Читать книгу Der Bergpfarrer Staffel 18 – Heimatroman - Toni Waidacher - Страница 6
Оглавление»Na, Frau Kollegin, was fangen wir denn an in den Ferien?« fragte Heinz Schiller, während er neben Babette Mertens den Schulflur entlangging.
Die junge Lehrerin zuckte die Schultern.
»Was Sie anfangen, Herr Kollege, weiß ich nicht«, erwiderte sie. »Ich für mein Teil fahre für vierzehn Tage in die Berge.«
»Aha. Und darf man fragen, wohin?«
Babette lächelte. Heinz Schiller unterrichtete in dem Klassenraum, der ihrem gegenüber lag. Seit sie gleichzeitig auf den Flur getreten waren, hatte sie gewußt, daß er diese Frage stellen würde.
»Nach St. Johann, einem hübschen, kleinen Ort nicht weit von der österreichischen Grenze und ganz in der Nähe von Garmisch Partenkirchen.«
Neben ihnen liefen lärmend ein paar Buben und Madln. Der ältere Lehrer ermahnte die Kinder, auf dem Flur nicht zu rennen, ehe er nickte.
»Ja, das soll ja ganz nett sein«, sagte er. »Aber für uns ist das nichts. Wissen Sie, meine Frau und ich, wir fahren immer an die See. Wegen der guten Luft da oben. Letztes Jahr waren wir an der Nordsee, diesmal geht’s auf die Insel Rügen. Ach, ich freue mich schon, die berühmten Klippen, die der Maler Caspar David Friedrich gemalt hat, und dann die schöne Insel Hiddensee, die ja ganz unter Naturschutz steht. Herrlich!«
Sie waren vor dem Lehrerzimmer angekommen, und Heinz Schiller hielt ihr galant die Tür auf.
Babette bedankte sich.
»In den Bergen ist die Luft auch sehr gut«, bemerkte sie, »und Naturschutz gibt es dort auch. Denken Sie nur an die vielen Pflanzen und Tiere, die vom Aussterben bedroht sind. Sie werden dort gehegt und gepflegt.«
»Natürlich, natürlich«, gab der Kollege ihr recht. »Und doch ist es was ganz anderes, an der See zu sein.«
»Ja, ja, so hat jeder seine Vorlieben«, mischte sich Hanne Ankelmann in das Gespräch ein.
Sie hakte Babette unter und zog sie mit sich. »Na, hat er dir wieder von der See vorgeschwärmt?« fragte sie augenzwinkernd. »Ist ja ein netter Kollege, der Schiller, aber manchmal kann er einem auch ganz schön auf die Nerven gehen mit seinem Gerede. Fehlte bloß noch, daß er die Urlaubsbilder vom letzten Jahr mitgebracht hätte, um sie uns noch zu zeigen. Damit wir auch ja wissen, was uns entgeht.«
»Die zeigt er uns nach den Ferien«, schmunzelte Babette. »Aber sag mal, was machst du in den Ferien?«
Hanne verzog das Gesicht.
»Wir bleiben wohl zu Hause«, antwortete sie mißmutig. »Rainer hat sich vorgenommen, das Haus zu renovieren. Da bleibt für einen Urlaub nichts mehr übrig. Mal sehen, ich werde versuchen, mit den Kindern was zu unternehmen.«
Sie seufzte leise.
»So schön ist es, verheiratet zu sein und eine Familie zu haben«, setzte sie hinzu, »wenn das Geld trotz zweier Gehälter hinten und vorne nicht reicht, dann denkt man schon manchmal, ob es nicht besser gewesen wäre, darauf zu verzichten.«
»Ach, Hanne«, schüttelte Babette den Kopf, während sie einige Papiere in ihre Tasche räumte, »das kann ich mir bei dir gar nicht vorstellen. Du bist doch ein Familienmensch, durch und durch.«
»Ganz im Gegenteil zu dir, was? Oder wie kommt es, daß du immer noch nicht in festen Händen bist?«
Darauf hätte die junge Lehrerin einiges erwidern können. Aber sie zog es vor, die Schultern zu zucken.
»Hat sich eben bisher nicht ergeben«, antwortete sie. »Aber wer weiß? Vielleicht lerne ich ja in den Ferien einen feschen Burschen kennen…«
Den letzten Satz hatte sie mit einem Lächeln gesagt.
»Dann wünsche ich dir viel Erfolg«, lachte Hanne.
Babette nahm ihre Tasche und verließ das Lehrerzimmer.
»Schöne Ferien«, rief sie noch, ehe sie aus der Tür ging.
»Gleichfalls«, kam es aus allen Ecken zurück.
In ihrer Wohnung stellte sie die Tasche unter den Schreibtisch. Ein Arbeitszimmer gab es nicht, aber Babette hatte sich in der großen Wohnstube eine Ecke eingerichtet, in der Tisch, Stuhl und Regal standen.
Erst in vier Wochen würde sie hier wieder sitzen, bis dahin war der Arbeitsplatz tabu!
Indes gab es noch einiges zu tun, wenn sie morgen früh pünktlich abreisen wollte. Auf dem Bett lagen die Sachen bereit, die in den Koffer gepackt werden mußten, außerdem lag auf dem Küchentisch eine Liste mit Dingen, die Babette noch besorgen wollte. Bei der Gelegenheit wollte sie gleich an die Tankstelle fahren, volltanken und das Auto waschen, bei der Bank vorbeischauen und ein paar dringende Überweisungen tätigen, und schließlich, wenn das alles erledigt war, nach Nürnberg hineinfahren und einen Bummel durch die Stadt machen.
Pünktlich um fünf war sie mit Karin verabredet, um in einem kleinen Café mit der Freundin die Ferien einzuläuten.
Rasch zog sie sich um. Die Bemerkung ihrer Kollegin Hanne fiel ihr wieder ein, während sie sich im Spiegel betrachtete.
Babette Mertens war vierundzwanzig Jahre alt. Sie hatte eine ansprechende Figur und ein hübsches Gesicht mit einem dunklen Augenpaar darin. Wenn sie lächelte, bildeten sich zwei Grübchen in den Mundwinkeln. Alles in allem eine attraktive, junge Frau, der die Männer nachschauten, wenn sie vorüberging.
»Ja, warum bist du eigentlich noch nicht in festen Händen?« murmelte sie und starrte ihr Spiegelbild an.
So spaßig ihre Antwort im Lehrerzimmer auch gemeint war, Babette wußte, warum sie bisher nicht den Mann fürs Leben gefunden hatte.
Niemand, dem sie bis jetzt begegnet war, hatte die Saite in ihr zum Klingen bringen können, die ihr signalisierte, daß es der Richtige sei. Mehr, als ein paar oberflächliche Freundschaften hatte sie nicht gehabt, und als sie das einzige Mal drauf und dran war, sich ernsthaft zu verlieben, da merkte sie noch rechtzeitig, daß der Schuft verheiratet war und nur ein Abenteuer suchte:
»Egal«, murmelte sie. »Irgendwann wird mir schon einer über den Weg laufen.«
*
»Grüß Gott, Herr Unger«, Ria Stubler lächelte den jungen Mann an. »Haben S’ sich schon ein bissel umgeschaut?«
»Ja, Frau Stubler, und ich muß sagen, ich bereue nicht, hergekommen zu sein«, antwortete er. »Es ist ja wunderschön hier! Dabei habe ich erst einen kleinen Spaziergang durch den Ort gemacht. Ich bin gespannt, was ich noch alles entdecken werde.«
»Also, auf gar keinen Fall dürfen S’ versäumen, die Kirche anzuschauen«, riet die Wirtin der gleichnamigen Pension. »Und dann das alte Jagdschloß im Ainringer Wald. Außerdem gibt’s da noch…«
Ria zählte noch eine ganze Reihe von Sehenswürdigkeiten auf, die ihrer Meinung nach einen Besuch wert waren. Regelrecht ins Schwärmen geriet sie, während sie über die Schönheiten ihrer Heimat redete.
»Ich seh schon«, lachte Florian, »an Ihnen ist eine Tourismusmanagerin verlorengegangen.«
Er ließ sich seinen Schlüssel geben und ging in sein Zimmer hinauf, das im ersten Stock lag. Florian hatte kaum die Tür geschlossen, als sein Handy klingelte.
»Hallo, Mama«, sagte er, nachdem er das Gespräch angenommen hatte. »Du, entschuldige, ich wollte mich gleich melden, nachdem ich angekommen war, aber irgendwie hatte ich grad keinen Empfang.«
»Na, jetzt sprechen wir uns ja«, sagte seine Mutter. »Und wie ist es dort in St. Johann?«
»Herrlich. Ich bin froh, daß ich nicht nach Spanien geflogen bin. Hier scheint die Sonne genauso, und ich werde bestimmt genauso braun, als wenn ich irgendwo am Strand liege, eingequetscht zwischen tausend anderen Urlaubern, wie eine Ölsardine in der Dose.«
»Das freut mich, mein Junge, daß es dir dort so gut gefällt. Hast du dir denn schon was ausgedacht, was du unternehmen willst?«
»Mal sehen. Ich bin ja erst seit einer Stunde hier. Aber einen ersten Spaziergang habe ich schon gemacht. Heute nachmittag schaue ich mir die Kirche an. Die Frau Stubler, das ist die Wirtin, hat sie mir wärmstens empfohlen. Und dann muß ich sehen, daß ich mich noch einer Wandergruppe anschließen kann. Sonst habe ich eine Ausrüstung ganz umsonst mitgenommen.«
»Dann wünsche ich dir viel Glück dabei. Und melde dich bei Gelegenheit wieder.«
»Mach ich, Mama«, versprach Florian und beendete das Gespräch, nachdem er seinen Vater noch gegrüßt hatte.
Dann machte er sich daran, seinen Koffer und die Reisetasche auszupacken. Letztere enthielt seine Wanderausrüstung; Jacke, Hose, derbe Schuhe und einen Hut. Florian hatte das alles erst gekauft, bevor er aus Erlangen abgefahren war. Der Entschluß, in diesem Jahr mal nicht in den Süden zu fahren, war ganz spontan gekommen. Eigentlich wäre er jetzt mit einigen Freunden auf dem Weg nach Mallorca gewesen. Die Kumpels hatten gar nicht verstehen können, warum Florian seine Meinung so plötzlich geändert hatte.
»Ach, immer dieser ewig volle Strand.« Er hatte den Kopf geschüttelt, als sie ihn doch noch zu überreden versuchten. »Außerdem ist es in Deutschland doch auch sehr schön.«
»Aber die Frauen…«, hatte Tim vielsagend gegrinst.
Die Bemerkung entlockte Florian nur ein müdes Achselzucken.
»Die gibt’s doch überall«, erwiderte er und hielt an seinem Vorsatz fest.
Abgesehen davon, daß er wirklich keine Lust auf volle Strände und durchfeierte Nächte hatte, gab es noch einen anderen Grund für seinen Entschluß, den Urlaub alleine zu verbringen, und der hieß Evelyn Kramer. Über ein Jahr waren sie ein Paar gewesen, bis die hübsche Kollegin ihm den Laufpaß gab. Für Florian völlig überraschend, denn er hatte nicht geahnt, daß Evelyn sich in einen anderen Mann verliebt hatte. Bis jetzt war er nicht über diese Enttäuschung hinweggekommen, und jedesmal, wenn er an sie dachte, tat ihm das Herz noch weh.
Leider dachte er nicht nur sehr oft an sie –, sie liefen sich auch jeden Tag in der Firma über den Weg, was die Sache nicht einfacher machte.
Nachdem die Sachen im Kleiderschrank verstaut waren, trat er auf den umlaufenden Balkon hinaus und sog tief die herrlich klare Luft ein. Ein Duft aus würzigen Kräutern und Blumen lag darin. Wie zum Greifen nahe standen die Berge da und lockten ihn mit ihren schneebedeckten Gipfeln. Florian hatte noch nie eine Bergtour gemacht, aber schon oft hatte es ihn gereizt. In diesem Jahr sollte es endlich soweit sein.
Er ging wieder hinein und schloß die Balkontür. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß es bereits früher Nachmittag war. Seit er am Morgen von zu Hause losgefahren war, hatte er nichts mehr gegessen und verspürte ein leichtes Hungergefühl. Aber bevor er essen ging, wollte er zur Touristeninformation und sich wegen eines Bergführers erkundigen.
Wenn er Pech hatte, waren bereits alle ausgebucht, und dann war es nichts mit einer Tour.
Florian hatte sein Zimmer gerade abgeschlossen, als er auf der Treppe Stimmen vernahm. Die eine gehörte Ria Stubler, wie er an ihrem Dialekt feststellte, die andere einer Frau.
Im nächsten Moment hatten sie den Treppenabsatz erreicht.
»So, da wären wir auch schon«, sagte die Wirtin und blieb vor der Tür zum Nachbarzimmer stehen.
Florian nickte ihnen zu und murmelte einen Gruß. »Schönen Nachmittag, Herr Unger«, wünschte Ria und schloß auf.
Die andere Frau hatte den Kopf gewandt, und ihre Blicke begegneten sich. Für einen Moment hatte Florian das Gefühl, ein Blitz durchfahre ihn. Er konnte nicht anders und mußte sie weiter ansehen, auch wenn er selbst merkte, daß das ungehörig war.
Ria Stubler hatte die Tür geöffnet und ließ der jungen Frau den Vortritt. Die drehte noch einmal den Kopf, ehe sie das Zimmer betrat.
Florian war sicher, daß sie gelächelt hatte, als sie ihn ansah…
*
Babette war am Morgen schlecht aus dem Bett gekommen. Der Nachmittag mit Karin hatte sich bis in den Abend hineingezogen, und als dann schließlich noch eine weitere Freundin auftauchte, war klar, daß es sehr spät werden würde.
Genauer gesagt war es zwei Uhr in der Frühe, als Babette endlich zu Hause in ihrem Bett lag. Da sie vergessen hatte, den Wecker zu stellen, stand sie erst kurz nach neun auf, duschte rasch und machte sich hastig ein kleines Frühstück. Wohnungs- und Briefkastenschlüssel wurden bei der Nachbarin abgegeben, die eine gute Fahrt und schönen Urlaub wünschte, und dann ging es los. Da Allersberg direkt an der Autobahn liegt, war sie schnell auf der A3 und dann auf der A9, die direkt nach Süden führt. Schon bald fuhr Babette an Ingoldstadt vorbei und erreichte gegen Mittag München. Sie umfuhr die bayerische Landeshauptstadt und wechselte auf die Autobahn 95, die die Lehrerin erst wieder verließ, bevor sie ohnehin kurz vor Garmisch Partenkirchen endete.
Es war kurz nach drei, als sie dann in St. Johann ankam.
Die Straße, in der sich die Pension befand, war schnell gefunden, und Babette freute sich über die herzliche Begrüßung durch die Wirtin. Jetzt stand sie in ihrem Zimmer und schaute sich um.
»Wunderschön, Frau Stubler«, sagte sie ehrlich begeistert.
»Das freut mich«, lächelte Ria. »Frühstücken können S’ ab sieben Uhr, außer Sie wollen eine Bergtour unternehmen. Dann müßten S’ mir am Abend vorher Bescheid sagen, damit ich Ihnen was für den nächsten Morgen herrichten und bereitstellen kann.«
»Na ja«, sagte Babette Mertens skeptisch, »eine Bergtour kommt für mich wohl nicht in Frage.«
»Sagen S’ das net.« Die Wirtin schüttelte den Kopf. »Schon so mancher, der vorher net die Absicht hatte, ist dann doch noch von anderen überzeugt worden. Und wenn S’ mich fragen, so ein Aufstieg in den frühen Morgenstunden ist was ganz besonders Schönes. Aber freilich müssen S’ das selbst entscheiden. Jetzt richten S’ sich erstmal ein und schau’n sich ein bissel um.«
Sie deutete auf den kleinen Tisch am Fenster.
»Da finden S’ ein paar Prospekte mit allerlei nützlichen Hinweisen«, setzte sie hinzu, ehe sie das Zimmer verließ.
Babette bedankte sich und schloß die Tür hinter ihr. Dann ging sie ans Fenster und schaute hinaus. Die Pension befand sich in einer ruhigen Seitenstraße, außerdem ging das Zimmer nach hinten, zum Garten hinaus. Es bestand also keine Gefahr, nachts durch Autolärm geweckt zu werden. Ohnehin schien in St. Johann nicht viel Verkehr zu herrschen, wie Babette festgestellt hatte, als sie durch das Dorf gefahren war.
Sie packte ihren Koffer aus und hängte die Sachen in den Kleiderschrank. Eigentlich viel zuviel für vierzehn Tage, wie sie schmunzelnd feststellte. Aber in den Bergen wußte man ja auch nicht unbedingt, wie das Wetter würde. Wenn es plötzlich umschlug, konnte es in den leichten Sommersachen schnell zu kühl werden. Babette hatte deshalb vorsorglich eine warme Jacke, zwei dicke Pullover und eine etwas festere Hose eingepackt.
Aber für eine Bergtour war das alles nicht geeignet. Allerdings hatte sie auch nicht vor, so etwas zu unternehmen.
Nachdem sie sich eingerichtet hatte, betrat sie das kleine Bad, wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser und bürstete das dunkle Haar durch. Draußen war es jedenfalls nicht zu kühl für das, was sie anhatte: ein schickes Top mit einem leichten Blazer kombiniert, dazu eine modische Jeans. Zufrieden mit ihrem Äußeren verließ Babette die Pension und unternahm einen ersten Spaziergang durch ihren Ferienort.
Während sie auspackte und sich zum Ausgehen fertig machte, hatte sie die ganze Zeit an den jungen Mann denken müssen, der wohl ebenfalls in der Pension wohnte.
Herr Unger, hatte die Wirtin ihn angesprochen. Babette erinnerte sich an den Blick, mit dem er sie angesehen hatte, und ihr war bewußt geworden, daß sie ihn genauso angestarrt hatte.
Ein ziemlich gut aussehender Mann!
Ob er alleine war, so wie sie? Oder gab es da jemanden?
Wenn er das Zimmer neben ihr bewohnte, dann schied die Möglichkeit aus, daß er in Begleitung war, denn im ersten Stock befanden sich ausschließlich Einzelzimmer, wie die Frau Stubler erklärt hatte, als sie die Treppe hinaufgegangen waren.
Allerdings mußte das ja noch lange nicht heißen, daß er tatsächlich hier alleine im Urlaub war…
Babette merkte plötzlich, wie intensiv sie sich mit dieser Frage auseinandersetzte. Sie war regelrecht erschrocken, als sie sich fragte, wie er wohl mit Vornamen heißen mochte.
»Also, jetzt denk’ mal an was anderes«, murmelte sie vor sich hin, während sie die Straße überquerte, nachdem sie auf der anderen Seite den Eingang zum Biergarten des Hotels entdeckt hatte.
Aber es gelang ihr nur schlecht, den Gedanken an den Zimmernachbarn zur Seite zu schieben. Immer wieder sah sie dieses markante Gesicht mit den ausdrucksvollen Augen darin.
Auch nachdem der Kaffee und ein Stück Käsekuchen serviert waren, konnte sie ihn nicht aus ihren Gedanken verbannen, und in beängstigender Weise nahm dieser Herr Unger immer mehr Ruhe in ihrem Denken ein.
Auf ihrem Spaziergang durch das Dorf hatte Babette – bewußt oder unbewußt – immer wieder Ausschau nach ihm gehalten. Selbst als sie in dem kleinen Geschäft stand, in dem es neben Zeitschriften und Tabakwaren auch Ansichtskarten zu kaufen gab, sah sie ständig aus dem Schaufenster, ob er vielleicht gerade vorüberging.
Endlich rief sie sich energisch zur Ordnung. Der Kuchen war gegessen, die zweite Tasse aus dem Kaffeekännchen eingeschenkt, und sie wollte sich daranmachen, die Karten zu schreiben. Doch schon bei der ersten fiel ihr nichts rechtes ein, und sie steckte Karten und Stift in ihre Handtasche zurück.
Die Kaffeetasse in der Hand saß sie auf ihrem Stuhl, schaute zu den andern Tischen und erstarrte plötzlich, als sie ihn sah.
Ganz hinten in der anderen Ecke saß Herr Unger und blickte sie an.
*
»Es tut mir wirklich leid«, hatte die freundliche Dame in der Touristeninformation bedauert, »aber da hätten S’ sich schon viel eher anmelden müssen. Unsere Bergführer sind seit Wochen ausgebucht. Die meisten Urlauber melden sich gleich an, wenn sie ihre Reise buchen.«
»Ich habe mir schon beinahe so was gedacht.« Florian nickte. »Aber es war halt ein Versuch. Trotzdem vielen Dank für die Auskunft.«
Er hatte den Raum verlassen und war wieder auf die Straße getreten. So wie es aussah, würde er nun wohl auf eine große Bergtour verzichten und statt dessen eine kleine Route wählen müssen, die er auch alleine gehen konnte. Davon gab es auch zahlreiche, aber dann würde er natürlich nicht bis zu den Almen aufsteigen können, die oft in über tausend Metern Höhe lagen und sogar noch weiter oben.
Florian Unger beschloß, sich über diesen Mißerfolg nicht weiter zu ärgern, und erst einmal die Kirche zu besichtigen, wie Ria Stubler ihm geraten hatte.
Bei dem Gedanken an die Wirtin fiel ihm auch die junge Frau wieder ein, die vor wenigen Minuten ihr Zimmer bezogen hatte. Florian war von ihrem Anblick hin und weg gewesen, und auch jetzt pochte sein Herz schneller, als er an die unbekannte Schöne dachte. Er erinnerte sich an ihre dunklen Augen, die ihn sofort fasziniert hatten.
Himmel, was für eine Frau!
Für kurze Zeit war jeder Gedanke an Evelyn Kramer tatsächlich verschwunden…
Beschwingt ging er den Kiesweg hinauf und öffnete die Kirchentür. Im Vorraum blieb er einen Moment stehen und ließ den Anblick auf sich wirken.
Er war überwältigend!
Leider war er nicht alleine, vor dem Altar stand eine Gruppe von Urlaubern, die sich von einem Fremdenführer die Geschichte des Gotteshauses erklären ließen. Fotoapparate klickten, und Blitzlichter zuckten über die teilweise vergoldeten Heiligenfiguren und bunten Kirchenfenster. Ein paar vereinzelte Touristen gingen herum, andere saßen in den Bänken und suchten wohl einen Augenblick der Besinnung.
Florian wartete, bis die meisten Besucher gegangen waren, bevor er das Kirchenschiff betrat. Langsam ging er umher und schaute sich aufmerksam um. Es war wirklich ein grandioser Anblick, der sich ihm bot. Oft ging er in Kirchen, wenn er irgendwo im Urlaub war, und besichtigte sie. Er konnte sagen, daß das Gotteshaus von St. Johann eines der schönsten war, das er je gesehen hatte.
Ganz besonders interessierte ihn ein großes Bild, das unter der Galerie hing. Es war das Porträt des Heilands und hieß ›Gethsemane‹, wie ein kleines Schild daneben erklärte. Florian wußte um dieses Kapitel aus der Bibel, in dem Jesus am Abend vor der Kreuzigung im Garten Gethsemane allein wandelte und betete. Dem unbekannten Künstler war es meisterhaft gelungen, das Wissen um die Unabänderlichkeit seines Schicksals im Gesichtsausdruck des Erlösers wiederzugeben.
Lange stand der junge Bursche vor dem Bild und betrachtete es. Inzwischen war es ganz still geworden, und Florian bemerkte erst jetzt, als er den Kopf wendete, daß er ganz allein in der Kirche war.
Aber so ganz allein wohl doch nicht, denn aus dem Raum neben dem Bildnis drangen Geräusche. Es war die Sakristei, wie er feststellte, als die Tür geöffnet wurde, und ein Mann heraustrat und ihn mit einem freundlichen Kopfnicken begrüßte.
Florian staunte. Der Mann war groß und schlank. Er hatte eine durchtrainierte Figur und ein markantes Gesicht, dessen leichte Bräunung darauf schließen ließ, daß der Mann sich häufig im Freien aufhielt. Im ersten Moment hätte Florian ihn beinahe mit einem Schauspieler verwechselt, wären da nicht der Priesterkragen und das kleine Kreuz gewesen, das der Priester am Revers trug.
»Grüß Gott«, sprach der Mann ihn an. »Ich bin Pfarrer Trenker. Schön, daß Sie sich die Zeit nehmen, sich ein bissel umzuschauen.«
»Florian Unger«, stellte er sich vor. »Sie haben wirklich eine wunderschöne Kirche. Ich habe schon einige besichtigt und weiß, wovon ich spreche.«
Der Bergpfarrer schmunzelte.
»Das glaub’ ich Ihnen gern«, erwiderte er und deutete auf eine Madonnenfigur, die auf einem Holzsockel stand. »Haben S’ denn auch schon unser Prachtstück bewundert?«
»Aufgefallen ist sie mir schon.« Florian nickte, während sie nähertraten. »Ein herrliches Stück!«
»Ja, wir sind sehr froh, diese Madonna zu haben. Viele Leute kommen nur ihretwegen her, um sie zu bewundern und zu fotografieren.«
»In ihrer Schönheit ist sie irgendwie – einmalig.«
»Das seh ich genauso. Leider wissen wir net, wer sie geschnitzt hat, nur, daß sie schon einige hundert Jahre alt ist.«
»Dann ist sie doch bestimmt auch sehr wertvoll. Haben Sie keine Angst, daß sie gestohlen werden könnte?«
Sebastian schüttelte den Kopf.
»Jetzt net mehr.«
Er erzählte dem staunenden Zuhörer, daß die Mutter Gottes tatsächlich mal Opfer eines dreisten Kirchenraubes gewesen war. Glücklicherweise war es ihm und seinem Bruder seinerzeit gelungen, die Diebe zu überführen und die Figur wohlbehalten nach St. Johann zurückzubringen.
»Seither ist sie durch eine Alarmanlage geschützt«, erklärte der Bergführer.
Er schaute den jungen Mann an, der einen sympathischen Eindruck auf ihn machte. Sebastian freute sich ohnehin immer, wenn es gerade junge Leute waren, die sich für die Kirche interessierten.
»Sie machen Urlaub hier, nehm ich an?«
Florian nickte.
»Ja, heute grad erst angekommen«, antwortete er. »Ich wohn’ in der Pension Stubler.«
»Ach, bei der Ria. Dann sind S’ ja bestens aufgehoben«, sagte der Geistliche. »Und was haben S’ sich so vorgenommen?«
Florian zuckte die Schultern.
»Mal sehen, es gibt ja viele Möglichkeiten hier. Eigentlich wollte ich eine Bergtour machen, nur leider ist genau das eingetreten, was ich schon befürchtet habe. Ich hätte mich schon zu Hause dafür anmelden müssen, die Bergführer sind alle ausgebucht.«
»Ja, grad in der Saison haben sie viel zu tun. Da muß es schon ein großer Zufall sein, wenn doch noch ein Platz in einer Gruppe frei wird. Aber vielleicht gibt’s ja doch noch eine Möglichkeit zum Aufsteigen…«
»Wieso?« fragte Florian überrascht. »Kennen Sie vielleicht jemanden, der mich noch mitnehmen könnte?«
Der Geistliche nickte.
»Ja, ich«, lächelte er. »Wenn S’ sich mir anvertrauen wollen, dann sind S’ jederzeit herzlich eingeladen, mitzugehn.«
»Das wäre ja toll«, strahlte der Bursche. »Wissen Sie, ich habe schon gedacht, ich müßte mich mit kleinen Wanderungen begnügen, die man auch allein bewältigen kann. Aber so –, das ist ja ganz was anderes.«
»Dann würd’ ich vorschlagen, daß Sie morgen am Nachmittag ins Pfarrhaus kommen und wir alles weitere bereden. Paßt’s so gegen halb vier?«
»Ja, freilich. Vielen Dank.« Florian nickte hastig, als hätte er Angst, Pfarrer Trenker könne sich sein Angebot noch einmal überlegen.
»Na, wunderbar«, sagte Sebastian. »Meine Haushälterin hat auch ein schönes Stück Kuchen parat.«
Florian konnte sein Glück kaum fassen, als er die Kirche verließ und wieder zur Straße hinunter ging.
Mensch, so ein Dusel!
Gutgelaunt strebte er dem Hotel zu. Kaffee und Kuchen im Garten unter hohen Bäumen einzunehmen war verlockend, und mit dieser guten Aussicht auf eine richtige Bergtour stellte sich auch das dazugehörige Urlaubsgefühl ein. Florian betrat den Biergarten von der Straßenseite aus und suchte nach einem freien Tisch. Er fand ihn in einer Ecke. Nebenan lärmten zwar ein paar Kinder, weil sie mit ihrer Eisportion nicht zufrieden waren, die genervten Eltern aber keine weitere bestellen wollten, doch das störte ihn nicht. Ganz im Gegenteil. Florian mochte Kinder und wollte selbst einmal viele haben, wenn ihm erst einmal die richtige Frau über den Weg gelaufen war. Er zwinkerte den beiden Buben und dem niedlichen Madl zu und lächelte, als einer der Burschen ihm die Zunge rausstreckte.
Glücklicherweise hatte das weder Vater noch Mutter gesehen, sonst hätte es bestimmt ein Donnerwetter gegeben!
Die Eltern bezahlten, als die Bedienung an den Tisch kam und nach Florians Wünschen fragte. Er bestellte Kaffee und ein Stück Apfelkuchen. Beides wurde schnell gebracht, und Florian genoß den ersten Schluck.
Nachdem die Familie gegangen war, hatte er freie Sicht auf die andere Seite und sah ›sie‹ dort sitzen!
*
Für Sekunden schienen ihre Blicke miteinander zu verschmelzen. Babette fühlte, wie ihr das Herz bis zum Hals hinaufschlug. Es war ihr unmöglich, den Kopf zu wenden und woanders hinzuschauen. Endlich riß sie sich los und spielte gedankenverloren mit ihrer Tasse, die sie zwischen den zitternden Fingern hielt, während ihr die unsinnigsten Gedanken durch den Kopf gingen.
Florian saß wie versteinert auf seinem Stuhl. Immer noch nahm er das Bild in sich auf. Die hübsche, junge Frau hatte ihn schon fasziniert, als sie sich in der Pension begegnet waren, und jetzt meinte er, daß es ein Wink des Schicksals sein müsse, daß sie sich hier begegnet waren. Es war nicht der übliche Blick gewesen, den man jemandem zuwarf, der einem zufällig über den Weg lief. In ihren Augen glaubte er etwas anderes gesehen zu haben.
Und dann tat er etwas, was er sich sonst nie getraut hätte. Florian stand auf und ging zu ihrem Tisch. Er wußte, daß er sich verliebt hatte.
Auf den ersten Blick!
Und das trotz der Tatsache, daß die Trennung von Evelyn ihn immer noch beschäftigte und quälte.
»Grüß Gott«, sagte er und lächelte etwas verlegen. »Ich glaube, Sie wohnen auch in der Pension Stubler…?«
Babette war zusammengezuckt, als sie sah, wie er sich erhob und herüberkam. Jetzt nickte sie stumm.
»Florian Unger«, stellte er sich vor. »Darf ich mich zu Ihnen setzen?«
»Ja, bitte schön«, antwortete sie. »Babette Mertens.«
Er ahnte nicht, daß er dasselbe gedacht hatte wie sie.
War sie alleine im Urlaub?
Vermutlich, denn sonst würde sie nicht in einem Einzelzimmer wohnen…
»Tja, es ist schön hier, nicht wahr?«
»Doch«, nickte sie. »Ich habe zwar noch net viel gesehen, aber der Ort gefällt mir sehr gut.«
»Darf ich fragen, woher Sie kommen?«
»Ich wohne in Altdorf«, antwortete Babette. »Das ist in der Nähe von…«
»Ich weiß«, lächelte Florian. »In der Nähe von Nürnberg. Ich wohne in Erlangen.«
»Dann sind wir ja fast Nachbarn«, lachte sie.
»Ja, genauso wie jetzt in der Pension«, schmunzelte Florian. »Wir hätten praktisch eine Fahrgemeinschaft bilden können.«
»Die Zimmer sind doch sehr hübsch, nicht wahr? Und die Frau Stubler scheint eine sehr nette Wirtin zu sein.«
Er nickte.
»Wie kommt es, daß Sie in so einem kleinen Ort Urlaub machen?« erkundigte er sich dann.
»Ach, ich wollte einfach mal in die Berge«, antwortete Babette. »Vor allem ein wenig die Ruhe genießen. Für die großen Reiseziele habe ich nicht viel übrig.«
»Ich auch nicht«, gestand Florian. »Das heißt, eigentlich wollte ich mit ein paar Freunden nach Spanien fahren. Aber dort sind die Strände immer so überfüllt. Das macht gar keinen Spaß.«
Je länger sie sich unterhielten, um so deutlicher hatten sie das Gefühl, sich schon lange zu kennen. Florian erzählte, daß er im Labor einer Chemiefirma arbeitete, Babette sprach über ihren Beruf als Lehrerin und wieviel Freude es ihr bereitete, die Kinder auf das spätere Leben vorzubereiten und ihnen das nötige Rüstzeug mitzugeben. Als sie irgendwann auf die Uhr schauten, stellten sie überrascht fest, daß sie mehr als zwei Stunden miteinander verbracht hatten.
»Gott sei Dank hat man im Urlaub Zeit und muß sich nicht hetzen lassen«, sagte Florian.
Dann beugte er sich vor.
»Haben Sie schon Pläne für heute abend?« erkundigte er sich. »In der Pension gibt es ja nur Frühstück. Hätten Sie vielleicht Lust, mit mir zusammen ins Wirtshaus zu gehen?«
Was für eine Frage!
Babette hoffte, daß es nicht zu hastig gewirkt hatte, als sie ganz schnell nickte.
Und ob sie Lust dazu hatte!
Ihr Herz brannte ohnehin schon lichterloh.
Florian sah nicht nur unverschämt gut aus, er war auch ein charmanter Plauderer und hatte alles das, was einen Mann für eine Frau attraktiv machte.
Gemeinsam gingen sie zur Pension zurück. Ria Stubler stand an der Rezeption und telefonierte.
»Wie ich seh’, haben S’ sich schon miteinander bekannt gemacht«, sagte sie, als sie den Hörer aufgelegt hatte.
Dabei lächelte sie hintergründig.
»Ja, wir haben uns zufällig im Biergarten des Hotels getroffen«, nickte Florian.
»Waren Sie denn schon in der Kirche?« fragte die Wirtin.
»War ich«, erwiderte er. »Und stellen Sie sich vor, der Pfarrer Trenker hat mich zu einer Bergtour eingeladen!«
»Ach, haben S’ ihn kennengelernt? Das freut mich für Sie. Da erwartet Sie etwas ganz Besond’res. Unser Bergpfarrer kennt sich nämlich da droben bestens aus.«
»Bergpfarrer?« fragte Babette.
»Ja«, lachte Ria, »so nennen wir ihn, weil Hochwürden seit seiner Jugend immer wieder aufsteigt. Früher hat er sogar als Bergführer gearbeitet und sich damit sein Studium finanziert.«
»Er ist wirklich ein interessanter Mann«, sagte Florian. »Dabei schaut er gar net wie ein Pfarrer aus. Eher schon wie ein prominenter Sportler.«
Er blickte Babette fragend an.
»Hätten Sie nicht Lust, mitzukommen?«
»Ich?«
Sie schüttelte hastig den Kopf.
»Nein, das ist nichts für mich, glaube ich«, antwortete die Lehrerin.
Florian machte ein enttäuschtes Gesicht.
»Vielleicht ändern Sie ja noch Ihre Meinung.«
Sie lächelte.
»Vielen Dank für das Angebot, aber ich denke nicht.«
Gleichzeitig bereute sie ihre Ablehnung, als sie sein Gesicht sah.
»Aber auf jeden Fall sollen S’ sich auch die Kirche anschau’n«, sagte Ria Stubler schnell.
»Ja, das müssen Sie unbedingt«, pflichtete Florian der Wirtin bei. »Nach dem Abendessen?«
Jetzt strahlte er, als Babette zustimmend nickte.
»Dann treffen wir uns in einer Stunde«, fragte er.
»Ja, gerne.«
*
Im Wirtshaus war es nicht ganz so voll, wie man angesichts der vielen Touristen hätte annehmen können. Aber es gab auch noch das kleine Restaurant nebenan, das ebenfalls zum Hotel gehörte, und wahrscheinlich waren auch einige Urlauber in die Stadt gefahren, um in einem der vielen Spezialitätenlokale zu essen. Babette und Florian fanden jedenfalls schnell einen freien Tisch und wählten aus der umfangreichen Abendkarte.
»Ich esse gerne etwas aus der Region«, begründete Florian seine Wahl, das hausgemachte Schwammerlragout, zu dem Semmelknödel und Salat gereicht wurden.
Babette schloß sich dem an und bereute ihre Entscheidung nicht. Während sie auf das Essen warteten, wurde ihnen frisches Brot und Schmalz serviert, um die Wartezeit zu überbrücken.
Für Florian war es das erste Mal seit der Trennung von Evelyn, daß er wieder mit einer Frau ausging, und er genoß den Abend. Endlich war es wieder da, dieses unbeschreibliche Gefühl, das man hatte, wenn man verliebt war.
Und Babette Mertens? Fühlte sie ebenso?
Florian versuchte, in ihrem Gesicht zu lesen. Suchte nach Anzeichen, daß auch sie etwas für ihn empfand. Und manchmal glaubte er da etwas in ihrem Blick zu sehen, das ihm signalisierte. Ich mag dich!
Zum Essen tranken sie einen Schoppen Weißwein, der wunderbar zu dem Pilzgericht paßte.
Dabei unterhielten sie sich über den bevorstehenden Besuch in der Kirche.
»Ich will nicht zuviel verraten«, sagte Florian, »aber das mußt du unbedingt gesehen haben!«
Im selben Moment wurde er sich bewußt, daß er sie eben geduzt hatte.
»Entschuldigung«, sagte er rasch. »Das ist mir einfach so herausgerutscht.«
Babette lächelte.
»Schon gut«, erwiderte sie. »Das ist schon ganz in Ordnung.«
Erleichtert lächelte auch er.
»Dann sollten wir darauf anstoßen«, schlug Florian vor und hob sein Glas.
Es klirrte leise, als sie die Gläser aneinanderstießen.
»Also, Florian.«
»Babette«, erwiderte sie.
Als sie tranken, dachten beide daran, daß es jetzt eigentlich einen Brüderschaftskuß geben müßte, aber keiner wagte so recht, es anzusprechen…
»Wollen wir noch einen Schoppen bestellen?« erkundigte er sich.
»Lieber net.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich vertrag’ net soviel davon.«
»Dann könnten wir eigentlich zahlen und zur Kirche hinübergehen.«
»Ja, ich bin schon ganz gespannt.«
Als sie die Wirtsstube verlassen wollten, wurde die Tür aufgezogen und ein Mann trat ein.
»Oh, Pardon«, sagte er, als er gegen Babette stieß.
»Nichts passiert«, lächelte sie und wollte zur Seite treten.
Doch der Mann bestand darauf, ihr den Vortritt zu lassen. Dabei lächelte er sie an und musterte sie eingehend.
Florians Miene verdunkelte sich, als er sah, mit welchem Blick der Unbekannte Babette bedachte. Doch dann waren sie schon durch die Tür und standen draußen auf dem Gehsteig.
Babette hatte den Blick ebenfalls bemerkt. Allerdings kam er ihr nicht so aufdringlich vor wie Florian. Der winkte innerlich ab und deutete zum Gotteshaus hinüber, dessen schlanker Turm mit der zwiebelförmigen Kuppel darauf in den Himmel ragte.
»Jetzt mache dich auf eine Überraschung gefaßt«, sagte er.
Es dämmerte ein wenig, aber noch war es einigermaßen hell, als sie die Straße überquerten. Ein paar wenige Spaziergänger waren noch unterwegs, aber in der Kirche hielt sich niemand mehr auf, als sie eintraten. Babette war wirklich angenehm überrascht, als sie neben Florian durch das Kirchenschiff ging. Insgeheim hatte sie geglaubt, daß er mit seiner Schwärmerei übertrieben hätte, doch jetzt sah sie ein, ihm Unrecht getan zu haben.
Die Kirche von St. Johann war wirklich einmalig schön.
Florian führte sie überall herum und erzählte, was der Geistliche ihm erzählt hatte. Babette war erstaunt darüber, wie gut sich ihr Begleiter mit der Geschichte auskannte.
»Pfarrer Trenker hat mir alles gezeigt«, erklärte er. »Aber du mußt zugeben, daß es sich wirklich gelohnt hat herzukommen.«
»Auf jeden Fall.« Sie nickte.
Nachdem sie nicht nur den Altar bewundert hatte, sondern auch das berühmte Gemälde und die Statue der Gottesmutter, standen sie in der Abseite am Opferstock, und Babette zündete eine Kerze an.
»Für meine Eltern«, sagte sie leise.
»Sie sind schon verstorben?« fragte Florian mitfühlend.
»Ja, vor sechs Jahren habe ich sie durch einen Autounfall verloren. Sie waren gerade auf der Rückfahrt von der Hochzeitsfeier meiner Cousine. Ich war damals noch im Studium und konnte nicht mit zu der Feier. Vielleicht wäre ich sonst…«
Sie verstummte und spürte, wie Florian tröstend seinen Arm um sie legte.
»Es tut mir leid«, sagte er leise.
»Danke«, lächelte sie und genoß für einen Moment seine Hand auf ihrer Schulter.
Als sie die Kirche wieder verließen, war es schon dunkler geworden. Es waren kaum noch Leute auf der Straße, nur aus den geöffneten Fenstern des Wirtshauses drang Stimmengemurmel nach draußen.
»Hast du irgendwelche Pläne für morgen?« fragte Florian, als sie langsam zur Pension zurückgingen.
Babette schüttelte den Kopf.
»Bisher nicht«, antwortete sie. »Und du?«
Es war klar, daß seine Frage daraufhin abzielte, ob sie gemeinsam etwas unternehmen sollten, und dazu war sie nur zu gerne bereit.
»Am Nachmittag hat mich Pfarrer Trenker zum Kaffee eingeladen«, erzählte er. »Wir wollen dann die Einzelheiten der Bergtour besprechen. Aber bis dahin bin ich frei. Wollen wir vielleicht zusammen etwas unternehmen?«
»Ja, gern. Und was schlägst du vor?«
»Ach, mal sehen. Auf den Zimmern liegen viele Prospekte aus. Sicher finden wir etwas Interessantes darunter. Wir können ja morgen beim Frühstück darüber sprechen.«
Viel zu schnell waren sie in der Pension angekommen. Florian hätte liebend gern Babettes Hand genommen, als sie die Treppe hinaufgingen, aber er traute sich nicht so recht. Oben angekommen blieben sie einen Moment stehen.
»Ja, also dann… Schlaf schön«, sagte er.
»Du auch«, antwortete Babette und beugte sich vor.
Es war wie ein elektrischer Schlag, als sie ihn auf die Wange küßte. Florian wollte sie an sich ziehen, doch da wandte sie sich schon um.
»Gute Nacht«, flüsterte Babette und schloß ihre Tür auf.
»Die wünsch’ ich dir auch«, murmelte Florian und strich sich über die Wange, da, wo ihre Lippen sie berührt hatten.
*
Als Babette am nächsten Morgen aufwachte, brauchte sie einen Moment, um sich zu orientieren.
Ach, es sind ja Ferien! dachte sie erleichtert und schlüpfte aus dem Bett.
Am Abend hatte sie noch lange wachgelegen und über Florian Unger nachgedacht. Sie war froh, ihn kennengelernt zu haben, nicht nur, weil er ihr gefiel. Vielmehr auch, weil sie jetzt ihren Urlaub in angenehmer Gesellschaft verbringen würde. Rasch machte sie sich fertig und ging zum Frühstück hinunter.
»Grüß Gott«, lächelte Ria Stubler. »Haben S’ gut geschlafen?«
»Ganz wunderbar«, antwortete die Lehrerin. »Es ist himmlisch ruhig.«
»Und jetzt haben S’ gewiß Hunger. Geh’n S’ nur hinaus, ich hab’ im Garten gedeckt. Bei dem herrlichen Wetter wär’s ja gradzu eine Sünd’, drinnen zu essen.«
Babette nickte und wandte sich zu der großen Tür, die ins Freie führte.
»Ach, noch etwas«, setzte die Wirtin hinzu, »ich hab’ Sie zusammen mit dem Herrn Unger an einen Tisch gesetzt. Ich hoff’, Sie haben nix dagegen?«
»Keineswegs!« Sie schüttelte den Kopf. »Ganz im Gegenteil…«
Ria zwinkerte ihr zu und ging in die Küche. Babette trat hinaus und nickte grüßend den anderen Gästen zu, die schon beim Frühstück saßen. Der Tisch, den die Wirtin ihr und Florian zugedacht hatte, stand unter einem hohen Baum, dessen dichtes Blätterdach Schutz vor der Sonne spendete, die schon sehr stark war. Daneben stand ein weiterer Tisch, der für einen einzelnen Gast gedeckt war.
»Ach, da bist du ja schon«, hörte sie Florian sagen, der eben aus der Tür getreten war.
Er kam zu ihr und strahlte sie an.
»Gut geschlafen?«
»Ja, du auch?«
Florian nickte und rieb sich die Hände.
»Und jetzt hab’ ich Hunger.«
»Das kommt von der guten Bergluft«, sagte Ria Stubler, die eben mit einer Kaffeekanne nach draußen kam.
»So, die Herrschaften, Kaffee oder Tee?« erkundigte sie sich, nachdem sie die andere Kanne auf den Tisch einer Vierergruppe gestellt hatte.
»Ich nehme Kaffee«, sagte Florian und schaute Babette an.
Die Lehrerin nickte. »Ich auch.«
»Und wie möchten S’ die Eier gekocht haben?«
»Nicht zu hart und nicht zu weich.«
»Also gut fünf Minuten. Es dauert einen Moment, aber alles andre bring’ ich Ihnen gleich«, sagte die Wirtin und eilte wieder hinein.
»Toller Service«, meinte Florian. »Das gibt es nicht überall, daß die Eier frisch gekocht werden.«
»Stimmt«, gab Babette ihm recht. »Weißt du eigentlich, wo das Büfett steht?«
Florian zuckte die Schultern.
»Büffet gibt’s bei mir net«, erklärte Ria, als sie Kaffee und einen Brotkorb brachte. »Ich richt’ alles erst her, wenn die Gäste da sind.«
»Hab’ ich ja gesagt«, schmunzelte Florian. »Toller Service.«
Allerdings war es nicht das einzige, was ihn zum Staunen brachte. Nach ein paar Minuten stand eine große, ovale Porzellanplatte vor ihnen. Darauf waren Wurst, Schinken und Käse angerichtet und kunstvoll garniert. Marmelade und Honig kamen in kleinen Töpfchen, und im Brotkorb stapelten sich frische Semmeln und Brezeln.
»Meine Güte, wer soll denn das alles essen?« rief Babette. »Das reicht ja mindestens für vier.«
»Sagen S’ das net«, lachte Ria. »Der Appetit kommt beim Essen. Außerdem können S’ sich gern’ noch ein paar belegte Semmeln oder Brote für den Tag machen. Da brauchen S’ nur einmal essen zu geh’n, und sparen das Geld. Papier bring’ ich Ihnen gern.«
»Ich glaube, mit dieser Pension haben wir in den Glückstopf gegriffen«, sagte Florian, als sie wieder allein waren und sich über die Köstlichkeiten hermachten.
»Allerdings«, pflichtete Babette ihm bei, »so was gibt’s aber auch wohl nur noch in kleinen, privat geführten Pensionen.«
Sie erinnerte sich mit Schaudern an einen Urlaub, den sie in Griechenland verbracht hatte. Dort hatte sie in einem Hotel gewohnt, das sehr schön am Meer lag. Überhaupt war es ein herrliches Erlebnis gewesen, das Land kennenzulernen.
»Bloß das Frühstück war eine Katastrophe«, erzählte sie. »Morgens um sieben Uhr stürmten die Gäste das Büffet, weil um acht die ersten Rundfahrten mit dem Bus losgingen. Wenn man dann später kam, war meist nichts Gescheites mehr zum Essen da. Ganz abgesehen davon, daß es drei Wochen lang die gleiche Wurst und den gleichen Käse gab.«
»Na, das kann uns hier nicht passieren«, sagte Florian. »Überhaupt, hast du diesen Käse schon probiert? Der ist einfach himmlisch. Bestimmt kommt der von einer kleinen Sennerei.«
Babette probierte und gab ihm Recht.
»Ein toller Geschmack. Richtig schön reif und pikant, aber nicht zu scharf.«
Daß der Käse von der Kandereralm kam, erfuhren sie später, als Ria Stubler ihnen Papier zum Einwickeln ihrer Brote brachte.
»Vielleicht steigt Hochwürden ja zum alten Franz auf«, sagte sie. »Dann können S’ hautnah erleben, wie der Käse macht.«
»Na, wär’ das nicht ein Grund, deine Meinung zu ändern?« fragte Florian.
Babette zuckte lächelnd die Schultern.
»Ach, ich weiß nicht…«
»Komm doch mit, wenn ich heute nachmittag ins Pfarrhaus geh«, schlug er vor. »Dann lernst du Pfarrer Trenker kennen, und vielleicht bekommst du ja doch Lust, mitzugehen.«
»Na ja, mal sehen«, wich sie aus. »Was unternehmen wir denn heut’ vormittag?«
»Ich hab’ gedacht, wir machen eine Wanderung zu dem Jagdschloß im Wald. Wie heißt es denn noch gleich…?«
»Hubertusbrunn. Ich hab’ davon in einem der Prospekte gelesen.«
»Richtig, ich auch. Deswegen komme ich darauf. Könnte doch ganz schön sein, oder?«
»Bestimmt«, nickte die Lehrerin und schaute auf den Mann, der eben durch die Tür gekommen war und an den Nachbartisch ging.
»Guten Morgen«, grüßte er und lächelte sie dabei an.
Florian beachtete er nicht.
Babette erwiderte den Gruß und fragte sich, woher ihr der Mann so bekannt vorkam. Dann fiel es ihr ein. Gestern abend war sie mit ihm zusammengestoßen, als sie das Wirtshaus verließ und er es betreten wollte.
Florian hatte einen kurzen Blick auf den anderen Tisch geworfen und den ›Flegel‹, wie er den Mann in Gedanken nannte, gleich wiedererkannt. Er ärgerte sich ein wenig, weil der ihn nicht gegrüßt hatte, und sah sich in seiner Meinung über den anderen bestätigt.
Ria Stubler kam mit frischem Kaffee und Brotkorb.
»So, Herr Heller«, sagte sie, »der Rest kommt auch gleich, bloß die Rühreier dauern einen kleinen Moment.«
»Vielen Dank.« Der Gast nickte und warf wieder einen Blick auf Babette. »Ich hab’ Zeit.«
Florian schob seinen Stuhl zurück.
»Wollen wir?« fragte er.
Die Lehrerin nickte und stand auf. Als sie neben Florian ins Haus hineinging, spürte sie förmlich den Blick des Mannes in ihrem Nacken.
Adrian Heller schaute aber nicht nur, er lächelte auch.
*
»Nettes Paar«, meinte er mit einer Kopfbewegung zum nun leeren Nachbartisch, als Ria Stubler wenig später an den Tisch kam und die Rühreier mit Schinken, den sie kurz in Butter angebraten hatte, brachte. »Bestimmt gerade erst frisch verheiratet, was?«
»Verheiratet?« schmunzelte die Wirtin. »Ich würd’ eher sagen, frisch verliebt. Die zwei haben sich erst gestern hier kennengelernt.«
»Ach so.« Er nickte verstehend.
Und setzte in Gedanken hinzu: Eine nette Information.
»Haben S’ noch einen Wunsch?« erkundigte sich Ria. »Brauchen S’ noch was?«
»Vielen Dank, nein.« Er schüttelte den Kopf. »Es ist alles ausreichend da und es schmeckt herrlich.«
Ria ging, und Adrian Heller griff nach der Tageszeitung. Sie hatte drinnen für die Gäste ausgelegen. Zuerst schlug er den Börsenteil auf und suchte nach den neuesten Informationen über Geldanlagen. Aber diesmal brauchte er nicht zum Handy zu greifen und im Büro anzurufen. Die Kursentwicklung war eher schleppend, und mit weiteren Aktienverkäufen würde er noch warten.
Während er sich dem Frühstück widmete, dachte Adrian an die junge Frau. Sie war ihm gestern abend praktisch in die Arme gelaufen und hatte sogleich seine Aufmerksamkeit erregt. Eigentlich war er nach St. Johann gefahren, um sich ein wenig in der Einsamkeit der Berge zu erholen. Sein Beruf als Geldanleger hatte in den letzten Wochen einige Aufregungen mit sich gebracht, vor allem, als der Markt in den Vereinigten Staaten zusammenzubrechen drohte. Aber auch die vielen nervenaufreibenden Verpflichtungen gesellschaftlicher Art, denen er als bekannter Börsenmakler nachkommen mußte, hatten an seinen Kräften gezerrt. Und abgesehen davon hatte es in der letzten Beziehung so sehr gekriselt, daß Adrian Frankfurt beinahe fluchtartig verlassen hatte. Jetzt wußte außer seiner Sekretärin in der Firma niemand, wo er sich aufhielt, und das sollte auch so bleiben.
Indes, die junge Frau beschäftigte ihn auch immer noch, als er später einen Spaziergang durch den Ort machte. Der Mann im Reisebüro hatte wirklich nicht übertrieben. Abgesehen von den vielen Urlaubern war St. Johann ein beschaulicher Ort, an dem die Zeit stehengeblieben zu sein schien. Adrian spürte nicht die Hektik, die schon aufkam, wenn er seine Villa in Neu-Isenburg verließ und nach Frankfurt hineinfuhr.
Und er vermißte sie auch nicht!
Dafür vermißte er die hübsche Frau vom Nachbartisch. Er hatte gehofft, sie bei seinem Spaziergang wiederzusehen. Erst später fiel ihm ein, daß sie und ihr Begleiter sich Vesperpäckchen gemacht hatten. Sie unternahmen wohl einen längeren Ausflug.
Eher zufällig lenkte Adrian seine Schritte in Richtung Kirche. Er war nicht sonderlich religiös, doch hin und wieder hatte er schon das Bedürfnis, ein Gotteshaus zu betreten und für einen Moment in Ruhe nachzudenken.
Vor allem über Bettina. Die attraktive Unternehmerin aus der Modebranche war seine letzte Favoritin gewesen. Kennengelernt hatten sie sich über einen gemeinsamen Bekannten, dem Adrian schon mehrmals zu Gewinnen am Aktienmarkt verholfen hatte. Bettina hatte sich, wie sie ihm später gestand, auf den ersten Blick in den umwerfend aussehenden Börsenmakler verliebt, und auch Adrian hätte lügen müssen, würde er behaupten, daß er sich von ihr nicht angezogen gefühlt hatte.
Leider währte das Glück nicht ewig. Als der erste Rausch der Gefühle verflogen war und der Alltag einkehrte, merkten sie schon bald, daß sie wohl doch nicht füreinander geschaffen waren. Dennoch mochte niemand von ihnen den entscheidenden Satz sagen und die Sache beenden. Immer wieder versuchten sie, sich zusammenzuraufen, und manchmal glückte es sogar. Allerdings nur für kurze Zeit. Jetzt endlich, nachdem die Abstände, in denen es funktionierte und ein neuer Krach anstand, immer kürzer wurden, zog Adrian den Schlußstrich.
Indes machte es ihm immer noch zu schaffen, und er mußte sich innerlich dagegen wehren, nicht zum Handy zu greifen und Bettina anzurufen.
Der junge Börsenmakler hatte seinen Rundgang durch das Gotteshaus gemacht und die Sehenswürdigkeiten bestaunt. Jetzt setzte er sich in die Bank vor dem Altar und versuchte, das Gemurmel der anderen Touristen zu überhören. Er dachte an die junge Frau, die ihn so nett angelächelt hatte. Wenn die beiden sich wirklich erst seit gestern kannten, dann sollte er keine Schwierigkeiten haben. Dessen war Adrian Heller sicher. Bisher war es ihm immer noch gelungen, die Frau, die er begehrte, herumzubekommen. Er sah nicht ein, warum es diesmal anders sein sollte.
Während die anderen Besucher die Kirche verließen, kamen andere herein; ein nicht abbrechender Strom. Adrian saß jedoch da und überlegte, wie er die Bekanntschaft machen konnte, an der ihm soviel gelegen war.
Irgendwie mußte es gelingen.
*
Sie waren zu Fuß gegangen, obgleich Ria Stubler sie gewarnt hatte.
»Vielleicht sollten S’ besser mit dem Auto zum Wald fahren. Von da aus ist es noch mal eine gute Stunde zu laufen.«
»Ach, wir sind trainiert.« Übermütig winkte Florian ab.
Babette nickte dazu.
»Mir macht es nichts aus«, beteuerte sie. »Ich gehe gern spazieren, und eine Wanderung über ein paar Stunden übernehme ich öfter mal.«
Die Wirtin hatte ihnen zu ihrem Proviant noch eine Thermoskanne mit Kaffee und zwei Wasserflaschen mitgegeben. Florian schulterte den Rucksack, in dem die Sachen steckten, und sie machten sich auf den Weg.
Zuerst folgten sie der Landstraße, doch schon bald zweigte ein Weg ab. Sie blieben stehen und schauten auf die Wanderkarte, die sie vorsichtshalber dabei hatten.
»Warum gehen wir nicht hier?« fragte der Chemiker. »Wenn ich es richtig sehe, dann schlagen wir einen kleinen Bogen und kommen von der anderen Seite zum Jagdschloß.«
Babette runzelte die Stirn.
»Aber ist das nicht weiter? Frau Stubler hätte es uns doch sicher gesagt, wenn es eine Abkürzung gäbe.«
»Vielleicht hat sie nicht daran gedacht.«
»Also gut.« Die Lehrerin zuckte die Schultern. »Versuchen wir’s.«
Sie folgten dem Weg, der immer tiefer in den Wald hineinführte. Inzwischen waren gut zwei Stunden vergangen, und Florian wurde immer unsicherer. Längst hätten sie ein Hinweisschild auf ›Hubertusbrunn‹ finden müssen. Ria Stubler hatte ihnen gesagt, daß es mehrere davon im Wald gäbe. Doch so sehr sie auch Ausschau hielten, den Wegweiser fanden sie nicht.
Florian verschwieg seine Unsicherheit und redete davon, wie schön doch dieser Spaziergang wäre. Babette spürte zwar, daß es durchaus sein konnte, daß sie sich verlaufen hatten, aber so groß konnte der Wald nun auch wieder nicht sein, daß sie nicht wieder herausfinden würden.
Auf einer Lichtung machten sie Pause und tranken Kaffee und aßen von den Semmeln.
»Jedenfalls geht’s uns nicht wie Hänsel und Gretel«, bemerkte Florian augenzwinkernd. »Zu essen und trinken haben wir genug dabei.«
Sie dehnten ihre Pause aus und erzählten sich Geschichten aus ihrem Leben. Bald erfüllte helles Lachen die Lichtung, wenn Babette von ihrer ersten Prüfungsstunde als angehende Lehrerin erzählte, in der sie alles besonders gut machen wollte und dabei beinahe das Gegenteil erreicht hätte. Florian berichtete von einem ›Unfall‹, den er als noch unerfahrener Chemiker gehabt hatte, als er mehrere Substanzen zusammenmischte und es eine kleine Explosion gab.
»Irgend so ein Witzbold hatte mir Schwefelsäure untergeschoben, und das Gemisch ging hoch«, erzählte er lachend. »Ich stand in einem stinkenden Nebel, und die anderen konnten sich vor Lachen kaum halten.«
Babette wischte sich die Tränen ab, die ihr vor lauter Vergnügen in die Augen gestiegen waren. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.
»Sollten wir nicht langsam weitergehen?« fragte sie.
»Sonst sitzen wir noch heute abend hier.«
Florian sah sie an und rückte ein Stück näher.
»Von mir aus können wir den ganzen Urlaub über hier sitzen bleiben«, sagte er mit belegter Stimme.
Babette zuckte nicht zurück, als er nach ihrer Hand griff. Ganz im Gegenteil, es war ein unbeschreibliches Gefühl, das sie durchflutete. Sie beugte sich vor und schloß die Augen, als er sie küßte.
Ganz behutsam hatte er sie in die Arme genommen, und sie erwiderte den Kuß.
»Nichts habe ich mir mehr gewünscht«, flüsterte Florian. »Ich habe mich auf den ersten Blick in dich verliebt.«
Babette lächelte. »Mir ist es genauso ergangen«, antwortete sie. »Als ich dich gestern sah, da war es, als führe ein Blitz durch mich hindurch.«
Noch einmal küßten sie sich, doch dann gewann die Vernunft die Oberhand. Sie mußten wirklich weiter, wenn sie das Schloß noch finden wollten.
Nur wie?
Der Pfad, dem sie folgten, führte noch tiefer in den Wald hinein. Wenn sie stehenblieben und lauschten, hörten sie nichts anderes als die üblichen Geräusche, hervorgerufen durch die Tiere. Dabei hätten sie längst die Straße finden müssen, die auf der Karte eingezeichnet war. Wenn sie ihr folgten, mußten sie das Jagdschloß praktisch auf der Rückseite erreichen.
»Gib es zu«, sagte Babette, als sie eine weitere Stunde unterwegs waren, »wir haben uns verlaufen.«
Florian mußte kleinlaut eingestehen, daß es wirklich so war.
»So was Blödes!« schimpfte er mit sich selbst.
»Was sollen wir denn jetzt machen?« fragte die Lehrerin. »Über das Handy um Hilfe rufen?«
»Zwecklos«, schüttelte er den Kopf. »Hier haben wir keinen Empfang. Ich hab’ keine Ahnung, wie weit das Netz geht. Hierher reicht es jedenfalls nicht.«
»Und nun?«
»Vielleicht sollten wir denWeg zurückgehen?« schlug Florian vor und hob den Kopf. »Warte mal. Hörst du das auch?«
Babette lauschte. Doch, da war etwas, das wie das Geräusch eines durch den Wald fahrenden Autos klang.
»Das ist ja ganz nah«, sagte sie.
Sie liefen los, rannten an einer Tannenschonung vorbei und kamen an einen Zaun, der das Wild davon abhalten sollte, auf die Straße zu laufen, die daran vorbeiführte.
»Hier lang«, rief Florian, der gesehen hatte, daß es einen Durchgang gab.
Er öffnete ihn und ließ Babette hindurch. Sorgfältig schloß er das Gatter wieder und atmete auf. Keine fünfzig Meter von ihnen entfernt kam ein Wagen herangefahren.
Babette und er liefen auf die Straße und winkten. Das Auto hielt. Beinahe neidvoll sah der Chemiker, daß es sich um einen teuren Sportwagen handelte.
So teuer, daß er sich solch ein Auto wohl niemals würde leisten können, es sei denn, er hatte einen Sechser im Lotto.
Der Fahrer hielt an und ließ die Seitenscheibe herunterfahren.
»Gott sei Dank«, japste Babette, nach Luft ringend, »wir haben uns verlaufen. Können Sie uns ein Stück mitnehmen?«
»Aber gerne doch«, grinste Adrian Heller. »Steigen Sie nur ein. Wo soll es denn hingehen?«
Florian war ein Stück hinter Babette gelaufen. Als er jetzt sah, wer da hinter dem Lenkrad saß, sank seine Laune auf den Nullpunkt.
Dieser arrogante Schnösel hatte ihm gerade noch gefehlt!
*
Nachdem er die Kirche besichtigt hatte, war Adrian zur Pension zurückgegangen. Vorsichtig versuchte er im Gespräch mit Ria Stubler herauszufinden, wo die hübsche, junge Frau wohl sein mochte. Daß sie eine Wanderung unternahm, war ihm klar, aber er hätte gern gewußt, in welcher Richtung er suchen mußte.
Ohne Argwohn zu schöpfen, erzählte die Wirtin davon, daß Babette Mertens und Florian Unger eine Wanderung zum alten Jagdschloß machen wollten.
»Ich hoff’ nur, daß das gutgeht«, sagte sie und machte dabei ein bekümmertes Gesicht.
»Sorgen Sie sich um die beiden?« fragte Adrian.
»Na ja, vielleicht net direkt sorgen«, erwiderte Ria. »Aber sie sind den ganzen Weg zu Fuß unterwegs. Ich weiß net, ob sie diese Strecke wirklich hin und zurück schaffen können.«
»Also, wenn es Sie beruhigt, dann fahre ich ihnen nach und schaue, ob ich vielleicht helfen kann«, bot der Börsenmakler sofort an.
»Das würden S’ wirklich tun?« rief Ria. »Das ist aber nett von Ihnen, Herr Heller.«
»Keine Ursache«, wehrte er ab.
»Das mach’ ich doch gern.«
Indes, ganz so selbstlos war er natürlich nicht, und als Babette und Florian in sein Auto stiegen, wußte er natürlich ganz genau, was ihr Ziel war.
Der Chemiker kletterte nur widerwillig auf die enge Sitzbank hinter dem Fahrer, die kaum mehr als eine Kofferablage war. Am liebsten hätte er Babette an die Hand genommen und wäre mit ihr zu Fuß bis zum Schloß gegangen, das jetzt nicht mehr allzuweit entfernt sein konnte. Aber es war seine Schuld, daß sie sich verlaufen hatten, und er wollte ihr jetzt nicht noch mehr zumuten. So mußte er hinter ihnen sitzen und mitanhören, wie die beiden sich unterhielten.
»Ich heiße übrigens Heller«, stellte der Fahrer sich vor. »Adrian Heller.«
»Babette Mertens«, antwortete die Lehrerin und deutete nach hinten. »Und das ist Florian Unger.«
»Und Sie wollten zum Jagdschloß? Prima, das wollte ich mir auch ansehen«, erzählte er. »Dann können wir das doch gemeinsam machen, und nachher bringe ich Sie nach St. Johann zurück.«
»Ich denke, den Rückweg schaffen wir auch ohne Ihre Hilfe«, ließ sich Florian von hinten vernehmen.
Babette drehte den Kopf, sah ihn an, sagte aber nichts.
»Ich kann verstehen, daß es Ihnen keinen Spaß macht, da hinten eingequetscht zu sitzen«, sagte
Adrian Heller mit einem süffisanten Unterton. »Aber leider ist es nun mal keine Familienkutsche. Wenn Sie es vorziehen, zu Fuß zu gehen, bleibt Ihnen das unbenommen.«
Florian registrierte sehr wohl, daß der Bursche nur von ihm sprach und Babette ausnahm. Das könnte dir so passen, dachte er grimmig, eher trag’ ich Babette auf meinem Rücken nach St. Johann!
Babette war die plötzlich aufkommende feindliche Stimmung zwischen den beiden Männern unangenehm. Sie bedauerte schon, den Wagen angehalten zu haben. Glücklicherweise sah sie kurz darauf das Jagdschloß.
»Hoffentlich haben wir Glück, und es ist überhaupt zu besichtigen«, bemerkte sie.
»Das werden wir gleich wissen«, sagte Adrian Heller und brachte seinen Sportwagen mit einem schwungvollen Schlenker vor dem Tor zum Stehen.
»Ist das nicht schön!« rief Babette begeistert.
Florian war neben sie getreten und hatte seinen Arm um sie gelegt. Adrian beobachtete die Geste lächelnd.
Als Babette neben ihm saß, da hatte er jeden Gedanken an den anderen Mann hinter sich verdrängt. Diese Frau war atemberaubend. Nur kurz hatte er an Bettina gedacht. Die beiden hatten gar nichts gemeinsam, aber jede war auf ihre Art attraktiv.
Nun, das Kapitel Bettina war abgeschlossen, jetzt war er dabei, ein neues aufzuschlagen…
Adrian betätigte die Klingel, die in der Mauer eingelassen war. Nach kurzer Zeit kam ein junger Mann die Freitreppe herunter und öffnete ihnen.
»Grüß Gott und herzlich willkommen auf Schloß ›Hubertusbrunn‹«, sagte er. »Mein Name ist Thomas Moser.«
»Sind Sie der Schloßherr?« erkundigte sich Babette, nachdem sie ihre Namen genannt hatten.
»Ich?« Der Vikar schüttelte lachend den Kopf.
»Nein, ich arbeite nur hier. Ich betreue die Jugendgruppen, die hier im Schloß ihre Freizeiten und Tagungen abhalten. Also, eigentlich arbeite ich in der Kirche, in St. Johann. Aber Pfarrer Trenker hat mich für diese Aufgabe freigestellt. Ihm gehört übrigens ›Hubertusbrunn‹.«
»Pfarrer Trenker ist der Eigentümer?« fragte Florian.
»Ja, da schauen Sie«, schmunzelte der Vikar. »Aber es stimmt. Die Tochter des letzten Eigentümers hat das Schloß Hochwürden geschenkt.«
Thomas Moser führte die Besucher durch das Schloß und erzählte ihnen dabei, wie es zu der Schenkung gekommen war. Es war eine anrührende Geschichte, die von Liebe und Hingabe erzählte, von Trauer und Glück. Der Vikar wußte nicht mehr, wie vielen Leuten er sie schon erzählt hatte, aber er tat es immer wieder.
Die junge Baroneß wuchs als angebliche Pflegetochter einer Magd auf einem Bauernhof hier im Wachnertal auf. Sie wußte nicht, wer ihre wirklichen Eltern waren, die bei einem Autounfall ums Leben kamen.
Als Thomas Moser diese tragische Stelle erwähnte, ahnte er nichts von dem Schicksal, das Babette Mertens hinter sich hatte. Nur Florian war bewußt, was diese Erzählung für eine Wirkung auf die Lehrerin haben mußte. Er war hinter sie getreten und hatte Babettes Hand genommen. Dankbar lächelte sie ihn an.
Pfarrer Trenker verhalf Michaela von Maybach zu ihrem Glück. Die Liebe der Baroneß zu dem Sohn des Anstetterbauern stand unter keinem guten Stern. Da niemand von ihrer Herkunft wußte, wurde allgemein angenommen, daß sie armer Leute Kind sei, und der Bauer wollte für seinen Sohn eine bessere Partie. Zusammen mit der früheren Kinderfrau lüftete der Bergpfarrer das Geheimnis und sorgte dafür, daß die beiden jungen Menschen miteinander glücklich werden konnten. Zum Dank schenkte Michaela ihm das alte Jagdschloß. Der gute Hirte von St. Johann erfüllte sich einen Lebenstraum und machte aus ›Hubertusbrunn‹ eine Begegnungsstätte für Jugendliche aus aller Welt.
»Das ist ja wirklich eine zauberhafte Geschichte«, sagte Babette ganz begeistert.
»Wie Sie sehen, können auch heutzutag’ Märchen wahr werden«, lächelte Thomas Moser.
Sie waren wieder in der unteren Halle angekommen und verabschiedeten sich von dem sympathischen Vikar. Adrian Heller sah Florian herausfordernd an, als sie am Auto standen.
»Nun, haben Sie es sich überlegt?« fragte er. »Besser schlecht gefahren, als gut gelaufen, oder?«
Der junge Chemiker erwiderte seinen Blick. Dann schüttelte er den Kopf.
»Vielen Dank«, sagte Florian steif. »Ich gehe zu Fuß.«
Er schaute Babette an.
»Wollen wir?«
»Überlegen Sie es sich«, sagte Adrian an die Lehrerin gewandt. »Es ist mindestens eine Stunde zu laufen.«
Einen Moment schwankte sie, dann schüttelte Babette den Kopf.
»Es ist wirklich sehr nett«, antwortete sie, »aber ich bin sicher, daß wir es schaffen.«
Enttäuschung machte sich auf dem Gesicht des Börsenmaklers breit, als er einstieg.
Er hatte es sich einfacher vorgestellt, geglaubt, mit dem Auto Eindruck schinden zu können. Aber da mußte er wohl härtere Geschütze auffahren, um diese Festung zu stürmen. Trotzdem winkte er freundlich, als er an ihnen vorüber fuhr.
»Angeber!« sagte Florian verächtlich.
Babette griff nach seinem Arm und drückte ihn.
»Ich glaube, du tust ihm Unrecht«, sagte sie. »Er wollte doch nur nett sein.«
Der? dachte Florian ärgerlich. Ich weiß ganz genau, was der will.
*
Diesmal hielten sie sich an die Karte und kamen wohlbehalten in St. Johann wieder an.
Zähneknirschend hatte Florian zugegeben, daß es seine Schuld war, daß sie sich verlaufen hatten. Babette tröstete ihn damit, daß es ihr nichts ausgemacht habe und es im Gegenteil sehr schön gewesen sei, mit ihm auf der Lichtung zu sitzen…
»Dann bist du mir nicht böse?«
»Aber natürlich nicht.« Sie schüttelte den Kopf und gab ihm einen Kuß.
»Hast du dir überlegt, ob du nachher mit ins Pfarrhaus kommst?«
»Ja«, nickte sie. »Ich bin neugierig auf den Pfarrer.«
Florian freute sich. Er war sicher, daß es ihm und Hochwürden gelingen würde, Babette doch noch zur Teilnahme an der Bergtour zu überreden.
Auf dem Rückweg hatten sie die Reste ihres Proviants verzehrt und verzichteten darauf, zum Mittagessen ins Wirtshaus zu gehen. Außerdem war es inzwischen Nachmittag geworden, und es blieb nicht mehr viel Zeit für ihren Besuch im Pfarrhaus. Die Lehrerin war gerade mit Duschen und Umziehen fertig, als Florian auch schon an ihre Tür klopfte.
»Wir können«, sagte sie.
Draußen auf der Straße hakte sie sich bei ihm unter, und Florian strahlte, als sie ihm einen Kuß gab.
»Grüß Gott, Hochwürden«, sagte er, als Sebastian geöffnet hatte. »Das ist Frau Mertens. Ich hoffe, es ist Ihnen recht, daß ich noch jemanden mitgebracht habe?«
»Freilich«, lächelte der Geistliche und reichte Babette die Hand. »Herzlich willkommen.«
Er begrüßte auch Florian mit Handschlag und führte die beiden Besucher nach draußen in den Pfarrgarten, wo seine Haushälterin den Kaffeetisch gedeckt hatte. Sophie Tappert hatte schon gehört, daß ein weiterer Gast gekommen war, und stellte rasch ein Gedeck hinzu.
Auf dem Tisch stand ein herrlich anzusehender Kuchen. Er war ganz gelb und hatte eine Puderzuckerschicht.
»Das sieht ja lecker aus«, sagte Babette. »Was ist das denn?«
»Ein Eierlikörkuchen«, antwortete Sophie Tappert. »Heut’ morgen erst gebacken.«
Sie schenkte Kaffee ein und schnitt den Kuchen an.
»Der ist wirklich gut!« sagte Florian nach dem ersten Bissen.
Sebastian schmunzelte. »Ein Kuchen, aus der Not heraus geboren«, bemerkte er.
»Aus der Not geboren?« hakte die Lehrerin nach.
Die Haushälterin nickte und erzählte von ihrer Freundin Hertha, die sich darauf spezialisiert hatte, Eierlikör selbst herzustellen und zu verschenken. Offenbar machte ihr die Produktion so viel Spaß, daß sie beinahe jede Woche mit einer hübsch verpackten Flasche ins Pfarrhaus kam.
»So viel können wir gar net trinken«, schmunzelte sie.
Da der Eierlikör nicht so lange haltbar war, hatte Sophie Tappert sich ein Rezept ausgedacht, und seither gab es öfter mal diesen saftigen Eierlikörkuchen zum Kaffee.
»Wirklich lecker!« sagte Babette noch einmal.
»Ihr habt euch also hier in St. Johann kennengelernt?« erkundigte sich der Geistliche.
»Gestern erst«, nickte Florian. »Ich wollte sie überreden, mit auf die Bergtour zu kommen. Leider will sie nicht. Jetzt hoffe ich, daß Sie sie überzeugen können.«
Sebastian schmunzelte. Dieser Bitte nachzukommen, sollte ihm leichtfallen. Noch war es ihm immer gelungen, selbst denjenigen zu überzeugen, der felsenfest behauptete, eine Wanderung in den Bergen sei nichts für ihn. Er griff zu der bereitgelegten Wanderkarte und zeigte ihnen die Route, die sie gehen wollten.
»Von hier aus geht’s durch den Wald zur ›Hohen Riest‹ hinauf«, erklärte er. »Da oben zweigen die Wege zu den Almhütten ab. Wir werden zeitig losgehen, denn bis zur Kandereralm dauert’s ein paar Stunden. Es ist eine schöne Tour, und man bekommt viel zu sehen. Deshalb – die Fotoapparate net vergessen!«
Sebastian erzählte, was sie unterwegs alles erwartete. Seine Schilderung war so farbig, daß Babettes Vorsatz ins Wanken geriet.
»Aber ich habe ja gar keine Ausrüstung«, stellte sie schließlich fest.
»Ach, das ist überhaupt kein Problem«, antwortete der Geistliche. »Hier im Pfarrhaus gibt’s genug. Frau Tappert sucht mit dir das Passende heraus.«
Sie schaute immer noch ein wenig skeptisch, doch dann nickte sie und ging mit der Haushälterin.
»Ich geh’ doch net falsch in der Annahme, daß ihr ein Paar seid?« vergewisserte sich Sebastian bei Florian, als sie allein waren.
Der Chemiker lächelte.
»Nein«, antwortete er, »da gehen Sie überhaupt nicht falsch. Wissen Sie, Hochwürden, Babette und ich haben uns auf den ersten Blick ineinander verliebt.«
»Dann wünsch’ ich Ihnen beiden alles Gute«, lächelte der Bergpfarrer.
*
Schon nach ein paar Minuten kamen die beiden Frauen zurück. Babette trug jetzt eine winddichte Jacke, dazu eine Hose aus festem Stoff, Bergstiefel und einen Hut, der gegen die Sonne schützen sollte.
»Du siehst wunderbar aus«, versicherte Florian ihr.
»Ja, so kannst’ unbesorgt aufsteigen«, nickte Sebastian.
Die Lehrerin zog sich wieder um. Als sie zurückgekehrt war, besprachen sie noch ein paar Einzelheiten.
»Ich hol’ euch dann am Donnerstagmorgen von der Pension ab«, sagte der Geistliche. »Denkt dran, wenn ihr morgen noch was unternehmt, daß ihr’s net zu lang ausdehnt, denn wir geh’n zeitig los. Proviant braucht ihr net, für den sorgt die Frau Tappert, aber ein bissel was frühstücken solltet ihr schon, denn es wird erst nach ein paar Stunden eine erste Rast geben.«
»Wann werden wir wieder zurück sein?« fragte Florian.
»So am späten Nachmittag. Aber ich versprech’ euch, ihr werdet den Tag net bereuen und noch lang’ an die Tour denken. Und freut euch schon mal auf den Franz Thurecker. Er zeigt euch, wie Käse gemacht wird.«
Inzwischen freute sich Babette richtig auf die Tour, aber noch mehr Florian, weil sie dabei sein würde.
»Also, dann bis übermorgen«, verabschiedete der Bergpfarrer die Besucher an der Haustür. »Und denkt dran, zeitig schlafen zu geh’n.«
»Ganz bestimmt«, versprachen die beiden und gingen Hand in Hand den Kiesweg hinunter.
Unten an der Straße sah Florian Babette fragend an.
»Wozu hättest du jetzt Lust?« wollte er wissen.
Die Lehrerin zuckte die Schultern. »Kaffee haben wir getrunken«, erwiderte sie. »Zum Abendessen ist es noch zu früh. Hast du einen Vorschlag?«
»Wie wäre es, wenn wir in die Stadt fahren und ein bißchen bummeln? Essen können wir dann dort.«
Sie nickte zustimmend. Als sie zur Pension gingen, sahen sie den Sportwagen von Adrian Heller vor dem Haus, von dem Besitzer selbst war aber nichts zu sehen.
Florian war ganz froh darüber…
Sie holten ihre Sachen aus den Zimmern und fuhren los. Bis in die Kreisstadt war es nicht sehr weit. Außerhalb der Fußgängerzone stellten sie das Auto auf einem Parkplatz ab und gingen die paar hundert Meter in die City zu Fuß.
Es war ein hübscher, kleiner Ort mit zahlreichen Geschäften, und Babette stellte schnell fest, daß es noch viele Dinge gab, die sie kaufen mußte…
Florian schmunzelte darüber, machte aber gute Miene zum bösen Spiel. Er freute sich ja, mit ihr zusammen zu sein, und übernahm es gern, die Einkaufstüten zu tragen.
Später lasen sie die Speisekarten der verschiedenen Wirtshäuser und Restaurants, die vor den Eingängen ausgehängt waren, und entschieden sich schließlich für ein italienisches Lokal. Vor der Tür standen Tische und Stühle, und aus versteckt angebrachten Lautsprechern erklangen leise landestypische Hits.
»Das ist ja wirklich fast wie in Italien«, sagte Florian, als sie Platz genommen hatten. »Herrlich, oder?«
Babette nickte zustimmend.
Der Chef des Hauses, der selbst in der Küche stand und kochte, kam an den Tisch, beriet sie bei der Auswahl und versicherte, daß alle Speisen frisch zubereitet würden.
Zu dem Essen tranken sie einen herrlichen Barolo, wobei Florian sich allerdings zurückhielt, weil er ja noch fahren mußte.
»Ach, ist es nicht wunderschön?« schwärmte er, als sie gesättigt nebeneinander saßen und den letzten Schluck tranken. »Man müßte immer Urlaub haben!«
»Nein«, widersprach Babette, »dann würde es auf Dauer langweilig werden, und man hätte gar nichts mehr, worauf man sich freuen könnte.«
»Du hast natürlich recht«, gab er zu. »Aber so ein bißchen davon träumen darf man schon, oder?«
»Du bist ja ein Romantiker«, bemerkte sie.
»Und ob! Ich hoffe, du magst Romantiker?«
»Aber freilich«, antwortete die Lehrerin und beugte sich zu ihm. »Und dich ganz besonders.«
Sie schauten sich verliebt in die Augen und küßten sich.
»Hätte mir vorher jemand gesagt, daß ich so was Wunderschönes erleben werde, hätte ich es ihm nicht geglaubt«, sagte Florian und hielt ihre Hand fest.
»Du, ich freu’ mich schon darauf, wenn wir wieder abreisen.«
Babette runzelte die Stirn.
»Wieso? Ich denke, es gefällt dir so gut?«
»Natürlich«, nickte er hastig. »Aber ich kann es gar nicht abwarten, dich meinen Eltern vorzustellen. Sie werden begeistert von dir sein.«
Die Lehrerin lächelte. Aber eigentlich wollte sie jetzt noch gar nicht daran denken, was sein würde, wenn der Urlaub zu Ende war. Sie wollte den Augenblick genießen.
Es war schon sehr spät, als sie wieder in St. Johann ankamen. Babette freute sich auf ihr Bett, aber Florian wollte unbedingt noch den Abend im Biergarten ausklingen lassen, also gab sie nach und ging mit.
Arm in Arm gingen sie zum Hotel hinüber. Im Garten saßen noch viele Gäste und genossen die laue Abendluft.
»Schade, ist alles besetzt«, bemerkte Florian bedauernd.
»Vielleicht können wir uns ja irgendwo dazusetzen.«
»Zwecklos. Überall sitzen ja schon mehrere Leute.«
Die Lehrerin deutete auf einen einzelnen Tisch, der ziemlich weit hinten stand, so daß auf den ersten Blick kaum zu sehen war, wie viele Gäste daran saßen.
»Komm«, sagte sie und zog Florian mit sich.
Der Chemiker folgte ihr und blieb abrupt stehen, als er Adrian Heller erkannte.
Er saß zurückgelehnt auf seinem Stuhl und telefonierte mit dem Handy.
*
»Ach, laß uns wieder gehen«, sagte Florian.
»Aber warum denn?« fragte Babette verwundert. »Du wolltest hier doch unbedingt noch was trinken.«
Die Lehrerin hatte Adrian noch nicht erkannt.
»Ich hab’s mir eben anders überlegt«, erklärte Florian.
Doch Babette ging schnurstracks auf den Tisch zu.
»Ach, hallo«, sagte sie. »Dürfen wir uns zu Ihnen setzen?«
»Aber natürlich«, antwortete Adrian Heller lächelnd. »Schönen Frauen kann ich keinen Wunsch abschlagen.«
»Besten Dank«, sagte Florian, sichtlich verärgert. »Aber ich denke, wir gehen wieder. Kommst du, Babette?«
Sie drehte sich zu ihm und schüttelte den Kopf.
»Was ist denn los?« fragte sie. »Wieso willst du auf einmal nicht mehr?«
Florian antwortete nicht und biß sich auf die Lippe. Allerdings ahnte sie den Grund für seinen Sinneswandel.
»Also, setz dich!« raunte sie ihm zu. »Wir brauchen ja nicht lange zu bleiben.«
Endlich gab er nach und rückte ihr den Stuhl zurecht.
»Ein herrlicher Abend, was?« sagte Adrian. »Haben Sie Ihre Wanderung von heute morgen gut überstanden?«
»Danke, es war alles halb so wild«, antwortete sie.
»Was möchten Sie trinken? Ich darf Sie doch einladen?«
»Ich bin durchaus in der Lage, unsere Getränke selbst zu bezahlen«, fuhr Florian dazwischen, den es maßlos ärgerte, daß dieser arrogante Kerl ihn wie Luft behandelte und ausschließlich Babette ansah, wenn er redete.
Der Lehrerin war es peinlich. Sie sah Florian an und schüttelte unmerklich den Kopf. Adrian überging die Spitze und winkte der Bedienung.
»Den Chablis kann ich sehr empfehlen«, sagte er.
»Ich ziehe ein Bier vor«, entgegnete Florian und sah Babette an. »Was möchtest du trinken?«
Sie bestellte ein Mineralwasser und bereute es, Florian nachgegeben zu haben. Wäre sie statt dessen gleich schlafen gegangen, wäre es nicht zu dieser peinlichen Situation gekommen.
Adrian Heller schien indes darüber hinwegzusehen, daß der andere am Tisch nicht gut auf ihn zu sprechen war.
Allerdings gehörte es zu seinem Plan, Florian Unger in Rage zu bringen…
Er prostete ihnen zu, als die Getränke gebracht worden waren.
»Wie gefällt Ihnen denn nun unser Urlaubsort?« fragte er und bezog diesmal Florian in die Frage mit ein, indem er ihn direkt ansprach.
Der Chemiker hatte einen Schluck getrunken. Der erste Ärger war verraucht, oder zumindest wollte er sich Mühe geben, ihn zu unterdrücken, um nicht den ganzen Abend zu verderben.
»Es ist wirklich sehr schön hier«, antwortete er. »Allerdings haben wir erst wenig von dem gesehen, was St. Johann so alles zu bieten hat. Aber am Donnerstag machen wir eine Bergtour. Das wird bestimmt ein Erlebnis.«
»Tatsächlich?« fragte Adrian. »Da haben Sie aber Glück, noch einen Bergführer gefunden zu haben. Wie ich hörte, sind die alle schon längst ausgebucht.«
»Wir haben auch einen ganz besonderen Bergführer«, sagte Babette. »Wir steigen nämlich mit dem hiesigen Pfarrer auf.«
»Ach, wirklich?«
Der Börsenmakler lachte. »Ein Pfarrer, der als Bergführer arbeitet! Gibt es das denn überhaupt?«
»Pfarrer Trenker ist eigentlich kein Bergführer«, erklärte Florian. »Er kennt sich nur da oben sehr gut aus, weil er schon seit seiner Jugend aufsteigt, und manchmal nimmt er eben Leute mit auf seine Touren.«
»Ich verstehe«, nickte Adrian.
»Haben Sie kein Interesse daran?« fragte Babette.
»Ach, ich weiß gar nicht«, antwortete er. »Wenn ich ehrlich sein soll, ich habe überhaupt noch nicht darüber nachgedacht.«
Er blickte sie nachdenklich an.
»Allerdings«, setzte Adrian hinzu, »wenn ich so überlege… Warum eigentlich nicht?«
Florian Unger hielt unwillkürlich die Luft an.
Wollte Babette den Schnösel etwa einladen, die Bergtour mitzumachen?
Die Lehrerin blickte ihn kurz an. Sie ahnte wohl, was in ihm vorging. Für einen Moment hatte sie wirklich gedacht, Adrian genau diesen Vorschlag zu machen. Doch jetzt biß sie sich auf die Zunge.
»Was machen wir denn morgen?« fragte sie Florian. »Hast du von diesem See gelesen, in dem man so herrlich baden kann?«
Er nickte. »Hast du Lust hinzufahren?«
»Ich glaub’ schon«, antwortete sie. »Ich hab’ mir ja extra einen neuen Badeanzug gekauft. Wäre doch schade, wenn er unbenutzt bliebe.«
»Da haben Sie recht«, sagte Adrian. »Besonders bei dieser Figur.«
Florian mußte an sich halten, um nicht aufzuspringen. Der Kerl schien nicht davor zurückzuschrecken, mit Babette zu flirten, obwohl sie in Begleitung war.
In seiner Begleitung!
»Gut«, sagte er schnell, »dann fahren wir morgen nach dem Frühstück los. Abends müssen wir ja zeitig schlafen gehen, damit wir für die Tour fit genug sind.«
Bei diesen Worten hatte er demonstrativ seinen Arm um Babette gelegt.
Adrian quittierte diese Geste wieder mit einem spöttischen Lächeln.
»Wie wär’s«, wandte er sich an die Lehrerin, »wollen wir zum Abschluß noch ein Glas Champagner trinken? Ich möchte nämlich gerne vorschlagen, daß wir das umständliche ›Sie‹ weglassen und uns einfach duzen.«
Babette zuckte die Schultern.
»Jetzt noch Champagner?« fragte sie zweifelnd.
»Ach, kommen Sie. Bisher haben Sie ja nur Mineralwasser getrunken. Was meinen Sie, Florian, vertragen wir noch ein Gläschen?«
Dem Angesprochenen blieb nichts anderes übrig, als zu nicken, wollte er nicht als Spielverderber dastehen. Adrian bestellte drei Gläser und flirtete dabei mit der Bedienung.
Die meisten anderen Gäste waren inzwischen gegangen, und es war deutlich zu sehen, daß das junge Madl gern Feierabend gemacht hätte.
»Bringen Sie mir gleich die Rechnung mit«, sagte er.
Der Champagner kam, und Florian schüttelte innerlich den Kopf, als er sah, welch ein großzügiges Trinkgeld der ›Angeber‹ der Bedienung in die Hand drückte.
»Was bekommen Sie von mir?« fragte er das Madl.
»Oh, das ist alles schon erledigt«, lautete die Antwort. »Der Herr hat alles bezahlt.«
Adrian spitzte die Lippen und schaute Florian irgendwie triumphierend an.
»Dann Prost«, sagte er und hob das Glas. »Ich heiße Adrian.«
Sie tranken, und Florian mußte zugeben, daß der Champagner hervorragend schmeckte. Aber mit etwas anderem hätte sich Adrian Heller wohl auch nicht zufriedengegeben.
Bei ihm mußte alles nur vom Besten sein. Angefangen beim Champagner über die Kleidung, bis hin zu dem teuren Auto, das er fuhr.
»So, und nun kommt das Schönste«, sagte der Börsenmakler und wischte sich über die Lippen. »Der Brüderschaftskuß.«
Natürlich hatte er dabei Babette angesehen, die unsicher zu Florian blickte. Der erwiderte den Blick mit versteinerter Miene. Es war nur allzu deutlich, daß er mit dem Kuß überhaupt nicht einverstanden war.
Aber gerade diese Haltung erweckte Babettes Unwillen.
Himmel, was war denn schon dabei?
Jeden Tag wurden überall auf der Welt harmlose Küsse dieser Art ausgeteilt!
Sie lächelte Adrian an und ließ sich von ihm küssen.
*
Babette saß am Fenster und schaute in die Dunkelheit.
War es doch ein Fehler gewesen, diesen Kuß zuzulassen?
Florian hatte ziemlich bestürzt dreingeschaut, als sie es geschehen ließ. In seinem Gesicht zeichneten sich Ratlosigkeit und Wut ab. Es war ganz offensichtlich, daß er sich gedemütigt fühlte.
Adrian Heller gab sich unbekümmert. Er hob wieder ein Glas und prostete ihr noch einmal zu. Florian stand abrupt auf und sah Babette auffordernd an.
»Wir sollten jetzt wirklich gehen.«
Der Börsenmakler schmunzelte.
»Gute Nacht«, wünschte er.
»Ebenfalls«, murmelte sie und nickte Florian zu.
Der ging mit versteinerter Miene neben ihr und sprach kein Wort, bis sie bei der Pension angekommen waren. Vor den Zimmern blieben sie stehen.
»Ja, dann schlaf gut«, sagte er.
»Du auch«, antwortete sie und wollte ihm einen Kuß geben.
Florian drehte rasch den Kopf, so daß sie nur seine Wange streifte, und ging zu seiner Tür. Ohne noch etwas zu sagen, schloß er auf und drückte die Tür von innen wieder zu.
Babette stand einen Moment unbeweglich und starrte auf das hellbraune Holz. Dann zuckte sie die Schultern und öffnete die Tür. Drinnen war es hell durch den Mond, der in das Fenster schien. Sie ließ das Licht ausgeschaltet, und setzte sich ans Fenster. Nebenan war es still, als wäre das Zimmer unbewohnt.
Die Lehrerin ließ die letzten Stunden noch einmal Revue passieren und horchte in sich hinein.
Mußte sie tatsächlich ein schlechtes Gewissen haben?
Irgendwie fand sie es albern, was Florian daraus machte. Andererseits hatte sie aber auch Verständnis für seine Eifersucht. Trotzdem –, sie kannten sich erst ein paar Tage, und wenn sie sich auch auf den ersten Blick in ihn verliebt hatte, so konnte er daraus doch keine Besitzansprüche ableiten, war ihre Meinung.
Und ihr schon gar nicht vorschreiben, mit welchem Mann sie sich unterhielt.
Denn darauf würde es hinauslaufen, war sie sicher. Daß Florian Adrian Heller nicht mochte, hatte er ja von Anfang an gezeigt. Babette hingegen fand den Börsenmakler keineswegs unsympathisch. Ganz im Gegenteil, er hatte ihrer weiblichen Eitelkeit geschmeichelt, daß ein so attraktiver Mann sich um sie bemühte, und wenn sie ehrlich war, dann mußte sie sogar eingestehen, daß Adrian ihr sehr gut gefiel.
Er und Florian –, jeder war auf seine Art anziehend. Wenn sie sich hätte entscheiden müssen, sie hätte in diesem Moment nicht zu sagen gewußt, auf wen ihre Wahl gefallen wäre…
Seufzend ging sie ins Bad und putzte sich die Zähne. Als sie später im Bett lag und noch einmal über alles nachdachte, hoffte sie, daß Florian am nächsten Morgen seinen Groll vergessen haben würde und alles wieder so war wie vorher.
Im Nebenzimmer lag Florian auf dem Bett und starrte an die Decke. Er hatte ebenfalls die Vorhänge vor den Fenstern noch nicht zugezogen, so daß das Mondlicht hereinscheinen konnte. Der junge Chemiker biß sich auf die Lippe und dachte an das, was heute abend geschehen war.
Unwillkürlich war ihm Evelyn in Erinnerung gekommen, die Frau, die er einmal geliebt hatte. Er hatte geglaubt, sie vergessen zu können nach allem, was sie ihm angetan hatte. Doch jetzt fühlte er sich fast genauso schlecht, wie an jenem Tag, als die Beziehung in die Brüche ging.
Hatte er Babette falsch eingeschätzt? Unterschied sie sich gar nicht so sehr von Evelyn?
Florian fühlte sich durch das Verhalten der Lehrerin gekränkt. Immerhin betrachtete er sich als Babettes Freund, und er war es gewesen, mit dem sie ausgegangen war. Sich von Adrian Heller küssen zu lassen, empfand er als Gipfel der Unverfrorenheit, und dementsprechend war seine Laune gewesen.
Er hatte sich wirklich zurückhalten müssen, um dem Kerl nicht eine runterzuhauen!
Aber hätte das etwas gebracht?
An der Situation war nichts mehr zu ändern, und er mußte sich damit abfinden, daß es noch andere Männer gab, die an Babette Mertens Gefallen hatten.
Es dauerte noch sehr lange, bis er endlich einschlief. Als Florian am nächsten Morgen aufwachte, kehrte die Erinnerung zurück. Er zwang sich, den wieder aufsteigenden Ärger zu unterdrücken, und nahm sich vor, sich bei Babette zu entschuldigen. Als er an den Tisch ging, saß sie schon dort.
»Guten Morgen«, sagte Florian und beugte sich zu ihr, um ihr einen Kuß zu geben.
Sie ließ es geschehen und lächelte sogar.
»Hast du gut geschlafen?« fragte sie.
Florian setzte sich.
»Es geht so«, antwortete er und sah sie mit Büßermiene an. »Ich möchte mich bei dir entschuldigen, Babette. Es tut mir leid, daß ich mich gestern abend so dumm benommen habe. Es ist nur, weil…«
Sie schüttelte den Kopf. »Ist schon gut«, sagte sie. »Wollen wir nicht mehr darüber reden, ja?«
Er nickte, befreit atmend. Ria Stubler kam und brachte den Brotkorb und Kaffee.
»Heut’ soll’s zum Baden an den Achsteinsee geh’n?« meinte sie. »Dann mach’ ich Ihnen nachher einen Korb zurecht, den Sie mitnehmen können.«
»Vielen Dank«, nickte Florian. Er schaute Babette an. »Hast du ihr davon erzählt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich hab’ noch keine zwei Worte mit ihr gesprochen«, antwortete sie. »Vielleicht hat…«
Sie sprach nicht weiter, aber Florian wußte auch so, was sie hatte sagen wollen.
Adrian Heller mußte sich mit der Wirtin unterhalten haben!
Unwillkürlich glitt sein Blick zum Nachbartisch! Der war bereits gedeckt; der Börsenmakler hatte offenbar schon gefrühstückt.
Na gut, dachte Florian, wenn ich den Burschen für den Rest des Tages nicht mehr sehen muß, dann soll’s mir recht sein!
Er nahm eine Semmel aus dem Korb und schnitt sie auf. Ria brachte die gekochten Eier und wünschte einen guten Appetit.
»Freust du dich schon auf das Schwimmen?« fragte er Babette.
Die Lehrerin bejahte. »Es wird bestimmt wieder ein herrlicher Tag«, sagte sie mit einem Blick zum strahlendblauen Himmel. »Ich kann’s gar nicht abwarten, ins Wasser zu kommen.«
»Dann sollten wir uns mit dem Frühstück beeilen«, schmunzelte Florian.
*
Mit dem Auto war es nur ein Katzensprung. Der Parkplatz war bereits vollgestellt, so daß Florian seinen Wagen in einer Seitenstraße abstellen mußte. Gemeinsam trugen sie den Korb, den sie von Ria Stubler bekommen hatten. Darin waren belegte Brote, Obst und Getränke. Außerdem hatte die Wirtin ihnen noch eine Decke mitgegeben, auf die sie sich legen konnten.
»Schau nur!« rief Babette entzückt, als sie den Campingplatz hinter sich gelassen hatten und das Wasser sehen konnten. »Sieht das nicht phantastisch aus?«
Florian nickte. Es war wirklich ein imposanter Anblick, der sich ihnen bot. Der Achsteinsee lag wie gemalt vor der Kulisse der aufragenden Berge, deren Kuppen in den Himmel zu stoßen schienen. Das Wasser hatte eine blaue Färbung, wie auf einer Ansichtskarte. Boote fuhren auf dem See, unzählige Badelustige tummelten sich darin, und sogar ein Windsurfer versuchte sein Glück. Rings um die Uferpromenade standen zahlreiche Geschäfte, in denen man Andenken oder Badeutensilien kaufen konnte, und Wirtshäuser, Cafés und Eisdielen.
»Gott sei Dank habe ich den Fotoapparat mitgenommen«, sagte Florian. »Das muß man ja wirklich im Bild festhalten.«
»Ich hab’ meinen vergessen«, bedauerte Babette. »Zu dumm!«
»Macht nichts«, tröstete er sie, »später schauen wir uns die Fotos gemeinsam an und erinnern uns daran, wie schön es hier ist.«
Babette lächelte dankbar. Zusammen suchten sie noch einen freien Platz auf der Liegewiese, was allerdings nicht ganz einfach war. Trotz der frühen Stunde, es war gerade mal halb zehn, waren schon viele Badegäste an den See gekommen. Doch nach einigem Suchen hatten sie Glück und fanden eine Stelle, die nicht zu nahe am Ufer lag, wo der Betrieb am größten war.
Florian kam zuerst aus der Umkleidekabine. Als er dorthin schaute, wo sie die Decke ausgebreitet hatten, erstarrte er.
Gleich daneben lag Adrian Heller, und grinste ihn an.
»Hallo«, rief er und winkte mit der Hand, »auch schon da?«
Mit eisiger Miene ging Florian hinüber und legte seine Sachen neben den Korb.
»Hätten Sie sich keinen anderen Platz aussuchen können?« fragte er verärgert.
Der Börsenmakler lächelte spöttisch.
»Wieso? Der hier gefällt mir ganz gut«, erwiderte er. »Aber Florian, haben wir gestern abend nicht beschlossen, uns zu duzen?«
Der Chemiker sah ihn abweisend an.
»Ich kann mich nicht erinnern, mit Ihnen Brüderschaft getrunken zu haben«, gab er zurück.
Adrian grinste immer noch.
»Na ja, geküßt haben wir uns nicht«, sagte er. »Aber das wäre ja auch noch schöner. Trotzdem galt mein Angebot auch für dich…, pardon, für Sie.«
Er schaute zu den Umkleidekabinen.
»Ah, da kommt ja unsere Freundin.«
Florian hatte sich auf der Decke niedergelassen. Adrian war nur eine Handbreit von ihm entfernt. Er streckte den Arm aus und hielt ihm den Zeigefinger vor die Nase.
»Hör zu«, knurrte er leise. »Babette ist meine Freundin, daß das klar ist! Für dich ist sie bestenfalls eine zufällige Urlaubsbekanntschaft. Haben wir uns verstanden?«
Adrian ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
»Also duzen wir uns jetzt doch?« fragte er und zuckte die Schultern. »Soll mir recht sein. Und was das andere angeht, da bleibt abzuwarten, wie Babette sich entscheidet…«
›Sie hat sich schon entschieden‹, wollte Florian sagen, doch da war die Lehrerin schon bei ihnen, und er verschluckte die Worte lieber.
»Na, das ist ja eine Überraschung«, sagte Babette.
Sie hatte den Börsenmakler schon gesehen, als sie ins Freie getreten war. Irgendwie hatte sie kein gutes Gefühl dabei, ihn hier zu wissen. Aber jetzt nahm sie erleichtert zur Kenntnis, daß Florian und Adrian sich anscheinend friedlich verhielten.
Adrians Augen glitten bewundernd über ihren Körper.
»Steht dir wirklich gut, dein neuer Badeanzug«, sagte er.
»Danke«, erwiderte sie und fragte sich insgeheim, ob das Modell vielleicht nicht doch etwas zu gewagt war.
Es war ein hellblauer Stoff, der mit roten Blümchen verziert war. Der Schnitt brachte ihre Formen vorteilhaft zur Geltung, allerdings schien ihr jetzt der Ausschnitt ein wenig zu tief angesetzt. Im Geschäft, wo sie den Badeanzug gekauft hatte, war ihr das gar nicht aufgefallen. Doch jetzt…
Und Adrians Blicke sprachen Bände!
»Wollen wir ins Wasser?« fragte sie, um die Situation zu überspielen.
Eigentlich war die Frage an Florian gerichtet, doch es war der Börsenmakler, der sofort aufsprang.
»Machen wir ein Wettschwimmen«, rief er. »Wer zuerst an der Insel ist.«
Babette sah ihren Freund an. »Was ist mit dir?«
Florian schaute verärgert drein. Sie hockte sich zu ihm.
»Sei nicht böse«, bat sie. »Ich kann doch nichts dafür, daß er auch hier ist.«
»Natürlich nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Aber vor dem Kerl scheint man nirgendwo seine Ruhe zu haben.«
»Komm«, sagte sie und gab ihm einen Kuß. »Wir wollen uns von ihm nicht den Tag verderben lassen.«
Eher widerwillig stand Florian auf. Für ihn war der Tag schon verdorben. Trotzdem ging er mit ihr und hielt dabei ihre Hand, damit jeder sehen konnte – vor allem Adrian –, daß sie zusammengehörten.
Adrian Heller stand am Ufer und wartete auf sie.
»Was ist jetzt mit einem kleinen Wettbewerb?« fragte er angriffslustig in Florians Richtung.
Hätte nur noch gefehlt, daß er hinzugesetzt hätte: Der Sieger bekommt die Braut!
*
Für Florian war der Tag verdorben. Mit dem Auftauchen des Mannes, in dem er instinktiv den Nebenbuhler erahnte, hatte es begonnen, und setzte sich weiter fort.
Sie waren bis zu der künstlichen Insel hinausgeschwommen und waren an ihr hinaufgeklettert. Adrian hatte – natürlich! – Babette den Vortritt gelassen und war absichtlich langsamer geworden. Florian beteiligte sich nicht an dem Wettschwimmen und kam erst bei der Insel an, als die beiden schon oben saßen.
Da hatte der Börsenmakler die Lehrerin bereits in ein Gespräch verwickelt. Es drehte sich um Aktienkurse und Gewinne, und Florian fragte sich, warum Babette überhaupt zuhörte.
Von ihrem Gehalt als Lehrerin konnte sie wohl kaum etwas abzweigen, um das Geld anzulegen –, genauso wenig wie er.
Aber Adrian Heller schien sie mit seiner Art zu faszinieren, wenn er darüber sprach, welche Geschäfte er machte und was dabei zu verdienen war. Sie hing geradezu an seinen Lippen, und Florian bekam immer mehr das Gefühl, sie zu verlieren.
»Wollen wir wieder zurückschwimmen?« fragte er schließlich, als ihm das Gerede zuviel wurde.
Babette sah ihn überrascht an.
»Was?«
Sie hatte gar nicht hingehört, als er sie ansprach.
Der junge Chemiker sah den beiden noch eine Weile zu, dann sprang er ins Wasser, ohne ein Wort zu sagen.
»Florian, warte doch!« rief die Lehrerin ihm hinterher.
Doch er hörte nicht. Wollte nicht hören. Mit langen Zügen schwamm er ans Ufer zurück und ging zu ihrem Liegeplatz. Dort raffte er seine Sachen zusammen, nahm sie mit in die Umkleidekabine und zog sich an.
Babette stand ein wenig verwirrt auf der Plattform. Sie ahnte, daß sie ihn gekränkt hatte. Aber Adrian hatte gerade wirklich interessiert erzählt, sie hatte ihm einfach zuhören müssen.
»Setz dich doch wieder«, sagte der Börsenmakler. »Der beruhigt sich schon wieder.«
Im Grunde war er froh darüber, daß Florian nicht mehr störte. Er lächelte Babette an. »Oder hast du jetzt etwa ein schlechtes Gewissen?«
»Ich weiß nicht.« Sie zuckte die Schultern. »Vielleicht sollte ich besser auch zurückschwimmen.«
»Ach, Unsinn!« Er schüttelte den Kopf. »Oder seid ihr etwa verheiratet?«
»Verheiratet? Nein.«
»Na also, dann kann er auch nicht über dich bestimmen. Ich meine, das dürfte er als dein Ehemann auch nicht, aber so hat er noch weniger Recht, dir vorzuschreiben, mit dem du dich unterhalten darfst.«
»Stimmt eigentlich«, nickte sie und setzte sich wieder.
Sie war wütend. Wütend über Florians kindisches Verhalten und die Art und Weise, wie er mit der Situation umging. Eigentlich hätte sie ihm mehr Selbstbewußtsein zugetraut.
Adrian legte seine Hand auf ihren Arm.
»Erzähle mir ein bißchen was von dir«, bat er.
Sie sah ihn an und wiegte den Kopf.
»Ach, Gott, was gibt’s da schon groß zu erzählen?«
»Mich interessiert alles. Woher du kommst, was du so machst, außer Kinder zu unterrichten. Eben alles, was dein Leben so ausmacht.«
Sein Interesse schmeichelte ihr, und so unterhielten sie sich eine ganze Weile, bis sie es wirklich an der Zeit fand, zurückzukehren. Babette hoffte, daß Florian sich inzwischen beruhigt hatte.
»Na schön«, lächelte Adrian Heller, als sie ihm sagte, daß sie zurückschwimmen wollte, »einer schönen Frau kann ich ja keinen Wunsch abschlagen.«
Gemeinsam schwammen sie ans Ufer. Als sie zu der Liegewiese kamen, sah Babette sofort, daß Florian nicht mehr da war. Ärgerlich stampfte sie mit dem Fuß auf.
Adrian stand neben ihr und legte seinen Arm um sie. »Ärgere dich nicht«, sagte er. »Fährst eben mit mir zurück. Aber vorher gehen wir essen. Da drüben soll es ein Restaurant geben, in dem ganz frischer Fisch aus dem See auf der Karte steht.«
In der ›Fischerkate‹ herrschte großer Andrang. Der Börsenmakler hatte indes schon gleich am Morgen, als er hergekommen war, mit einem großzügigen Trinkgeld einen Tisch reserviert.
Babette fiel gar nicht auf, daß er nur für zwei Personen gedeckt war…
Der Fisch war wirklich fangfrisch und schmeckte köstlich. Dazu gab es gekochte Kartoffeln, zerlassene Butter, Sahnemeerrettich und Salat. Adrian bestellte Weißwein dazu und Mineralwasser. Fast zwei Stunden saßen sie im Garten des Restaurants und aßen und unterhielten sich. Nach dem Hauptgang gab es Dessert, danach Espresso, und wenn Babette zwischendurch immer wieder auf die Uhr sah, so genoß sie doch, daß ihr Begleiter ihr jeden Wunsch von den Augen ablas und sie charmant unterhielt.
Als sie nach St. Johann zurückfuhren, war es bereits später Nachmittag.
»Sehen wir uns heute abend?« fragte Adrian, als sie vor der Pension ausstiegen.
»Besser nicht.« Babette schüttelte den Kopf.
»Wegen Florian?«
»Auch… Aber morgen ist doch die Bergtour. Da muß ich früh raus.«
»Verstehe«, nickte der Börsenmakler. »Trotzdem, es war ein schöner Tag mit dir.«
»Das finde ich auch«, antwortete sie. »Vielen Dank dafür.«
»Keine Ursache. Ich habe die Stunden wirklich genossen.«
Sie gingen hinein und stiegen die Treppe hinauf. Vor Babettes Tür blieben sie stehen. Adrian Hellers Zimmer lag ein Stück den Flur hinunter. Der Blick, mit dem er sie anschaute, ging ihr durch und durch, und wie von selbst lag Babette in seinen Armen und ließ es geschehen, daß er sie leidenschaftlich küßte.
Als sie sich gerade wieder von ihm lösen wollte, ging die Tür von Florians Zimmer auf. Er stand auf der Schwelle und sah sie schweigend an.
Dann gab es einen Knall, und die Tür flog wieder zu.
Adrian lächelte mokant. »Jetzt weiß er’s«, sagte er.
Babette wußte nicht, was sie machen sollte. »Geh’ jetzt bitte«, murmelte sie und schloß auf.
Drinnen lehnte sie sich an die Tür und schloß die Augen.
Mein Gott, dachte sie, was hab’ ich bloß gemacht?
Immer wieder sah sie Florians versteinerte Miene, mit der er zugesehen hatte, wie sie in Adrians Armen lag. Sie wußte, daß sie das niemals hätte zulassen dürfen.
Endlich gab sie sich einen Ruck und ging hinaus. Das Herz schlug ihr bis zum Hals hinauf, als sie an seine Zimmertür klopfte.
Einmal, zweimal, aber es kam keine Antwort. Babette drückte die Klinke nieder, doch es war, wie sie schon vermutet hatte, abgesperrt.
»Florian«, rief sie verhalten. »Florian, mach’ bitte auf. Ich muß mit dir reden.«
Noch einmal klopfte sie, rief seinen Namen, dann endlich drehte sich der Schlüssel im Schloß, und die Tür öffnete sich einen Spalt breit. Florian Unger sah hindurch, und in seinen Augen war die Anklage deutlich zu lesen.
»Bitte, darf ich hereinkommen?« fragte Babette.
»Warum?« fragte er zurück. »Du hast dich doch offenbar entschieden.«
Dann fiel die Tür wieder zu. Sie stand noch einen Moment davor, dann kehrte sie in ihr Zimmer zurück, setzte sich auf das Bett und weinte.
*
Sebastian und Alois Kammeier, der Mesner von St. Johann, bereiteten sich in der Sakristei auf die Abendandacht vor, als der Bergführer draußen jemanden seinen Namen rufen hörte. Ein junger Mann stand in der Kirche und lächelte freundlich.
»Entschuldigen Sie, Hochwürden, wenn ich störe«, sagte er. »Aber ich hätte eine Bitte.«
»Ja?«
»Mein Name ist Adrian Heller«, stellte der Mann sich vor. »Ich bin mit Babette Mertens und Florian Unger bekannt geworden und habe gehört, daß Sie mit den beiden eine Bergtour unternehmen…«
»Und jetzt wollten Sie fragen, ob Sie sich uns anschließen können.«
»Richtig. Es wäre mir wirklich eine große Freude, wenn Sie mich mitnehmen würden.«
»Sind Sie denn für so eine Tour ausgerüstet?« wollte Sebastian Trenker wissen.
»Ja, dafür ist gesorgt.« Der Börsenmakler nickte eifrig.
»Und Sie haben auch schon gehört, wohin es gehen soll, nehme ich an, und wie lang’ die Tour dauern wird?«
»Ja, auf die Kandereralm, erzählten die beiden.«
»Nun, Herr Heller, ich hab’ nix dagegen, wenn Sie mit aufsteigen wollen. Im Gegenteil, mit mehreren Leuten macht’s gleich noch mal so viel Spaß. Wenn S’ sich die Tour zutrauen…«
»Herzlichen Dank, Hochwürden«, rief Adrian.
»Dann also morgen früh mit den anderen«, nickte der Geistliche. »Geh’n S’ zeitig schlafen.«
»Mach ich«, versprach der Börsenmakler und ging.
Draußen rieb er sich die Hände.
Das hatte ja bestens geklappt.
Adrian stieg in seinen Sportwagen und jagte in die Stadt, bevor die Geschäfte schlossen. Denn natürlich war er für eine Bergtour nicht ausgerüstet und mußte sehen, daß er noch alles zusammenbekam.
In der Stadt suchte er nach einem entsprechenden Laden und mußte erst mehrere Passanten fragen, bis er ihn fand. Er hielt direkt vor dem Geschäft – im Halteverbot.
Allerdings kümmerte es ihn wenig, genauso wie der Strafzettel, den er nach einer Stunde unter den Scheibenwischer geklemmt fand. Er steckte ihn, ohne zu lesen, in die Tasche und fuhr nach St. Johann zurück.
Das bißchen Kleingeld zahlte er aus der Portokasse.
Gutgelaunt betrat er die Pension. Ria Stubler ging gerade durch den Flur, als er hereinkam.
»Na, haben S’ Einkäufe gemacht?« erkundigte sich die Wirtin leutselig. Er lächelte.
»Ja, morgen geht’s auf Bergtour«, antwortete er.
»Ach, Sie auch? Gut, daß Sie’s sagen. Ich richt’ dann für Sie auch ein kleines Frühstück her.«
»Das ist lieb, Frau Stubler«, bedankte er sich und stieg die Treppe hinauf.
Vor Babettes Zimmer blieb er stehen und klopfte an die Tür. Als sie öffnete, sah er ihre verweinten Augen.
»Was ist denn los?«
Die Lehrerin schluchzte. Adrian nahm sie in die Arme und drängte sie ins Zimmer, die Tüten mit seinen Einkäufen ließ er draußen stehen.
»Erzähl«, forderte er sie auf.
»Was soll ich da erzählen? Florian, er…«
Unvermittelt nahm er ihren Kopf in beide Hände und küßte sie.
»Vergiß ihn«, sagte Adrian. »Babette, ich liebe dich. Bei mir wirst du niemals weinen müssen!«
Sie lehnte sich an seine Schulter, während ihre Gedanken Karussell fuhren.
War das so einfach? Den Mann, den man liebte, aufgeben und sich einem anderen zuzuwenden?
»Laß mir Zeit«, bat sie. »Es kommt alles so plötzlich.«
»Natürlich, mein Liebling«, raunte er mit einschmeichelnder Stimme in ihr Ohr. »Nur laß mich nicht zu lange warten. Ich verzehre mich nach dir!«
Er schaute sie lächelnd an.
»Bis morgen, Babette. Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus.«
Sie lächelte tapfer zurück und nickte.
Nachdem Adrian gegangen war, setzte sie sich auf das Bett und überlegte. Gerne hätte sie sich mit Florian ausgesprochen, doch der zeigte sich unversöhnlich. Aber dazu hatte er ja auch allen Grund. Babette konnte nicht sagen, daß sie an seiner Stelle anders reagiert hätte, als er es getan hatte.
Immer wieder war sie versucht, nach nebenan zu gehen und zu klopfen. Aber sie war sicher, daß er nicht öffnen würde, also unterließ sie es doch. Ein Blick auf die Uhr belehrte sie, daß es höchste Zeit war, schlafen zu gehen, wenn sie sich am nächsten Morgen nicht wie gerädert fühlen wollte.
Sie stellte den Wecker auf halb vier und ging ins Bad. Als sie dann kurz darauf im Bett lag und die Augen schloß, sah sie immer noch Florians Gesicht.
Verbittert und anklagend hatte er sie angesehen.
*
Florian Unger war wutentbrannt nach St. Johann zurückgefahren. Dabei galt diese Wut nicht Babette, sondern Adrian Heller. Am liebsten hätte er diesen Kerl auf den Mond geschossen, nur ging das leider nicht.
Ria Stubler war erstaunt gewesen, als der Chemiker alleine zurückkam.
Vor allem so früh!
»Hat’s ihnen net gefallen am Achsteinsee?« fragte sie.
Florian winkte ab.
»Doch, doch«, antwortete er kurz und stieg die Treppe hinauf.
In seinem Zimmer hockte er sich auf einen Stuhl und brütete vor sich hin. Der ganze Urlaub war verdorben, und obendrein hatte er auch noch die Frau verloren, in die er sich so Hals über Kopf verliebt hatte.
Er hätte vor Verzweiflung schreien mögen!
Doch wem hätte das etwas genutzt?
Irgendwann raffte er sich auf und machte einen Spaziergang. Er wollte nicht in seinem Zimmer sein, aber auch nicht unter Leuten. Schließlich setzte er sich auf eine Aussichtsbank, die am Rande einer Bergwiese stand, und schaute ins Tal hinunter. Aber für die Schönheiten der Natur hatte er keinen Blick. Mit seinen Gedanken war er bei Babette, und die Vorstellung, daß sie jetzt mit diesem Schnösel zusammen war, peinigte ihn bis aufs Blut. Immer wieder malte er sich aus, was die beiden wohl gerade machten, und die schlimmste Phantasie war, sie in seinen Armen zu sehen.
Es war schon später Nachmittag, als er heimging. Der Sportwagen stand noch nicht vor der Pension; sie waren also immer noch am See.
Irgendwann hörte er Stimmen auf dem Flur und lauschte, ob er sie erkannte. Ja, es waren ganz eindeutig Babette und dieser Heller, die sich da draußen unterhielten. Florian schlich zur Tür. Im ersten Moment wollte er horchen, was die beiden sich zu sagen hatten, doch dann kam es ihm albern vor, und er öffnete.
Ein Schwall eisigen Wassers hätte keine andere Wirkung auf ihn haben können, als die Szene, die sich ihm bot.
Babette lag in den Armen des anderen und ließ sich von ihm küssen.
Dieser Anblick gab Florian einen tiefen Stich ins Herz. Für Sekunden schien sich alles um ihn herum zu drehen. Er konnte nicht anders, als wie gebannt auf die beiden zu starren. Erst als er das schuldbewußte Gesicht Babettes sah, ging ein Ruck durch ihn hindurch, und er knallte die Tür ins Schloß.
Wie gelähmt stand er da und war unfähig, sich zu rühren.
So verhielt es sich also, Babette war auf den Burschen hereingefallen!
Florian schluckte den dicken Kloß hinunter, der in seinem Hals steckte, und rang nach Luft. Als es kurz darauf an die Tür klopfte, reagierte er nicht. Babette rief seinen Namen, doch die Tür blieb verschlossen.
Gab es wirklich noch etwas zwischen ihnen zu bereden, wie sie sagte?
Nein. Aber er hatte ihr etwas zu sagen.
Florian schloß die Tür auf und öffnete sie einen Spalt. Blaß sah sie aus, und das schlechte Gewissen stand ihr ins Gesicht geschrieben.
»Bitte, darf ich hereinkommen?« fragte sie mit zitternder Stimme.
»Warum?« gab er schroff zurück. »Du hast dich doch offenbar entschieden.«
Und die Tür fiel wieder ins Schloß.
An diesem Abend verließ Florian Unger sein Zimmer nicht mehr. Seit dem Morgen hatte er nichts mehr gegessen, aber er verspürte auch keinen Hunger. Er machte sich früh fürs Bett fertig und versuchte zu schlafen, was ihm angesichts der Ereignisse aber überhaupt nicht gelang. Erst gegen zwei Uhr schloß er die Augen. Als der Wecker klingelte, hatte er gerade mal eineinhalb Stunden geschlafen.
Die Dusche erfrischte ihn nur mäßig. Zwar konnte sie den Schlaf vertreiben, nicht aber das Gefühl des Verlorenseins und der inneren Traurigkeit. Am liebsten wäre er liegengeblieben und hätte auf die Tour verzichtet. Aber er hatte sich so auf den Aufstieg gefreut, und wenigstens etwas Schönes wollte er in diesem Urlaub noch erleben.
Vielleicht, hoffte er, verzichtete Babette ja darauf.
Die Geräusche aus dem Nachbarzimmer belehrten ihn allerdings eines Besseren. Offenbar machte sie sich auch für den Ausflug in die Berge fertig. Florian wußte nicht, ob er sich darüber freuen sollte.
Plötzlich kam ihm ein schrecklicher Verdacht.
Was, wenn der Kerl, dieser Heller, vorhatte, sich ebenfalls anzuschließen?
Der Dreistigkeit nach zu urteilen, mit der er sich gestern zwischen ihn und Babette gedrängt hatte, war es ihm durchaus zuzutrauen!
Florian wartete, bis er hörte, wie die Lehrerin leise die Tür ins Schloß zog und die Treppe hinunterging. Erst dann verließ er ebenfalls das Zimmer und folgte ihr.
Ria Stubler hatte gesagt, daß sie das kleine Frühstück in dem Aufenthaltsraum bereitstellen würde. Als Florian davor stand, glaubte er, hinter der geschlossenen Tür Stimmen zu vernehmen. Er öffnete sie und trat ein.
Als hätte ihn der Schlag getroffen, stand er da und starrte Babette und Adrian an.
Was nun? Kehrtmachen? Oder sich durch die Situation kämpfen?
Seine Gestalt straffte sich, als er die Tür zuzog und an den Tisch ging, auf dem Teller mit eingepackten Broten und Thermoskannen standen.
*
Babette hatte schlecht geschlafen. Als sie aufstehen mußte, ärgerte sie sich darüber, daß sie sich zu der Bergtour hatte überreden lassen. Aber jetzt wollte sie auch keinen Rückzieher machen. Als sie geduscht und angezogen war, fühlte sie sich schon wieder ein wenig besser. Sie hoffte, daß dieser Tag ihr Gelegenheit geben würde, ein vernünftiges Wort mit Florian zu wechseln. Schließlich waren sie erwachsene Leute und mußten als solche über alles in Ruhe sprechen können.
Gestern abend hatte sie nichts mehr essen können und freute sich jetzt auf das Frühstück. Sie ging hinunter und betrat den Aufenthaltsraum. Es brannte nur ein kleines Licht über dem Tisch, auf dem die Sachen standen, deshalb erkannte sie Adrian nicht sofort.
»Überraschung!« rief er und lachte sie an.
»Du?« fragte sie ungläubig, als sie sah, daß er Wanderkleidung trug. »Gehst du etwa auch mit?«
Er kam zu ihr. »Da staunst du, was?« sagte er und umarmte sie. »Guten Morgen, Schatz.«
Er gab ihr einen Kuß, den sie nur flüchtig erwiderte.
»Aber wieso…?«
»Ganz einfach. Ich habe mit Pfarrer Trenker gesprochen und gefragt, ob ich mich euch anschließen darf. Und er war einverstanden.«
»Weiß Florian das auch?«
»Ich hab’s ihm nicht gesagt«, antwortete der Börsenmakler. »Er wird es gleich erfahren, wenn er herunterkommt. Vielleicht hat er sich’s ja auch anders überlegt.«
Im selben Moment ging die Tür auf. Florian Unger stand auf der Schwelle, und es sah so aus, als wollte er jeden Moment wieder kehrtmachen. Doch dann zog er die Tür hinter sich zu und ging an den Frühstückstisch.
»Guten Morgen, Herr Nachbar«, sagte Adrian süffisant. »Wenn wir jetzt alle versammelt sind, können wir ja gleich losgehen. Nach dem Frühstück natürlich.«
Florian antwortete nicht. Er schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und griff nach einem Brotpäckchen. Doch er biß nur einmal ab, wickelte das Käsebrot wieder ein und steckte es in die Jackentasche.
Babette trat zu ihm.
»Ich wußte nichts davon, daß Adrian mitgeht«, sagte sie leise. »Ehrlich!«
Er schaute sie kurz an. »Das ist jetzt auch egal«, erwiderte er und trank seine Tasse leer.
»Können wir?« fragte der Börsenmakler. »Pfarrer Trenker wird jeden Moment da sein.«
Die Lehrerin war noch gar nicht dazugekommen, etwas zu essen. Hastig schlang sie ein Brot hinunter und schlürfte den heißen Kaffee. Fünf Minuten später traten sie durch die Tür.
Draußen war es noch dunkel. Erst langsam zeichnete sich am östlichen Horizont ein heller Schimmer ab. Der Geistliche bog um die Ecke und winkte ihnen zu.
»Grüß Gott, zusammen«, sagte er. »Seid ihr soweit? Dann kann’s ja losgeh’n.«
Er reichte Adrian Heller einen der beiden Rucksäcke, die er mitgebracht hatte.
»Gut drauf aufpassen«, mahnte er augenzwinkernd. »Da ist nämlich unser Proviant drinnen.«
»Wie viele kommen denn noch?« fragte der Börsenmakler. »Dem Gewicht nach zu urteilen, etwa eine halbe Armee.«
»Meine Haushälterin sorgt eben immer dafür, daß niemand hungern muß«, erklärte Sebastian.
Sie marschierten zum Dorf hinaus und erreichten bald den ›Höllenbruch‹.
»Der Name hört sich schauriger an, als es hier ist«, erklärte der Bergpfarrer. »Früher mag’s wirklich mal unheimlich gewesen sein, aber heutzutage ist der ›Höllenbruch‹ ein beliebter Treffpunkt für junge Paare, die ein bissel für sich sein wollen.«
Adrian, der neben Babette ging, sah die Lehrerin von der Seite an und zwinkerte ihr zu. Florian, hinter ihnen, sah es sehr wohl, und er mußte schlucken, weil sich wieder ein dicker Kloß in seiner Kehle gebildet hatte.
Eine halbe Stunde später waren sie an der ›Hohen Riest‹ angelangt. Von hier aus führten die Wege zu den einzelnen Almen. Zur Kandererhütte zu gelangen, gab es verschiedene Routen. Sebastian wählte immer diejenige, die am längsten dauerte und auch nicht immer einfach zu gehen war. Dafür war es aber auch die schönere Strecke, auf der man viel mehr zu sehen bekam, als auf der ›normalen‹ Tour.
Zwischendurch hielt der Geistliche immer wieder an und wies auf die Besonderheiten hin, an denen andere wahrscheinlich achtlos vorübergegangen wären. Eine besonders bizarre Felsformation war es wert, im Bild festgehalten zu werden, seltene Blumen, die im Schein der allmählich aufgehenden Sonne wie verzaubert aussahen, ebenso, oder die auf der anderen Seite durch das Klackern ihrer Hufe auf sich aufmerksam machenden Gemsen, die von Fels zu Fels sprangen.
Einmal huschte ein kleines schwarzbraunes Tier vor ihren Füßen über den Weg und verschwand in einem Erdloch.
»Ein Murmeltier«, erklärte der Geistliche.
Babette war begeistert. So schön hätte sie sich die Tour nicht vorgestellt. Sie hatte an eine endlose Wanderung gedacht, auf der man irgendwo über Geröllhalden kletterte, an endlosen Wiesen vorüberging, um dann irgendwann erschöpft eine Almhütte zu erreichen.
Doch das hier war etwas ganz anderes!
Alle Teilnehmer hatten ihre Fotoapparate dabei, die Verschlüsse klickten fast unablässig, und selbst Florian, der sich gar nicht mehr so recht hatte freuen können, als er feststellte, daß sein Nebenbuhler mit auf Bergtour ging, war froh, daß er sich doch dazu entschlossen hatte, nicht in der Pension zu bleiben.
Er bemühte sich, seine Traurigkeit zu unterdrücken und vor allem, Adrian Heller zu ignorieren.
Allerdings konnte er nicht verhindern, daß er sich ständig fragte, was dieser Mann von Babette wollte.
War es wirklich Liebe?
So einer wie der Börsenmakler, reich, mit einem Auto, das die meisten Menschen nie in ihrem Leben würden fahren können, so einer konnte jede Frau haben, die er wollte.
Warum mußte es ausgerechnet Babette sein? Wegen ihres Aussehens, ihrer charmanten Art, ihrer Weiblichkeit, die jeden Mann ansprach?
Florian glaubte nicht so recht daran, daß Adrian Heller sich in die Lehrerin verliebt hatte. Es kam ihm mehr so vor, als sähe der Börsenmakler lediglich eine Trophäe in ihr, die zu erringen er sich vorgenommen hatte, ohne Rücksicht auf die Gefühle, die sie vielleicht für ihn entwickelt hatte.
Er mußte ein Auge auf den Kerl haben, und wenn er nur das geringste Anzeichen entdeckte, daß Adrian mit Babette spielte, dann würde er es mit ihm zu tun bekommen!
*
Nach gut zwei Stunden hielt Sebastian Trenker auf einem Felsplateau an.
»So«, erklärte er, »hier wollen wir rasten.«
Die Sonne war inzwischen vollends aufgegangen, und die Wanderer entledigten sich ihrer Jacken, die sie auf dem Boden ausbreiteten und sich daraufsetzten. Babette öffnete den Rucksack, den Adrian getragen hatte, und nahm die Frühstückspäckchen heraus. Unterdessen schenkte der Geistliche den Kaffee ein.
»Na, wie gefällt euch die Tour?« erkundigte er sich.
Die Antworten fielen ausnahmslos begeistert aus.
»Das ist ja erst der Anfang«, erklärte Sebastian. »Wartet mal ab, was es nachher noch alles zu sehen gibt.«
Darauf waren sie schon alle gespannt, aber jetzt widmeten sie sich erst einmal ihren Broten, die köstlich schmeckten, nach dem ersten Teil ihres Aufstiegs, in der freien Natur. Dazu dampfte der heiße Kaffee in den Bechern, und die wärmenden Strahlen der Sonne taten ein Übriges für ihr Wohlbefinden.
Von ihrem Platz aus hatten sie einen herrlichen Blick hinunter ins Tal. St. Johann nahm sich aus wie eine Spielzeuglandschaft, und mit dem Fernglas konnte man bis zu den Berghöfen schauen, die auf der anderen Seite des Tales lagen, auf denen die Menschen und Tiere wie Ameisen auf den Betrachter wirkten.
Auch wenn er sich nichts anmerken ließ, so hatte der Bergpfarrer doch die eigenartige Stimmung registriert, die zwischen den jungen Leuten herrschte. Sebastin fragte sich, was da vorgefallen sein könnte, hakte aber nicht nach. Ihm fiel auf, daß Babette Mertens und Adrian vertraut miteinander wirkten; als er dann zu Florian Unger schaute und dessen mißmutiges Gesicht sah, wurde es ihm schlagartig klar.
Vorgestern, als die beiden im Pfarrhaus waren, da hatte es noch so ausgesehen, als wären sie ein Paar. Offensichtlich hatte sich diese Konstellation inzwischen zu Gunsten des Börsenmaklers geändert.
Der gute Hirte von St. Johann sah zu Babette und Adrian, und ohne, daß er es ahnte, gingen ihm dieselben Gedanken durch den Kopf wie Florian.
Was wollte der reiche Börsenmakler von der hübschen Lehrerin? War es wirklich aufrichtige Liebe?
Florian hatte sein Frühstück beendet und stand auf. Er ging ein Stück weiter weg und blickte durch den Sucher seines Fotoapparates. Sebastian ergriff die Gelegenheit und gesellte sich zu ihm.
»Das ist der Hirschkopf.« Er deutete auf den Felsen, der in einiger Entfernung zu sehen war.
Mit seiner bizarr zerklüfteten Spitze wirkte der Berg tatsächlich beinahe wie ein Hirschgeweih. Florian drückte auf den Auslöser.
»Und das da drüben müßte wohl der Kogler sein, oder?« fragte er.
»Richtig.« Der Bergpfarrer nickte und warf einen Blick auf das junge Paar.
Babette Mertens und Adrian Heller waren in ein Gespräch vertieft und schauten nicht herüber.
»Sag’ mal, Florian«, begann Sebastian, »vorgestern hatte ich den Eindruck, daß du und Babette zusammen seid. Aber da hab’ ich mich wohl getäuscht, oder?«
Der Chemiker sah ihn an und biß sich auf die Lippe.
»Vorgestern, da war auch noch alles anders«, antwortete er leise.
»Dann hab’ ich es also doch richtig geseh’n. Was ist gescheh’n?«
Florian Unger zuckte die Schultern.
»Das, was jeden Tag irgendwo auf der Welt geschieht. Paare, die voneinander glaubten, daß sie zusammengehören, trennen sich.«
Der gute Hirte von St. Johann schüttelte den Kopf.
»So einfach ist’s wohl net.«
Florian holte tief Luft. »Besonders nicht für mich«, entgegnete er. »Als ich Babette zum ersten Mal sah, da war ich sicher, daß sie die richtige Frau für mich ist. Wissen Sie, Hochwürden, es ist noch gar nicht so lange her, daß eine Beziehung in die Brüche gegangen ist. Ich habe Evelyn, so heißt die Frau, wirklich aufrichtig geliebt, aber sie hat nur mit mir gespielt. Und genau diese Situation ist wieder da. Vielleicht war sich Babette ihrer Gefühle für mich auch doch nicht so sicher, wie sie gesagt hat. Aber was soll ich tun? Ich kann nichts daran ändern und muß es akzeptieren, wie es ist.«
Er schaute zu den beiden.
»Obwohl ich mich frage, ob er es überhaupt ernst mit ihr meint…«
»Genau diese Frage habe ich mir auch gestellt«, bemerkte Sebastian.
Der Chemiker sah ihn überrascht an.
»Tatsächlich? Aber warum?«
»Weil ich ein Auge für solche Dinge hab’. Ich sehe die Menschen und spüre, was mit ihnen los ist. Als ich dich und Babette zusammen sah, da hatte ich das Gefühl, daß sich da ein Paar gefunden hat, das wunderbar zusammenpaßt. Um so erschütterter war ich, als ich vorhin feststellen mußte, daß ich mich offenbar geirrt hab’.«
»Geirrt haben Sie sich wohl nicht.« Florian schüttelte den Kopf. »Es hätte wunderschön mit uns werden können, wenn der Kerl sich nicht zwischen uns gedrängt hätte. Babette und ich, wir haben viele Gemeinsamkeiten. Es gibt so manches, was uns verbindet, das haben wir immer wieder festgestellt.«
Wehmütig erinnerte er sich an die Rast auf der Lichtung, als sie sich verlaufen hatten, an den ersten Kuß, die Liebesschwüre.
»Wenn du so sicher bist, dann mußt du um diese Liebe kämpfen«, sagte der Geistliche nachdrücklich.
»Kämpfen?«
Florian verzog den Mund zu einem traurigen Lächeln.
»Wie soll ich gegen ihn kämpfen? Haben Sie mal sein Auto gesehen? Der hat Geld wie Heu. Dagegen bin ich ein armer Schlucker.«
Sebastian schüttelte den Kopf.
»Auto, Geld –, das sind doch alles nur Äußerlichkeiten«, erwiderte er. »Darauf kommt es net an, sondern auf die inneren Werte. Glaubst du wirklich, daß Babette sich auf Adrian Heller eingelassen hat, weil er reich ist? Das glaub’ ich net. Da müßt’ ich mich schwer getäuscht haben.«
Er sah auf die Uhr.
»Ich würd’ mich gern noch weiter mit dir darüber unterhalten«, setzte er hinzu. »Aber leider müssen wir jetzt aufbrechen, wenn wir die Kandereralm rechtzeitig erreichen wollen.«
*
Zweimal legten sie unterwegs noch eine Rast ein und erfrischten sich an einem Gebirgsfluß, dessen Wasser kristallklar war und angenehm kühl. Bei dieser Gelegenheit füllten sie auch ihre inzwischen leeren Flaschen auf. Gegen Mittag hatten sie ihr Ziel erreicht.
»Das ist die Kandererhütte«, sagte Sebastian Trenker und deutete den Hügel hinunter.
In einer Senke stand die Hütte, alt und verwittert. Mehrere Anbauten waren im Laufe der Zeit hinzugefügt worden, es gab einen Stall und einen kleinen Schuppen. Auf der Terrasse saßen zahlreiche Wanderer, die über die anderen Wege heraufgekommen waren, auf den Berghängen grasten Kühe und Ziegen, bewacht von zwei Hütehunden.
»Hallo, Franz!« rief der Bergpfarrer und winkte dem Alten, der geschäftig zwischen den Gästen hin und her eilte.
»Hochwürden, herzlich willkommen«, grüßte der Senner zurück. »Schön, daß Sie mich mal wieder besuchen.«
Die beiden Männer schüttelten sich die Hände, und Sebastian stellte seine Begleiter vor.
»Was gibt’s denn heut’ Gutes zu essen?« erkundigte er sich dann.
Franz Thurecker war schon in den Siebzigern. Er hatte graues Haar und einen ebensolchen Bart. In seinem karierten Hemd und der dreiviertellangen Lederhose, von Trägern gehalten, die mit Hirschhorn verziert waren, entsprach er genau dem Bild, das die Leute von einem Bewohner der Berge hatten. Ganz allein lebte er fast das ganze Jahr über hier oben und verließ seine geliebte Hütte erst im Herbst, wenn der Almabtrieb begann. Dann wohnte er drunten im Dorf bei seiner Schwester und wartete ungeduldig darauf, daß der Winter vorüberging. Mit den ersten Sonnenstrahlen, wenn die jungen, zarten Blümchen und Pflanzen ihre Köpfe durch die schmelzende Schneedecke steckten, zog es ihn wieder hinauf.
Ein Leben ohne seine Hütte und Tiere konnte er sich überhaupt nicht vorstellen!
Da er ganz alleine hier oben lebte, versorgte er nicht nur die Tiere, stellte Butter und Käse her, Franz kochte auch und buk Brot. Nicht alles konnte er selbst produzieren, doch es waren nur wenige Dinge, die hin und wieder auf den Wirtschaftsweg heraufgebracht werden mußten. Heute hatte er einen großen Braten vorbereitet, zu dem es Semmelknödel und Salat gab, den der Senner in dem Garten hinter der Hütte selbst zog. Wer mit diesem Vorschlag nicht einverstanden war, konnte sich immer noch für seine berühmten Käsespätzle entscheiden und eine kalte Brotzeit wählen.
»Ich denk’, wir nehmen eine Portion Spätzle und hinterher etwas von dem Braten«, schlug Sebastian Trenker vor.
Die jungen Leute waren damit einverstanden.
»Dann sucht euch einen Platz auf der Terrasse«, sagte Franz. »Die Milch kommt gleich.«
Er kannte die Vorliebe des Bergpfarrers für die frische gekühlte Almmilch. Pfarrer Trenker und seine Begleiter stiegen die Stufen zur Aussichtsterrasse hinauf und grüßten die anderen Gäste. Sebastian wechselte ein paar Worte mit den Bergführern und setzte sich dann an Florians Seite.
Die Milch war köstlich, das Essen deftig, wie es sich für eine Almhütte gehörte, und schmeckte ausgezeichnet. Als sie sich satt und zufrieden zurücklehnten, klingelte ein Handy.
»Nanu«, sagte Adrian erstaunt und griff in seine Jackentasche. »Wer will denn da was von mir?«
Er stand auf und entschuldigte sich. Ein Blick auf das Display zeigte ihm, daß es Wolfgang Brehm war, sein Partner in der Firma.
»Hallo, altes Haus«, rief er ins Telefon. »Ich wollte mal hören, wie’s dir geht. Du meldest dich ja überhaupt nicht.«
»Muß ich ja auch nicht«, erwiderte der Börsenmakler lachend. »Bin ja im Urlaub. Was ist los? Bricht der Aktienmarkt zusammen, oder ist unsere Firma pleite?«
»Weder noch. Die Geschäfte laufen gut. Nein, ich wollte mich wirklich nur erkundigen, was du so machst. Alles klar bei dir?«
»Alles in bester Ordnung. Ich wette, du errätst nicht, wo ich gerade bin.«
»Spanne mich nicht auf die Folter und sag’s einfach.«
»Auf einer Almhütte in gut zweitausend Metern Höhe, richtig zünftig geht’s hier zu. Wir haben gerade gegessen.«
»Wir?« hakte Wolfgang nach. »Wer ist denn die Schöne?« Er lachte meckernd. »Daß sie schön ist, davon gehe ich mal aus«, fügte er hinzu.
»Klar«, grinste Adrian Heller. »Du kennst mich doch.«
»Sicher. Deshalb weiß ich ja auch, daß du dich nach dem Urlaub nicht mehr an ihren Namen erinnerst. Also, erzähl ein bißchen.«
Der Börsenmakler war ein paar Schritte hinter die Hütte gegangen. Er ließ sich lang und breit über die Vorzüge seiner Eroberung aus. Indes schien sein Geschäftspartner enttäuscht.
»Wie, ihr habt euch geküßt? Mehr ist nicht passiert?«
»Gut Ding will Weile haben«, entgegnete Adrian. »Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Festung gestürmt ist. Weißt du, da ist noch so ein anderer Typ, dem ich sie ausgespannt habe, und so ganz scheint sie noch nicht von ihm los zu sein, die hübsche Babette. Aber warte nur, bis ich sie von meinen Qualitäten überzeugt habe! Diesen Urlaub wird sie nicht so schnell vergessen.«
Er machte noch ein paar derbe Witze und lachte laut darüber. Dann erkundigte er sich, ob Bettina sich mal im Büro gemeldet habe. Aber das war nicht der Fall, und er beendete das Gespräch.
Als er sich umdrehte, und auf die Terrasse zurückgehen wollte, stand Florian Unger vor ihm.
Der Chemiker sah ihn wütend an.
»Du mieses Stück Dreck!« zischte er Adrian Heller an. »Ich mach’ dich fertig!«
Der Börsenmakler bedachte ihn mit einem geringschätzigen Lächeln. »Sei nicht albern, du Milchbubi«, gab er zurück. »Aber wenn du dich mit mir duellieren willst? Bitte, jederzeit.«
Adrian steckte sein Mobiltelefon in die Jacke und ging an Florian Unger vorbei. Der stand ohnmächtig da und ballte die Fäuste.
*
Florian hatte gedacht, eine Gelegenheit gefunden zu haben, um mit dem Nebenbuhler zu sprechen. Als Adrian die Terrasse verlassen hatte, waren Pfarrer Trenker und Babette aufgestanden und hatten das Geschirr in die Hütte getragen. Der Chemiker überlegte schnell und folgte dem Börsenmakler. Als er hörte, daß er noch telefonierte, blieb er an der Ecke der Hütte stehen, und was er hörte, wie der Kerl über Babette sprach, das trieb ihm das Blut ins Gesicht.
Es war genauso, wie er gedacht hatte. Adrian Heller suchte ein kurzes Urlaubsvergnügen. Wenn er sich genügend amüsiert hatte und wieder nach Hause gefahren war, würde er Babette fallen lassen wie eine heiße Kartoffel.
Florian mußte an sich halten, um nicht gleich über den Burschen herzufallen. Eine ordentliche Tracht Prügel, das war genau das, was er verdient hatte. Aber Florian war nicht der Mensch, der durch Gewalt etwas zu erreichen suchte. Als der hämisch grinsende Börsenmakler an ihm vorbeiging, war klar, daß Florian sich auch diesmal zurückhalten würde.
Aber sagen mußte er ihr, was er gehört hatte, wie Adrian über sie dachte und sprach!
Nur, würde sie ihm auch glauben?
Langsam umrundete er die Hütte, um nicht auf demselben Wege zur Terrasse zurückzukehren, wie Adrian. Dabei überlegte er, wie und wo er am besten mit Babette reden konnte. Jetzt war es nicht möglich. Sie saßen alle zusammen am Tisch, und auch der Senner hatte sich dazugesellt.
»Florian, komm her«, sagte der Geistliche. »Der Franz hat uns Kaffee und Kuchen gebracht.«
Essen konnte er nichts mehr, aber der heiße Kaffee tat ihm gut. Verstohlen beobachtete er Adrian und Babette, die ihre Köpfe zusammensteckten und miteinander sprachen.
Als der Börsenmakler seine Blicke bemerkte, schaute er kurz auf und sah Florian an. Seine Augen schienen den Chemiker zu warnen.
»Franz zeigt euch gleich, wie er den Käse herstellt«, sagte Sebastian. »Das interessiert euch doch sicher, oder?«
»Auf jeden Fall«, nickte die Lehrerin.
In der Käserei herrschte sterile Sauberkeit. Der Raum war bis knapp unter die Decke gefliest, die Gerätschaften hingen, ordentlich aufgereiht, an der Wand. Rechts standen zwei große Kupferkessel. Unter dem einen brannte ein leises Holzfeuer, der Rauch wurde über ein Rohr nach draußen abgeleitet. Franz Thurecker erklärte, daß er das Feuer am Morgen entzündet habe, nachdem er die Milch vom morgendlichen Melken in die von gestern abend geschüttet hatte.
»Aber das Feuer allein’ macht’s noch noch net«, sagte er. »Davon wird die Milch zwar warm, aber net dick.«
Er ging an einen Wandschrank und holte ein Fläschchen hervor.
»Das ist Lab«, fuhr er fort. »Habt ihr bestimmt schon mal gehört. Es kommt in jedem Kreuzworträtsel vor: ›Ferment aus dem Kälbermagen, mit drei Buchstaben.‹
Von dem Lab hatte er eine genau bemessene Menge der Milch zugegeben, inzwischen war sie dick geworden. Franz nahm ein Gerät von der Wand, das er Käseharfe nannte. Es besaß einen etwas längeren Stiel, vorn war ein Bogen aus Metall, in den Drahtseile gespannt waren. Das Ganze erinnerte an einen übergroßen Tennisschläger. Damit fuhr der Senner in die Milch und zerteilte sie in Stücke.
»Das ist der Käsebruch«, erklärte er. »Je feiner er geschnitten wird, um so fester ist nachher der fertige Käse.«
Nachdem er mit der Körnung zufrieden war, holte er ein großes, weißes Tuch herbei, von dem er zwei Enden zwischen seine Zähne nahm, die beiden anderen packte er mit den Händen – die natürlich zuvor gewaschen worden waren – und tauchte es tief in die Mischung aus Käsebruch und Molke.
Die Zuschauer bekamen eine Ahnung davon, daß das Käsemachen keine leichte Arbeit war. Franz’ Kopf war vor Anstrengung rot angelaufen, als er das Tuch herausholte und die Molke ablaufen ließ. Er wuchtete es in eine bereitgestellte Form, setzte einen Deckel auf und beschwerte sie mit einem Gewicht. Der Boden der Form hatte Löcher, damit die restliche Flüssigkeit abtropfen konnte.
So ging es weiter, bis nur noch Molke im Kessel war.
»Wenn die Flüssigkeit herausgepreßt ist, bekommt der Käse schon eine gewisse Festigkeit«, sagte der Senner. »Heut’ abend kommt er in eine Salzlake, und dann wär’ er eigentlich auch schon fertig, denn jetzt ist’s nix andres als Topfen, oder Quark, wie man andernorts sagt. Aber um einen Bergkäse zu machen, der schnittfest ist und einen richtigen Geschmack hat, braucht’s noch mehr, und das zeig’ ich euch jetzt.«
Sie betraten das Reifelager, in dem es sehr stark roch. Bis unter die Decke lagen die Käselaibe in den Regalen. Manche reiften ein paar Monate, andere über ein Jahr. Die waren dann besonders pikant im Geschmack und konnten, als Reibekäse, auch zum Kochen und Überbacken genommen werden, erklärte Franz.
Dann zeigte er den Besuchern, wie der Käse geprüft wurde. Er klopfte die Laibe ab und hörte am Klang, wie weit das jeweilige Stück schon war. Außerdem mußten sie alle regelmäßig aus den Regalen genommen und mit Lake abgewaschen werden. Mit der Zeit bildete sich eine schützende, feste Rinde.
Natürlich durfte auch gekostet werden. Es war erstaunlich, wie unterschiedlich die einzelnen Sorten, je nach ihrem Reifegrad, schmeckten. Ganz besonderen Anklang fand aber der Frischkäse, der beinahe eine grüne Farbe hatte. Die stammt von den vielen frischen Wildkräutern, die der Senner sammelte und kleingehackt darunter mischte.
Die Zeit schien plötzlich zu rasen.
»So leid es mir tut«, sagte der Bergfparrer, »aber wir müssen aufbrechen. Zwar geh’n wir über den Wirtschaftsweg ins Tal, aber das braucht auch gut zwei Stunden, und ich möcht’ net, daß wir erst im Dunkeln ankommen.«
Franz Thurecker schaute zum Himmel. Es zeigte sich kein Wölkchen, aber der alte Senner wußte aus jahrelanger Erfahrung, wie schnell das Wetter wechseln konnte.
»Ich will ja net unken«, sagte er, »aber da braut sich was zusammen. Heut’ nacht werd’ ich die Tiere lieber in den Stall bringen.«
Sebastian folgte seinem Blick.
»Ja, du könntest recht haben«, nickte er.
»Vom Westen her braut sich was zusammen. Das bedeutet immer Regen, wenn net gar ein richtiges Unwetter.«
Er reichte dem Alten die Hand.
»Also, Franz, pfüat di’, bis zum nächsten Mal und hab’ herzlichen Dank für den Käse.«
Franz Thurecker hatte jedem von ihnen ein großes Stück Käse eingepackt, mit dem Hinweis, daß die drei Urlauber ihn im Kühlschrank der Pension lagern sollten, bis sie abreisten; so lange würde er sich halten.
*
Es war früher Abend, als sie in St. Johann ankamen. Babette hatte ein-, zweimal versucht, mit Florian ein Gespräch zu führen, aber dann hatte seine abweisende Miene sie davor zurückschrecken lassen.
»Schaut«, sagte der Geistliche, als sie sich verabschiedeten, und deutete zum Himmel.
Als sie hinaufsahen, erkannten sie dunkle Wolken, die sich rasch zusammenzogen. Es war merklich kühler geworden.
»Gut, daß wir’s noch geschafft haben. Also, dann ruht euch mal von der Tour aus. Ich wünsch’ euch noch einen schönen Abend, und bestimmt seh’n wir uns das eine oder andere Mal wieder.«
Die drei bedankten sich herzlich für die Tour und versicherten, daß es für sie ein unvergeßliches Erlebnis war.
Florian Unger ging schnell die Stufen zur Haustür hinauf und lief nach oben.
Er schloß die Tür hinter sich ab und zog die Vorhänge zu. Dann setzte er sich auf das Bett und dachte über das nach, was ihm die ganze Zeit schon durch den Kopf ging.
Mußte er Babette nicht erzählen, was er gehört hatte, sie vor dem Kerl warnen?
Während des Abstiegs war es nicht möglich gewesen. Immer war Adrian Heller in der Nähe. Deshalb hatte er die Lehrerin auch so mürrisch angesehen, daß sie es schließlich aufgegeben hatte, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Aber jetzt, wo er in Ruhe nachdenken konnte, kam Florian immer mehr zu der Überzeugung, daß es geradezu seine Pflicht war, der Lehrerin zu sagen, daß sie für den Börsenmakler nicht mehr als ein amüsantes Spielzeug war.
Der junge Chemiker ging unter die Dusche und zog sich anschließend um. Im Nachbarzimmer war es ruhig. Aber ganz sicher war Babette nebenan.
Die Tour war anstrengend gewesen, und sie hatte geäußert, daß sie sich nur noch schnell frisch machen und dann gleich ins Bett gehen wollte.
Diese Äußerung hatte sie gemacht, nachdem Adrian sie gefragt hatte, ob sie später noch etwas unternehmen wollten, und nicht ohne Genugtuung hatte Florian das enttäuschte Gesicht seines Kontrahenten gesehen.
Er wartete noch einen Moment ab, dann trat er auf den Flur hinaus und klopfte an die Tür des Nachbarzimmers. Babette öffnete. Offenbar war sie schon auf dem Weg ins Bett gewesen, denn sie trug einen Bademantel, um den Kopf hatte sie ein Handtuch gewickelt.
»Hallo, Florian«, sagte sie lächelnd. »Komm doch herein.«
Irgendwie schien es ihm unpassend. »Vielleicht sollte ich morgen mit dir reden«, sagte er. »Du willst ja sicher schlafen gehen.«
»Die Haare sind noch naß« Sie deutete auf das Handtuch. »Ich gehe also noch nicht ins Bett. Außerdem wollte ich auch mit dir reden.«
Er trat ein und schloß die Tür hinter sich.
»Setz dich doch. Ich bin gleich wieder da.«
Babette ging ins Bad. Florian setzte sich auf einen Stuhl.
Schon nach ein paar Sekunden kam sie wieder zurück.
»So, da bin ich«, sagte sie und setzte sich ihm gegenüber.
Einen Moment lang sahen sie sich schweigend an. »Was ich dir sagen wollte«, begann Babette. »Es… es tut mir leid, wie alles gekommen ist.«
»Liebst du ihn?« fragte er.
Diese Frage hatte sie sich mehr als einmal gestellt.
Gewiß, Adrian war ein attraktiver Mann, offenbar erfolgreich im Beruf, aber reichte das, um jemanden zu lieben?
Babette war unsicher, was den Börsenmakler betraf, indes hatte er sie so mit seinem Charme eingewickelt, daß es ihr schwerfiel, ihm zu widerstehen.
Bei Florian war es ihr leichtergefallen, aber darum ging es jetzt nicht. Sie mußte sich für einen von ihnen entscheiden.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie ehrlich.
»Warum ich mit dir sprechen wollte…«
Sie sah ihn gespannt an.
»Ja?«
»Ich habe heute mittag, droben, als wir auf der Hütte waren, etwas gehört«, sagte er.
»Und? Was hast du gehört?«
Babette verstand nicht, worauf er hinaus wollte.
»Du erinnerst dich, daß Adrians Handy geklingelt hat?«
Die Lehrerin nickte. Adrian hatte ihr später erzählt, daß es sein Geschäftspartner gewesen war, der ihn angerufen hatte.
»Ich bin ihm hinterhergegangen, weil ich mit ihm sprechen wollte«, fuhr Florian fort. »Ich wollte wissen, was du für Adrian Heller bist. Aber ich brauchte die Frage gar nicht zu stellen…«
Babette runzelte die Stirn.
»Wie meinst du das?«
»Ich weiß nicht, mit wem er gesprochen hatte«, sagte er. »Aber was Adrian sagte, das habe ich sehr gut gehört. Ich stand ja nur wenige Schritte hinter ihm.«
Sie rang die Hände. »Nun erzähl doch schon!« forderte sie ihn auf. »Was hast du gehört?«
Florian leckte sich nervös die Lippen.
»Daß Adrian dich nicht wirklich liebt«, sagte er hastig. »Er begehrt dich, als Frau, aber du bist nicht mehr als ein Urlaubsflirt für ihn, den er schnell wieder vergessen wird.«
Babettes Augen weiteten sich. »Das soll Adrian gesagt haben?« fragte sie ungläubig.
»Ja«, nickte er.
Sie schaute ihn durchdringend an.
»Sag mal, soll das jetzt eine Retourkutsche sein, oder was?« rief die Lehrerin erbost. »Willst du dich an ihm rächen, indem du versuchst, ihn auf diese gemeine Weise bei mir in ein schlechtes Licht zu rücken?«
Empört stand Babette auf und stemmte die Fäuste in die Hüften.
»Wirklich, Florian, das hätte ich nie von dir gedacht.«
Er war wie vor den Kopf geschlagen.
»Aber… das ist die Wahrheit!« beteuerte er.
Sie schüttelte den Kopf.
»Kein Wort glaube ich dir«, entgegnete sie. »Himmel, und auf dich wäre ich beinahe reingefallen. Nur gut, daß ich noch rechtzeitig erkannt habe, was für ein Mensch du bist. Ich möchte, daß du jetzt gehst.«
Wie in Zeitlupe stand Tobias auf. »Aber… Babette, das ist die Wahrheit!« stammelte er verlegen.
Sie war schon zur Tür gegangen und sah ihn auffordernd an.
Florian konnte es nicht fassen, daß sie ihm nicht glaubte. Mit hängenden Schultern ging er hinaus.
»Dann lauf doch in dein Unglück!« murmelte er und drückte die Klinke zu seinem Zimmer hinunter.
Babette schloß die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen. Sie war so voller Wut und Empörung, daß sie hätte schreien können. Daß Florian es tatsächlich so versuchte, enttäuschte sie maßlos, bei allem Verständnis, das sie für ihn aufbrachte.
Aber er mußte gelogen haben. Mochte der Himmel wissen, was er da gehört hatte. Wahrscheinlich hatte er wirklich irgendwas verstanden und es falsch interpretiert. Oder es war seine feste Absicht, das Gehörte gegen Adrian einzusetzen.
Aber niemals hatte der so etwas über sie gesagt!
*
Auf der Almhütte war der Börsenmakler regelrecht erschrocken gewesen, als ihm Florian Unger so unvermittelt gegenüberstand und ihn als Mistkerl beschimpfte. Ihm war klar, daß der andere alles mitbekommen haben mußte, was er gesagt hatte.
Aber würde er es auch Babette erzählen?
Später hatte Adrian Heller erleichtert aufgeatmet. Zwar sah er, daß Babette zweimal versuchte, mit Florian zu reden, aber er zeigte sich so unzugänglich, daß sie es schließlich aufgab.
Um so besser, dachte er, haben meine warnenden Blicke ihre Wirkung wohl doch nicht verfehlt.
Trotzdem überlegte er, was er unternehmen konnte, damit der Bursche nicht doch noch zu ihr lief und der Lehrerin erzählte, wie er, Adrian, wirklich über sie dachte.
Am besten wird es sein, wenn ich ihn mal zu einem Bier einlade und mit ihm von Mann zu Mann rede, überlegte er.
Aber würde Florian dieser Einladung überhaupt folgen?
Zwischen ihnen herrschte eine Art Kriegszustand, und der ›Feind‹ – diese Bezeichnung für den Kontrahenten im Kampf um Babettes Gunst belustigte ihn – hatte nur zu deutlich gezeigt, was er von Adrian hielt.
Vielleicht sollte er auch gar nichts unternehmen und abwarten, wie sich die Dinge entwickelten. Wenn Florian Unger tatsächlich mit Babette über das Gehörte sprach, konnte er immer noch alles abstreiten und behaupten, die Anschuldigung entspränge der Eifersucht des anderen.
Der Börsenmakler schaute auf die Uhr. Erst kurz nach acht. Viel zu früh, um schon schlafen zu gehen. Gut, die Bergtour war anstrengend gewesen, aber er fühlte sich noch topfit. Um so ärgerlicher war es, daß Babette es abgelehnt hatte, sich noch mit ihm zu treffen. Dabei wäre es so schön gewesen, mit ihr im Biergarten zu sitzen und sich zu unterhalten. Er war überzeugt, daß es ihm gelungen wäre, sie dorthin zu bekommen, wohin er sie haben wollte.
Nach einer Flasche Champagner wurde nach seiner Erfahrung jede Frau schwach.
Adrian zog sich eine Jacke über und verließ sein Zimmer. Als er an Babettes Tür vorüberkam, zögerte er einen Moment. Anklopfen und fragen, ob sie es sich vielleicht überlegt hatte, kostete ja nichts. Aber hinter der Tür war alles still, und so unterließ er es und ging die Treppe hinunter.
»Ach, Herr Heller«, sagte Ria Stubler, die gerade aus ihrem kleinen Büro kam, »wollen S’ noch mal los? Hat die Bergtour Sie net müd’ machen können?«
»Nein«, lächelte er gewinnend. »Wenigstens ein Bier will ich mir noch gönnen.«
»Dann passen S’ nur auf, daß Sie net naß werden«, mahnte die Wirtin. »Sie können sich gern einen Regenschirm ausleihen, denn da draußen braut sich was zusammen.«
»Tatsächlich?«
»Ja, noch ist’s nix zu merken, aber spüren tu’ ich’s. Ich hab’s dem Herrn Unger auch schon gesagt, daß er besser einen Schirm mitnehmen soll.«
»Ach, ist der auch noch mal los?«
»Ja, wollt’ was trinken, der Arme. Er hat gar net gut ausgeschaut. War irgendwas, als Sie unterwegs waren?
Adrian schüttelte den Kopf.
»Nein. Es war alles prima. Ach, wissen Sie was, auf den Schirm verzichte ich. Wenn der Florian einen dabei hat, dann soll das wohl reichen. Einen schönen Abend noch, Frau Stubler.«
»Ihnen auch, Herr Heller«, antwortete die Wirtin und ging weiter zu ihren Privaträumen.
Na, wenn das kein Zufall war!
Adrian ging zum Hotel. Der Himmel schien dunkler zu sein als sonst, weil der Mond nicht zu sehen war, aber es regnete nicht. Im Biergarten saßen noch einige Gäste an den Tischen. Er schaute sich nach Florian um und entdeckte ihn schließlich allein an einem Tisch.
»Ist es gestattet?« fragte er frech und setzte sich, ohne eine Antwort abzuwarten, einfach auf einen Stuhl.
Florian Unger war im ersten Moment so verdutzt, daß er nichts sagen konnte. Dann schluckte er und schüttelte den Kopf.
»Verschwinde, du Mistkerl!« sagte er drohend.
»Na, na, mein Lieber, wir wollen doch nicht persönlich werden«, erwiderte der Börsenmakler grinsend. »Ehrlich gesagt, ich weiß gar nicht, was du gegen mich hast. Also, daß ich dir die Freundin ausgespannt habe, das mußt du ganz einfach sportlich sehen. Oder bist du ein schlechter Verlierer?«
Jedes Wort war provozierend und zielte darauf ab, Florian Unger aus der Reserve zu locken.
Doch erst einmal kam eine Bedienung, und Adrian bestellte ein Glas Bier.
»Daß Babette nichts von mir wissen will, muß ich akzeptieren«, sagte Florian, als das Madl gegangen war. »Aber, daß sie auf dich reingefallen ist, das werde ich nicht so ohne weiteres hinnehmen.«
Adrian beugte sich vor. Erst jetzt fiel ihm auf, daß der andere nicht mehr ganz nüchtern zu sein schien. Offenbar war Florian Unger dabei, seinen Kummer in Alkokol zu ertränken.
»Und was willst du dagegen machen?« fragte er spöttisch. »Zu ihr gehen und alles erzählen?«
»Ich hab’s ja versucht, aber sie wollte nicht auf mich hören«, mußte Florian zugeben.
»Na, siehst du«, lachte sein Nebenbuhler. »Es hätte dir auch nichts genützt, wenn sie es anfangs geglaubt hätte. Dann stünde nämlich mein Wort gegen deines. Und was glaubst du, wem Babette mehr vertrauen würde? Dir, oder mir, dem Mann, den sie liebt?«
Das Bier kam, und Adrian trank. Dabei schossen ihm allerlei Gedanken durch den Kopf. So sicher war er keineswegs, wie er sich gab, und daß dieser Bursche tatsächlich mit Babette darüber gesprochen hatte, gefiel ihm überhaupt nicht. Er überlegte, was er tun konnte, damit Florian Unger nicht noch mehr Scherben zerschlug.
»Du bist und bleibst ein Mistkerl!« sagte der Chemiker und erhob sich.
Er schwankte leicht und suchte einen Moment nach seiner Geldbörse. Dann legte er einen Schein auf den Tisch und ging auf unsicheren Beinen aus dem Biergarten.
Adrian warf ein Geldstück zu dem Schein, griff nach dem Regenschirm, den Florian hatte stehen lassen und folgte ihm.
»He, warte!« rief er ihm hinterher.
Florian war trotz seines Zustandes schon ein ganzes Stück gegangen. Er befand sich bereits in der Straße, in der die Pension stand. Adrian lief schneller, und holte ihn ein. Er riß Florian mit harter Hand zurück und zwang ihn stehenzubleiben.
»Was soll das?« brüllte der Angetrunkene. »Nimm deine schmutzigen Hände weg!«
»Mensch, nicht so laut! Du weckst ja alle Leute auf.«
»Mir doch egal. Soll doch jeder wissen, was für ein mieser Kerl du bist. Vor allem Babette soll es wissen. Babette!«
Er hatte ihren Namen förmlich herausgebrüllt.
Adrian Heller wollte ihm erschrocken den Mund zuhalten, doch Florian schlug ihm die Hand weg und versetzte ihm einen Stoß.
»Babette!« rief er wieder. »Adrian ist ein Lump! Er liebt dich nicht…!«
Weiter kam er nicht. Der Börsenmakler holte aus und drosch ihm den Regenschirm über den Kopf. Es war ein ziemlicher Schlag. Florian sank zu Boden. Aber statt sich um ihn zu kümmern, schlug Adrian weiter auf ihn ein. Seine ganze Angst, der andere könnte ihn letztendlich doch noch verraten, entlud sich in den Schlägen.
Endlich hielt er inne. Es war, als erwachte er aus einem Alptraum. Florian Unger rührte sich nicht mehr.
»Mein Gott, was habe ich getan!« murmelte Adrian, über sich selbst entsetzt.
Hastig sah er sich um. Auf der Straße war niemand zu sehen, und in den Fenstern der Häuser zeigte sich auch kein Mensch. Adrian warf den völlig verbogenen Schirm in das nächste Gebüsch und überlegte fieberhaft, was er jetzt machen sollte.
Wenn er Florian in seiner Wut totgeschlagen hatte, dann war alles aus. Das Gefängnis wäre ihm sicher…
*
Babette saß schon beim Frühstück, als Adrian herunterkam. Er sah ein wenig übernächtigt aus.
»Na, war es spät gestern abend?« fragte sie lächelnd. »Frau Stubler hat mir erzählt, daß du noch mal ausgegangen bist. Hast du übrigens Florian noch gesehen?«
Der Börsenmakler schluckte und schüttelte den Kopf.
»Florian? Nein!« erwiderte er.
»Komisch«, sagte die Lehrerin. »Ich hatte die Ria so verstanden, daß du auch in den Biergarten wolltest.«
»Ja, erst schon«, antwortete er, während er sich setzte. »Aber ich habe es mir dann anders überlegt und bin nur ein bißchen in der Gegend gelaufen.«
Er wollte sich Kaffee einschenken, goß aber daneben.
»Ist was? Du wirkst so nervös.«
»Was soll denn sein?« entgegnete er gereizt.
Adrian sah, wie Babette die Stirn runzelte, und lächelte.
»Entschuldige. Ich hab’ schlecht geschlafen. Was wollen wir heute unternehmen?«
Babette zuckte die Schultern. Sie hatte überlegt, ob sie Adrian von Florians Anschuldigung erzählen sollte, aber dann kam es ihr zu albern vor, und sie unterließ es.
»Weiß nicht. Ehrlich gesagt, bin ich noch von der Tour gestern geschafft. Am liebsten würde ich heute gar nichts machen.«
»Gut, bleiben wir hier.«
»Du ißt ja gar nichts«, stellte sie nach einer Weile fest.
»Wie? Ach, ich hab’ keinen Hunger«, antwortete er. »Vielleicht später.«
Er trank seinen Kaffee und schenkte nach. Als Babette fertig war, standen sie auf und gingen durch den Garten.
»Seltsam«, sagte die Lehrerin, als schon geraume Zeit vergangen war. »Florian scheint immer noch zu schlafen.«
»Vielleicht hat er gestern einen über den Durst getrunken«, sagte Adrian und bemühte sich, seiner Stimme einen normalen Klang zu geben.
Babette nickte und deutete auf das Rosenbeet.
»Der Regen letzte Nacht scheint ihnen gutgetan zu haben.«
Gegen elf hatte es fürchterlich geregnet. Adrian erinnerte sich nur zu gut, denn zu dieser Zeit war er noch unterwegs gewesen…
Es war schon Mittag, als Ria Stubler sich nach Florian erkundigte. Babette erbot sich, bei ihm anzuklopfen, doch sie kam unverrichteter Dinge wieder zurück.
»Er scheint überhaupt nicht da zu sein«, sagte sie.
Auch bis zum Abend tauchte der Chemiker nicht wieder auf. Das Seltsame war nur, daß sein Auto vor der Pension stand.
»Ich glaub’, er ist gestern gar net zurückgekommen«, sagte die Wirtin. »Ich hab’ eben nachgeschaut, der Schirm, den ich ihm geliehen hab’, ist auch net da.«
»Aber wo kann er denn stecken?« Babette war ratlos.
»Ob wir die Polizei verständigen müssen?«
»Die Polizei!« rief Adrian kopfschüttelnd. »Florian ist ein erwachsener Mann, er kann so lange verschwinden, wie er Lust hat.«
Er hatte sehr vehement gesprochen, und etwas am Klang seiner Stimme machte Babette stutzig. Panik lag darin…
»Also, ich ruf’ jetzt im Pfarrhaus an und frag’ Hochwürden, ob er was von dem Herrn Unger weiß«, sagte Ria, als es kurz vor Mitternacht war, und griff zum Telefon.
Sebastian wußte natürlich nichts, aber er kam sofort zur Pension herübergelaufen.
»Das ist eine sehr merkwürdige Geschichte«, sagte er nachdenklich, nachdem er noch einmal alles gehört hatte. »Ein Mensch verschwindet net einfach so!«
Sie saßen in Rias Küche. Babette biß sich immer wieder auf die Lippen. Sie wirkte aber nicht so nervös wie Adrian Heller, der sich schließlich erhob.
»Also, ich gehe jetzt schlafen!« sagte er. »Irgendwann wird er schon wieder auftauchen.«
Der Bergpfarrer bemerkte den seltsamen Blick, den Babette dem Börsenmakler hinterherschickte.
»Sag’ mal«, wandte er sich an die Lehrerin. »War gestern noch irgendwas?«
»Mit Florian?« fragte sie. »Na ja, er kam gestern abend noch mal zu mir und wollte mir irgendeine obskure Geschichte erzählen.«
»Worum ging es dabei?«
Babette seufzte und erzählte, was Florian gesagt hatte. »Aber das war doch gelogen!« sagte sie zum Schluß.
Sebastian dachte darüber nach, was er eben gehört hatte. So unwahrscheinlich kam es ihm nicht vor, ganz im Gegenteil, es stützte ganz den Eindruck, den er von Adrian Heller hatte.
»Einen Moment«, sagte er und ging nach oben.
Er klopfte energisch an die Tür und ließ den Börsenmakler erst gar nicht zu Wort kommen.
»Was war gestern abend zwischen Ihnen und Florian Unger?« fragte er mit ernstem Ton.
Adrian zuckte nervös zusammen. Das schlechte Gewissen stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Wir hatten Streit«, räumte er ein.
»Und dann? Los, erzählen Sie. Es geht um ein Menschenleben!«
Plötzlich brach der Mann vor seinen Augen zusammen.
»Ich habe es doch nicht gewollt!« jammerte Adrian Heller. »Ich wollte ihn nicht töten. Sie müssen mir glauben!«
Den Bergpfarrer überlief es eiskalt.
»Was genau ist passiert?«
Stockend erzählte Adrian, was sich ereignet hatte. »Als er sich nicht mehr rührte, da habe ich ihn in meinen Wagen gepackt und… und in den Wald gebracht.«
»Um Himmels willen! Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen gewesen?«
Sebastian lief die Treppe hinunter und riß den Hörer vom Telefon an der Rezeption.
»Max, du mußt sofort herkommen, ich bin bei Ria. Und alarmier’ die Bergwacht. Wir müssen jemanden suchen.«
Sein Bruder erschien in Windeseile. Der Geistliche hatte inzwischen Adrian aus dessen Zimmer geholt und Babette und die Wirtin davon unterrichtet, was geschehen war.
Die Lehrerin war entsetzt. Immer wieder schaute sie den Mann an, von dem sie glaubte, daß er sie liebte. Sie schämte sich, Florian nicht geglaubt zu haben, und ihn statt dessen beschuldigte, sich billig rächen zu wollen.
Die Männer der Bergwacht standen bereit. Adrian Heller wurde in den Polizeiwagen gesetzt.
»Ich muß mitfahren«, rief Babette.
Sebastian zögerte. Wenn es zutraf, daß Florian nicht mehr lebte, dann wäre es besser, wenn sie hierbliebe.
Doch die Lehrerin ließ sich nicht davon abbringen.
»Wenn Florian tot ist, dann ist es auch meine Schuld«, sagte sie.
Der Geistliche und sein Bruder verständigten sich mit einem Kopfnicken und ließen sie einsteigen.
Starke Suchscheinwerfer erleuchteten das Waldstück. Die Männer waren ausgeschwärmt und suchten. Mit langen Stöcken stießen sie in das Laub. Babette war halb wahnsinnig vor Angst. Sie machte sich Vorwürfe und zitterte am ganzen Körper.
Sebastian legte ihr eine Decke um, die er aus dem Streifenwagen geholt hatte.
»Wenn Florian wirklich…«, flüsterte sie. »Ich weiß nicht, was ich dann machen soll.«
»Beruhige dich«, sagte der Bergpfarrer. »Wir wollen net gleich mit dem Schlimmsten rechnen.«
Er selbst befürchtete es allerdings.
»Wo sind wir eigentlich hier?« fragte sie.
»Net weit vom Jagdschloß«, antwortete Sebastian.
Nach zwei Stunden intensiven Suchens war Florian Unger immer noch nicht gefunden worden. Adrian Heller hatte die Männer hergeführt, erinnerte sich aber nicht mehr an die genaue Stelle, an der er Florian zurückgelassen hatte. Die Suchmannschaft wollte einen letzten Versuch wagen und weitete den Radius aus. Sie näherten sich bis auf wenige hundert Meter ›Hubertusbrunn‹.
»Hierher!« rief plötzlich eine Stimme.
Einer der Helfer stand vor einer Lichtung und winkte aufgeregt. Mit dem rechten Arm stützte er eine Gestalt.
Alle Scheinwerfer richteten sich auf die Stelle. Babette stieß einen Schrei aus, als sie Florian erkannte, und stürzte zu ihm.
»Du lebst!« rief sie. »Du lebst!«
»Mein Gott, Florian, ich hatte wirklich net damit gerechnet, dich lebend zu finden«, sagte Sebastian erleichtert.
Der Chemiker wurde zu den Autos geführt und in Decken gehüllt. Jemand reichte ihm einen Becher mit heißem, gesüßtem Tee. Dr. Wiesinger, der von Max Trenker aus dem Bett geholt und hierher beordert worden war, kümmerte sich um Florian.
»Ein bissel unterkühlt«, stellte er fest. »Die Wunde am Kopf ist net weiter schlimm. Sie ist schon verkrustet und heilt von allein wieder.«
Adrian Heller hatte die ganze Zeit in Max’ Dienstwagen gesessen.
»Was geschieht jetzt mit mir?« fragte er.
»Sie kommen erst einmal in Untersuchungshaft«, antwortete der Polizist. »Der Haftrichter wird entscheiden, ob Sie wieder auf freien Fuß gesetzt werden. Mit einer Anklage müssen S’ auf jeden Fall rechnen. Schwere Körperverletzung, unterlassene Hilfe, vielleicht sogar versuchter Totschlag –, da kommt einiges zusammen.«
Der Börsenmakler senkte den Kopf und schwieg.
Babette ging unsicher zu dem Wagen, in dem Florian saß. Er hatte Sebastian inzwischen erzählt, daß er irgendwann in der vorangegangenen Nacht aufgewacht war und sich im Wald wiedergefunden hatte. Erst hatte er überhaupt keine Ahnung, wie er hierhergekommen war. »Und dann habe ich mich schlicht und einfach verlaufen«, berichtete er. »Ich habe einen fürchterlichen Orientierungssinn. Glücklicherweise fand ich einen Bachlauf, aus dem ich trinken konnte, und wilde Brombeeren, um den ärgsten Hunger zu stillen. Nachher am Tag war es ja warm genug, aber am Abend wurde es wieder kalt. Ich bin ziemlich hilflos durch den Wald geirrt und dabei wohl im Kreis gelaufen. Hätte ich gewußt, daß ich so nahe am Jagdschloß bin…«
Er schüttelte den Kopf und deutete zum Polizeiauto.
»Was geschieht mit ihm?«
»Der Herr Heller wird wohl erst einmal in Gewahrsam genommen«, antwortete Sebastian. »Aber das soll dich im Moment net kümmern. Viel wichtiger ist die Frage: was wird aus euch?«
Er deutete auf Babette, die, in ihre Decke gehüllt, in einiger Entfernung stand und unsicher herüberschaute. Als der Geistliche ihr zuwinkte, kam sie zögernd näher.
»Hallo«, sagte Florian. »Alles in Ordnung?«
»Das fragst du?« rief sie verwundert. »Ist mit dir alles in Ordnung?«
»Ich bin okay«, nickte er.
»Florian… Es tut mir alles so furchtbar leid«, sagte Babette. »Ich weiß, damit kann ich es nicht wiedergutmachen. Ich bereue es, nicht auf dich gehört zu haben. Aber ich bin glücklich, daß du am Leben bist.«
»Komm mal her!« sagte er und lächelte sie an.
Ihre Augen flackerten, als sie vor ihm stand. Florian war ausgestiegen und nahm ihre Hand.
»Ich habe schon mal etwas anderes in deinen Augen gesehen«, sagte er.
»Was, Florian, was hast du gesehen?«
»Das Glück, Babette«, antwortete er.
»Das Glück in deinen Augen habe ich gesehen, als wir uns das erste Mal geküßt haben. Auf der Lichtung, erinnerst du dich?«
Tränen rannen ihr über das hübsche Gesicht.
»Ob ich mich erinnere, fragst du? Wie könnte ich diesen Augenblick vergessen haben!«
»Und soll es noch viele von ihnen geben?« fragte Florian.
Sie sank an seine Brust. »Verzeih’ mir«, bat sie. »Ich war so dumm, auf ihn hereinzufallen. Dabei wolltest du mich vor ihm warnen, doch ich habe dir nicht geglaubt. Kannst du mir überhaupt verzeihen?«
Er nahm ihr tränennasses Gesicht in seine Hände und sah sie zärtlich an.
»Das habe ich längst«, sagte er und drückte sie an sich.
»Jetzt, wo alles überstanden ist, wollen wir unseren Urlaub genießen. Nur wir zwei, ja?«
»Ja, Florian«, antwortete sie glücklich.
Der gute Hirte von St. Johann entfernte sich schmunzelnd, als die beiden sich küßten…