wort über das Ganze, kein Dank für die Spende, net einmal ein Vorwurf.«

Er hob die Hände und ließ sie wieder fallen.

»Richtig unheimlich kommt er mir vor«, setzte er hinzu.

Sophie Tappert hatte ihm ein Glas Apfelsaft hingestellt. Der Vikar nickte dankbar und nahm einen Schluck.

»Da würd’ ich erstmal nix drauf geben«, meinte Sebastian. »Der kriegt sich schon wieder ein. Natürlich ist er in seiner Ehre gekränkt, und die Tatsache, daß Bischof Meerbauer mit im Spiel gewesen ist, muß ihn noch mehr getroffen haben, als die Tatsache, daß ich der eigentliche Urheber dieses Streichs gewesen bin.«

»Glauben S’ wirklich?« fragte der Vikar. »Immerhin ist es ja schon eine ganze Weile her. Allmählich müßte man doch eine Reaktion erwarten können. Aber Hochwürden zeigt keine. Net einmal, ob er immer noch zornig darüber ist. Die Frau Wollschläger ist auch schon ganz ratlos.«

»Also, wenn’s hilft, dann komm’ ich gerne nach Engelsbach rüber und red’ mit ihm«, sagte Sebastian.

»Vielleicht sollten S’ das wirklich tun, Hochwürden«, nickte Florian. »Ich wär’ Ihnen jedenfalls sehr dankbar.«

»Dann«, nickte der gute Hirte von St. Johann, »werd’ ich also noch in dieser Woche bei euch vorbeischauen. Aber es wird net vor Freitag sein. Morgen hab’ ich Termine, am Mittwoch muß ich gleich nach meinem Besuch in Waldeck zur Gemeinderatssitzung, und am Donnerstag geht’s auf Bergtour.«

»Wann kommt eigentlich die Silke zurück?« erkundigte sich Florian.

»Hm, soviel ich weiß, erst in zwei Wochen. So lang’ geht ihr Urlaub noch. Warum fragen S’? Gibt’s Probleme mit den Leuten?«

Silke Brandner arbeitete in Engelsbach als Gemeindeschwester. Als sie die Stelle seinerzeit antrat, hatte sie vergeblich nach einer Wohnung oder wenigstens einem Zimmer gesucht. Als sich überhaupt nichts fand, quartierte Sebastian sie kurzerhand bei sich im Pfarrhaus ein. Jemanden gefunden zu haben, der die alten und kranken, oftmals bettlägerigen Leute besuchte, war ihm wichtiger, als das Gerede, das natürlich kommen mußte. Inzwischen hatten sich die Dörfler aber daran gewöhnt, daß außer Sophie Tappert noch eine Frau im Pfarrhaus wohnte.

»Nein, nein«, schüttelte Florian Decker den Kopf. »Jedenfalls bisher net.«

Er schaute auf die Uhr.

»Ja, dann will ich mal wieder«, sagte er und stand auf. »Vielen Dank, daß Sie mir zugehört haben.«

»Sie wissen doch, daß Sie jederzeit zu mir kommen können«, bekräftigte der Geistliche. »Ach ja, vielleicht erwähnen S’ zu Haus erstmal net, daß ich vorbeikommen will…«

Florian nickte und guckte verschmitzt. »Ich werd’ meinen Mund halten«, versprach er.

Der Bergpfarrer blieb noch ein Weilchen vor der Tür stehen und schaute ihm hinterher.

»Tja, mein lieber Blasius«, murmelte er, »dann wollen wir mal seh’n, wie wir dich wieder zum Sprechen bringen.«

Wie er das anstellen wollte, das wußte er in diesem Moment allerdings auch noch nicht.

*

Irgendwie war es selbstverständlich, daß sie den Rest des Tages auch gemeinsam verbrachten. Nach dem Ausritt hatten sie in einem Gasthaus unterwegs zu Mittag gegessen. Martin schwärmte immer noch von den Ponys, und Alexandra hörte nicht auf, ihn zu loben.

»Ich seh’ schon«, lachte Peter, »ihr zwei habt euch gegen mich verschworen. Als gut, mein Sohn, solang’ wir hier in den Ferien sind, darfst du reiten, so oft du magst.«

Das Kriegsgeheul eines Indianerstammes, war nichts gegen das Freudengeschrei, das dann kam. Glücklicherweise saßen sonst keine weiteren Gäste im Garten des Wirtshauses. Vermutlich wären sie vor Schreck unter die Tische gekrochen.

»Ich hoffe, es gibt dort Lehrer, die mit den Kindern ausreiten«, sagte Peter Reinicke.

»Wieso?« gab sein Sohn verblüfft zurück. »Alexandra gibt mir doch Unterricht.«

»Wie bitte?«

Peter schüttelte den Kopf.

»Also, das kannst du net verlangen. Alexandra ist net in die Ferien gefahren, um ihre Zeit mit Reitunterricht zu verbringen.«

Die Anwältin legte ihm begütigend die Hand auf den Arm.

»Schimpf net«, sagte sie. »Ich mach’s wirklich gern’.«

»Bestimmt?«

Sie sah ihn lächelnd an und nickte.

»Ja, ich würd’s net sagen, wenn’s net so wär’.«

Sie wandte sich an Martin.

»Allerdings net jeden Tag«, schränkte sie ihr Angebot ein. »Es gibt so viele schöne Sachen, die man hier noch machen kann, und morgen möcht’ ich zum Achsteinsee und schwimmen. Wenn du Lust hast…«

Alexandra stockte und sah Peter an.

»Ich meine natürlich, wenn ihr Lust habt…, dann können wir ja zusammen fahren.«

»Au ja!« rief Martin sofort.

Sein Vater seufzte innerlich. Der Frage nach der Lust hätte es nicht bedurft. Er konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als den gan­zen Urlaub mit Alexandra zu verbringen.

Am Nachmittag saßen sie im Garten der Pension. Die Erwachsenen unterhielten sich, während Martin das neueste Abenteuer des englischen Zauberlehrlings las. Biene lag zu seinen Füßen und schlief. Später gingen sie in das kleine Einkaufszentrum. Zum Abendessen wollten sie nicht ins Wirtshaus gehen. Statt dessen kauften sie Brot, Wurst und Käse ein, dazu etwas zu trinken. Dann spazierten sie zum Dorf hinaus und suchten sich auf einer Wiese ein Plätzchen und veranstalteten ein Picknick.

»Ist das net schön hier?« schwärmte Peter Reinicke und sah Alexandra an.

Die Anwältin nickte.

Ja, es war wunderschön und gleichzeitig so unwirklich.

Noch vor kurzer Zeit hätte sie sich nicht vorstellen können, mit einem Mann, den sie erst kennengelernt hatte, hier zu sitzen. An ­Adrian dachte sie nur noch sporadisch. Er schien tatsächlich allmählich aus ihren Gedanken zu verschwinden, in ihrem Herzen war er schon lange nicht mehr.

Einmal überlegte sie doch, wie er den Brief wohl aufgenommen haben mochte.

Fragte er sich, wo sie war? Ob sie doch zu ihm zurückkehrte?

Mit der so abrupt vollzogenen Trennung hatte sie ihn in eine fast unmögliche Lage gebracht. Dr. ­Adrian Heller war ein Mann in exponierter Stellung. Er hatte einen großen Bekanntenkreis in der Münchener Gesellschaft. Als Chefarzt war er erfolgreich und wurde schon als möglicher Nachfolger des Direktors gehandelt. Die Gästeliste für die Hochzeit bestand fast nur aus Namen von Leuten aus gehobenen Kreisen. Vor ihnen war er nun der Blamierte.

Aber das war Alexandra egal. Diese Leute hatten sie nie so interessiert, wie Adrian. Er war es, der die Kontakte gepflegt und sie auf alle möglichen Partys und Empfänge geschleppt hatte. Viel lieber war sie hier mit Peter und seinem Sohn zusammen.

»So nachdenklich?« unterbrach Peters Stimme ihre Gedanken.

Sie schaute auf. Martin hatte Biene mit einem Wurststück gefüttert. Jetzt spielten die beiden ein Stück entfernt ›Stöckchenwerfen‹.

Peter hatte Alexandra schon eine ganze Weile beobachtet.

Worüber mochte sie wohl nachdenken? Vielleicht über diesen Herrn Heller? Wer war er überhaupt? Ihr Freund, ihr Verlobter?

»Nur einen Moment«, antwortete die Anwältin.

»Darf ich dir eine Frage stellen?«

»Ja, nur zu«, nickte sie.

»Gestern, im Kaffeegarten, da fragte die Bedienung nach Herrn Heller – ist … ist… das dein…?«

»Mein Freund?« vollendete sie seine Frage und schüttelte den Kopf. »Nein, das ist er net. Ich hab’ einmal geglaubt, daß er es wäre. Aber dann wurde ich eines Besseren belehrt.«

Peter atmete erleichtert auf.

Nicht der Freund, aber eine Beziehung hatte es gegeben.

»Möchtest du darüber reden?«

Sie erwiderte seinen Blick.

»Da gibt’s net viel zu reden«, erwiderte Alexandra. »Ich habe ihn geliebt, ja. Aber es dauerte eine Weile, bis ich dahinterkam, was für ein Schuft er ist.«

Ihre Miene wurde ernst.

»Jedenfalls will ich ihn net mehr wiedersehen!«

Den letzten Satz stieß sie mit einer Vehemenz aus, daß Peter unwillkürlich zusammenzuckte.

»Bitte, entschuldige«, bat er, »ich wollt’ net neugierig sein und alte Wunden aufreißen.«

»Schon gut«, sagte sie und lächelte ihn an. »Laß uns net mehr über ihn reden. Es lohnt net.«

Peter Reinicke schaute zu seinem Sohn hinüber, der unermüdlich ein Holzstück warf, das Biene ebenso unermüdlich immer wieder zurückbrachte.

Dann fiel sein Blick wieder auf Alexandra.

Was wäre wenn? Wenn diese wunderbare Frau den anderen wirklich ganz vergessen und sich ihm zuwenden könnte?

Er hätte endlich den Menschen gefunden, nach dem er schon so lange suchte, und Martin würde eine Mutter bekommen, die sich jetzt schon dieses Namens würdig zeigte.

Ein Wunschtraum, oder sollte er es wagen, ihr zu sagen, wie es um ihn stand?

Vielleicht ist es noch ein bissel zu früh, dachte er. Wir kennen uns ja kaum.

Und doch war es ihm, als wäre Alexandra Sommer jemand, den er schon lange in seinem Herzen mit sich trug. Die Frau, die seine Träume wahr werden lassen konnte.

Jedes mal, wenn er eine Frau kennenlernte, dann hatte er sie auch mit Petra verglichen. Nicht äußerlich, aber die Art, wie sie sich gab, ihr Wesen. Nur selten war eine darunter gewesen, die diesem Vergleich hätte standhalten können. Martin zuliebe hätte er es akzeptiert, daß sie nicht so war, wie er sie sich erträumte. Aber er wußte auch, daß es zuviel verlangt war, sich eine Frau zu erhoffen, die Petra glich.

Doch bei Alexandra war das etwas ganz anderes. Sie hatte mit seiner verstorbenen Frau überhaupt nichts gemeinsam, und doch spürte er, daß es da etwas gab, das die beiden verband.

In diesem Moment hätte er alles dafür gegeben, ihr zu sagen, was er fühlte und dachte. Aber Peter war auch Realist. Es war ganz einfach zu früh, und er mußte Geduld haben.

*

Am nächsten Morgen ging es gleich nach dem Frühstück an den See. Martin freute sich auf das Schwimmen genauso unbändig, wie auf das Reiten, vor allem natürlich, weil Alexandra dabei war.

Ria Stubler hatte sie mit einer großzügigen Brotzeit, frischem Obst und Getränken ausgestattet und ihnen zwei Decken mitgegeben. Die hatten sie auf der Liegewiese ausgebreitet und es sich auf ihnen, nach der ersten Runde in dem angenehm temperierten Wasser, bequem gemacht.

Alexandra lag auf dem Rücken und hatte die Augen geschlossen, neben ihr schlief Biene auf dem Rasen.

Seltsam, dachte sie, wie oft bin ich schon mit Adrian hier gewesen und jetzt muß ich kaum noch an ihn denken.

Gestern war sie einmal versucht gewesen, das Handy einzuschalten und die Mailbox abzuhören, die bestimmt voll sein mußte, mit Nachrichten von ihm. Doch dann hatte sie es unterlassen. Sie konnte sich gut vorstellen, wie er vor Wut schäumte. Durch ihre ›Flucht‹ und die Absage der Hochzeit, war er blamiert bis auf die Knochen, und das konnte seine Eitelkeit eigentlich nicht zulassen.

Für einen Moment war ihr dann ein schrecklicher Gedanke gekommen. Vielleicht war es gar keine so gute Idee gewesen, ausgerechnet nach St. Johann zu fahren.

Was, wenn Adrian genauso dachte und ihr nachkam?

Alexandra hatte den Gedanken schnell beiseite geschoben. Sie wollte es sich lieber nicht vorstellen.

»Ich möcht’ noch mal ins Wasser«, sagte Martin.

»Aber schwimm net zu weit hinaus«, ermahnte Peter ihn.

Der Bub sah ihn an und schüttelte den Kopf.

»Mensch, Papa«, sagte er vorwurfsvoll, »du weißt doch, daß du dich auf mich verlassen kannst. Außerdem hab’ ich doch schon mit fünf Schwimmen gelernt.«

»Klar«, grinste sein Vater. »Hau schon ab.«

Alexandra richtete sich auf.

»Er ist wirklich ein guter Schwimmer«, meinte Peter und schaute seinem Sohn stolz hinterher. »Ich hab’s ihm beigebracht, als er seinen fünften Geburtstag gefeiert hat.«

Sie lächelte.

Peter sah sie an und lächelte ebenfalls. Toll schaute sie aus, in dem hellen Badeanzug, der ihre Figur besonders zur Geltung brachte. Am liebsten hätte er sie in die Arme genommen und ihr seine Liebe erklärt.

Aber Peter Reinicke wußte, daß es dafür noch zu früh war.

Geduld!

Dazu ermahnte er sich immer wieder, wenn seine Gefühle ihn zu überfluten drohten.

Alexandra nahm ein Stück Melone aus der Plastikdose, in die Ria Stubler sie hineingetan hatte, und reichte es ihm.

»Magst du?«

Er nickte.

»Danke.«

Für einen Moment berührten sich ihre Fingerspitzen, und ihm war, als fahre ein elektrischer Strom durch ihn hindurch.

»Wie gefällt es dir hier?« wollte sie wissen. »Hab’ ich zuviel versprochen?«

Peter schüttelte den Kopf.

»Keineswegs«, erwiderte er und schaute auf das Postkartenpanorama, das der See vor dem Hintergrund der majestätisch aufragenden Berge bot. »Ich bin ehrlich begeistert.«

Er deutete zum Seeufer, wo sein Sohn hingebungsvoll im Wasser planschte.

»Und Martin ist es auch.«

Peter biß sich auf die Lippe.

»Vor allem von dir…«, setzte er hinzu.

Alexandra spürte, wie sie rot anlief.

»Er himmelt alle Frauen an«, erklärte Peter. »Es ist halt so, daß ihm eine Mutter fehlt. Uns’re Nachbarin macht zwar alles für ihn, aber natürlich ist es kein Ersatz.«

»Hast du nie daran gedacht, wieder zu heiraten?«

Er zuckte die Schultern.

»Doch, freilich. Alleine schon wegen Martin. Aber genau er ist der Grund, warum es nie geklappt hat…«

Sie runzelte die Stirn.

»Aber warum?«

»Tja, mich hätten die Damen schon genommen«, antwortete er. »Aber nicht meinen Sohn. Und wenn sie erfuhren, daß es mich ohne ihn net geben kann, sind s’ ganz schnell wieder verschwunden.«

»Das ist ja net zu fassen!«

»So war’s aber. Und schließlich hab’ ich den Gedanken an eine Heirat eben aufgegeben.«

»Das tut mir leid.«

Er zuckte wieder die Schultern.

»Das ist lieb, Alexandra. Aber ich hab’ mich schon damit abgefunden.«

Martin kam zurück und trocknete sich ab.

»Ich geh’ mal mit Biene«, sagte er und schlüpfte in Hose und T-Shirt.

»Sag’ mal, wollt ihr morgen net mitkommen, wenn ich mit Pfarrer Trenker die Bergtour mache?« fragte Alexandra, als der Bub mit seiner Hündin losmarschiert war.

»Ja – geht denn das?«

»Warum net? Wir können Hochwürden doch nachher fragen, wenn wir zurück sind.«

»Ich glaub’ schon, daß das Martin gefallen würde«, nickte Peter.

»Wir sollten ohnehin net zu spät zurückfahren. Morgen geht’s nämlich in aller Herrgottsfrühe los.«

»Wie früh?«

Peter Reinicke erblaßte, als sie ihm die Zeit nannte.

»Was, so früh?«

Alexandra schaute irritiert.

War er etwa ein Langschläfer?

Dann lächelte er.

»Ich hab’ nur Spaß gemacht«, meinte er. »Das frühe Aufstehen ist kein Problem.«

»Gut, dann sprechen wir mit Hochwürden. Ich bin sicher, daß er nix dagegen haben wird, wenn ihr dabei seid.«

*

Das Mittagessen nahmen sie in einem der zahlreichen Restaurants ein, die es rings um den See gab. In den meisten wurden fangfrische Fische als Spezialität angeboten, und Alexandra staunte, als sie feststellte, daß Martin kein Kind war, das mit Fischstäbchen großgeworden war.

»Oma Bruckner kocht oft Fisch«, erzählte er. »Und am liebsten esse ich ihn mit Senfsauce.«

Die gab es zwar nicht, aber ein leckeres Filet mit Dillsauce und Kartoffeln.

»Wir waren einmal in einem Schnellrestaurant«, gab Peter schmunzelnd zu, »aber da hat’s Martin net geschmeckt.«

Der Bub schüttelte den Kopf.

»Oma Bruckner kocht viel besser.«

Alexandra lachte.

»Sag’ mal, Martin, hättest du Lust, morgen mit auf eine Bergtour zu kommen?« fragte sie. »Ich will nämlich zu einer Sennerhütte hinauf. Da kann man zuschauen, wie Käse gemacht wird.«

»Der, den wir zum Frühstück bekommen?«

Sie nickte.

»Ja, außerdem gibt’s bei dem Herrn Thurecker, das ist der Senner, ganz leckeres Essen, man ist ganz weit oben und kann bis ins Tal hinunterschauen.«

Martin nickte begeistert.

»Aber du mußt früh aufstehen«, gab sein Vater zu bedenken.

»Macht nix, geh’ ich eben heut’ abend früher schlafen.«

»Genauso machen wir’s«, nickte die Anwältin.

Nach einer gebührenden Ruhepause gingen sie noch einmal ins Wasser und kehrten dann am späten Nachmittag nach St. Johann zurück.

»Am besten halten wir gleich an der Kirche«, schlug Alexandra vor. »Hoffentlich ist Hochwürden überhaupt zu Hause.«

Sie hatten Glück. Sebastian Trenker war gerade aus Waldeck zurückgekommen. Dort besuchte er jeden Mittwochnachmittag das dortige Seniorenheim. Die alten Leute freuten sich schon die ganze Woche darauf. Es wurde gemeinsam Kaffee getrunken, wer wollte, konnte zuvor die Beichte ablegen, und dann hörten sie manchmal zu, wenn ein Autor oder eine Autorin las, es wurde zusammen gesungen, und am liebsten hatten die Heimbewohner es, wenn der Geistliche von seinen Bergtouren erzählte.

Da bis zum Termin mit dem Gemeinderat noch Zeit war, bat Sebastian die Besucher herein. Er freute sich, Peter Reinicke und dessen Sohn kennenzulernen, und natürlich war es gar keine Frage, daß die beiden die morgige Tour mitmachen konnten.

»Was machen wird denn mit Biene?« fragte Alexandra.

Peter und Martin schauten ratlos drein.

»Mitnehmen können wir sie ja schlecht«, meinte der Vater.

»Fragen S’ doch die Ria«, schlug Sebastian vor. »Ich bin sicher, daß sie sich um Ihren Hund kümmern wird.«

Er holte rasch die Wanderkarte und zeigte ihnen die Route. Dann schaute er den Bub fragend an.

»Na, Martin, traust’ dir so eine Tour zu?«

»Na klar«, nickte er selbstbewußt.

Der Bergpfarrer schmunzelte.

»Wir machen auch recht viele Pausen«, versprach er.

Dann kam Sophie Tappert herein. Die Haushälterin hatte schnell Kaffee gekocht und den Kuchen aufgeschnitten, von dem es im Pfarrhaus immer einen kleinen Vorrat gab. Für Martin brachte sie Kakao mit.

»Danke schön«, sagte er artig, und seine Augen strahlten sie an.

»Magst’ noch ein Stück?« fragte die Haushälterin, als sie sah, daß der Bub seinen Kuchen aufgegessen hatte.

Er nickte freudig.

»Komm, wir geh’n in die Küche«, meinte Sophie und nahm ihn mit. »Ich glaub’, für die Biene hab’ ich auch noch einen Leckerbissen.«

»Einen netten Buben haben Sie«, sagte Sebastian, als die beiden hinaus waren.

Peter strahlte.

»Ja, er ist auch mein ganzer Stolz.«

»Ich freu’ mich, daß Sie morgen mitkommen, Herr Reinicke. Für Martin wird es gewiß eine schöne Abwechslung sein. Was mag er denn sonst noch?«

»Reiten«, lachte Alexandra und sah Peter von der Seite her an. »Das mag sein Vater nämlich net.«

Der zuckte entschuldigend die Schultern.

»Um so dankbarer bin ich dir, daß du es ihm angeboten hast«, sagte er.

Sebastian beobachtete die beiden. Der Blick, mit dem Peter Reinicke die Anwältin ansah, sprach Bände…

Warum net, überlegte der Bergpfarrer, die zwei passen gut zusammen, und Alexandra scheint den Bub in ihr Herz geschlossen zu haben.

Als Martin und die Haushälterin dann zurückkehrten, mahnte Alexandra zum Aufbruch.

»Es darf heut’ abend net zu spät werden.«

»Ich hole euch dann an der Pension ab«, sagte Sebastian Trenker. »Und denkt dran – bringt keinen Proviant mit.«

»Warum sollen wir denn nix zu essen mitbringen?« fragte Peter Alexandra, als sie zur Pension fuhren.

Sie lächelte.

»Weil die gute Frau Tappert ihm immer viel zuviel einpackt«, erwiderte sie. »Sie hat nämlich Angst, Hochwürden könne sich in den Bergen verirren oder gar verunglücken, dann soll er wenigstens net verhungern. Dabei ist diese Sorge völlig unbegründet. Pfarrer Trenker ist nämlich seit seiner frühesten Jugend mit den Bergen vertraut und sein Studium hat er sich dadurch verdient, daß er Touristen geführt hat. Der kennt sich da droben aus wie kein zweiter, deshalb nennen ihn die Leute hier auch den ›Bergpfarrer‹.«

»Ein faszinierender Mann«, sagte Peter. »Als ich ihn vorhin gesehen hab’, da konnt’ ich im ersten Moment gar net glauben, daß er tatsächlich ein Geistlicher sein soll.«

»Ja«, lachte Alexandra, »er entspricht so ganz und gar net dem Bild eines Gottesmannes.«

In der Pension fragten sie Ria, ob sie am nächsten Tag auf die Hündin aufpassen würde.

»Aber freilich«, nickte die Wirtin, »das ist doch überhaupt kein Problem. Und damit Sie net mit leerem Magen losgehen müssen, stell’ ich Ihnen ein kleines Frühstück zurecht.«

Sie sah die drei fragend an.

»Sagen Sie, möchten S’ mir net die Freud’ machen und heut’ abend mit mir zusammen essen?«

Die Einladung überraschte sie. In der Pension wurden außer dem Frühstück sonst keine Mahlzeiten gereicht.

»Ach, wissen Sie, es schmeckt net so gut, wenn man immer ganz allein’ essen muß«, erklärte Ria. »Es gibt’ auch nur ein einfaches Abendessen, nix Aufwendiges.«

Zwei Stunden später saßen sie draußen auf der Terrasse und taten sich an einer deftigen Leberknödelsuppe gütlich. Hinterher gab es verschiedene Käsesorten und Brot.

»Richten S’ dem Franz schöne Grüße von mir aus, wenn Sie ihn morgen sehen«, bat die Wirtin. »Und wenn er von dem gereiften Bergkäse ein Stück entbehren kann, dann würd’ ich mich sehr darüber freuen.«

Sie versprachen, die Grüße auszurichten und an den Käse zu denken. Es war noch relativ früh, als sie sich verabschiedeten und schlafen gingen. Zuvor drehten sie allerdings noch eine Runde mit Biene.

Wie eine richtige Familie, dachte Martin glücklich, als er und die Hündin vorneweg liefen.

Auch sein Vater hatte diesen Gedanken, zu dessen Erfüllung nur noch fehlte, daß er Alexandras Hand gehalten hätte…

*

Am Abend hatte er vor lauter Aufregung nur schlecht einschlafen können und nun fiel Martin das Aufstehen doch ein bissel schwer. Sein Vater hatte ihn bis zur letzten Minute schlafen lassen, und nachdem er sich gewaschen und die Zähne geputzt hatte, fühlte sich der Bub munter.

Als sie aus ihrem Zimmer gingen und um die Ecke bogen, kam Alexandra die Treppe hinunter. Genau wie Vater und Sohn trug sie Wanderkleidung, den Hut gegen die Sonne hatte sie noch in der Hand.

»Guten Morgen«, begrüßte die Anwältin sie.

Sie strich Martin über den Kopf.

»Ausgeschlafen?«

Er nickte.

»Na ja«, meinte Peter lächelnd, »das Aufstehen war net ganz einfach…«

Im Frühstücksraum hatte Ria Stubler ihnen belegte Brote, Kaffee und Kakao bereitgestellt. Sie setzten sich schnell und nahmen die kleine Mahlzeit ein. Es war noch still im Haus. Von den anderen Gästen schien niemand für den heutigen Tag eine Bergtour geplant zu haben.

»Und was macht Biene?« erkundigte sich die Anwältin.

»Die hat’s gut, die schläft noch«, erwiderte Martin und unterdrückte ein Gähnen.

»Dafür, daß wir so früh aufgestanden sind, werden wir einen schönen Tag haben«, versprach Alexandra. »Du wirst staunen, was es alles zu sehen gibt!«

Sie sah Peter an.

»Nix vergessen? Vor allem nicht den Fotoapparat?«

»Na, das fehlte noch!« lächelte er und hielt die Kamera hoch.

Schon gestern hatte er am See viele Fotos gemacht und natürlich nicht nur seinen Sohn abgelichtet…

Nachdem sie gegessen und getrunken hatten, war es Zeit, hinauszugehen. Sie traten gerade aus der Tür, als Pfarrer Trenker die Straße überquerte.

»Da seid ihr ja«, begrüßte er sie und reichte Peter einen von zwei Rucksäcken, die er mit sich trug. »Dann kann es ja gleich losgehen.«

Sie marschierten zum Dorf hinaus, in dem die anderen Bewohner noch im tiefen Schlaf lagen. Die Sonne schickte sich gerade erst an, über den Horizont zu kriechen, und die Landschaft war noch in ein milchiges Grau getaucht, als der Nebel aufstieg.

Sie erreichten ein kleines Wäldchen, dessen Name dem Bub Furcht einflößte.

»Brauchst keine Angst haben«, sagte Sebastian zu Martin, der neben ihm ging, »der Name hört sich schlimmer an, als es hier ist.«

Langsam führte der Weg bergan. Sie schritten eher langsam aus, damit der Bub nicht so schnell ermüdete. Der Bergpfarrer hatte sich vorgenommen, den längeren Weg zur Kandereralm zu vermeiden. Mit Martin würde es ohnehin länger dauern, bis sie die Hütte erreichten.

Hin und wieder blieben sie stehen, und Sebastian machte seine Begleiter auf Besonderheiten aufmerksam, an denen andere wohl eher achtlos vorübergegangen wären. Es war faszinierend, ihm zuzuhören, wenn er über die Pflanzen und Tiere sprach.

»Schau, da oben«, sagte er zu Martin und deutete zu einer Bergkuppe auf der anderen Seite. »Weißt’, was das für ein Tier ist?«

»Eine Gams, Hochwürden«, erwiderte der Bub.

»Genau, das hast’ sehr gut erkannt«, lobte der Pfarrer ihn. »Und im übrigen kannst’ ruhig Sebastian zu mir sagen.«

Peter Reinicke lächelte. Schon gestern war Pfarrer Trenker ihm auf Anhieb sympathisch gewesen, und als er nun sah, wie freundlich der Geistliche mit Martin umging, da war er überzeugt, daß Hochwürden bestimmt auch einen sehr guten Lehrer abgegeben hätte.

Alexandra ging neben ihm.

»Schön, net?« fragte sie.

Er lächelte und nickte.

»Wunderschön.«

»Wir kommen jetzt zur Hohen Riest«, erklärte Sebastian. »Diesen Wald zu durchqueren war früher wirklich ein Wagnis. Da hat’s hier nämlich wirklich Räuberbanden und Schmuggler gegeben. Aber ihr braucht keine Angst mehr zu haben; das ist längst Geschichte.«

Nachdem sie die ersten Almwiesen erreicht hatten, war die Sonne aufgegangen, und das taunasse Gras dampfte unter den wärmenden Strahlen. Von hier aus zweigten die Wege zu den verschiedenen Berghütten ab. Der Geistliche nahm heute nicht den gewohnten Weg, sondern einen, der über die Nonnenhöhe und den Geißenkamm führte. Dadurch sparten sie ein paar Kilometer, und das war in den Bergen schon eine ganze Menge.

Nachdem sie zwei Stunden unterwegs waren, machten sie Halt. An einem Hang breiteten sie ihre Jacken aus und benutzten sie als Unterlage beim Sitzen. Dann öffnete Sebastian seinen Rucksack und packte das Frühstück aus.

»So, Martin«, sagte er und reichte dem Bub eine Thermoskanne, »das hat die Frau Tappert für dich mitgegeben. Vorsicht, es ist heiß!«

Während die Erwachsenen Kaffee und Tee tranken, genoß Martin den Kakao, den die Haushälterin für ihn gekocht hatte. Die Getränke dampften in den Bechern, und die Brote waren mit Bergkäse, Dauerwurst oder Schinken belegt.

»Jetzt hat man aber auch richtig Appetit«, sagte Peter Reinicke und nahm sich ein zweites Brot.

»Dann langt nur tüchtig zu«, ermunterte der Geistliche sie.

Von ihrem Platz aus hatten sie einen herrlichen Blick hinunter ins Tal. Da sie an einer anderen, als der gewohnten Stelle, rasteten, sah man von St. Johann nur ein Teil, dafür ging das Auge fast bis zum Nachbarort Engelsbach hinüber. Der Anblick erinnerte Sebastian an das Gespräch mit Florian Decker und an den Besuch bei seinem Amtsbruder, den er sich vorgenommen hatte. Aber eigentlich wollte er jetzt nicht daran denken. Er freute sich auf die Tour und darauf, den alten Senner wiederzusehen, den er schon lange nicht mehr aufgesucht hatte.

Martin war aufgestanden und ein Stückchen den Hang hinaufgeklettert. Alexandra nahm ihren Fotoapparat und folgte ihm.

»Fall bloß net herunter«, ermahnte sie den Bub.

»Dann fängst’ mich halt auf«, lachte er zurück.

Sebastian und Peter saßen beisammen. Sie hielten ihre Kaffeebecher in den Händen und tranken in kleinen Schlucken.

»Es ist gewiß net leicht, ein Kind alleine großzuziehen«, begann der Geistliche das Gespräch.

Peter Reinicke schüttelte den Kopf.

»Nein, das ist es wirklich net«, antwortete er und schaute zu seinem Sohn hinüber. »Aber wenn man dann diesen Prachtburschen sieht, dann entschädigt das einen für vieles.«

»Sie können auch stolz auf ihn sein. Haben S’ nie die Absicht gehabt, noch einmal zu heiraten?«

Diese Frage hatte gestern Alexandra schon gestellt, und Peter hatte keine andere Antwort, als die, die er der Anwältin gegeben hatte.

»Das kann ich gut verstehen, daß Sie da eher nicht mit der Absicht spielen«, nickte der Bergpfarrer. »Aber es bleibt dennoch die Tatsache, daß Martin eine Mutter fehlt. Sie sollten net aufgeben, nach einer Frau zu suchen, die Sie genauso sehr liebt, wie Ihren Sohn.«

Peter biß sich auf die Lippe und stellte den Kaffeebecher ab.

»Ich dachte, ich hätt’ sie gefunden«, sagte er leise. »Aber leider gibt es da ein paar Komplikationen…«

»Sie sprechen von Alexandra, net wahr?«

Der Mann blickte überrascht auf.

»Sie wissen…?«

»Es war net schwer zu erraten«, lächelte der gute Hirte von St. Johann. »Ich hab’s schon gestern bemerkt, als Sie im Pfarrhaus waren.«

»Ja, ich liebe sie«, nickte Peter Reinicke. »Allerdings hat Alexan­dra eine schlimme Zeit durchgemacht. Immer wenn wir zusammen sind, dann würde ich ihr am liebsten sofort gestehen, wie sehr ich sie mag. Aber ich weiß auch, daß so ein Geständnis zu früh kommen würde.«

Er zuckte die Schultern.

»Es wird wohl nur ein Traum bleiben«, setzte er dann hinzu.

»Träume können Wahrheit werden«, entgegnete Sebastian Trenker. »Man darf nur net die Hoffnung aufgeben.«

Peter Reinicke sah ihn an.

»Nach so vielen Enttäuschungen, wie ich sie schon erlebt hab’, da hat man keine Hoffnung mehr.«

»Unsinn!« Der Bergpfarrer schüttelte den Kopf. »Keine Hoffnung mehr haben, heißt sich selbst aufzugeben. Vielleicht ist es so, daß Alexandra genauso enttäuscht ist, wie Sie es sind, aber wenn Sie behutsam vorgehen, dann bin ich sicher, bietet sich Ihnen immer noch eine Chance.«

»Glauben Sie wirklich?«

»Ja, Peter, das glaube ich«, bekräftigte der Geistliche.

*

Dr. Adrian Heller saß in seinem Büro in der Münchner Privatklinik am Schreibtisch und starrte dumpf brütend auf das Telefon. Der Arzt konnte nicht mehr sagen, wie oft er schon Alexandras Handynummer gewählt hatte, jedesmal mit demselben Resultat – es meldete sich nur die Mailbox.

Natürlich hatte er immer eine Nachricht hinterlassen. Sie solle sich unbedingt melden, man müsse doch über die Angelegenheit reden können, das Ganze sei nur ein dummes Mißverständnis.

Vergebens, es schien, als habe nie eine Alexandra Sommer existiert!

Nachdem er am Montag ihren Brief erhalten hatte, war Adrian sofort in die Wohnung der Anwältin gefahren. Dort mußte er feststellen, daß Alexandra nicht zu Hause war. Der Arzt wunderte sich, um in die Kanzlei zu fahren, war es noch zu früh, es sei denn, sie hatte einen Termin bei Gericht. Doch das hätte sie ihm erzählt. Dennoch rief er noch vom Auto aus dort an und erreichte nur den Anrufbeantworter.

Der Brief war eindeutig gewesen. Unverblümt hatte sie ihm mitgeteilt, daß ihre Beziehung endgültig beendet sei, und sie ihn niemals wiedersehen wollte.

Es war ein Schock für ihn gewesen. Adrian wußte genau, was er angerichtet hatte, und die Konsequenz hießen: Auflösung der Verlobung und eine geplatzte Hochzeit.

Er mochte sich gar nicht vorstellen, was es für ein Gerede geben würde, wenn das ruchbar wurde. Die Einladungen waren hinaus, und als er am Sonntagabend von seinem ›Ausflug‹ mit der hübschen, kleinen Lernschwester zurückkehrte, hatte er schon die ersten Zusagen auf dem Anrufbeantworter gehabt. Unter allen Umständen mußte er die Sache wieder geradebiegen, wenn er nicht als totaler Trottel dastehen wollte.

Adrian wollte gerade losfahren, als er Alexandras Nachbarin aus dem Haus kommen sah. Er stieg wieder aus und lief über die Straße.

»Guten Morgen, Frau Reinhold«, grüßte er. »Darf ich Sie einen Moment sprechen?«

Luise Reinhold wohnte seit über vierzig Jahren in ihrem Häuschen. Sie kannte Alexandra seit ihrer Geburt, mit den Eltern der Anwältin war sie bis zu deren Tod befreundet gewesen.

»Grüß Gott, Herr Heller«, nickte sie. »Worum geht’s denn?«

Er lächelte charmant.

»Ach, wissen Sie, ich bin da in… in einer Zwickmühle«, gestand er. »Alexandra und ich, wir hatten einen kleinen Streit. Nichts Schlimmes, aber wir haben ein paar Tage nicht miteinander gesprochen. Na ja, und nun wollte ich das wieder in Ordnung bringen. Allerdings ist sie nicht zu Hause. Haben Sie eine Ahnung, wo Alexandra steckt?«

Oma Reinhold sah den Arzt seltsam an. Alexandra hatte ihr den Schlüssel für das Haus gegeben und sie gebeten, sich um die Blumen und die Post zu kümmern. Für die alte Dame war die Bitte überraschend gekommen, sie hatte nicht geahnt, daß die Anwältin verreisen wollte. Indes übernahm sie diese kleine Aufgabe gerne, so wie sie es schon früher getan hatte.

Also erklärte sie ihm, daß Alexandra für ein paar Tage fortgefahren war.

Der Arzt schaute hilflos vor sich hin.

»Und sie hat Ihnen nicht gesagt, wohin sie will?«

Frau Reinhold schüttelte den Kopf.

»Na, dann vielen Dank«, sagte er und verabschiedete sich.

Als er schon an seinem Wagen stand, drehte er sich noch einmal um.

»Sie kommen doch zu unserer Hochzeit?« rief er hinüber.

»Ja…«, erwiderte die Nachbarin. Aber überzeugend klang es nicht.

Himmel, sie will’s wirklich wissen, dachte Adrian Heller, als er zur Kanzlei fuhr.

Er ahnte mehr denn je, daß Alexandra es ernst meinte. Um so dringender war es, daß er mit ihr sprach.

Dr. Behringer hatte gerade erst seinen Platz hinter dem Schreibtisch eingenommen, als der Arzt in der Kanzlei eintraf. Die beiden Frauen, die im Vorzimmer saßen, kannten den attraktiven Arzt von dessen Besuchen bei Alexandra.

»Grüß Gott, die Damen«, flötete er charmant. »Der Morgen ist doch gleich viel schöner, wenn man in zwei so hübsche Gesichter schaut.«

Die Anwalts- und Notargehilfinnen lächelten zurück. Sie waren beide um die dreißig Jahre alt, und ­Adrian Heller entsprach genau dem Typ Mann, der sie zum Träumen bringen konnte. Er war groß und schlank, hatte kurzes schwar­zes Haar und ein markantes Gesicht.

Seine Augen lächelten immer, wenn er eine Frau ansah.

Er deutete zur Tür, die zum Büro des Anwalts führte.

»Ist er schon da?«

»Ja, gerade hereingekommen.«

»Dann darf ich wohl kurz zu ihm«, sagte Adrian und war schon an der Tür.

Er klopfte kurz und trat ein.

»Guten Morgen, Dr. Behringer«, rief er jovial. »Hatten Sie ein schönes Wochenende?«

Der Rechtsanwalt und Notar sah überrascht auf.

»Sie?«

Etwas in seiner Stimme ließ den Arzt aufhorchen. Er schlenderte zum Schreibtisch und reichte Dr. Behringer die Hand.

»Sie wissen, warum ich hier bin?«

Der Anwalt nickte.

»Ich kann’s mir denken…«

Adrian strich sich über das Kinn.

»Tja, eine dumme Geschichte«, meinte er.

»Und das so kurz vor der Hochzeit«, erwiderte Dr. Behringer trocken.

Er schüttelte den Kopf.

»Was haben Sie sich nur dabei gedacht?«

Der Arzt zuckte hilflos die Schultern.

»Ich… ich weiß es nicht«, gab er sich kleinlaut und zerknirscht. »Es tut mir auch furchtbar leid.«

Er blickte den Anwalt eindringlich an.

»Hören Sie, Doktor, ich muß Alexandra unbedingt sprechen. Sagen Sie mir, wo sie ist.«

»Ich fürchte, das werde ich nicht tun.«

»Aber…«

»Nichts aber«, schnitt Dr. Behringer ihm das Wort ab. »Dr. Heller, ich habe Frau Sommer versprochen, niemandem ihren Aufenthaltsort zu verraten, und ich habe nicht die Absicht, dieses Versprechen zu brechen. Außer mir weiß niemand, wohin sie gefahren ist, nicht einmal meine beiden Damen draußen im Vorzimmer. Wenn es etwas Dringendes mit meiner Kollegin zu besprechen gibt, dann habe ich eine Telefonnummer, unter der ich sie erreichen kann. Ansonsten wünsche ich Frau Sommer, daß sie sich gut erholt.«

Er richtete sich in seinem Stuhl auf und griff nach einem Ordner, der vor ihm lag. Dann hob er den Kopf und blickte den Arzt an.

»Gibt es sonst noch was?« fragte er. »Ansonsten wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag.«

*

Adrian Heller zog wie ein begossener Pudel von dannen. So war er noch nie abgefertigt worden, und das kratzte natürlich an seinem Ego. Außerdem bestärkte es ihn in seiner Vermutung, daß Alexandra es mit der Trennung wirklich ernst meinte. Um so dringender mußte er mit ihr reden, wenn es nicht zu einem mittleren Skandal kommen sollte. Er wagte gar nicht, in Gedanken noch einmal die Liste der Gäste durchzugehen. Alles, was in der Münchener Gesellschaft Rang und Namen hatte, war eingeladen worden. Immerhin war er ein Mann, der aufgrund seiner beruflichen Erfolge und der damit verbundenen Kontakte in der Öffentlichkeit stand. Man riß sich regelrecht darum, ihn zu Partys und Empfängen einzuladen, mit ihm Golf zu spielen oder eine Segeltour zu unternehmen.

Und nun das!

Adrian Heller ärgerte sich immer noch, als er vier Tage später das Telefon anstarrte, in der Hoffnung, Alexandra würde endlich anrufen.

Wohin mochte sie gefahren sein?

Dieser Frage forschte er seit Montag nach. Niemand schien etwas zu wissen. Freunde und gemeinsame Bekannte hatte er gefragt und sich dabei schon zum Trottel machen müssen. Nur zu gut erinnerte er sich an die hämisch grinsenden Gesichter, die ihm entgegenschauten, wenn er seine Frage gestellt hatte.

Stundenlang grübelte er darüber nach, bis schließlich nur ein Ort übrig blieb…

Natürlich, warum war er nicht gleich darauf gekommen!

Hastig stand er auf und suchte in den Taschen seines Jacketts nach dem kleinen Notizbuch, in dem er alle wichtigen Nummern eingetragen hatte. Dann griff er zum Telefon und wählte.

Sein Anruf galt dem Hotel ›Zum Löwen‹, in St. Johann.

»Grüß Gott«, sagte er, nachdem sich eine junge Frau gemeldet hatte. »Dr. Heller hier, aus München.«

»Ja, grüß Gott, Herr Doktor. Natürlich erinnere ich mich an Sie.«

»Sagen Sie, Frau Sommer, ist sie schon bei Ihnen eingetroffen?«

Die Antwort war niederschmetternd.

»Nein«, sagte die Hotelangestellte. »Bei uns wohnt sie net.«

Enttäuschung machte sich auf seinem Gesicht breit. Doch gleich darauf hellte es sich wieder auf.

»Sie war aber neulich bei uns im Kaffeegarten«, fuhr die Angestellte nämlich fort, »und hat erzählt, daß sie in einer Pension abgestiegen sei.«

»Sind Sie da sicher?«

»Bin ich, Herr Doktor. Ich hab’ sie nämlich selbst bedient und gleich wiedererkannt.«

»Können Sie mir ein Zimmer reservieren?« fragte der Arzt. »Ich würde am Samstag eintreffen. Oder ist alles belegt?«

»Na, es könnt’ schon ein bissel eng werden«, sagte die junge Frau, »aber für uns’re Stammgäste haben wir immer eine Lösung parat. Am Samstag also. Für wie lang’?«

Er zögerte. Das war eine gute Frage.

»Sagen wir, erstmal eine Woche«, antwortete Adrian. »Vielleicht auch weniger. Wir werden sehen.«

»Gut, Herr Doktor, dann trag’ ich Sie gleich ein.«

Erleichtert legte er auf, seine Stimmung war wieder gestiegen. Dieser erste Erfolg ermutigte ihn.

Klar, Alexandra war nach St. Johann gefahren, weil sie beide dort immer besonders glücklich gewesen waren.

Warum wohl sonst?

Adrian erinnerte sich an die vielen Aufenthalte dort. Ausschlafen, gemütlich auf dem Zimmer frühstücken, lange Spaziergänge in der herrlichen Natur und einige Male hatten sie Bergwanderungen, zusammen mit Pfarrer Trenker, unternommen.

Bestimmt hatte sie sich genauso an die schönen Tage erinnert, und das konnte doch eigentlich nur eines heißen – sie liebte ihn noch immer!

Also stand fest, was er zu tun hatte. Heute war Donnerstag, am Samstag würde er fahren und sie überraschen.

Der Arzt schaute auf die Uhr. Jetzt mußte er ein Gespräch mit dem Direktor führen, das ihm ein bißchen auf der Seele lag… Ihm blieb wohl nichts anderes übrig, als dem Chef reinen Wein einzuschenken und den Zerknirschten zu spielen. Allerdings sollte es ihm nicht schwerfallen, und bei dem Leiter der Privatklinik hatte er ohnehin einen Stein im Brett.

Nicht umsonst galt er schon als Nachfolger, wenn Prof. Dr. Hoch­mayer sich eines Tages zur Ruhe setzen würde.

*

»Schaut, da ist die Kanderer­alm«, sagte Sebastian.

Es war gegen Mittag, als sie die Hütte erreichten. Mehrmals hatten sie mit Rücksicht auf Martin eine Rast eingelegt, aber der Bub zeigte überhaupt keine Ermüdungserscheinungen. Quietschfidel hüpfte er den Hügel hinunter.

Auf der Terrasse der Hütte saßen zahlreiche Wanderer, die alleine oder in Gruppen heraufgekommen waren. Zwischen ihnen wieselte ein alter Mann umher, wobei er gekonnt, Gläser, Flaschen, Teller, Schüsseln und Brotkörbe auf einem großen Tablett balancierte.

Franz Thurecker bediente den letzten Gast und schaute auf die Neuankömmlinge. Ein Lächeln lief über sein faltiges tiefgebräuntes Gesicht, als er den Geistlichen erkannte.

»Grüß Gott, Hochwürden«, sagte er und reichte Sebastian die Hand. »Schön, daß Sie mal wieder heraufgekommen sind. Und heut’ gleich mit einer ganzen Familie.«

Martin strahlte über das ganze Gesicht, als er das hörte. Peter hingegen lächelte verlegen, und Alexandra schaute zur Almwiese hinüber, wo Kühe und Ziegen standen, die sich, bewacht von zwei Hütehunden, an dem fetten Gras und den würzigen Wildkräutern gütlich taten.

»Das sind der Peter Reinicke und der Martin«, stellte der Bergpfarrer Vater und Sohn vor. »Die Alexandra kennst’ ja sicher noch.«

Der Senner blickte die junge Anwältin an.

»Freilich erinn’re ich mich«, nickte er und stockte. »Dann hab’ ich da eben wohl was Falsches gesagt, mit der Familie… Tut mir leid.«

»Schon gut«, lächelte Alexan­dra. »Wie geht’s dir, Franz?«

Der Alte duzte jeden Gast, der heraufkam – außer Pfarrer Trenker – und erwartete es von ihnen nicht anders.

»Unkraut vergeht net«, schmunzelte er.

Er hatte auch Peter und Martin mit Handschlag begrüßt und strich dem Bub über den Kopf.

»Na, war der Aufstieg anstrengend?«

»Gar net«, erwiderte Martin. »Aber jetzt hab’ ich Durst.«

»Dann schaut’s nur, daß ihr einen Platz auf der Terrasse findet«, meinte Franz. »Ich bring’ gleich einen Krug Milch.«

»Was gibt’s denn Gutes zu essen?« fragte Sebastian.

Geschnetzeltes hatte der Senner vorbereitet, außerdem seinen beliebten Eintopf aus Rindfleisch, Gemüse und Graupen, und dann die unvermeidlichen Käsespätzle, deren Ruf beinahe genauso legendär war, wie der des Käses, den der Alte herstellte.

Auf der Terrasse hatten sie sich auf einer Bank niedergelassen. Hier oben war es noch wärmer als drunten im Tal. Die Jacken hatten sie schon während der Wanderung ausgezogen. Franz brachte die Milch, die herrlich kühl war und erfrischend durch ihre Kehlen rann.

Als dann das Essen serviert wurde, staunten Martin und Peter über Franz’ Kochkunst. Alexandra, die schon öfter hier oben gewesen war, wußte indes, daß die Mahlzeiten auf der Hütte nicht nur reichhaltig, sondern auch äußerst wohlschmeckend waren.

Um von allem etwas probieren zu können, hatten sie von jedem Gericht eine Portion genommen, die sie sich teilten, und besonders der Bub entwickelte einen enormen Appetit.

»Das kommt vom Aufstieg und der guten Luft«, schmunzelte Sebastian.

Nachdem die meisten der anderen Gäste gegangen waren, setzte sich Franz zu ihnen. Er war neugierig, zu erfahren, was es im Dorf Neues gab. Zwar hörte er hin und wieder etwas von den Leuten, die heraufkamen, oder von den Bauern, wenn sie ihre fertigen Käse abholten. Aber für den Senner war Hochwürden die einzig verläßliche Informationsquelle.

»Papa, kommst du mit zu den Tieren?« fragte Martin.

Peter nickte.

»Ja, ich glaube, es tut mir auch ganz gut, wenn ich mir ein bissel die Beine vertrete.«

»Und ich muß nach dem Abwasch schauen«, meinte Franz.

So saßen Alexandra und Sebastian bald alleine auf der Terrasse. Der Geistliche schaute zur Wiese hinüber, wo Martin einen der Hunde streichelte, während sein Vater ein Foto davon machte.

»Nette Urlaubsbekanntschaft haben S’ da gemacht«, meinte der Bergpfarrer.

Die Anwältin folgte seinem Blick.

»Ja, vielleicht sogar zu meinem Glück«, antwortete sie nachdenklich. »Ich gebe zu, daß die beiden mich davon abhalten, an Adrian zu denken.«

Sebastian sah sie an.

»Ich hab’ euch beobachtet«, sagte er. »Sie haben ein Händchen und Gefühl für Kinder. Der Martin schaut immer ganz selig, wenn er mit Ihnen zusammen ist.«

Sie lächelte.

»Ich mag ihn sehr.«

»Und…?«

Verständnislos blickte sie ihn an.

»Und was?«

»Peter – mögen Sie ihn auch?«

Alexandra schwieg einen Moment, bevor sie antwortete.

»Ja«, nickte sie dann, »ich mag Peter Reinicke auch. Vielleicht… unter and’ren Umständen…«

»Was hindert Sie?«

Sie zuckte die Schultern.

»Ich… ich weiß net…«

»Ist es wegen Adrian?«, forschte der Bergpfarrer nach. »Lieben Sie ihn vielleicht immer noch?«

Sogleich schüttelte sie vehement den Kopf.

»Nein, Hochwürden«, sagte sie bestimmt, »ganz gewiß net. Was er mir angetan hat, werd’ ich ihm gewiß net verzeihen. Es hat einmal eine Zeit gegeben, da mußte er nur mit dem Finger schnippen und ich kam wieder angekrochen, wie ein Hund. Aber diese Zeit ist vorbei. Adrian hat keinen Einfluß mehr auf mich – höchstens den, daß sein Betrug mich davon abhält, mich wieder zu verlieben.«

»Um Himmels willen!« rief Sebastian erschrocken. »Gerade das darf net geschehen, Alexandra. Sie dürfen sich jetzt net in ein Schneckenhaus verkriechen. Liebe zwischen zwei Menschen ist etwas Wunderbares, dem dürfen S’ sich net für alle Zeit versagen.«

Sie atmete schwer, kämpfte mit den Tränen.

»Schauen Sie«, fuhr der Geistliche fort, »ich kenn’ den Peter ja erst seit gestern. Aber ich halt’ ihn für einen ehrlichen Menschen. So rührend, wie er sich um seinen Sohn kümmert, zeigt doch, daß er für den Martin auf vieles verzichtet. Selbst auf eine Frau. Und der Bub, er hat Sie in sein Herz geschlossen. Gewiß, es ist net leicht für eine Frau, einen Mann zu heiraten, der ein Kind mitbringt. Daran sind schon viele Beziehungen gescheitert. Aber ich spür’ doch, daß Sie den Martin genausogern’ haben, und ich weiß, daß Sie ihm eine gute Mutter sein würden. Setzen S’ net Ihr Glück aufs Spiel, weil sie glauben, vom Leben enttäuscht zu sein. Sie haben eine Enttäuschung erlitten, gewiß, aber das ist auch anderen passiert, die net gleich resigniert haben. Glauben S’ mir, Alexandra, ich besitz’ genug Menschenkenntnis, um Ihnen versichern zu können, daß Ihnen das, was Adrian Ihnen angetan hat, mit Peter Reinicke gewiß net widerfahren wird.«

»Vielleicht haben Sie recht, Hochwürden«, antwortete sie leise. »Aber verstehen S’ mich auch. Es ist noch zu früh, als daß ich mich von einer Beziehung in die and’re stürzen könnt’.«

»Natürlich ist es das. Aber wenn Ihnen etwas an den beiden da drüben liegt, dann geben S’ dem Peter ein Zeichen. Er liebt sie, und ich weiß, daß er warten wird.«

Vater und Sohn kamen wieder zurück. Franz Thurecker hatte inzwischen den Abwasch gemacht und brachte Kaffee, für Martin ein Glas Milch.

»Hast’ nachher Lust, mir beim Käsen zuzuschauen?« fragte der Senner den Bub.

»Ja, sehr gern.«

»Dann geh’n wir gleich mal hinüber, wenn wir ausgetrunken haben«, sagte Franz. »Und was zum Naschen gibt’s natürlich auch.«

*

Nach einiger Zeit mahnte Sebastian zum Aufbruch.

»Der Rückweg ist zwar noch kürzer«, sagte er. »Aber wir sollten dennoch losgehen, damit es net zu spät wird. Ich glaub’, der Martin wird heut’ abend rechtschaffend müd’ sein.«

Der Senner verabschiedete sie. Natürlich hatte er der Bitte Ria Stublers entsprochen, und für sie ein großes Stück Bergkäse mitgegeben, der über zwölf Monate gereift war.

Die Pensionswirtin nahm ihn gerne gerieben für Nudelgerichte und zum Überbacken. Dazu eignete er sich genauso gut wie sein italienischer Verwandter.

Der Abstieg ging gut vonstatten, und am späten Nachmittag kamen die Wanderer wieder in St. Johann an.

»Dann wünsch’ ich euch noch einen schönen Abend«, sagte Sebastian. »Lang’ wird er ja wohl net werden.«

Peter Reinicke reichte ihm die Hand.

»Herzlichen Dank für den wunderschönen Tag, Hochwürden. Wir haben ihn sehr genossen.«

»Es war mir eine Freude«, entgegnete der Geistliche.

»Ich möcht’ mich auch bedanken«, sagte Alexandra Sommer. »Bis zum nächsten Mal.«

»Pfüat euch«, nickte der Geistliche ihnen zu und überquerte die Straße in Richtung Kirche.

»So, jetzt erstmal unter die Dusche«, meinte Peter zu seinem Sohn. »Bist’ eigentlich noch hungrig?«

Martin schüttelte den Kopf. Franz Thurecker hatte nach dem Rundgang in der Käserei noch mal Kaffee gekocht und dazu Kuchen serviert.

»Das reicht bis morgen früh«, antwortete der Bub.

»Und du?«

Peter sah die Anwältin fragend an. Sie schüttelte ebenfalls den Kopf.

»Keinen Bissen bekomm’ ich mehr herunter«, sagte sie. »Außerdem tut das viele Essen meiner Linie gar net gut.«

»Na, jetzt übertreibst’ aber«, schmunzelte er.

In seinen Augen lag ein bittender Blick.

»Aber vielleicht magst’ morgen wieder was mit uns unternehmen?«

»O ja«, rief Martin sofort.

Sie zwinkerte dem Bub zu.

»Morgen ist deine zweite Reitstunde«, meinte sie. »Das Pony ist schon reserviert.«

Der Bub stieß ein lautes India­nergeheul aus und schlang seine Arme um sie.

»Danke schön, Alexandra«, sagte er und schaute treuherzig zu ihr herauf. »Du bist die tollste Freundin, die ich kenn’.«

Dann zuckte es in dem kleinen Gesicht.

»Schad’, daß du net meine Mama sein kannst«, fügte Martin hinzu.

Alexandra spürte, wie es ihr einen Stich gab. Sie schluckte, während Peter sich verlegen räusperte. Kopfschüttelnd befreite er sie von seinem Sohn.

»Jetzt aber Marsch. Ab unter die Dusche!«

Gehorsam trabte der Kleine ins Haus.

Peter sah Alexandra an und zuckte die Schultern.

»Entschuldige«, bat er.

»Schon gut«, antwortete sie.

Sie gingen hinein.

»Bis morgen dann«, verabschiedete sie sich. »Schlaft schön.«

»Du auch«, nickte er und schaute ihr nach, wie sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufging.

Als er seine Tür geöffnet hatte und eingetreten war, hörte er Martin in der Dusche hantieren. Peter schloß die Tür wieder und lehnte sich dagegen. Dann atmetet er tief durch.

Der Bub hat genau das Richtige gesagt, ging es ihm durch den Kopf. Schad! Alexandra, daß du net meine Frau werden kannst und Martins Mutter.

Vielleicht sollten wir uns net so an sie hängen, dachte er weiter. Je näher die beiden sich kommen, um so schlimmer wird nachher für Martin der Abschied von ihr.

Er mochte sich die Tränen, die dann fließen würden, gar nicht vorstellen.

Er ging zum Fenster hinüber und setzte sich an den Tisch, der neben der Terrassentür stand. Lange schaute er hinaus, aber das Bild nahm er überhaupt nicht wahr. Nur Alexandra sah er. Wie sie auf dem Pferd gesessen hatte, gestern, als sie zusammen Baden waren, heute auf der Bergtour, und sein Herz krampfte sich dabei zusammen.

Warum konnte es nicht sein? Durfte er nicht auch einmal wieder Glück haben und die Frau, die er liebte, für sich gewinnen? War es sein Schicksal, alleine zu bleiben, bis Martin erwachsen und vielleicht schon aus dem Haus war?

Lange Jahre war er schon alleine und er hatte dieses Opfer gerne gebracht. Nur manchmal, da verfluchte er sein Schicksal, das ihm nicht nur die Frau geraubt hatte, sondern seinem Sohn auch die Mutter.

Martin kam aus dem Bad und unterbrach seine Gedanken. Peter Reinicke zwang sich, zu lächeln. Sein Sohn sollte nicht merken, wie es um ihn stand, sollte seine Gemütsverfassung nicht mitbekommen. Das war einmal geschehen, als eine scheinbare Freundin ihm, Peter, unverblümt erklärt hatte, daß sie ihn zwar liebe und auch heiraten wolle, mit Martin aber nichts anfangen könne.

»Ich will eigene Kinder«, hatte sie gesagt. »Nicht das einer Frau großziehen, die ich net kenne.«

Leider war Martin Zeuge dieses Gespräches geworden. Zu spät hatte Peter es gemerkt. Der Bub hatte bitterlich geweint und seinen Vater allen Ernstes gefragt, ob es nicht besser sei, wenn es ihn überhaupt nicht gäbe…

Peter war es, als presse ihm eine Riesenfaust das Herz zusammen. Er hatte Martin an sich gerissen und ihm immer wieder versichert, daß er todunglücklich wäre, wenn er seinen Sohn nicht hätte.

Von diesem Tag an hatte er nie wieder ernsthaft an eine Verbindung mit einer Frau gedacht. Dieses Kapitel war für ihn abgehakt. Bis zu dem Moment, als er Alexandra kennenlernte.

*

Am Freitagnachmittag fuhr Sebastian Trenker mit sehr gemischten Gefühlen nach Engelsbach. Es war ihm nicht wohl bei dem Gedanken an das Gespräch, das vor ihm lag.

Indes war der gute Hirte von St. Johann nicht der Mann, der ein Problem lange vor sich herschob, sondern es anpackte und zu lösen versuchte.

Hermine Wollschläger öffnete, als er an der Tür des Pfarrhauses klingelte. Blasius Eggensteiners Haushälterin war eine schlanke, fast schon dürr zu nennende Frau, mit einem verbissenen Zug in dem hageren Gesicht. Sie umsorgte den Geistlichen schon seit Jahren und hatte ihn seinerzeit auch nach Südamerika begleitet, wo Blasius die Indios am Orinoko missionierte.

»Grüß Gott, Frau Wollschläger«, sagte Sebastian. »Ist mein Amtsbruder zu sprechen?«

»Hochwürden ist gerad’ drüben in der Kirche«, antwortete sie.

»Dank’ schön. Dann geh’ ich gleich mal hinüber.«

»Ach, Pfarrer Trenker?« sagte die Haushälterin.

»Ja, Frau Wollschläger, haben S’ was auf dem Herzen?«

Sie blickte betreten drein.

»Ja…, es ist so…, ich mach’ mir wirklich Sorgen…«

»Um Pfarrer Eggensteiner? Deswegen bin ich hier. Vikar Decker war bei mir und hat mir erzählt, daß mein Amtsbruder sich – ein bissel seltsam benimmt.«

»Es ist wegen diesem Abend…«

Sebastian nickte. Um freie Bahn für die Vorbereitungen zu haben, galt es nicht nur, Blasius Eggensteiner vom Schauplatz des Geschehens abzuziehen, sondern auch Hermine Wollschläger. Diese Aufgabe hatte Sophie Tappert übernommen. Dabei kam ihr zu Hilfe, daß die Kollegin aus dem Engels­bacher Pfarrhaus sich seit langem bemühte, Hochwürden auf Diät zu setzen. Was allerdings mißlang. Ihre gesunde Küche schmeckte dem Geistlichen nicht; er schlich sich immer wieder heimlich ins Wirtshaus und ließ sich dort die fettesten Braten und größten Portionen servieren. Sebastians Idee war es deshalb gewesen, Hermine Wollschläger nach St. Johann einzuladen, wo Sophie Tappert ihr bei einem gemütlichen Plausch ihre geheimen Rezepte verraten sollte, denn eines wußte der Bergpfarrer – gesunde Kost zu essen mußte auf keinen Fall eine Strafe sein. Es kam nur auf die Zutaten und die richtige Zubereitung an. Und darin war seine Haushälterin unschlagbar.

»Ich geb’ zu, wir haben den Herrn Pfarrer ein bissel überrumpelt«, sagte Sebastian zu Hermine Wollschläger. »Aber manchmal heiligt der Zweck eben die Mittel. Machen S’ sich keine Gedanken, Frau Wollschläger. Ich bin sicher, daß wieder alles ins Lot kommt.«

Er nickte ihr zu und überquerte den Platz auf dessen anderen Seite das Gotteshaus stand. Sebastian öffnete die Tür und trat ein.

Die Kirche von Engelsbach war etwas kleiner, als die in St. Johann, aber genauso schön. Das Innere zeigte die gleiche Pracht, und der Bergpfarrer blieb einen Moment stehen und schaute sich um. Dabei erinnerte er sich an den Samstagabend vor einigen Wochen. Da hatte hier drinnen harte Rockmusik gedröhnt, und die jungen Leute tanzten und feierten ausgiebig.

Dabei war alles ordentlich und gesittet vor sich gegangen. Florian Decker und seine Helfer hatten den Discoabend bestens organisiert. Es gab nur alkoholfreie Getränke, und draußen auf dem Platz waren Stände aufgebaut gewesen, an denen man all das kaufen konnte, was die Leute spendiert hatten; Kuchen, belegte Semmeln und andere Leckereien. Der stolze Erlös war Blasius Eggensteiner übergeben worden, der das Geld für eine Missionsstation in Südamerika verwenden sollte, in der er so lange gewirkt hatte.

Sebastian durchquerte das Kirchenschiff und sah sich nach seinem Amtsbruder um. Wahrscheinlich hielt der sich in der Sakristei auf. Dem Bergpfarrer fiel auf, daß hier sehr viel weniger Besucher waren, als in seiner eigenen Kirche, was wohl daran lag, daß Engelsbach weniger von Touristen besucht wurde, als St. Johann. Ein paar waren es allerdings doch, die leise umhergingen und die Heiligenbilder und – figuren betrachteten.

Er klopfte an die Tür und schob sie auf.

»Grüß dich«, sagte er und trat ein.

Blasius Eggensteiner saß an einem Tisch und blätterte in einem dicken Buch; die Kirchenchronik. Er sah auf, und ein kaum merkliches Zucken ging durch sein rundes Gesicht.

»Was gibt’s?« fragte er, ohne auf Sebastians Gruß zu reagieren.

»Eigentlich nix Besond’res. Ich wollt’ bloß mal schauen, wie’s dir geht.«

Der Geistliche hatte den Kopf wieder versenkt und war scheinbar in seine Lektüre vertieft.

»Wer’s glaubt, wird selig«, murmelte er.

Sebastian trat an den Tisch und zog sich einen Stuhl heran.

»Was ist eigentlich los?« fragte er, während er sich setzte. »Findest’ das wirklich richtig, daß du die Menschen in deiner Nähe mit Nichtbeachtung strafst? Wenn du an jemandem deinen Ärger auslassen mußt, dann an mir. Ich war’s, der dem Bischof die Idee unterbreitet hat. Weder Vikar Decker, noch deine Haushälterin hat was damit zu tun.«

Sein Amtsbruder sah ihn durchdringend an.

»Lüge!« behauptete er. »Ihr steckt alle unter einer Decke, habt euch gegen mich verschworen.«

»Also, jetzt redest’ aber wirklich Unsinn!« Der Bergpfarrer schüttelte den Kopf. »Ich geb’ ja zu, es war net die feine englische Art. Aber es gab keine and’re Möglichkeit, dich davon zu überzeugen, daß Kirche wirklich modern sein kann. Die Burschen und Madln hatten eine Riesengaudi, und selbst dem Bischof hat’s gefallen. Was also ist so schlimm daran?«

»Ihr habt das Haus Gottes entweiht«, blaffte Blasius Eggensteiner.

Drohend hob er den rechten Zeigefinger. »Aber wartet nur. ›Mein ist die Rache, spricht der Herr‹«, zitierte er aus dem Alten Testament. »Eines Tags, Bergpfarrer, wirst’ für diese Blasphemie büßen.«

Herr im Himmel, hilf! dachte Sebastian erschrocken. Jetzt schnappt er über.

»Menschenskind, Blasius, wach’ auf!« entgegnete er scharf. »Du willst mir doch net ernsthaft drohen.«

»Dir und allen, die sich gegen mich verschworen haben«, sagte sein Gegenüber düster. »Aug’ um Aug’, Zahn um Zahn!«

Im selben Moment krachte es draußen, und ein fürchterlicher Donner rollte über den Himmel.

Ach, du liebe Güte, dachte Sebastian, hoffentlich nimmt er das jetzt net als einen Fingerzeig Gottes, daß er im Recht ist…

Er kannte Blasius Eggensteiner seit dem gemeinsamen Studium. Schon damals war er ein Fanatiker und ›Verfechter des rechten Glaubens‹ gewesen. Immer wieder suchte er mit Sebastian Streit und legte ihm Steine in den Weg. Dabei scheute er auch nicht davor zurück, den jungen Trenker bei den Lehrern anzuschwärzen, wenn dieser mal nicht mit seiner Meinung konform ging. Sebastian war erleichtert, als sich ihre Wege endlich trennten, und selbst die Professoren konnten seine endlosen Diskussionen nicht ertragen und waren froh, als Blasius fertig studiert hatte.

Sebastian hatte lange Zeit nichts mehr von ihm gehört, als Pfarrer Eggenstein dann die Pfarrei hier übernahm, hatte er gehofft, der Amtsbruder hätte sich in all den Jahren verändert. Doch er wurde enttäuscht.

Er unternahm einen letzten Versuch.

»Ich kann versteh’n, daß du verärgert bist«, sagte er. »Aber ich versichere dir, daß außer mir sonst niemand dafür verantwortlich ist. Also, setz’ dich mit mir auseinander, laß deinen Zorn an mir aus und net an Vikar Decker oder an deiner Haushälterin. Die beiden können nix dafür. Sprich mit ihnen, sag’, was dir net gepaßt hat und hör’ dir an, was sie zu sagen haben. Sonst wird die Atmosphäre bei euch unerträglich.«

Sebastian stand auf.

»Und wenn du mit mir darüber sprechen willst, dann gib mir Bescheid. Ich bin jederzeit bereit. Vielleicht kommen bei dieser Aussprache auch mal and’re Dinge zutage. Dinge, die wir schon vor mehr als zwanzig Jahren hätten bereden sollen.«

Damit ging er hinaus.

Draußen regnete es inzwischen. Seit Tagen schon war ein Unwetter angekündigt, hatte aber immer noch auf sich warten lassen. Gestern, auf der Bergtour, hatten sie noch Glück gehabt. Jetzt würde der Regen wohl ein, zwei Tage anhalten. Sebastian setzte sich in seinen Wagen und fuhr nach St. Johann zurück. Er hatte getan, was er konnte und alle Schuld auf sich genommen. Nun lag es an Blasius Eggensteiner, dafür zu sorgen, daß in seinem Pfarrhaus wieder eine andere Stimmung herrschte.

*

Am Abend ließ der Regen nach. Ria Stubler hatte die Markise über der Terrassentür heruntergekurbelt, so daß sie draußen sitzen und Abendbrot essen konnten. Die Anwältin und Vater und Sohn hatten eingekauft, in Rias Küche gekocht, und nun standen Spaghetti ›carbonara‹ auf dem Tisch. Natürlich war die Wirtin zum Essen eingeladen und spendierte eine Flasche Wein.

»Tja, dann wird’s morgen wohl nix mit dem Ausreiten«, meinte Alexandra.

»Wird das Wetter denn gar net wieder besser?« fragte Martin besorgt.

Zwei Stunden waren sie am Morgen unterwegs gewesen. Während Peter wieder in der Sonne saß, hatten Alexandra und der Bub den langen Ausritt gemacht.

»Freilich wird’s besser«, antwortete Ria. »Sollst’ mal seh’n, vielleicht sind morgen die Wolken doch schon wieder verschwunden.«

»Jedenfalls werden wir noch oft genug Gelegenheit zum Ausreiten haben«, versprach Alexandra.

Peter schaute auf die Uhr.

»Ich glaub’, jetzt wird’s Zeit für dich«, meinte er zu seinem Sohn. »Von mir aus darfst’ noch ein bissel lesen. Ich komm’ dann nachher zu dir.«

Der Bub nickte gehorsam und verabschiedete sich. Die Runde mit Biene hatte er schon gedreht. Jetzt folgte ihm die Hündin brav ins Haus.

Die Erwachsenen trugen das Geschirr hinein und stellten es in die Spülmaschine.

»Habt vielen Dank für das schöne Abendessen«, sagte Ria. »Trinken wir noch ein Glas Wein?«

Alexandra und Martin nickten. Im Moment war es draußen trocken, nur vereinzelt fielen Tropfen von den Bäumen auf die Markise. Immerhin hatte der Regen dafür gesorgt, daß es sich etwas abkühlte, und eine angenehme Temperatur herrschte.

»So, und morgen geht’s zum Tanzen in den Löwen?« fragte die Wirtin, als sie ein paar Stunden später noch draußen saßen.

Ach, Gott, ja, der Tanzabend, dachte Alexandra.

Ihn hatte sie ganz vergessen – oder verdrängt?

Adrian war ein hervorragender Tänzer.

Leider hatte er diese Eigenschaft auch hin und wieder zu seinem Vorteil eingesetzt. Mehr als einmal hatte Alexandra Gelegenheit gehabt, zu beobachten, wie er mit seiner Tanzpartnerin ungeniert flirtete, während sie dastand und zuschaute.

»Morgen ist Tanz?« fragte Peter Reinicke. »Wo denn?«

»Auf dem Saal vom Löwen«, erklärte die Wirtin. »Das dürft ihr euch net entgehen lassen.«

»Ach, ich weiß net«, antwortete er. »Ich kann den Martin ja net allein’ lassen.«

»Na, das ist doch kein Problem«, sagte Ria. »Der bleibt schön bei mir. Erst machen wir uns einen gemütlichen Fernsehabend, und nachher bring’ ich ihn ins Bett.«

Sie unterdrückte ein Gähnen.

»Apropos Bett – entschuldigt mich. Ich muß morgen früh raus und zum Großmarkt in die Stadt fahren. Das Frühstück serviert euch meine Nachbarin, die hin und wieder aushilft. Deshalb werd’ jetzt schlafen gehen.«

Sie wünschte eine gute Nacht und ging hinein.

»Würdest du denn mit mir hingehen?« fragte Peter, als sie alleine waren.

Das hatte Alexandra schon überlegt. Im ersten Augenblick wollte sie nichts davon wissen. Doch dann sagte sie sich, daß es keinen Grund gab, sich dieses Vergnügen zu versagen. Immerhin war sie nach St. Johann gekommen, um sich von Adrian zu lösen.

Zu dieser ›Therapie‹ gehörte auch, daß sie überall dort hinging, wo sie mit ihm glücklich gewesen war.

Auch wenn es nur ein scheinbares Glück war, wie sich herausgestellt hatte.

»Ja, ich komme gern mit«, antwortete sie und sah das Lächeln auf Peters Gesicht.

Er freute sich.

Musik, feiern, eine schöne Frau in den Armen halten und mit ihr über das Parkett schweben – mein Gott, wie lange war das schon her!

Peter hob sein Glas und prostete ihr zu. Dann schaute er sie an, während er nach den richtigen Worten suchte.

Am Abend zuvor hatte es lange gedauert, bis er einschlafen konnte, obgleich die Bergtour anstrengend gewesen war, und er eigentlich müde hätte sein müssen.

Martins Worte wollten ihm nicht aus dem Kopf gehen. Als der Bub ins Bett gegangen war und das Abendgebet gesprochen hatte, kuschelte er sich an seinen Vater.

»Magst du die Alexandra?« hatte er gefragt.

Peter brauchte nicht lange, um zu antworten.

»Ja«, erwiderte er, »ich mag sie sehr.«

Martin biß sich auf die Lippe.

»Aber heiraten werdet ihr wohl net, oder?«

Der Vater zuckte die Schultern.

»Weißt’, das ist net so einfach«, erklärte er. »Zum Heiraten gehören zwei Menschen. Und wenn ich die Alexandra auch mag, heißt das ja noch lang’ net, daß es bei ihr genauso ist.«

»Warum fragst’ sie denn net?« wollte der Bub wissen.

Er sah seinen Vater eindringlich an.

»Bitte, Papa, frag’ sie doch!«

Peter Reinicke atmete schwer. Was sein Sohn da von ihm verlangte, fiel ihm sehr schwer. Einige Male hatte er sich schon vorgenommen, Alexandra zu sagen, wie es um ihn stand. Doch dann verließ ihm der Mut wieder. Aber vielleicht mußte er sich nur überwinden. Mehr als ihn zurückzuweisen, konnte sie nicht tun.

Als er am Morgen auf der Terrasse des Ponyhotels saß, während die beiden ausritten, überlegte er hin und her. Als die Anwältin und Martin dann zurückkamen, gab es keine Gelegenheit, mit ihr unter vier Augen zu sprechen.

Doch jetzt war sie da…

»Ist was?« fragte Alexandra, als sie draußen saßen.

Ria Stubler hatte lediglich eine Laterne auf den Tisch gestellt und das Licht darin entzündet. Der Schein beleuchtete Alexandras Gesicht.

Peter räusperte sich.

»Ich will net viel Worte machen«, antwortete er. »Ich denk’, du weißt, wie’s um mich steht, Alexandra.«

Ihr Herz schlug bis zum Hals hinauf.

»Bevor ich dich kennenlernte«, fuhr er fort, »hätt’ ich net gedacht, daß ich mich jemals wieder verlieben würd’. Du weißt ja, welche Enttäuschungen ich erlebt hab’. Aber bei dir hab’ ich das Gefühl, du bist die Richtige. Für mich und für Martin. Dabei geht’s net darum, eine Mutter für meinen Sohn zu finden. Ich muß die Frau lieben, die diese Rolle ausfüllen kann, aber sie muß eben auch ein Herz für Martin haben. Er ist nun mal eine Teil meines Lebens und gehört zu mir.«

Er beugte sich vor.

»Ich liebe dich, Alexandra«, sagte er leise. »Mehr, als ich sagen kann. Und ich… ich möcht’ dich bitten, meine Frau zu werden.«

Die hübsche Rechtsanwältin schluckte.

Es stimmte alles, die Situation, die Stunde. Sie waren allein, auf dem Tisch brannte romantisch die Laterne, und eigentlich hätte ihr Herz vor Freude zerspringen müssen.

»Ich mag dich auch, Peter«, erwiderte sie. »Sehr sogar.«

Ihre Augen blickten trotz dieser Worte traurig.

»Aber es geht net. Bitte, verzeih’ mir. Ich will dir net weh tun. Doch im Moment kann ich deinen Antrag net annehmen.«

Er nickte stumm. Auch wenn er sich eine andere Antwort erhofft hatte, so glaubte er doch schon vorher zu wissen, wie sie ausfallen würde.

Es war ja auch vermessen gewesen, zu hoffen, daß Alexandra ihn erhören würde. Nicht nach der Enttäuschung, die sie erlitten hatte.

»Gehst du trotzdem noch mit mir in den Löwen?« fragte die Anwältin, als er nur schweigend nickte.

»Ja«, lächelte er schief. »Natürlich.«

Er räusperte sich erneut.

»Ich freue mich doch auch darauf«, setzte er hinzu.

Die Tür zum Zimmer war einen spaltbreit geöffnet. Hinter der Gardine zeichnete sich ein dunkler Schatten ab. Die Erwachsenen bekamen nicht mit, als Martin wieder ins Bett schlich.

Der Bub war aufgewacht und hatte die Stimmen draußen gehört. Neugierig war er zur Terrassentür gegangen und hatte gelauscht. Als Peter Alexandra sagte, wie sehr er sie liebe, da klopfte das Herz seines Sohnes bis zum Hals hinauf.

Und wie enttäuschend war die Antwort!

Martin lag in seinem Bett und grübelte darüber nach, warum Alexandra den Antrag nicht annehmen wollte. Die wahren Hintergründe nicht ahnend, zog er einen Schluß, der noch fatale Folgen haben sollte.

Den Schluß, daß es wieder einmal an ihm lag…!

*

Peter Reinicke bemerkte gleich am Morgen, daß sein Sohn schweigsam und in sich gekehrt war.

»Geht’s dir net gut?« fragte er besorgt, als Martin am Frühstückstisch saß und kaum etwas aß.

»Du hast dich doch wohl net gestern beim Reiten erkältet?« meinte Alexandra und faßte an seine Stirn.

Die war kühl, kein Anzeichen von Fieber. Aber die Reaktion des Buben überraschte sie. Martin zog unwillig seinen Kopf weg und begann Biene mit Häppchen seiner Semmel zu füttern.

»Martin, was soll das?« fragte sein Vater ärgerlich. »Du weißt genau, daß Biene nix vom Tisch bekommt!«

Er schüttelte den Kopf.

»Wenn du keinen Hunger hast, dann geh’ aufs Zimmer. Leg’ dich noch ein bissel aufs Bett. Vielleicht geht’s dir ja nachher besser.«

Entschuldigend sah er die Anwältin an, während sein Sohn sich mit hängendem Kopf trollte.

»Tut mir leid«, sagte er schulterzuckend. »Ich weiß net, was mit ihm los ist.«

Sie lächelte.

»Das geht wieder vorüber«, meinte sie.

Alexandra schenkte sich Kaffee nach.

»Hast du Lust, heut’ mal die Kirche anzuschauen?« fragte sie.

Peter nickte.

»Gerne. Ich wollt’ sie ohnehin schon längst besichtigen.«

»Dann lassen wir Martin noch ein bissel Zeit«, schlug sie vor, »und geh’n, wenn er wieder ausgeschmollt hat.«

»Ich weiß wirklich net, was er hat«, hob Peter hilflos die Arme.

»Das geht schon wieder vorüber, mach’ dir keine Gedanken.«

Das tat der Vater indes doch. Es war gar nicht mal das Füttern der Hündin gewesen, das ihn so aufgebracht hatte, sondern vielmehr die Reaktion, die Martin gezeigt hatte, als Alexandra an seine Stirn faßte. Gerade ihr gegenüber hätte Peter es nicht vermutet.

»Irgendwas brütet der Bursche aus«, meinte er kopfschüttelnd. »Hoffentlich wird er net wirklich krank.«

»Wir werden ihn genau beobachten und wenn’s nötig ist, gehst’ mit ihm zum Arzt.«

Sie schauten zum Fenster hinaus. Am Himmel hingen graue Wolken, auch wenn es heute noch nicht geregnet hatte. Aus diesem Grund war im Frühstücksraum gedeckt worden.

»Viel unternehmen kann man heut’ wohl net«, sagte die Anwältin. »Hoffentlich ist morgen besseres Wetter, damit Martin und ich wieder ausreiten können.«

»Vielleicht können wir nachher in die Stadt fahren«, schlug Peter Reinicke vor. »Der Bub braucht dringend ein paar neue Schuhe. Die, die er jetzt anhat, sind ihm schon wieder zu klein.«

»Aus kleinen Kindern werden eben große Leut’«, schmunzelte sie.

»Wem sagst du das«, nickte er.

Gestern abend waren sie noch eine ganze Weile auf der Terrasse gewesen. Das heikle Thema ›Heirat‹ wurde nicht mehr angesprochen, und heute morgen begrüßten sie sich, als habe es nie dieses Gespräch gegeben.

»Na, dann schau’ ich mal nach ihm«, meinte Peter und erhob sich. »Klopfst du, wenn du soweit bist?«

»Mach’ ich«, antwortete Alexandra und stand ebenfalls auf.

Sie ging die Treppe hinauf, während Peter in das Zimmer ging, das er und Martin bewohnten. Sein Sohn lag ausgestreckt auf dem Bett und starrte an die Decke. Er setzte sich zu ihm.

»Was ist los, hm?« fragte er sanft.

Der Bub wischte sich über das Gesicht und drängte sich an seinen Vater.

»Es tut mir leid«, sagte er leise.

Peter strich ihm über den Kopf.

»Hast du Lust, die Kirche anzuschauen?«

Martin nickte.

»Na, dann komm. Biene wird ein kleiner Spaziergang auch guttun, und nachher fahren wir in die Stadt und kaufen ein Paar neue Schuhe für dich.«

Es klopfte an der Tür. Alexandra stand davor, als Peter öffnete.

»Wir sind soweit«, lächelte er.

Die Anwältin verlor kein Wort über Martins Verhalten. Sie nickte ihm nur aufmunternd zu, als sie aus der Pension gingen.

»Du mußt leider draußen bleiben«, sagte Martin zu seiner Hündin und band sie vor der Kirche fest.

Vater und Sohn staunten, als sie das Gotteshaus betraten.

»Wunderschön«, flüsterte Peter Reinicke.

Langsam gingen sie durch das Kirchenschiff und schauten sich um. Alexandra, die schon öfter hier gewesen war, führte sie herum und zeigte ihnen die wertvolle Madonnenstatue.

»Einmal sind Diebe eingebrochen und haben sie gestohlen«, erzählte sie. »Aber Pfarrer Trenker und sein Bruder, der ist bei der Polizei, haben die Kirchenräuber überführt und die Madonna zurückgeholt. Jetzt ist die Statue durch eine Alarmanlage gesichert.«

»Ach, da sind ja meine Bergkameraden«, vernahmen sie plötzlich die Stimme des Geistlichen.

Von ihnen unbemerkt hatte Sebastian die Kirche betreten.

»Grüß Gott. Na, habt ihr uns’re Wanderung gut überstanden?«

Die drei bejahten. Der gute Hirte von St. Johann freute sich zu hören, daß Alexandra und Peter am Abend zum Tanzen gehen wollten.

»Dann schlag’ ich vor, daß ihr vorher zum Essen ins Pfarrhaus kommt«, sagte er. »Anschließend geh’n wir zusammen in den Löwen. Ich war schon lang’ net mehr dort. Und mein Bruder und seine Frau werden sich freuen, euch kennenzulernen.«

Der letzte Satz galt Vater und Sohn, denn Alexandra war schon öfter Gast im Pfarrhaus gewesen.

»So eine Einladung können wir natürlich net ausschlagen«, meinte sie. »Da würd’ uns ja was ganz Besond’res entgehen.«

Damit spielte sie auf die Kochkünste der Haushälterin an.

»Fein, dann erwarten wir euch so gegen halb sieben, damit es net gar so spät wird«, verabschiedete sich Sebastian.

»Daß Hochwürden auch auf den Tanzabend geht, hätt’ ich net gedacht«, sagte Peter, als sie die Kirche verließen und den Kiesweg hinuntergingen.

»Du wirst dich wundern, wenn du siehst, was für eine flotte Sohle er aufs Parkett legt«, lachte Alexandra. »Pfarrer Trenker ist nämlich ein ausgezeichneter Tänzer.«

*

Dr. Adrian Heller fluchte fürchterlich und hielt am Straßenrand. Vor ihm blinkte es im Armaturenbrett. Vor wenigen Minuten fing der Motor des teuren Luxusautos an zu stottern, dann leuchteten plötzlich sämtliche Lichter auf, und schließlich rollte der Wagen immer langsamer. Dem Arzt gelang es gerade noch, rechts ran zu fahren und die Warnblinkanlage einzuschalten.

»Himmelherrgott, was ist das denn?« rief er ungehalten.

Nicht weniger als Neunzigtausend Euro kostete das Auto. Vor sieben Wochen erst hatte er es angeschafft, und nun streikte der Wagen.

Draußen prasselte der Regen auf das Dach und die Windschutzscheibe. Über ganz Oberbayern ging ein starkes Gewitter nieder. Blitze zuckten am Himmel, und der Donner grollte.

Adrian Heller wartete einen Moment. Die Lichter waren verloschen, und er versuchte zu starten.

Nichts!

Der Wagen tat keinen Mucks. Weder die Batterie schnarrte, noch der Anlasser, geschweige, daß der Motor angesprungen wäre.

Mißmutig starrte der Arzt nach draußen. Die Motorhaube öffnen und selber nachschauen hatte wohl keinen Sinn. Abgesehen davon, daß in modernen Autos mehr Technik und Elektronik steckte, als noch vor ein paar Jahren, und er ohnehin nichts davon verstand, würde er in Sekunden bis auf die Haut durchnäßt werden. Verärgert nahm er sein Handy und wählte die Nummer der Pannenhilfe. Nachdem er seinen Standort durchgegeben hatte – er befand sich gut dreißig Kilometer von St. Johann entfernt – versprach der Mann am anderen Ende der Leitung, sofort die nächstgelegene Werkstatt zu informieren. Allerdings würde sich der Anrufer gedulden müssen; es sei Samstagabend, und fraglich, ob überhaupt ein Notdienst in dieser abgelegenen Ecke verfügbar wäre.

Also lehnte sich Adrian zurück und wappnete sich mit Geduld.

Der Tag hatte schon denkbar schlecht angefangen. Eigentlich hatte er am Morgen losfahren wollen, doch dann war ein Notruf aus der Klinik gekommen. Einer seiner Privatpatienten war am frühen Morgen, nach einer komplizierten Operation am Vortag, kollabiert. Sein Zustand war so besorgniserregend, daß der diensthabende Arzt die Verantwortung nicht übernehmen wollte und veranlaßte, daß Dr. Heller gerufen wurde. Es dauerte einige Stunden, bis es Adrian gelang, den Kranken zu stabilisieren. Allerdings konnte er erst am späten Nachmittag in Richtung St. Johann fahren.

Vor ihm tauchten die Scheinwerfer eines Autos aus der Dunkelheit auf. Der Arzt atmete erleichtert auf, als er den Wagen einer Reparaturwerkstatt erkannte. Gott sei Dank hatte der Regen nachgelassen, als er ausstieg.

»Grüß Gott, was hat er denn?« fragte der ältere Mann.

Adrian erklärte, was geschehen war.

»Hm, hört sich kompliziert an«, meinte der Monteur und setzte sich in das Auto des Arztes. »Wahrscheinlich die Elektronik.«

Er versuchte zu starten und nickte, als sich nichts tat.

»Wie ich vermutet habe«, sagte er. »Da kann ich hier gar nix machen. Der muß abgeschleppt werden.«

»Auch das noch!« entfuhr es ­Adrian ärgerlich. »Wie komm’ ich denn jetzt nach St. Johann?«

»Dahin woll’n S’? Kein Problem, ich nehm’ sie mit nach Waldeck und geb’ Ihnen dann einen Leihwagen, bis Ihrer fertig ist.«

»Das wäre wirklich gut«, nickte der Arzt erleichtert. »Wann wäre mein Auto denn fertig?«

Der Monteur war wieder ausgestiegen und kratzte sich am Kopf.

»Also, vor Montag kann ich da überhaupt nix machen«, erwiderte er. »Das mit der Elektronik ist eine komplizierte Angelegenheit. Wir haben zwar ein Diagnosegerät, aber da muß mein Sohn ran. Ich versteh’ nix davon. Früher war’s eben einfacher, Autos zu reparieren.«

»Na, wenigstens komme ich weiter«, sagte Adrian.

Eine Viertelstunde später hing sein Luxusauto am Haken und wurde abgeschleppt. Während ­Adrian Heller hinter dem Steuer saß und lenkte, hatte er Zeit über Alexandra nachzudenken.

Hoffentlich lohnt sich der ganze Aufwand überhaupt, dachte er.

Inzwischen waren ihm Zweifel gekommen, ob er das Richtige tat. Aber er hatte ja keine andere Wahl. Mochte der Himmel wissen, wie lange sie sich hier schmollend verkriechen wollte, ehe sie nach München zurückkehrte.

So lange konnte er einfach nicht warten!

*

Sophie Tappert hatte ein kleines, aber feines Abendessen gezaubert. Als Vorspeise gab’s Blätterteigrechtecke, die mit Fischragout in Krebssauce gefüllt waren. Danach Rehmedaillons, mit Eierschwammerln in Wachholderrahm, Blaukraut und Spätzle und als Dessert die beliebte Bayerische Creme mit frischen Beeren aus dem Pfarrgarten.

Besonders freute es die Haushälterin, daß Martin von allem aß und es ihm sichtlich schmeckte.

Aber auch die anderen lobten wieder einmal das herrliche Essen. Nachdem sie sich gut unterhalten hatten, brachen sie zum Löwen auf.

»Gehst’ noch mal mit Biene«, sagte Peter zu seinem Sohn. »Aber net so weit, sonst werdet ihr zu naß.«

»Mach ich«, versprach der Bub und lief zur Pension.

Die Erwachsenen blieben an der Straßenecke stehen, bis er ins Haus hineingegangen war.

Nach dem Besuch in der Kirche waren sie in die Stadt gefahren. Am Samstag war dort natürlich besonders viel los, aber es machte Spaß, durch die Geschäfte zu bummeln und hier und da zu schauen. Zwischen Martin und Alexandra schien alles wieder so wie vorher. Der Bub hatte sogar nichts dagegen, als sie seine Hand nahm, damit er in dem Gedränge nicht verloren ging.

Auf dem Saal herrschte schon eine ausgelassene Stimmung, als die kleine Gruppe ihn betrat. Am Tisch der Honoratioren saßen auch Alexandra und Peter. Die Anwältin überkam für einen Moment ein seltsames Gefühl, als sie daran dachte, daß sie schon oft mit Adrian hier gesessen hatte. Doch sie überwand es schnell und freute sich auf den Abend.

Sie trug ein helles geblümtes Kleid, darüber eine kurze Jacke. Schmuck hatte sie nur wenig angelegt, und was sie trug hatte sie ausschließlich selbst für sich gekauft – alles was Adrian ihr im Laufe ihrer Beziehung geschenkt hatte, lag zu Hause in einer Schublade.

Peter Reinicke hatte sich ebenfalls festlich angezogen. Die graue Hose, kombiniert mit einem blauen Jackett und einem dazu passenden Hemd, stand ihm ausgezeichnet, wie die Anwältin bemerkte, als sie die Pension verließen.

Nachdem die Gäste den Honoratioren vorgestellt waren, wurden Getränke bestellt. Auf ihrem Podium spielten die ›Wachnertaler Bu’am‹ schon was das Zeug hielt, und in der Mitte des Saales wurde bereits getanzt.

»Wollen wir?« fragte Peter, nachdem sie den ersten Schluck getrunken hatten.

Claudia und Max befanden sich schon auf der Tanzfläche. Die Schwägerin des Bergpfarrers war eine leidenschaftliche Tänzerin, und der junge Polizist hatte schon früh beim Tanzen den Madln den Kopf verdreht…

»Ist hier immer soviel los?« fragte Peter durch den Lärm.

»Jedes Wochenende«, erwiderte Alexandra.

Sie lag in seinen Armen und lächelte ihn an.

War das herrlich!

Diesmal würde sie keine Angst haben müssen, daß ihr Tanzpartner sich anderen Frauen zuwandte und mit ihnen flirtete.

Ach, Peter, dachte sie wehmütig und rief sich den gestrigen Abend in Erinnerung.

Sein Liebesgeständnis hatte sie nicht wirklich überrascht. Sie ahnte es ja schon längst. Und nachdem sie auf ihr Zimmer gegangen war, lag sie noch lange wach und dachte über sich, Peter und Adrian nach. Noch immer steckte die Angst in ihr, sie könne wieder enttäuscht werden, dabei wußte sie im Grunde ihres Herzens ganz genau, daß es bei Peter Reinicke anders sein würde.

Auch die Tatsache, daß er einen Sohn hatte, schreckte sie nicht ab. Martins Reaktion am Morgen hatte sie zwar ein wenig erstaunt, aber schließlich hatte er sich später bei ihr entschuldigt, und alles war wieder in Ordnung.

Nein, Martin wäre kein Hinderungsgrund, Peter zu lieben. Ganz im Gegenteil, sie mochte den kleinen Burschen von Anfang an, und selbst wenn sie später einmal eigene Kinder haben würde…

Stop! rief sie sich zur Ordnung. So weit wollen wir nicht denken.

Peters Stimme riß sie aus ihren Gedanken. Er mußte etwas zu ihr gesagt haben.

»Entschuldige bitte«, sagte sie, »ich hab’ net zugehört.«

»Möchtest du was trinken?« fragte er noch einmal.

Ohne es wirklich zu bemerken, hatten sie inzwischen drei Tänze absolviert, und Alexandra spürte, daß sie durstig war.

Sie nickte und ließ sich von ihm an die Sektbar führen.

»Prost«, sagte er lächelnd, »auf einen schönen Abend.«

Sie blickte ihn mit leuchtenden Augen an, als sie tranken. Gerne hätte sie ihm gesagt, daß sie sich inzwischen anders besonnen hatte, daß sie seinen Antrag mit Freuden annehmen wolle, doch der Ort, hier an der Bar, zwischen all den Leuten, schien ihr nicht zu passen.

Später, dachte sie, später wird sich eine Gelegenheit ergeben.

*

Adrian fuhr verärgert auf den Parkplatz des Hotels. Mehr als acht Stunden hatte er verloren, dabei hätte er ganz gemütlich schon am Vormittag in St. Johann ankommen können. Nachdem er in Waldeck den Kleinwagen bestiegen hatte, rief er im Hotel an und vergewisserte sich, daß das Zimmer noch zur Verfügung stand. Es hätte gerade noch gefehlt, daß er hergekommen, und es anderweitig vergeben wäre. Als er am Saal vorbeiging, überlegte der Arzt einen Moment, ob Alexandra wohl auf den Tanzabend gegangen sei. Aber das war eher unwahrscheinlich, sie würde sicher in der Pension sein.

Drei gab es davon in dem Dorf, und die erste, in der er sie suchen wollte, lag gleich ein paar Straßen weiter. Rasch checkte er ein und verließ das Hotel wieder. Glücklicherweise hatte es inzwischen zu regnen aufgehört, aber immer hingen noch bedrohlich dicke Wolken am Himmel und sorgten dafür, daß es bereits dunkler war, als sonst um diese Zeit.

Adrian ging die Straße hinunter und suchte nach der Pension. Vor ihm lief ein kleiner Junge, der einen Hund an der Leine führte. Der Bub schien denselben Weg zu haben, wie er. Der Arzt sprach ihn an.

»Wart’ mal.«

Martin Reinicke drehte sich um.

»Grüß Gott«, sagte Adrian freundlich. »Weißt du, wo die Pension Stubler ist?«

»Gleich hier um die Ecke.«

»Aha, bist du da ganz sicher?«

»Freilich. Ich wohn’ ja dort mit meinem Papa.«

»Ah, dann mußt du’s ja wissen. Sag’ mal, wohnt da zufällig auch eine Frau Sommer? Alexandra Sommer.«

Martin stutzte.

»Wieso? Was wollen S’ denn von ihr?«

Der Arzt lächelte.

»Sie ist meine Verlobte«, erklärte er. »Und ich will sie überraschen. Sie weiß nämlich nicht, daß ich hier bin. Also, wohnt Frau Sommer in der Pension?«

»Nein«, schüttelte der Bub den Kopf. »Den Namen hab’ ich nie gehört und ich kenn’ alle Gäste dort.«

Er zog an der Leine.

»Komm, Biene!«

Adrian Heller blieb stehen.

Mist, dachte er, dabei war ich so sicher. Na ja, es gibt ja noch zwei Möglichkeiten.

Er drehte sich um und ging zurück. Einen Grund, an der Auskunft des Buben zu zweifeln, hatte er ja nicht.

Martin war an der Pforte stehengeblieben. Sein Herz klopfte bis zum Hals hinauf, und seine Augen füllten sich mit Tränen.

So war das also, Alexandra war verlobt! Papa hatte nie eine Chance bei ihr gehabt!

Würde er überhaupt jemals eine Frau finden?

Nein, net solang’ er für Martin sorgen mußte.

Der Bub lehnte sich an den Zaun. Er dachte darüber nach, was ihm gestern in den Kopf gekommen war, als er Alexandras und Peters Unterhaltung gelauscht hatte.

Am besten wäre es, wenn es ihn nicht gäbe. Dann hätte Papa keinen Klotz am Bein und würde endlich eine Frau finden.

Gestern hatte er noch Angst gehabt, diesen Gedanken weiter zu spinnen. Doch jetzt nahm er immer mehr Gestalt an. Martin schaute auf den Hund, dann auf die Haustür, hinter der Tante Ria auf ihn wartete. Er ging die Stufen hinauf.

»Bist du das, Martin?« rief die Wirtin aus ihrer Küche.

»Ja.«

»Dann komm, das Fernsehprogramm fängt gleich an.«

»Ich muß Biene noch bürsten. Ich geh’ mit ihr auf die Terrasse.«

»Ist gut.«

Martin ging in das Zimmer, dort kramte er seinen Rucksack aus der Ecke neben dem Kleiderschrank und steckte eine Packung Hundekuchen hinein. Dann nahm er einen Schreibblock und Stift und setzte sich an den Tisch.

Lieber Papa, schrieb er, ich geh’ fort, damit Du net mehr für mich sorgen mußt und eine Frau kennenlernen kannst. Mach’ Dir keine Sorgen, Biene ist bei mir und paßt auf mich auf. Wenn ich groß bin, komme ich wieder zurück und besuche Dich. Dein Sohn Martin.

Er legte das Blatt so, das es gleich auffallen mußte, wenn sein Vater das Zimmer betrat. Dann schlüpfte er in seine warme Jacke, nahm den Hund an die Leine und ging zur Terrassentür hinaus. Leise schlich er durch den Garten. Der Weg zur Pforte führte am Haus vorbei. Er trat auf die Straße, schaute sich um und wandte sich dann nach rechts. Martin zuckte erschreckt zusammen, als es am Himmel grummelte. In einiger Entfernung zuckten Blitze über den Bergen, als er St. Johann verließ.

*

Alexandra fühlte sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder so richtig glücklich. Die Stimmung am Tisch war ausgesprochen gut, und sie hatte mehrmals getanzt.

Mit Peter natürlich, aber auch Max Trenker und Sebastian waren ihre Tanzpartner gewesen. Jetzt saßen sie am Tisch und unterhielten sich. Der Bürgermeister des Dorfes sprach mit Peter, Claudia erzählte der Anwältin von ihrer Arbeit bei der Zeitung in Garmisch-Partenkirchen, und der Bergpfarrer berichtete seinem Bruder von dem Besuch in Engelsbach. Eine Saaltochter brachte gerade eine neue Runde, als Ria Stubler hereinstürzte. Sebastian sah die Wirtin zuerst. Sie hielt ein Blatt Papier in der Hand und war ganz aufgelöst.

»Ist was mit Martin?« fragte er ahnungsvoll.

»Der Bub…, er ist fort«, stammelte Ria.

Peter sprang auf. Er war kreidebleich geworden. Alexandra schaute ihn entsetzt an.

»Was? Ich denk’, er ist bei Ihnen?« rief Martins Vater.

»Das war er auch…«

Ria Stubler berichtete, wie sie mit dem Bub gesprochen und dann auf ihn gewartet habe, als er erklärte, er müsse die Hündin noch bürsten.

»Als er dann immer noch net kam, hab’ ich nachgeschaut und dies hier gefunden.«

Sie hielt das Blatt in die Höhe. Peter riß es ihr aus der Hand und las.

»Um Gottes willen!« stöhnte er und preßte entsetzt die Hand vor den Mund.

Sebastian war neben ihn getreten und las, was Martin geschrieben hatte.

»Max, Toni«, wandte er sich an seinen Bruder und Dr. Wiesinger, »kommt, wir müssen ihn suchen. Weit kann er ja noch net sein. Aber das Wetter macht mir Sorgen.«

»Wir kommen natürlich mit«, riefen Peter und Alexandra sofort.

Sebastian nickte.

»Aber wo sollen wir suchen?« fragte der Polizist.

»Vielleicht hat ihn jemand gesehen«, hoffte der Bergpfarrer. »Wir müssen die Leute fragen.«

Sie gingen zum Ausgang. Draußen standen Gäste, die sich eine Portion frische Luft gönnen wollten. Tatsächlich hatte ein junges Paar den Bub mit seinem Hund gesehen.

»Die sind da zum Dorf hinaus«, erklärte der Bursche. »Wenn ich gewußt hätt’, daß er fortlaufen will…«

»Schon gut, Xaver«, sagte Sebastian. »Wir werden ihn schon finden.«

Am Himmel zuckten Blitze und es donnerte.

»Also Richtung Kogler«, wandte sich der Geistliche an die anderen. »Max, hol’ den Wagen.«

»Bin schon unterwegs«, erwiderte der Beamte und sprintete los.

»Ich hole für alle Fälle meinen eigenen«, sagte Dr. Wiesinger und war auch schon verschwunden.

Es dauerte keine zwei Minuten, bis das Polizeiauto vor ihnen hielt. Alexandra wollte gerade einsteigen, als sie jemand am Arm faßte.

»Was soll das?« rief sie und wollte sich unwillig losmachen, als sie ihn erkannte. »Du?«

»Ja, ich«, grinste Adrian Heller. »Ich suche dich schon die ganze Zeit. Sag’ mal, was ist denn los? Warum steigst du in das Polizeiauto?«

Hinter ihnen hupte der Arzt.

»Wir müssen los, Alexandra«, rief Max.«

Sie befreite sich endgültig aus Adrians Griff.

»Willst du mir nicht erklären…?« rief er.

»Dazu ist keine Zeit«, antwortete sie. »Ich muß meinen Sohn suchen.«

Sie stieg ein und schlug die Tür zu. Adrian Heller blickte ihr verdutzt nach.

»Deinen Sohn?« murmelte er ungläubig. »Du hast einen Sohn?«

Sebastian hatte seine Tür noch einmal geöffnet. Sich halb hinauslehnend sah er den Arzt an.

»Sie werden’s net verstehen, ­Adrian«, sagte er. »Am besten fahren S’ wieder nach Hause.«

Max gab Gas und brauste los. Toni Wiesinger folgte ihm mit gleicher Geschwindigkeit. Während der Fahrt hielten der Bergpfarrer und der Arzt über ihre Handys Kontakt.

»Wir dürfen net zu weit fahren«, ermahnte Sebastian seinen Bruder. »Sonst verpassen wir ihn noch. Der Bub ist zu Fuß unterwegs, da kann er net so schnell.«

Max verringerte das Tempo. Auf der Rückbank saßen Alexandra und Peter. Sie hielten sich an den Händen.

»War er das?« fragte Martins Vater.

Sie nickte. »Ich hab’ keine Ahnung, wie er herausgefunden hat, daß ich hier bin, und schon gar net weiß ich, was er will.«

»Ich schon«, antwortete Peter. »Dich zurück haben.«

Sie sah ihn an und schüttelte den Kopf.

»Das hätt’ er sich eher überlegen müssen«, erwiderte Alexandra. »Viel eher. Jetzt ist es zu spät.«

Sie drückte seine Hand.

»Laß uns Martin finden«, sagte sie, »und dann sprechen wir über alles andere.«

»Was der Bub sich bloß dabei gedacht hat!« schimpfte er leise.

Sebastian hatte sich umgedreht.

»An Sie hat er gedacht, Peter«, sagte er. »Sie haben den Brief doch gelesen.«

Der Mann auf der Rückbank fuhr sich über das Gesicht.

»Hoffentlich passiert ihm nichts!«

Im selben Moment blitzte und donnerte es noch ärger, und heftiger Regen setzte ein.

*

»Biene, komm, wir müssen uns unterstellen!«

Martin war schon pitschnaß, als er die alte Hütte erreichte. Gott sei Dank stand sie nahe genug an der Straße, daß er sie im Dunkeln hatte sehen können.

Der Bub warf sich gegen die Tür und trat ein.

»Puh, ist das kalt«, sagte er und klapperte mit den Zähnen.

Er hockte sich auf den Boden, und Biene drängte sich an ihn. Sie schien instinktiv zu spüren, daß er fror. Martin kuschelte sich in das Fell und schloß die Augen. Mitt­lerweile fand er die Idee, einfach fortzulaufen, gar nicht mehr so gut. Er sehnte sich nach der warmen Pension und seinem gemütlichen Bett.

Draußen prasselte der Regen auf das Dach der Hütte, das zum Glück keine Löcher hatte. Allmählich schlief der Bub ein, und Biene schnarchte bald darauf neben ihm.

Zur selben Zeit fuhren die beiden Autos an der Hütte vorbei. Schon zweimal waren die beiden Fahrer umgekehrt und zurückgefahren, ohne eine Spur von den Verschwundenen zu finden. Jetzt kurvten sie unschlüssig die Straße auf und ab.

»Es ist zu weit«, sagte Sebastian. »Der Bub kann diese Strecke noch net gelaufen sein.«

Sie hielten an und beratschlagten sich.

»Bestimmt hat er sich irgendwo verkrochen, um das Unwetter abzuwarten«, meinte Dr. Wiesinger der in seinem Wagen hinter ihnen saß.

»Fragt sich nur, wo?« sagte Max.

Sebastian schlug sich vor die Stirn.

»Die Hütte!« rief er. »Martin wird sie entdeckt haben. Los, Max, zurück!«

Der Bruder des Bergpfarrers wendete den Wagen, der Arzt folgte seinem Beispiel. Nach wenigen Minuten hatten sie ihr Ziel erreicht.

Peter hatte schon die Tür geöffnet, bevor das Polizeiauto hielt und sprang raus.

»Martin!« rief er. »Wo bist du? Martin, antworte!«

Die Männer und Alexandra blieben lauschend stehen.

Außer dem Rauschen des Regens war nichts zu hören.

»Doch, Moment«, sagte Sebastian. »Ich glaub’, ich hör’ die Biene. Kommt, wir sind richtig.«

Sie bahnten sich einen Weg durch die Äste und Büsche zur Hütte. Als sie davor standen, vernahmen sie das Winseln.

Max hatte seinen Handscheinwerfer eingeschaltet, damit sie nicht über verborgene Baumwurzeln stürzten oder aus Versehen in Fuchslöcher traten. Jetzt öffnete er die Tür und leuchtete in die Hütte hinein.

Die Hündin lag auf dem Boden und schaute ihnen schwanzwedelnd entgegen. Martin hatte sich an sie gekuschelt und schlief.

»Gott sei Dank!« entfuhr es Peter Reinicke.

Er hockte sich neben seinen Sohn und weckte ihn behutsam. Martin schlug die Augen auf und sah verwundert auf die vielen Leute.

Dann schien er zu begreifen, was eigentlich los war, und er schluckte in Erwartung des kommenden Donnerwetters.

Peter nahm ihn in seine Arme und preßte ihn an sich.

»Bub, was machst du denn für Sachen?« sagte er.

Martin schluchzte.

»Es tut mir leid, Papa«, antwortete er. »Aber ich hab’ gedacht, es wär’ am besten, wenn ich fortgehe. Du sollst net mehr allein bleiben, und mich… mich will doch niemand…«

»Ach, du Dummkopf«, sagte Peter kopfschüttelnd. »Glaubst du wirklich, ich würd’ auf dich verzichten, nur um eine Frau zu bekommen?«

Er überschüttete das Gesicht seines Sohnes mit Küssen.

»Du, Martin, du bist für mich das Wichtigste auf der Welt!« versicherte er. »Was sollte ich denn ohne dich anfangen?«

Alexandra lehnte in der Tür, Tränen der Rührung rannen ihr über das Gesicht. Endlich ließ sie sich zu ihnen nieder und strich dem Bub zärtlich über das Gesicht.

»Dein Papa ist net allein«, sagte sie. »Er hat dich, Martin, und wenn ihr beide immer noch wollt, dann gehör’ ich ab jetzt zu euch.«

»Wirklich?«

Er schaute sie mit leuchtenden Augen an.

»Ja«, nickte sie. »Ich möcht’ deinen Vater heiraten und ihm eine gute Frau sein, genauso, wie ich dir eine gute Mutter sein will.«

Peter und sie schauten sich an.

»Wenn du mich noch willst…«, sagte sie leise.

»Natürlich will ich«, flüsterte er mit rauher Stimme. »Mit dir können all meine Träume wahr werden, Alexandra.«

»Ich möcht’ ja net stören«, mischte sich Dr. Wiesinger ein. »Aber erstmal würd’ ich gern’ schauen, ob der Martin seinen Ausflug gut überstanden hat.«

Er hatte eine Decke in den Händen, die er um den Bub legte, dann untersuchte er ihn.

Alexandra und Peter waren derweil vor die Hütte getreten. Sie schauten sich stumm an, und es machte überhaupt nichts, daß der Regen auf sie fiel, und sie pitschnaß wurden. Eng hielten sie sich umschlungen, als ihre Lippen sich trafen, und es war der süßeste Kuß, den es jemals für sie gegeben hatte.

»So, da ist der Bub«, sagte der Arzt. »Ein bissel kühl ist ihm, aber sonst ist er gesund.«

Sie nahmen Martin in ihre Arme und schauten sich glücklich an. Jetzt waren sie eine Familie, und sie würden immer füreinander da sein.

Der Bergpfarrer Staffel 15 – Heimatroman

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