Читать книгу Der Bergpfarrer Staffel 18 – Heimatroman - Toni Waidacher - Страница 9
Оглавление»Und wie meinst’, soll ich das jetzt unserem Herrn Vater erklären?«
Florian Martens, ein großer, schlanker junger Mann, der gerade vor zwei Wochen seinen achtundzwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte, sah seinen fünf Jahre älteren Bruder Andreas fragend und beinahe flehend an.
Der hob nur die Schultern. »Frag mich mal was Leichteres, Brüderchen. Ich bin allerdings heilfroh, daß ich jetzt nicht in deiner Haut stecke. Vater wird ganz und gar nicht begeistert sein, daß du durchs Examen gefallen bist.«
»Ach, was du nicht sagst!« Florian zwang sich ein Lächeln ab. »Ob du’s glaubst oder net – das ist mir selbst längst klar!«
Die Brüder saßen sich im großen Wohnzimmer von Andreas’ gegenüber. Andreas war erst vor kurzem hier eingezogen, und im Gegensatz zu den anderen Zimmern war der Wohnraum bereits komplett eingerichtet. Drei Ledersofas umrahmten den großen Glastisch. In dem großen Wandschrank, auf den Florian blickte, wenn er an seinem Bruder vorbeisah, waren neben einer Menge Fachbücher auch ein großer Fernseher und eine teure Musikanlage untergebracht. An den Wänden hingen gerahmte Bilder, und die Halogen-Deckenlampe spendete helles Licht.
Andreas Martens stieß ein leises, beinahe lautloses Seufzen aus. Er sah seinem Bruder sehr ähnlich, wenngleich er sich gänzlich anders kleidete. Während Florian Jeans, Hemd und Lederjacke bevorzugte, trug sein Bruder stets maßgeschneiderte Anzüge.
»Wie hast’ es auch bloß soweit kommen lassen können?« fragte Andreas verständnislos. »Ich mein’, einerseits kann ich dich ja schon irgendwie verstehen. Ich weiß ja aus eigener Erfahrung, daß es erheblich Spannenderes gibt als Jura zu studieren. Aber andererseits hättest ja wenigstens ein bisserl was tun können. Das wäre doch, weiß Gott, net zuviel verlangt gewesen. Und mit dem nötigen Fleiß kann man alles schaffen, das kannst’ mir glauben, denn ich sprech’ da aus eigener Erfahrung. Glaub nur net, daß mir das Studium großen Spaß bereitet hat. Nur hab’ ich mich halt zusammengerissen und hab’ gebüffelt. Aber du hattest ja mal wieder nix Besseres zu tun als auf der faulen Haut zu liegen und dich mit den Madeln zu vergnügen.«
»Ja, ja«, stöhnte Florian. »Die Predigt kannst’ dir getrost sparen. Die bekomm ich nachher noch ausgiebig von unserem Herrn Vater zu hören.«
»Worauf du dich verlassen kannst.«
»Sag mir mal lieber, was ich jetzt machen soll. Der Professor hat mir eine Nachprüfung angeboten.«
Andreas blickte überrascht auf. »Und das sagst’ erst jetzt?« fragte er erstaunt. »Aber dann ist doch alles in bester Ordnung, Brüderchen!«
»Du hast gut reden. Aber ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie ich die Prüfung bestehen soll. All das, was ich versäumt habe nachzuholen, würde mindestens ein halbes Jahr in Anspruch nehmen. Die Prüfung findet aber direkt nach den Semesterferien statt. Also schon in zwei Monaten! Allein schaff ich’s nie und nimmer, mich innerhalb von acht Wochen auf die Prüfung vorzubereiten. Ausgeschlossen!«
Hoffnungsvoll sah Florian seinen Bruder an.
Doch der hob sofort abwehrend die Hände. »O nein, mein Lieber. Schau mich jetzt bloß net mit deinem treuen Hundeblick an! Ich kann dir bei der Sache auf gar keinen Fall helfen. Selbst wenn ich wollte. Denk daran, daß ich das Examen auch nur mit Ach und Krach bestanden habe. Außerdem bin ich gerade erst zu Hause ausgezogen, wie du weißt. Die Wohnung muß noch richtig eingerichtet werden, und in der Kanzlei… Also, da kann ich unmöglich zwei Monate lang für dich den Nachhilfelehrer spielen!«
»Schon gut, schon gut.« Seufzend erhob sich Florian. »War ja nur ein Gedanke«, sagte er, bevor er die Wohnung seines Bruders verließ. Richtig überzeugt klang das jedoch ganz und gar nicht.
Draußen stieg der Florian in seinen schnittigen Sportwagen, schnallte sich an und startete den Motor. Gedankenverloren brauste er davon. Jetzt konnte er sich erst einmal das Donnerwetter seines Vaters anhören. Er hegte keinen Zweifel daran, daß es ziemlich gewaltig ausfallen würde.
Und so kam es dann auch…
*
»Das kann ich einfach nicht glauben!« Reinhold Martens schlug mit der Faust auf den Tisch und bedachte seinen jüngsten Sohn mit einem vorwurfsvollen Blick. »Mein Sohn ist durchs Examen gefallen?«
Florian verdrehte genervt die Augen. »Nun reg dich doch bitte net so auf, Vater. Ich bin bestimmt net der Erste, der mal durch eine Prüfung gefallen ist. Das kann doch jedem passieren.«
»Aber niemandem aus unserer Familie! Noch nie ist ein Martens durchs Examen gefallen! Dein Großvater war Jurist, ich bin es und deine beiden Brüder ebenfalls. Und du? Was machst du?«
Florian Martens senkte schuldbewußt den Blick. »Es tut mir ja auch leid, Vater«, sagte er leise. Seine Stimme war rauh und heiser. »Das kannst’ mir schon glauben. Aber es ist nun mal nichts mehr daran zu ändern. Wobei ich ja noch…«
»Es ist nun mal net zu ändern!« äffte Reinhold Martens seinem Sohn nach. »Das bringt dich auch nicht weiter. Wenn du ordentlich gelernt hättest, statt dich nur zu vergnügen, dann hättest du dein Examen jetzt.« Er schüttelte verständnislos den Kopf. »Wie konnte das bloß geschehen?« fragte er.
»Nun ja… Also…« Fieberhaft suchte der junge Mann nach einer passenden Ausrede. Doch schließlich entschied er, besser die Karten endlich auf den Tisch zu legen und mit der Wahrheit rauszurücken. Hier und jetzt. »Weißt du, Vater, eigentlich verhält es sich so…« Er legte eine längere Pause ein.
»Ja?« fragte Reinhold Martens. »Ich höre?«
»Also gut, Vater. Vielleicht hätte ich es dir schon viel eher sagen sollen, aber es ist nun einmal so, wie es ist. Das Studium hat mich nie wirklich interessiert. Viel lieber hätte ich etwas ganz anderes gemacht.«
»Und was?«
Er hob die Schultern. »Das weiß ich nicht einmal genau. Ich weiß nur, daß ich nie Jurist werden wollte.«
»Aber du hast das Studium nun einmal begonnen«, hielt der Vater entgegen. »Und du hast es weit gebracht. Wenn du das Examen bestanden hättest, könntest du schon bald deine eigene Kanzlei eröffnen. Wie es deine Brüder dir vorgemacht haben. Und jetzt? Was hast du jetzt vor?«
»Ich könnte nach den Semesterferien in die Nachprüfung gehen. Die Möglichkeit hat mir der Professor eingeräumt, das hab’ ich dir ja eben schon sagen wollen.«
»Du hast die Möglichkeit einer Nachprüfung?« Schlagartig erhellte sich Reinhold Martens’ Gesicht. »Na, das ist doch wunderbar!«
»Schon.« Florian sah seinen Vater an. »Ich weiß nur nicht, ob ich das eigentlich will.«
Sein Vater sprang ruckartig auf. »Du wirst die Prüfung wiederholen!« bestimmte er. »Ob du es willst oder nicht. Ich werd’ jedenfalls nicht zulassen, daß du diese Chance ungenutzt verstreichen läßt!«
»Aber Vater, so versteh doch: Selbst wenn ich wollte – ich könnte die Prüfung nicht bestehen. Es ist einfach zuviel Stoff, den ich nachholen müßte. Das kann ich in zwei Monaten einfach nicht schaffen.«
»Du wirst, mein Junge. Du wirst!« Plötzlich war der Vater ganz in seinem Element. Die Tatsache, daß sein Sohn die Möglichkeit hatte, das Ruder noch einmal herumzureißen, war ein Hoffnungsschimmer für den alten Herrn und verlieh ihm neuen Antrieb. »Ich werde gleich mal meine Beziehungen spielen lassen und den besten Nachhilfelehrer besorgen, den du dir wünschen kannst. Einen jungen Mann, der gerade erst sein Examen bestanden hat, und zwar mit Bravour. Zusammen mit ihm wirst du es schaffen!«
Genervt verdrehte Florian die Augen. »Und wo willst du so ein Genie auf die Schnelle auftreiben?« fragte er nun leicht ironisch.
»Das laß mal meine Sorge sein«, erwiderte sein Vater. »Ich werde das schon machen!«
Und Florian zweifelte nicht einmal daran, daß ihm dies auch gelingen würde.
Nachdem das Gespräch beendet war, verließ Florian das Arbeitszimmer seines Vaters.
Sobald Reinhold Martens allein war, griff er zum Telefon. Er nahm den Hörer ab und wählte eine Nummer, die er auswendig kannte.
Zweimal tutete es, bevor abgehoben wurde.
»Kramer«, meldete sich eine männliche Stimme am anderen Ende der Leitung.
»Grüß dich, Edward. Ich bin’s, Reinhold.«
»Na, das ist ja eine freudige Überraschung! Wir haben ja lange nichts voneinander gehört, Reinhold. Was verschafft mir die Ehre deines Anrufes?«
Martens räusperte sich kurz. »Nun, ich hätte da eine Bitte an dich.«
»Eine Bitte? Na, dann laß mal hören, alter Freund!«
In knappen Worten erklärte Reinhold Martens, was sich jüngst zugetragen hatte.
»Das tut mir natürlich leid für deinen Sohn«, sagte Kramer ehrlich, nachdem sein Gesprächspartner geendet hatte. »Aber ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich für ihn tun kann.«
»Florian hat die Möglichkeit, die Prüfung nach den Semesterferien zu wiederholen. Bloß muß er dafür noch eine Menge tun, und er hat nur zwei Monate Zeit. Daher bin ich auf der Suche nach einem wirklich guten Nachhilfelehrer für Florian.«
»Verstehe.«
»Ich denke dabei an einen jungen Mann, der soeben das Examen mit Bestnoten bestanden hat und bereit wäre, Florian in den Semesterferien Nachhilfe zu geben. Natürlich werde ich den jungen Mann anständig für seine Dienste bezahlen, das versteht sich von selbst. Nun, und da ich ja weiß, daß du über hervorragende Beziehungen verfügst, dachte ich mir…«
»Schon gut«, unterbrach Kramer ihn. »Natürlich werde ich dir helfen, alter Freund. Zumindest kann ich es versuchen. Ich werde mich einmal umhören und mich so schnell wie möglich wieder bei dir melden.«
»Ich danke dir.«
Damit war das Gespräch beendet. Zufrieden legte Martens den Hörer auf die Gabel.
*
»Na, das ist ja eine Überraschung! Der Herr Bergpfarrer aus dem schönen St. Johann!«
Sebastian Trenker, der gute Hirte von St. Johann, schirmte mit der rechten Hand die Sonnenstrahlen ab, um den Mann, der ihn angesprochen hatte und der jetzt auf ihn zukam, besser sehen zu können.
Ein feines Lächeln legte sich auf seine Lippen, als er den Mann erkannte. »Na, so was – der Lois! Schön, dich mal wiederzusehen. Ich freu mich!«
»Ganz meinerseits!«
Die beiden Männer erreichten sich. Hände wurden geschüttelt. Kurz musterte Sebastian Trenker den Seibold-Lois. Er war klein und rundlich, mit einem beachtlichen Bauch. Sein rundliches Gesicht strahlte wie immer, und auf seinen wulstigen Lippen lag ein feistes Grinsen. Obwohl er bereits die Sechzig überschritten hatte, war er ein rüstiger Mann, der sicher innerlich noch jünger war als manch 40-jähriger.
Lois war der Bürgermeister von Steinbach. Sebastian Trenker wollte hier einem alten Freund nach langer Zeit mal wieder einen Besuch abstatten, deshalb hatte er St. Johann in aller Herrgottsfrüh verlassen und war strammen Schrittes losmarschiert. Der junge Pfarrer war gut in Form, deshalb hatte er sein Ziel auch jetzt schon, zur Mittagszeit, erreicht.
»Sag’ mir, Lois«, forderte Sebastian sein Gegenüber auf. »Wie ist’s dir denn seit unserem letzten Zusammentreffen ergangen? Dir geht’s doch gut, oder?«
Lois Seibold deutete auf seinen Bauch. »Na, das siehst’ doch wohl, oder? Und du weißt ja: Wer gut ißt, dem geht’s auch gut!« Er lachte laut auf. »Aber im Ernst: Hier hat sich nix verändert. Alles ist seit deinem letzten Besuch beim alten geblieben.«
Er sah den Bergpfarrer an. »Und du? Was machst du so? Und was führt dich überhaupt hierher nach Steinbach? Hast in St. Johann net mehr genug zu schaffen?«
Sebastian Trenker machte eine abwinkende Handbewegung. »Genug zu tun gibt’s immer, das kennst’ ja selbst. Darüber kann ich mich wahrlich net beklagen. Im Gegenteil. Aber jetzt hab ich mir mal eine kleine Auszeit genommen und beschlossen, eine Wandertour nach Steinbach zu unternehmen.«
»Aber doch net einfach so?! Na, komm schon – mir kannst’ doch nix erzählen!«
Sebastian lächelte. »Na ja, hast schon recht, Lois. Natürlich hat mein Herkommen einen Grund: Ich wollte meinem alten Freund Gruber mal wieder einen Besuch abstatten.«
»Ach, der Johannes.« Der Bürgermeister nickte. »Ja, der alte Knabe macht mir im Moment ein bisserl Sorgen.«
Sebastian Trenker horchte auf. »Inwiefern?« erkundigte er sich.
»Ach, nix Besonderes.« Lois winkte ab.
Doch der Pfarrer war jetzt neugierig geworden. »Komm schon, Loisl, das kannst’ net mit mir machen. Erst was andeuten und dann net rausrücken mit der Sprache!«
»Hast schon recht. Also gut, dann will ich mal net so sein. Aber ich erzähl dir das in aller Ruhe beim Mittagessen. Einverstanden? Hast doch bestimmt einen ordentlichen Hunger bekommen nach dem langen Marsch, net wahr?«
Der junge Bergpfarrer nickte. Hunger hatte er wirklich, zudem hatte er nicht vergessen, daß es im Wirtshaus »Zum Blechernen Krug« einen fabelhaften Mittagstisch gab.
So marschierten die beiden Männer gemeinsam weiter…
*
»Was sagst’ da? Du willst dir eine eigene Wohnung nehmen? Na, bist du denn jetzt völlig narrisch g’worden, Madel?«
Johannes Gruber sah seine hübsche 26-jährige Tochter verständnislos an. Auf seiner faltigen Stirn hatte sich eine Zornesader gebildet, und sein Gesicht wurde rot wie eine Tomate.
»Aber Vater, jetzt tu doch net so überrascht!«
Alexandra Gruber, die seit jeher von alle nur Alex genannt wurde, stieß einen seufzenden Laut aus. »Ich hab’ dir doch mehr als einmal gesagt, daß ich den Hof verlassen will, sobald ich das Examen in der Tasche hab’. Und nun ist’s soweit, damit wirst’ dich wohl abfinden müssen.«
»Mit nix find’ ich mich ab!« schimpfte der Bauer empört. Seine Stimme wurde lauter. »Du bist’ hier aufgewachsen. Deine Mutter und ich haben uns krumm und buckelig für dich geschuftet. Jetzt bleibst’ g’fälligst hier und führst’ den Hof weiter, wenn ich unter der Erde bin. Und bei dem Ärger, den ich mit dir hab’, wird das gewiß net mehr lang auf sich warten lassen!«
Rumms! dachte Alex und atmete tief durch. Das war ein verbaler Schlag ins Gesicht gewesen.
Aber auch der Vater merkte, daß er zu weit gegangen war. Reumütig blickte er seine Tochter an. »Verzeih mir, Madl«, sagte er. »Das hab’ ich net so sagen wollen. Aber du mußt schon verstehen, daß ich net von deiner Idee begeistert bin. Und deine Mutter hätte es sicher auch net g’freut, wenn du den Hof verläßt.«
»Ach, Vater, laß doch bitt’ schön Mama aus dem Spiel. Sie ist jetzt schon so lange tot… Außerdem bin ich sicher, daß sie mich unterstützt hätte bei meinen Plänen. Sie hat immer g’wollt, daß ich das tu, was mich glücklich macht. Und hier auf dem Hof zu bleiben, würd’ mich nun mal net glücklich machen, so bitter das auch jetzt für dich sein mag, Vater. Aber irgendwann wirst auch du meine Entscheidung verstehen können, und bis dahin mußt du sie einfach akzeptieren.«
»Das kann ich net!« heftig schüttelte der Gruber-Johannes den Kopf, »ich brauch’ dich hier. Und net nur ich. Auch dein Bruder braucht dich. Was ist, wenn ich einmal net mehr bin? Benno kann den Hof unmöglich allein weiterführen.«
»Aber Vater, darum brauchst’ dir doch heut’ noch keine Gedanken machen. Du wirst bestimmt hundert Jahre alt. Außerdem wird der Benno sicher auch bald heiraten. Eine Braut hat er ja schon. Und auf die Lena ist Verlaß. Sie…«
»Und wie willst’ denn die Miete für eine Wohnung bezahlen? Glaub’ nur net, daß du von heut’ auf morgen eine Anstellung finden wirst. So was ist heutzutage schwerer als du denkst.«
»Darüber brauchst’ dir auch keine Gedanken zu machen, Vater. Ich hab’ mir einiges auf die Seite gelegt, und in den nächsten zwei Monaten werde ich mir auch noch was als Nachhilfslehrerin hinzuverdienen. Ein Bursche aus der Stadt ist durchs Examen gefallen und braucht nun…«
»Ach, erfahre ich das auch schon? Du hast also jetzt schon keine Zeit mehr, auf dem Hof zu schaffen.«
»Ich werd das schon irgendwie unter einen Hut bekommen, Vater. Natürlich werd ich hier noch etwas weiterhelfen. Das habe ich schließlich auch während meines Studiums getan. Und für den Herbst habe ich Aussicht auf eine Stelle beim Notar in der Kreisstadt. Das wäre genau der richtige Anfang für mich. Wenn…«
»Na, das hast’ dir ja alles fein ausgedacht! Aber ohne mich!« Hatte sich der alte Gruber eben schon wieder ein wenig beruhigt, wurde seine Stimme nun wieder lauter, und die Zornesader auf seiner Stirn schwoll noch mehr an. »Ich verlang’ von dir, daß du hier auf dem Hof bleibst, oder du bist von heut’ an net mehr meine Tochter. Und damit basta!«
Mit diesen beiden Worten, aus denen aber vielmehr die Verzweiflung des Bauern sprach als böser Wille, erhob sich der Vater und stapfte aus der Küche.
Alex blickte ihm nach. Plötzlich kamen ihr die Tränen. Krampfhaft versuchte das Madl, sie zurückzuhalten. Sie war wütend und traurig zugleich.
Warum bloß ist der Vater so verbohrt? fragte sie sich, während auch sie die Küche verließ. Warum macht er’s mir so schwer? So schnell ihre Füße sie tragen konnten, lief sie die schmale Holztreppe hinauf, die vom Flur zum oberen Stock führte. Dort befand sich ihre kleine Kammer. Hastig stürmte Alex in den Raum, ließ die Tür hinter sich ins Schloß fallen und warf sich aufs Bett. Jetzt konnte und wollte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.
So lag sie also eine Weile da und weinte ins Kissen. Doch irgendwann rappelte sie sich wieder auf. Sie stand auf, sah in den Spiegel und wischte sich hastig die Tränen aus dem Gesicht.
So weit kommt’s noch! schimpfte sie mit sich selbst. Den ganzen Tag herumheulen, nur weil meinem Herrn Vater mal wieder irgend etwas net in den Kram paßt!
Nein, das wollte sie nicht! Sie würde sich wegen der Auseinandersetzung mit ihrem Vater nicht den ganzen Tag verderben lassen. Irgendwann würde er sich schon wieder beruhigen. Und er mußte ihre Entscheidung einfach akzeptieren. Schließlich war sie kein kleines Madel mehr, sondern eine erwachsene Frau. Und sie war sehr wohl in der Lage, eigene Entscheidungen zu treffen, vor allem, wenn diese Entscheidungen ihre eigene Zukunft betrafen!
Alex wusch sich das Gesicht und verließ schließlich ihre Kammer, um draußen etwas frische Luft zu schnappen. Es war ein wunderbarer Tag. Zwar schlug ihr draußen etwas kühle Luft entgegen. Ein frischer Wind wehte, aber die Temperaturen waren angenehm. Der Himmel war beinahe wolkenlos, und die Sonne sandte wärmende Strahlen vom Himmel und tauchte die Gipfel der nahen Berge in wundervollen goldenen Glanz.
Tief sog das Madl die frische, würzige Luft ein. Der Wind wehte den Geruch wilder Wiesen und reifenden Korns herüber.
Wie schön das Leben doch sein könnte, dachte Alex und ertappte sich dabei, daß sie schon wieder über den Streit mit dem Vater nachdachte.
Nein, jetzt wird net weiter darüber nachgedacht! rief sie sich rasch zur Ordnung.
Statt dessen dachte sie nun über etwas anderes nach, während sie ein paar Schritte ging, um sich etwas die Füße zu vertreten. Sie dachte an den Nachhilfeunterricht, den sie in den nächsten acht Wochen geben würde.
Dieser Job kam wirklich wie gerufen. Und alles war so überraschend gekommen. Herr Kramer, ehemaliger Professor der Universität, war von einem Freund gebeten worden, den Studenten ausfindig zu machen, der in diesem Jahr das Examen mit Bestnoten bestanden hatte. Dabei war er auf Alex gestoßen. Sie hatte das Examen wirklich mit Bravour bestanden, aber darauf bildete sie sich nichts ein. Sie war keine Streberin. Sie hatte lediglich ein Ziel vor Augen gehabt und dieses Ziel durch Fleiß und Disziplin erreicht.
Herr Kramer hatte sie gefragt, ob sie Lust hätte, einem jungen Mann aus der Stadt für zwei Monate Nachhilfe zu geben. Und als er ihr sagte, daß der Vater des jungen Mannes sie auch ordentlich dafür bezahlen würde, hatte sie keine Sekunde mehr gezögert und sofort zugesagt.
Heute sollte er ankommen. Alex war gespannt. Sie wußte nicht mehr über ihn als seinen Namen.
Florian Martens.
Und auch mit seinem Vater hatte sie bisher nicht gesprochen. Alles war über Herrn Kramer gelaufen, der sozusagen als Vermittler fungiert hatte. Herr Martens senior schien ein vielbeschäftigter Mann zu sein. Nun, er war ja auch Jurist, und vielleicht würde es Alex irgendwann auch einmal so ergehen.
Jetzt war sie aber erst einmal gespannt auf ihren Nachhilfeschüler.
*
»Nun rück schon raus mit der Sprache, Lois: Welche Sorgen plagen den Gruber-Johannes?«
Sebastian Trenker, der junge Bergpfarrer von St. Johann, wischte sich mit der Serviette den Mund ab, während er diese Frage stellte. Das Essen hatte einfach fabelhaft geschmeckt. Deftige Hausmannskost und dazu ein frisches gutgezapftes Bier mit ordentlich Schaum obenauf. Genau das, wofür der »Blecherne Krug« bekannt war.
Der Lois nahm einen großen Schluck Bier. Mit der Hand wischte er sich den Schaum vom Mund. »Es geht um seine Tochter«, erklärte er anschließend.
»Die Alex?« Sebastian blickte auf. »Ist denn was mit dem Madel?«
Der Bürgermeister hob die Schultern. »Wie man’s nimmt.
Sie möcht’ halt von zu Hause fort und sich in der Kreisstadt eine
eigene Wohnung nehmen. Ist ja auch eigentlich alt genug, das Madl.«
»Sicher. Aber wahrscheinlich paßt’s dem Johannes ganz und gar net, daß seine Tochter ihr Leben selbst in die Hand nimmt«, schlußfolgerte Sebastian Trenker.
»Genau das ist das Problem, Sebastian. Der Johannes möcht’, daß das Madel bei ihm auf dem Hof bleibt. Ist richtig verbohrt, der alte Griesgram. Die ganze Sache nimmt ihn sehr mit. Im Moment ist mit dem alten Haudegen gar net gut Kirschen essen. Vielleicht solltest’ dir noch mal überlegen, ob du wirklich zu ihm gehst. Bei der Laune, die er im Moment hat, verdirbt er dir sonst noch deinen Aufenthalt in unserem schönen Steinbach.«
Lächelnd schüttelte der Pfarrer den Kopf. »Da mach dir mal nur keine Sorgen, Lois. Ich bin hart im Nehmen. Und wer weiß, vielleicht kann ich ja sogar helfen, die Situation etwas zu entspannen.«
Lois hob die Schultern. »Wenn du meinst. Ich kann dir nur sagen, daß man mit ihm im Moment kein vernünftiges Wort über die Sache reden kann, und glaub nur net, ich hätt’s net schon versucht…«
»Ich werd’s schon schaffen«, sagte der junge Bergpfarrer von St. Johann zuversichtlich. Er hatte in all den Jahren gelernt, daß Optimismus das A und O im Leben war.
Nachdem er sich von dem Bürgermeister verabschiedet hatte, verließ der Pfarrer das Wirtshaus. Dabei dachte er weiter über den Gruber-Johannes nach.
Eigentlich überraschte es ihn nicht sonderlich, daß die Ankündigung seiner Tochter, sich eine eigene Wohnung zu suchen, für Unruhe in der Familie sorgte. Johannes Gruber hatte schon immer seine ganz eigenen Vorstellungen über das Leben seiner Tochter gehabt. Und die waren klar: sie sollte zusammen mit ihrem Bruder auf dem Hof bleiben und ihn irgendwann einmal weiterführen.
Sebastian hatte schon immer befürchtet, daß es in dieser Hinsicht einmal zu Ärger kommen könnte. Alex war ein liebes, freundliches Madl. Aber sie hatte ihren eigenen Kopf, und es war schon lange abzusehen, daß sie irgendwann einmal ihr Leben selbst in die Hand nehmen würde. Und das konnte der Pfarrer nur zu gut verstehen. Sie hatte halt ihre eigenen Wünsche für die Zukunft, wie jeder Mensch, und man konnte niemanden zu etwas zwingen, das er nicht tun wollte.
Na, mal sehen, was der alte Brummbär sagt, wenn ich ihm mal ordentlich ins Gewissen rede! dachte Sebastian Trenker, als er sich auf den Weg machte.
Auf den Weg zum Gruber-Hof.
*
Florian Martens saß in seinem schnittigen Sportwagen und fuhr auf der Landstraße Richtung Steinbach.
Seine Stimmung näherte sich mehr und mehr dem Nullpunkt, je kürzer die Distanz zu seinem Ziel wurde.
Es war aber auch eine unmögliche Idee von seinem Vater gewesen, ihn in dieses Dorf zu schicken!
Florian war ein Stadtmensch. Er liebte das turbulente, aufregende Leben, liebte es, in angesagte Diskotheken und Lokale zu gehen, bis in die Nacht zu feiern und sich mit hübschen Mädchen zu vergnügen, die auf seiner Wellenlänge waren.
Und dann zwei Monate in dieser Gegend verbringen, in der sich Fuchs und Gans Gute Nacht sagten?
Nein, das konnte einfach nicht gutgehen, das stand für den gutaussehenden Burschen fest.
Er hatte seinen Vater gebeten, den jungen Mann, der ihm Nachhilfeunterricht erteilen sollte, doch in die Stadt einzuladen. Die Martens besaßen ein großes Grundstück mit vielen Gästezimmern. Das wäre also überhaupt kein Problem gewesen.
Aber sein Vater hatte anders entschieden. Ihm kam es gerade recht, daß der ausgewählte Nachhilfelehrer auf dem Lande lebte.
»Dort kannst du in aller Ruhe lernen und wirst ganz sicher nicht in Versuchung geführt, dir die Nächte in verräucherten Diskotheken und Bars um die Ohren zu schlagen!« hatte Reinhold Martens entschlossen gesagt.
Wie wahr, dachte Florian bissig. Er glaubte nämlich nicht, daß es in Steinbach viel Möglichkeiten zum Ausgehen gab.
Wieder einmal.
Aber vielleicht lag das auch daran, daß der Bursche gar nicht wußte, was er überhaupt machen wollte. Er hatte keinen Berufswunsch, hatte keine Ahnung, wie seine Zukunft aussehen sollte. Daß er aber nicht sein ganzes Leben lang nur faul auf der Haut herumliegen und von einer Diskothek in die andere ziehen konnte, war ihm inzwischen schon deutlich geworden.
Und mit einem Examen in der Tasche war es bestimmt leichter, einmal eine gute Anstellung zu bekommen, ganz gleich, für welchen Weg er sich dann auch entschied.
Florian drosselte das Tempo seines Wagens, als er Steinbach erreichte. Hier konnte er nicht durch die engen Straßen rasen, deshalb fuhr er langsamer.
Skeptisch sah er sich um. Hatte er gehofft, in dem Ort einige Lokalitäten zu finden, in denen es so hoch herging wie in der Stadt, wurde er jetzt bitter enttäuscht. Er entdeckte ein altmodisches Café, ein Wirtshaus und eine Eisdiele. Das war aber auch schon alles. Jedenfalls war weit und breit keine Diskothek und ein modernes Lokal zu entdecken.
Na wunderbar! Florian seufzte frustriert.
Er mußte den Ort ganz durchqueren, um zu dem Hof der Grubers zu gelangen. Sein Vater hatte von Herrn Krämer eine genaue Wegbeschreibung per Fax erhalten. Das Blatt Papier lag neben Florian auf dem Beifahrersitz. Hätte er die Beschreibung nicht vorliegen, hätte er sich wahrscheinlich schon längst hoffnungslos verfahren…
Nachdem er den Ort durchquert hatte, warf Florian noch rasch einen Blick auf die Wegbeschreibung. Jetzt war es nicht mehr weit. Die wunderschöne Landschaft mit den vielen Feldern und Wiesen nahm er ebenso wenig wahr wie den herrlichen Blick auf die Berge. Dafür fehlte ihm jetzt einfach der Sinn.
Der junge Mann fragte sich, was für ein Bursche sein Nachhilfelehrer wohl sein mochte. Er wußte ja nichts über ihn außer seinem Namen.
Alex Gruber.
Was das wohl für einer war? Sicher einer dieser Streber, dachte Florian ein wenig abfällig. Vor seinem geistigen Auge malte sich plötzlich ein Bild des Burschen ab: groß, hager, Hornbrille, ordentlicher Haarschnitt und immer pikobello gekleidet.
Ja, genau so stellte er sich ihn vor. Florian Martens grinste schräg.
Zur selben Zeit erreichte Sebastian Trenker schon den Gruber-Hof. Wie immer, wenn er hier war, bewunderte er die Umgebung. Die Grubers hatten hier wirklich ein wunderschönes Fleckchen Erde. Der Bergbauernhof lag abgelegen, inmitten frühsommerlich blühender Wiesen. Grün, wohin man blickte. Scheune, Stall und Wohnhaus wiesen eine so robuste Konstruktion auf, daß sie den Herbststürmen und harten Wintern im Gebirge beharrlich trotzen konnten. Hoch über ihm kreiste ein Adlerpaar am Himmel. In einiger Entfernung konnte er einige Gemsen in den Bergen erblicken. Vögel zwitscherten ihre schönen Lieder.
Der Pfarrer atmete tief durch. Es war wirklich wundervoll hier. Einfach herrlich!
Schnellen Schrittes wanderte Sebastian auf das Grubersche Wohnhaus zu. Er konnte kaum erwarten, seinen alten Freund und dessen Kinder endlich wiederzusehen.
Viel zu lange hatten sie sich nicht mehr gesehen. Früher hatten sie guten Kontakt miteinander gehabt, doch in der letzten Zeit war der etwas abgeflaut, was nicht zuletzt daran lag, daß der Bergpfarrer in St. Johann Tag für Tag alle Hände voll zu tun hatte.
Als Sebastian auf das Haus zuging, kam der alte Gruber gerade aus dem Stall, der sich rechts neben dem Wohnhaus befand. Er erblickte den Pfarrer und sah ihn ungläubig an.
»Sebastian Trenker?« fragte er ungläubig. »Bist du’s wirklich, Hochwürden?«
Sebastian lachte auf. »Ganz recht, Johannes. Ich bin’s tatsächlich. Da staunst’, wie?«
Die zwei Freunde begrüßten sich herzlich, und fünf Minuten später saßen sie sich drinnen im Wohnhaus am Küchentisch gegenüber.
»Trinkst doch sicher einen Enzian mit mir, net wahr?« erkundigte sich der Gruber-Johannes und erhob sich.
Sebastian schüttelte den Kopf. »Für einen Schnaps ist es mir ehrlich gesagt, noch ein bisserl zu früh.«
Der Johannes sah ihn verdutzt an. »Nun stell dich mal net so an, Hochwürden. Schließlich ist’s schon nach Mittag.«
In dieser Hinsicht duldete der Bauer keinen Widerspruch. Er stellte eine Flasche Enzian und zwei Schnapsgläser auf den Tisch und bedeutete dem Pfarrer einzuschenken.
Sebastian grinste in sich hinein. »Na, da muß ich mich wohl geschlagen geben«, sagte er und schenkte ein.
»Das will ich auch meinen, Hochwürden!«
Die Männer prosteten sich zu und stellten anschließend die geleerten Gläser ab.
»Wie lange hast’ denn vor zu bleiben?« erkundigte sich der Gruber, während er das geleerte Glas auf den Tisch stellte.
Der Pfarrer hob die Schultern. »So genau weiß ich das noch gar net. Ein paar Tage aber ganz sicher. Ich muß jetzt nur noch schauen, ob in der Pension drunten im Dorf noch ein…«
»Ach was, das kommt gar net in Frage!« protestierte der Gruber. »Du wohnst natürlich bei uns, verstanden?«
Der Pfarrer lächelte dankbar.
In dem Augenblick betrat der Grubersche Nachwuchs die Küche.
Sebastian erhob sich und sah die beiden Geschwister an. »Na, ihr habt euch aber verändert!« sagte er und begrüßte zuerst die hübsche Alex, dann ihren drei Jahre älteren Bruder Benno, einen netten, hochgewachsenen Burschen. Schlank und gut aussehend war der Benno, aber das wußte der Sebastian ja noch. Es war zwar schon einige Zeit her, daß er ihn und auch die Alex das letzte Mal gesehen hatte, aber gar so sehr verändert hatten sie sich auch wieder nicht.
Sebastian führte einen kurzen Plausch mit Alex und Benno, dann verabschiedeten sich die zwei Jung-Grubers fürs erste und verließen die Küche. Dem Pfarrer war jedoch nicht entgangen, daß das Madl etwas bedrückt wirkte, wenngleich es sich sehr darüber gefreut hatte, den sympathischen jungen Pfarrer nach so langer Zeit wiederzusehen.
Gerade überlegte Sebastian, wie er vorsichtig auf das Thema zu sprechen kommen sollte, als Alex noch einmal den Raum betrat.
»Was ist denn noch?« raunzte der Bauer sie an. »Siehst’ denn net, daß der Pfarrer und ich zu reden haben?«
Das Madl ging gar nicht darauf ein. »Ich hab’ dir doch von dem Burschen erzählt, dem ich Nachhilfe geb’, Vater.«
»Und?«
»Du hast doch sicher nichts dagegen, daß er für die Dauer seines Aufenthaltes bei uns wohnt, oder? Wir haben doch genug Gästezimmer.«
Der alte Gruber schüttelte den Kopf. »Kommt net in Frage. Ich bring doch net so einen Stadtmenschen zwei Monate lang kostenlos in meinem Haus unter.«
Alex rollte die hübschen dunklen Augen. »Ach herrje, Vater. Nun stell dich mal net so an. Ich werd’ gut für die Nachhilfestunden bezahlt, die ich ihm geb. Wenn du drauf bestehst, geb ich dir halt was davon ab für die ›Zimmermiete‹.«
»Das will ich auch hoffen.«
»Also, ist’s in Ordnung?«
Der alte Gruber machte eine alles umfassende Handbewegung. »Mach doch, was du willst!«
»Dann ist’s ja gut.« Das Madl nickte, lächelte dem Pfarrer kurz zu und verließ die Küche.
Sebastian wandte sich wieder dem Johannes zu. »Was ist denn das für ein Bursche aus der Stadt, von dem die Alex gesprochen hat?« erkundigte er sich.
Der Gruber winkte genervt ab. »Irgend so einer, der durchs Examen gefallen ist und dem das Madl jetzt Nachhilfe geben soll.« Er seufzte abgrundtief. »Und um ihre Pflichten auf dem Hof macht sie sich dann mal wieder keine Gedanken, aber das ist ja nix Neues!«
Sebastian Trenker nickte. Es war offensichtlich, daß es im Moment keinen Sinn hatte, weiter nachzuhaken. So beließ er es dabei.
Fürs erste zumindest…
*
Florian Martens lenkte seinen Wagen eine Anhöhe hinauf und bremste ab.
Vor ihm lag der Hof der Grubers.
Nun hatte er sein Ziel also erreicht. Doch der Anblick des Gruber’schen Anwesens ließ seine Stimmung nicht gerade besser werden. Das war wohl wirklich nicht die Umgebung, in der sich ein Stadtmensch, wie er einer war, wohl fühlen konnte. Davon war der junge Mann jedenfalls felsenfest überzeugt.
Sicher, die Landschaft war schön, das mußte selbst er zugeben. Die wundervolle Natur mit den vielen Feldern und saftgrünen Wiesen, der Ausblick auf die Berge… All das lud sicher so manchen Städter zu einem Erholungsurlaub ein. Und ein paar Tage hätte Florian sicher auch gern einmal hier verbracht.
Aber zwei ganze Monate?
Nein, das war nichts für ihn! Das war ihm viel zu einsam. Er wußte jetzt schon, daß er sich hier zu Tode langweilen würde!
Und an die Lernerei wollte er jetzt gar nicht denken.
Hätte er sich doch nur nicht darauf eingelassen!
Aber jetzt war es zu spät, da mußte er jetzt wohl oder übel durch.
Er fuhr bis zum Wohnhaus vor und stellte den Motor ab. Noch einmal atmete er tief durch, dann gab er sich einen Ruck und stieg aus dem Wagen. Frische Bergluft wehte ihm entgegen, fuhr durch sein kurzes, modisch geschnittenes dunkles Haar und blähte sein offen stehendes Jackett auf.
Gerade wollte Florian auf das Wohnhaus zugehen, da kam ein sportlicher großer Bursche auf ihn zu. Er trug zerschlissene Arbeitskleidung, die ebenso so schmutzig war wie seine Hände. In den Händen hielt er Werkzeug.
»Grüß Gott«, sagte der Bursche. »Kann ich helfen?«
Florian nickte. »Ich möcht’ zu Alex Gruber.«
»Ach ja«, antwortete der Bursche. »Bist bestimmt der Nachhilfeschüler, was?«
Florian nickte knapp. Nachhilfeschüler – wie das schon klang!
»Ich bin der Bruder«, stellte sich der Bursche vor. »Heiße Benno. Wenn du Lust hast, können wir gern mal zusammen so richtig was unternehmen. Bist ja jetzt länger hier.«
Florians Augen begannen für einen kurzen Augenblick hoffnungsvoll zu leuchten. »Ja, gern«, sagte er, und auf seine Lippen legte sich der Anflug eines Lächelns. »Gibt’s denn hier in der Umgebung gute Möglichkeiten, um was zu unternehmen?«
»Aber klar doch! Drunten im Dorf haben wir eine hübsche Eisdiele, und ein Wirtshaus gibt’s auch.«
Florian verdrehte die Augen. Sein Lächeln gefror. Na toll, dachte er. Ist ja wirklich richtig was los.
Laut sagte er:
»Wo find ich denn jetzt Alex?«
Benno Gruber deutete nach links. »Drüben im Stall. Also, wir sehen uns dann ja wohl noch öfter.«
»Sicher.« Florian nickte, wandte sich ab und ging hinüber zum Stall.
Na klasse, dachte er währenddessen. Mein zukünftiger Nachhilfelehrer ist auch noch Stallbursche. Das kann ja was geben.
Nie hätte er damit gerechnet, welch eine Überraschung er in wenigen Augenblicken erleben sollte…
Als er den Stall betrat, erblickte er als erstes ein junges Madl, das gerade dabei war, den Stall auszumisten. Sie stand mit dem Rücken zu ihm. Sie trug ein viel zu weites Holzfällerhemd, schlabberige blaue Jeans und ein paar ausgelatschte Turnschuhe. Ihr blondes, glänzendes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
»Guten Tag«, sagte er knapp. »Ich suche Alex Gruber.«
Das Madl drehte sich um. Florian blickte ihr ins Gesicht, und sofort wurde ihm der Atem knapp.
Er riß die Augen auf.
Mit halb offenstehendem Mund starrte er die junge Frau an. Sie sah wirklich toll aus, stellte er fest. Ihr hübsches schmales Gesicht zog ihn förmlich in den Bann. Und dann die Augen! Sie waren blau wie der Himmel, und ein strahlendes Funkeln lag in den dunklen Pupillen.
Während der Florian noch nach Luft rang, legte sich auf die vollen, hübsch geschwungenen Lippen des Madls ein feines Lächeln.
»Alex Gruber steht direkt vor Ihnen«, sagte sie. Ihre Stimme war freundlich und seidenweich.
Es dauerte einen Moment, bis Florian begriff, was das Madl da gerade gesagt hatte.
Der Bursche riß die Augen noch weiter auf.
»SIE sind…«, sagte er irritiert.
»Alex Gruber«, vervollständigte sie seinen Satz. »Allerdings. Ich bin Ihre neue Nachhilfelehrerin!«
Noch immer stand der Florian wie angewurzelt da. Und noch immer konnte er nicht glauben, was er da zu hören bekam.
»Nachhilfelehrerin?« hakte er abermals nach.
Das Madl lachte. »Hören Sie etwa schlecht? Na, und das schon in Ihrem Alter. Das kommt von den vielen Diskothekenbesuchen in der Stadt…«
»Nein, nein.« Florian winkte hastig ab. »Das ist es net, wirklich. Ich höre noch ganz gut. Es ist nur… Also, ich dachte…«
»Genau das dachte ich. Jedenfalls hat mein Vater nur von einem Studenten gesprochen.«
»Och, das kenn’ ich. Viele denken bei dem Namen Alex sofort an Alexander. Ich heiße halt Alexandra, und seit ich denken kann, nennt man mich nur Alex. Das ist auch schon des Rätsels Lösung.«
Florian schluckte. Der Bursche war völlig verwirrt, konnte noch immer keinen klaren Gedanken fassen. Mit allem hatte er gerechnet – aber nicht damit!
Plötzlich legte sich ein breites Grinsen auf seine Lippen.
Sein Nachhilfelehrer war ein Madl!
Mit einem Mal fühlte er sich richtig gut. Mit einem Madl würde er schon fertig werden, kein Zweifel. Und hübsch war die Alex noch dazu.
Wie es schien, konnten die zwei Monate in den Bergen doch noch richtig gut verlaufen…
*
»Nun sag schon, Johannes«, forderte der Bergpfarrer den alten Gruber auf. »Was ist los bei euch? Ich merk doch, daß dich Sorgen plagen. Mir kannst nix vormachen!« Er hielt kurz inne. »Und ehrlich g’sagt hat auch schon der Lois so etwas angedeutet.«
»Ach, unser feiner Herr Bürgermeister!« empörte sich der Gruber-Johannes. »Na, das hätt’ ich mir ja gleich denken können. Der hat doch den ganzen Tag nix anderes zu tun, als seine dicke Nase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken!«
Die zwei Männer waren an die frische Luft gegangen, um sich etwas die Füße zu vertreten. Jetzt gingen sie an Feldern und Wiesen vorbei. Der leichte Wind wehte ihnen in die Gesichter, und der gute Hirte von St. Johann atmete immer wieder tief die frische, würzige Luft ein.
Eine Wohltat für die Seele war das, obwohl Sebastian das eigentlich gewohnt war, schließlich lebte er in St. Johann, und das war ebenfalls ein wunderschönes, naturbelassenes Fleckchen Erde.
»Nun stell dich mal net so an«, erwiderte der Pfarrer jetzt. Auf seinen Lippen lag ein Lächeln. »Der Lois sorgt sich nur um dich, das ist alles. Und bei mir ist’s genauso. Schließlich kenne ich dich schon eine halbe Ewigkeit, und um Freunde kümmert man sich, wenn sie Sorgen haben.«
Der Gruber warf ihm einen argwöhnischen Blick zu. »Sag bloß, du bist auch deshalb überhaupt hergekommen? Hat dich der Loisl etwa angerufen und hergebeten?«
»Aber nein, Loisl, das hat er nicht. Ich bin lediglich hergekommen, weil ich meinem alten Freund Gruber nach langer Zeit mal wieder einen Besuch abstatten wollte. Aber jetzt, wo ich schon einmal hier bin, kannst’ auch ruhig mal mit mir über deine Sorgen sprechen. Ich bin gut im Zuhören, schließlich bin ich Pfarrer. Und wenn ich dir…«
Der Gruber winkte ab. »Ja, ja, Hochwürden. Schon gut.« Der alte Mann blieb stehen und wandte sich dem Sebastian zu. »Also, wie du dir sicher denken kannst, geht es um die Alex. Das Madl macht einfach, was es will, ohne an die Familie zu denken! Erst wollte sie unbedingt studieren. Ehrlich gesagt, war mir das auch schon net so recht. Ich wußte ja gleich, daß sie dann den Hof vernachlässigen wird. Und so ist’s dann ja auch gekommen. Hatte nur noch ihre Vorlesungen und Prüfungen im Kopf. Jetzt hat sie das Examen, und ich dachte schon, jetzt geht’s wieder aufwärts. Aber nein, jetzt muß das Madl ja auch noch irgend so einem Burschen Nachhilfeunterricht geben. Und dann will sie sich auch noch eine Wohnung in der Kreisstadt nehmen und beim Anwalt anfangen. Also, das bringt doch das Faß zum Überlaufen!«
Der Gruber-Johannes hatte geredet wie ein Wasserfall. Alles war förmlich aus ihm herausgesprudelt, und es war ihm anzusehen, daß es ihm gutgetan hatte, alles einmal herauszulassen.
Sebastian schwieg einen Moment. Er hatte ja schon mehr oder weniger gewußt, worum es ging. Einerseits konnte er den Gruber ja auch verstehen. Er wußte, daß er sehr traditionell veranlagt war. Sich an Änderungen zu gewöhnen, war ihm schon immer schwer gefallen. Sebastian wußte, daß es ihm am liebsten wäre, wenn seine Kinder bei ihm blieben so lange es möglich war. Und da paßte es ihm natürlich gar nicht in den Kram, daß die Alexandra nun begann, ihren eigenen Weg zu gehen.
Aber er mußte doch an das Madl denken! Schließlich war die Alexandra eine erwachsene junge Frau und kein kleines Kind mehr. Sie hatte eigene Pläne, und das war auch gut so.
Das versuchte er jetzt auch dem Gruber zu erklären. Doch leider, wie sich bald herausstellte, mit wenig Erfolg.
»Ach, hör mir bloß auf damit!« schimpfte der Johannes. »Genau das erzählt mir das Madl auch immer. Daß sie selbständig sein und auf eigenen Beinen stehen will. Pah! Wenn ich das schon hör’! Das Madl gehört genau dort hin, wo es jetzt ist: auf den Hof!«
Sebastian seufzte lautlos. »Aber Johannes«, sagte er dann ruhig. »Du kannst doch net ernsthaft über ihr Leben bestimmen wollen. Das wird sie sich net gefallen lassen, und ehrlich g’sagt kann ich das auch sehr gut verstehen, und wenn du es dir mit deiner Tochter net irgendwann endgültig verderben willst, dann solltest’ mal genauer über deine Ansichten nachdenken. Die sind nämlich ziemlich altmodisch, sag ich dir.«
»Ach ja?«
Der Bergpfarrer nickte. »Allerdings.« Er machte eine kurze Pause und legte dem alten Gruber freundschaftlich eine Hand auf die Schulter. »Versteh mich net falsch, ich will nur dein Bestes. Aber es ist abzusehen, daß die Alex das net ewig mitmachen wird. Und wenn du nicht so schnell wie möglich zur Vernunft kommst, Johannes, dann wirst’ deine Tochter verlieren. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.« Er grinste spitzbübisch. »Und in der Hinsicht weiß ich sehr wohl, wovon ich rede. Schließlich bin ich…«
»Pfarrer!« vollendete der Gruber genervt. »Ist ja schon gut, Hochwürden. Ich werde es mir mal durch den Kopf gehen lassen.«
Ob er das wirklich macht? fragte sich Sebastian Trenker in diesem Moment.
Zuerst wollte er nicht so recht daran glauben, doch auf dem Rückweg zum Hof stellte er fest, daß der Gruber-Johannes auffallend ruhig und nachdenklich wirkte.
Das läßt ja zumindest hoffen, dachte er seufzend…
*
»Hatten Sie eine gute Fahrt hierher?« erkundigte sich Alex Gruber, als sie und Florian Martens sich in der rustikal eingerichteten Küche bei zwei Tassen mit dampfend heißen Kräutertees gegenübersaßen.
Der Florian winkte lässig ab. »Ach, das war kein Problem. Schließlich bin ich ein geübter Autofahrer. Und wenn Sie wüßten, wo ich schon überall in der Welt herumgekommen bin…«
Die Alex rollte die Augen. Ach du meine Güte, dachte sie leicht genervt, aber immer noch mit der nötigen Portion Humor. Ist das also auch noch so ein Angeber. Na, das kann ja heiter werden!
So erzählte Florian ihr jetzt von seinen vielen Reisen und was er dort erlebt hat. Überall war er angeblich schon gewesen. Ganz Europa hatte er durch und auch Amerika und Australien. Und überall hatte er die besten und berühmtesten Diskotheken besucht, die es gab. Natürlich!
Die Alex seufzte lautlos und hörte nach einer Weile nur noch mit einem Ohr hin.
Als der Florian irgendwann fertig wurde, atmete das Madl erleichtert auf.
»Na, da haben S’ ja schon recht viel erlebt«, stellte sie fest, wobei sie ein Gähnen unterdrücken mußte. Wenn’s stimmt…, fügte sie in Gedanken hinzu.
Der Florian lachte. Er war jetzt ganz in seinem Element. »Das kann ich Ihnen aber sagen! Bin schon ganz schön herumgekommen in der Welt.« Erst jetzt griff er zu seiner Teetasse, nahm einen Schluck und verzog angewidert die Miene.
Igitt, das schmeckt ja scheußlich! hatte er sagen wollen, doch im letzten Moment riß er sich zusammen und unterdrückte den Kommentar.
Alexandra aber konnte seine Gedanken förmlich lesen. »Vielleicht hätten Sie den Tee net kalt werden lassen sollen«, sagte sie. »Heiß schmeckt er für gewöhnlich besser. Aber vielleicht ist Kräutertee auch einfach net das Richtige für Sie.«
Er hob ein wenig hilflos die Schultern.
»Kann ich Ihnen vielleicht etwas anderes anbieten?«
»Och ja, wenn Sie mich so fragen… Eine Cola wäre jetzt genau das Richtige!« Einen Moment hielt er inne. »Das heißt, wenn Sie so was hier haben…«
Alex schüttelte bedauernd den Kopf. »Das tut mir leid«, sagte sie. »Wir haben für gewöhnlich nur Kräutertee und Kakao im Haus.«
Florian verzog unwillkürlich die Miene.
»Ach ja«, sagte Alex dann. »Heiße Milch mit Honig könnte ich Ihnen noch anbieten. Möchten S’ ein Glas?«
Abwehrend hob er die Hände. Alex stellte fest, daß er regelrecht geschockt aussah, der Bursche.
Sie konnte ein amüsiertes Grinsen nicht unterdrücken. Doch dann winkte sie ab. Schließlich wollte sie den Burschen nicht noch länger quälen!
»Nur keine Bange«, sagte sie und erhob sich. »Natürlich haben wir auch Cola im Haus.« Mit leicht ironischem Unterton fügte sie hinzu: »Auch wenn Sie es sich net vorstellen können, aber so etwas gibt’s auch auf dem Lande!«
Sie brachte ihm ein Glas Cola und setzte sich wieder auf ihren Platz. Nachdem Florian den ersten Schluck getrunken hatte, fragte er:
»Herr Kramer hat Ihnen doch erklärt, worum es genau geht?«
Sie nickte. »Natürlich. Sie möchten die Nachprüfung in zwei Monaten bestehen, und dabei soll ich Ihnen helfen.«
»Genau das«, erwiderte der Bursche. Aus seiner Jackentasche kramte er einen Scheck. »Den soll ich Ihnen von meinem Vater geben. Er geht davon aus, daß der Betrag wirklich ausreichend ist. Ansonsten sagen S’ mir einfach Bescheid.«
Alexandra Gruber warf einen kurzen Blick auf den Scheck. Ihre Augen weiteten sich erstaunt, als ihr Blick an dem Betrag hängen blieb.
»Nein, nein«, sagte sie schnell. »Das… ist wirklich mehr als ausreichend!«
»Schön. Wann wollen wir beginnen?«
»Von mir aus sofort.«
Florian riß erschrocken die Augen auf. »Nein, nein«, sagte er und machte eine abwehrende Handbewegung. »Wir wollen doch schließlich nichts überstürzen! Wie wäre es mit morgen früh?« fügte er fragend hinzu.
»Gut. Aber morgen fangen wir dann auch wirklich an. Schließlich werde ich von Ihrem Vater net fürs Faulenzen bezahlt. Und Sie wollen ja wohl auch die Prüfung schaffen, sonst wären S’ ja net hier. Ach ja, und Sie haben doch Ihre Unterlagen vom letzten Semester dabei?«
»Ah… Ja, ein paar Sachen habe ich im Wagen.«
»Gut. Legen Sie sie mir gleich auf den Küchentisch, dann sehe ich sie mir schon mal an.«
Florian seufzte innerlich. Das Madl legte ja ein ganz schönes Tempo vor…
*
»Hallo, Herr Pfarrer!«
Sebastian Trenker, der junge Pfarrer aus St. Johann, war nach dem Spaziergang mit seinem alten Freund noch ein wenig vor dem Hof an der frischen Luft geblieben, während der Gruber schon ins Wohnhaus gegangen war.
Jetzt drehte er sich um, als er die Stimme hinter sich vernahm. Er erblickte die Alexandra, die nun auf ihn zugeeilt war. Auf ihren Lippen lag ein strahlendes Lächeln.
»Na, Alex«, sagte der Pfarrer. »Du schaust ja so glücklich aus.«
Alexandra nickte. »Ach, ich freu mich halt nur, Sie endlich einmal wiederzusehen. Vorhin in der Küche hatten wir ja kaum Gelegenheit, richtig miteinander zu reden.«
»Da hast’ recht. Die Stimmung zwischen dir und deinem Vater ist im Moment net ganz so gut, net wahr?«
Sie winkte ab. »Ach, es ist immer dasselbe. Vater kommt einfach net damit zurecht, daß ich meinen eigenen Weg gehen will. Aber ich versteh das einfach net. Ich bin doch längst alt genug. Das muß doch auch ihm langsam klar sein. Schließlich bin ich kein kleines Kind mehr. Ich geh immerhin auf die Dreißig zu!«
Sebastian grinste. »Na, bis dahin sind’s ja noch ein paar Jahre. Aber im Grunde hast du natürlich recht. Andererseits mußt deinen Vater vielleicht auch ein klein wenig verstehen. Er hängt halt sehr an dir. Außerdem ist er nun mal ein sehr traditionsliebender Mensch. Er kennt es halt noch so, daß Kinder bei ihren Eltern auf dem Hof bleiben, wenn sie erwachsen sind. Und damit, daß du dir nun eine Wohnung in der Kreisstadt nehmen willst, kommt er halt net so zurecht. Es macht ihn auch ein wenig traurig, auch wenn er das net so zeigt und immer nur den Brummbär spielt.«
»Sicher, etwas versteh ich das schon«, sagte die Alex leise. Einen Augenblick lang dachte sie schweigend nach. Dann: »Aber ich kann doch net mein Leben nur nach ihm richten, bloß, damit er seinen Willen kriegt und zufrieden ist.«
Der Bergpfarrer schüttelte den Kopf. »Das sollst’ doch auch gar net«, stimmte er zu. »Bloß solltest’ ihm vielleicht noch ein wenig Zeit geben, auch wenn’s natürlich net ewig so weitergehen kann. Laß die ganze Sache einfach ruhig angehen, und wenn er auch in einiger Zeit noch bei seiner Meinung bleibt, dann gehst trotzdem deinen Weg. Es wär halt nur schön, wenn ihr net irgendwann ganz im Streit auseinandergeht.«
»Sicher.« Alex nickte. »Das wünsch’ ich mir ja auch.«
»Wart’ einfach noch ein Weilchen ab«, riet Sebastian ihr. »Das wird schon werden, da bin ich ganz sicher.« Er schenkte dem hübschen Madl ein aufmunterndes Lächeln. »Aber was hab’ ich gehört«, sagte er dann. »Du bist unter die Nachhilfelehrer gegangen?«
»Ach ja. Auch etwas, das meinem Herrn Vater net so recht in den Kram passen will, aber das hast’ ja selbst mitbekommen. Herr Martens, der junge Mann aus der Stadt ist auch schon angekommen. Sie werden ihn ja bald kennenlernen. Mein Vater auch.« Das Madl seufzte. »Oje, das kann ja heiter werden…«
*
Tatsächlich verhielt sich der Gruber-Johannes eher distanziert und auch ein wenig brummig dem Florian Martens gegenüber. Aber das hatte Alex auch nicht anders erwartet. Wenigstens machte ihr Vater keinerlei Aufstände, sondern hielt sich so weit es ihm möglich war zurück.
Am Nachmittag sah sich das Madl die Unterlagen durch, die der Florian ihr auf den Tisch gelegt hatte. Es waren Aufzeichnungen der Vorlesungen aus dem letzten Semester.
Wenn man es denn so nennen wollte.
Denn für Alexandra waren es mehr dahingekritzelte Stichworte, völlig unordentlich und durcheinander.
Na, der hat vom Studieren wohl wirklich net viel gehalten, dachte sie und verzog die Miene. Wer sollte denn daraus schlau werden?
Lehrbücher hatte er natürlich auch mitgebracht, und Alexandra hatte ja selbst einen ganzen Stapel. Die würden sie auch brauchen, denn Alexandra mußte wohl ziemlich weit vorn mit dem Unterricht anfangen, damit es etwas brachte.
Und das alles in zwei Monaten!
Na, wenn wir das mal schaffen… Alexandra legte grübelnd die Stirn in Falten. Aber wir müssen es ja schaffen! Schließlich verläßt sich sein Vater auf mich. Und Florian selbst will die Prüfung ja auch bestehen…
Eines war jedenfalls klar: Am morgen früh würde sie alle Hände voll zu tun haben!
*
»Haben Sie gut geschlafen?« erkundigte sich Alexandra Gruber, als sie und Florian Martens am nächsten Morgen am Schreibtisch in Alex’ Kammer saßen.
Er nickte. »Ja, vielen Dank.«
»Ich hoffe, die Kammer gefällt Ihnen?«
Wieder nickte er, doch Alex merkte natürlich, daß er anderes gewohnt war als ein kleines, spartanisch eingerichtetes Gästezimmer. Aber damit mußte er sich wohl oder übel abfinden.
»Ich habe mir gestern noch Ihre Unterlagen angesehen«, sagte sie schließlich.
»Schön.« Florian sah sie an. »Und?«
»Können Sie mir vielleicht mal verraten, was das sein soll?« Sie deutete auf die Hefter, die er ihr gestern übergeben hatte. »Das ist doch nix Halbes und nix Ganzes. Was haben Sie denn die ganze Zeit über in der Universität gemacht? Ich weiß zwar net, wie es in den Schulen in der Großstadt zugeht, aber an unserer Universität in der Kreisstadt hatten die Studenten schon ein Interesse daran, etwas zu lernen.«
»Nun ja, ich…«, Florian wußte ganz offensichtlich nicht, was er erwidern sollte und suchte vergeblich nach den passenden Worten.
»Sagen S’ doch richtig frei heraus, daß Sie die ganze Zeit über nur gefaulenzt und anderes im Kopf hatten.«
»Jetzt klingen S’ schon wie mein Vater.« Florian senkte den Blick.
»Na, wo er recht hat, hat er wohl recht!« Das Madl seufzte. »Jedenfalls haben wir jetzt eine ganze Menge Arbeit vor uns.«
»Aber wir haben ja auch genug Zeit!« entgegnete der Bursche grinsend.
»Genug Zeit?« echote die Alex. »Bei dem, was Sie ganz offensichtlich alles versäumt haben, sind zwei Monate zuwenig. Viel zuwenig!«
»Gut.« Florian erhob sich. »Dann würde ich sagen, daß wir gleich morgen anfangen!«
»Morgen?« fragte Alex entgeistert und hielt ihn zurück. »Nix da. Wir fangen jetzt an. Jetzt gleich!«
Florian riß beinahe entsetzt die Augen auf. »Das ist doch net Ihr Ernst, oder?«
»Selbstverständlich ist das mein Ernst. Und eigentlich dürfte Sie das doch net sonderlich überraschen. Schließlich waren wir uns doch gestern schon einig, daß wir heut’ früh mit der Arbeit beginnen. Oder täusche ich mich da etwa?« Lauernd blickte sie ihn an.
Florian zuckte etwas hilflos mit den Schultern. »Nein, da täuschen S’ sich natürlich net. Es ist nur… Also…«
»Lassen S’ mich raten, Florian: Sie haben keine Lust!«
Er zierte sich ein wenig. »Erraten!« sagte er schließlich.
»Nun, wie dem auch sei«, Alex räusperte sich, und ihre Stimme wurde hörbar schärfer. »Wir müssen den Stoff in den zwei Monaten schaffen, und deshalb dürfen wir keine Zeit mehr verlieren. Also: An die Arbeit!«
Und dem Florian blieb nichts anderes übrig, als sich zu fügen…
*
Zwar arbeitete der Florian wirklich konzentriert, was die Alex eigentlich gar nicht zu hoffen gewagt hatte. Aber schon nach kurzer Zeit war nicht zu übersehen, daß seine Stimmung immer schlechter wurde. Es war wirklich viel, was es nachzuholen galt, und es zeichnete sich schon jetzt am ersten Arbeitstag ab, daß die nächsten acht Wochen kein Zuckerschlecken werden würden.
Und so kam es schon am Mittag zu einem Streit zwischen den beiden jungen Leuten.
»So«, sagte der Florian und lehnte sich entspannt zurück. »Ich werde jetzt in die Kreisstadt fahren, etwas Ordentliches essen und anschließend ein wenig shoppen. Und vielleicht erkunde ich mal die Umgebung. Vielleicht gibt es hier ja doch ganz anständige Clubs oder Diskos.«
Die Alex glaubte, sich verhört zu haben. Entgeistert blickte sie den Burschen an.
»Das ist aber doch jetzt net Ihr Ernst, oder?« fragte sie und blickte demonstrativ auf ihre Armbanduhr. »Wir arbeiten jetzt gerade einmal seit fünf Stunden.«
»Und?«
»Na, können S’ sich das denn net denken? Wir haben jede Menge zu tun. Wenn Sie die Prüfung in acht Wochen bestehen wollen, dann können wir unmöglich nur halbtags arbeiten. Also, ich mache Ihnen einen anderen Vorschlag. Ums Essen muß ich mich ohnehin kümmern. Sie essen mit uns zusammen, und anschließend arbeiten wir weiter. Einverstanden?«
Entschieden schüttelte Florian den Kopf. »Auf keinen Fall. Wir haben heut’ schon um acht Uhr angefangen. In aller Herrgottsfrühe. Und dann soll ich bis zum Abend ackern? Nein, nein, das wäre ja schlimmer als an der Uni. Kommt gar net in Frage. Ich werd’ mich jetzt in meinen Wagen setzen, und mir einen schönen Nachmittag machen. Was Sie machen, ist mir ja schnuppe. Aber ich werde hier ganz bestimmt net den ganzen Tag mit Lernen verbringen. Also – schönen Tag noch!«
Mit diesen Worten stand der Florian auf und wollte die Kammer verlassen.
Alexandra federte ebenfalls hoch und eilte ihm hinterher. »Nix da!« rief sie aufgeregt. Doch Florian kümmerte sich gar nicht um ihre Worte. Unbekümmert verließ er die Kammer des Madls.
Auf dem Flur holte sie ihn ein.
»Werden S’ wohl hier bleiben?« sagte sie und packte ihn am Arm. »Sie können jetzt net einfach verschwinden!«
Er wandte sich zu ihr um. »Ach nein?«
»Nein! Das lasse ich net zu! Ihr Vater bezahlt mich net dafür, daß Sie sich schöne Ferien machen. Sie sind zum Lernen hier, junger Mann!«
Florian verdrehte die Augen. Das Madl sprach ja langsam wirklich wie sein Vater. Oder wie eine Oberlehrerin von der Universität. Das war doch schon nicht mehr feierlich!
»Seien S’ doch froh, wenn Sie für das Geld net so viel arbeiten müssen. Andere wären dankbar. Fahren S’ doch auch einfach in die Stadt und machen sich einen schönen Tag. Dann lösen Sie Ihren Scheck ein und kaufen mal ordentlich ein. Oder machen sonstwas. Mir ist’s gleich.«
Alex schüttelte den Kopf. »So eine bin ich net, hören S’? Wenn ich von jemandem Geld bekomme, erbringe ich dafür auch eine Leistung. Und Sie sind hier, um zu lernen und net um zu faulenzen!«
Doch da konnte sie reden solange sie wollte – der Florian blieb stur.
Verärgert riß er sich von Alexandra los und stürmte nach unten. Vom Fenster aus beobachtete Alex wenige Minuten später, wie er in seinen Sportwagen stieg und davonbrauste.
»So ein Dickkopf!« murmelte das Madl verständnislos. Einen Moment stand sie nur da und blickte gedankenversunken aus dem Fenster. Dann stemmte das Madl die Fäuste in die Seiten.
Aber wart’ nur ab, verwöhnter Bursche, dachte sie entschlossen. Mit dir werd’ ich schon fertig!
*
Das dachte die Alex zumindest. Aber bereits der nächste Tag zeigte ihr, daß sie da wohl ein wenig zu optimistisch gewesen war.
Um acht Uhr, an dem sie eigentlich mit dem Unterricht beginnen wollte, hörte sie plötzlich den Motor seines Wagens aufheulen. Rasch eilte sie nach draußen und sah nur noch, wie der Florian davonfuhr. Die quietschenden Reifen seines Sportwagens wirbelten eine riesige Staubwolke auf.
Als sich der Staub wieder verflüchtigte, war von dem Wagen schon nichts mehr zu sehen.
Auf und davon war er, der Florian…
»Na, das schlägt doch jetzt dem Faß den Boden aus!« schimpfte das Madl wütend. »Das ist ja wohl die Höhe!«
Da tauchte der Gruber-Johannes hinter ihr auf. »Na, ist dein Nachhilfeschüler schon wieder auf und davon?« fragte er, und der Spott, der in seiner Stimme lag, war kaum zu überhören.
Die Alex verzog die Miene. »Sieht ganz so aus«, sagte sie knapp.
»Hab’ ich’s doch gewußt. Die Burschen aus der Stadt taugen einfach nix. Haben nur ihr eigenes Vergnügen im Kopf. Aber du wolltest’ ja net auf mich hören, wie immer.«
»Ach, Vater.« Sie winkte ab. »Laß es doch einfach gut sein. Ich hab’ net grad große Lust dazu, mich jetzt auch noch mit dir zu streiten.«
»Wie du meinst. Aber da hast’ jetzt ja wenigstens genug Zeit, den Stall auszumisten. Na, worauf wartest’ noch?«
Seufzend nickte die Alexandra. Da blieb ihr wohl nichts anderes übrig, wenn sie einer richtigen Auseinandersetzung mit dem Vater aus dem Weg gehen wollte.
So verbrachte sie den Vormittag damit, den Stall auszumisten und andere Arbeiten im Haus und Hof zu erledigen.
Nach dem Mittagessen, Alex stand gerade vor dem Haus, tauchte dann der Florian wieder auf. Sie sah ihn schon von weitem heranbrausen. Mit ordentlichem Tempo hielt er auf den Hof zu und stoppte den Wagen vor dem Wohnhaus.
Betont lässig stieg er aus.
»Einfach herrlich, das schöne Wetter heute«, rief er Alex breit grinsend zu. »Finden S’ net auch, schöne Frau?«
Alex spürte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg. Hätte sie jetzt in den Spiegel geschaut, hätte sie sich sicher selbst erschrocken, so rot, wie ihr Gesicht jetzt aussehen mußte. Das war doch wirklich eine Unverschämtheit, wie der Bursche sich verhielt! Wie konnte ein Mensch nur so dreist sein? fragte sie sich fassungslos.
Ohne ein weiteres Wort wollte Florian jetzt an dem Madl vorbeispazieren. Aber nicht mit ihr!
Hastig hielt sie ihn auf. »Moment einmal, junger Mann!« rief sie wütend. »Haben S’ net vielleicht irgend etwas vergessen?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich wüßte ehrlich gesagt net, was Sie meinen. Ich wollte mich jetzt umziehen und dann zu Ihnen kommen, damit wir mit dem Unterricht fortfahren können.«
»Aber mit dem Unterricht wollten wir bereits heute früh anfangen«, hielt das Madl ihm entgegen. »Und net erst am Mittag!«
»Och, nehmen S’ das doch net so genau, junge Frau! Für mich ist’s nix, so früh schon zu arbeiten. Wissen S’, ich brauch einfach ein bißchen Entspannung. Und außerdem ist’s ungesund, wenn man sich unnötig Streß macht!«
»Unnötiger Streß?« empörte sich die Alex. »Na, hören S’ mal! Es geht um Ihre Prüfung. Und damit Sie die bestehen, werde ich von Ihrem Vater bezahlt!«
»Ach, der hat ohnehin genug Geld. Machen S’ sich um den mal keine Gedanken. Versuchen S’ doch lieber mal, Ihr Leben auch zu genießen, anstatt immer bloß an die Arbeit zu denken!«
Alex riß die Augen auf. »Jetzt reicht’s aber endgültig!« schrie sie ihn an, vor Wut kochend. »Sprechen S’ gefälligst net so mit mir, Sie verwöhnter Stadtschnösel!«
Jetzt war sie es, die ohne ein weiteres Wort ins Haus lief. Während sie die Treppe zu ihrer Kammer hoch eilte, spürte sie, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen.
Sie war nicht nur wütend und enttäuscht. Wie herablassend er mit ihr geredet hatte! Nur, weil sie das Leben mitsamt seinen Pflichten ernst nahm, brauchte er sie doch nicht so zu behandeln!
Eine Weile saß sie in ihrer Kammer schweigend auf dem Bett. Tränen kullerten ihr die Wangen herab.
Doch irgendwann sprang sie entschlossen auf. Rasch wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht, bevor sie zu ihrem Schreibtisch ging und den Scheck aus einer der Schubladen nahm, den sie noch nicht eingelöst hatte.
Sobald sie den Scheck in der Hand hielt, eilte sie aus ihrer Kammer. Eilig lief sie zum Gästezimmer, in dem der Florian sich für die Dauer seines Aufenthaltes eingerichtet hatte.
Ohne anzuklopfen trat sie ein.
Florian lag angezogen mit dem Rücken auf dem Bett, die Hände unter den Kopf gelegt und döste.
Als sie das Zimmer betrat, rührte er sich gar nicht, blickte nur in ihre Richtung.
Energisch stapfte sie auf ihn zu.
»Hier!« rief sie laut. »Den Scheck können S’ Ihrem Vater zurückgeben!«
Völlig überrascht schaute der Florian sie an, als sie ihm den Scheck auf den Bauch warf.
»Was soll das denn jetzt wieder?« fragte er ruhig.
»Na, das können S’ sich doch wohl denken, oder? Ich werde von nun an net mehr Ihre Nachhilfelehrerin sein. Ihr Aufenthalt hier ist ab sofort beendet. Packen S’ Ihre Sachen zusammen und fahren Sie wieder zurück in Ihre Stadt!«
Mit diesen Worten drehte sie sich abrupt um und verließ die Kammer wieder.
Draußen, auf dem Flur, blieb sie kurz stehen. Tief atmete sie durch. Wieder spürte sie, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen.
Aber warum nur? So fragte sie sich. Sie hatte es dem Florian zwar ganz schön gezeigt, aber das hatte er auch verdient!
Warum fühlte sie sich dann trotzdem so elend?
*
»Störe ich?«
Alexandra Gruber erschrak, als sie die Stimme hinter sich vernahm. Es war früher Abend, sie hatte einen Spaziergang zum nahegelegenen See unternommen, stand nun auf dem kleinen hölzernen Anleger und blickte in Gedanken versunken hinab aufs Wasser.
Jetzt wirbelte sie sofort herum und blickte voller Erstaunen in das Gesicht von Florian Martens.
Schlagartig veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Aus zu Schlitzen verengten Augen sah sie den Burschen an.
»Was machen Sie denn noch hier?« fragte sie betont unfreundlich. »Ich bin eigentlich davon ausgegangen, daß Sie sich längst wieder auf dem Weg in die Stadt befinden!«
Florian senkte betroffen den Kopf. Eine Weile sagte er gar nichts, stand nur da, wie ein getretener Hund.
Alex stutzte. Sie wußte jetzt gar nicht, was sie noch sagen sollte. Einerseits war sie überrascht, daß der Florian überhaupt noch da war, andererseits fragte sie sich, warum er so ruhig war. Das war doch gar net seine Art. Beinahe schüchtern wirkte er, so, wie er jetzt dastand.
Und noch etwas irritierte die Alex: Die Tatsache nämlich, daß sie ein Gefühl der Erleichterung darüber verspürte, daß der junge Mann Steinbach noch nicht verlassen hatte…
»Nun«, durchbrach Florian jetzt das Schweigen. »Ich…«
»Ja?«
»Ich wollt’ mich recht herzlich bei Ihnen entschuldigen, Alexandra.«
Das Madl sah ihn verblüfft an. Alles hatte sie erwartet – aber nicht, daß er sie um Verzeihung bat!
Sie wollte etwas sagen, doch da sprach der Florian schon weiter:
»Ich weiß, daß ich Ihnen heut’ sehr weh getan hab’. Und daß ich Ihnen auf die Nerven falle, seit ich hier bin. Und das tut mir leid. Ich weiß, ich bin ein Trottel. Und ich könnt’s auch sehr gut verstehen, wenn Sie mich net mehr sehen wollen. Trotzdem möchte ich Sie bitten, mir zu verzeihen. Vielleicht könnten wir ja noch einmal ganz von vorn anfangen?« Er kramte etwas aus seiner Jackentasche. Es war der Scheck, den Alex ihm zurückgegeben hatte. Jetzt hielt er ihn dem Madl hin. »Hier, bitte nehmen Sie ihn. Und bitte unterrichten Sie mich weiter. Ich verspreche Ihnen auch, mich fortan zu bemühen und anständig zu lernen!«
Jetzt wußte die Alex gar nicht mehr, was sie erwidern sollte. Wie angewurzelt stand sie da und sah den Burschen verdutzt an. Aus ihrem Blick sprach der pure Unglaube.
Florian räusperte sich. »Soll… soll ich dich lieber allein lassen?« erkundigte er sich vorsichtig, und seine Stimme klang ehrlich. »Ich könnte es sehr gut verstehen, wenn du…«
»Nein, nein.« Das Madl schüttelte hastig den Kopf. »’s ist schon in Ordnung, Florian. Es ist nur… Also…«
»Ja?«
»Nun, versteh mich bitte net falsch. Aber ich kann das gar net so recht glauben.«
Er lächelte. »Das versteh ich schon, Alex. So, wie ich mich aufgeführt habe, ist das ja auch kein Wunder. Aber ich meine es ehrlich. Und ich würde mich freuen, wenn du mir glaubst und mir noch eine Chance gibst.«
Jetzt lächelte auch die Alexandra. »Aber sicher doch«, sagte sie. Ihre Stimme war ruhig und freundlich. »Wer weiß, vielleicht habe ich ja vorhin auch etwas überreagiert. Ich hoffe nur, Sie haben sich noch net zu Hause angemeldet und Ihr Vater erwartet Sie jetzt.«
»Ach woher. Erwarten würde der mich net. Der ist froh, wenn er mich net um sich hat.«
Sie horchte erstaunt auf. »Wie können Sie denn so etwas sagen?« fragte sie. »Ich hatte eigentlich geglaubt, daß Ihr Vater eher besorgt um Sie ist. Schließlich hat er ja einiges in die Wege geleitet, damit Sie die Prüfung doch noch bestehen.«
»Ja, das hat er wahrlich!« Er lachte bitter auf. »Das ist aber das einzige, das ihn interessiert: Mein Studium und meine berufliche Zukunft. Alles andere ist ihm egal. Hauptsache, ich werde Anwalt. Mein Großvater war Jurist, mein Vater selbst ist auch einer und meine älteren Brüder ebenfalls. Da darf ich natürlich net aus der Reihe tanzen!«
»Verstehe«, murmelte Alex leise. Plötzlich war sie sehr nachdenklich geworden. »Ja, ich verstehe Sie sogar sehr gut. Sicher, ich möchte gerne Anwältin werden. Und mein Vater verlangt das ganz sicher net von mir. Dafür erwartet er anderes, und deshalb geht es Ihnen und mir eigentlich in gewisser Weise recht ähnlich, Florian.«
»Möchten S’ mir davon erzählen?« erkundigte er sich mit ehrlichem Interesse.
Sie nickte. »Gern. Lassen S’ uns dabei ein paar Schritte gehen, einverstanden?«
»Einverstanden! Aber sagen S’: Sollen wir net lieber ›du‹ zueinander sagen? Dieses dumme Siezen ist doch viel zu förmlich und unpersönlich.«
Dagegen hatte die Alex nicht das geringste einzuwenden. Und so spazierten sie durch die schöne Natur am See entlang und redeten, während die Zeit wie im Fluge verging.
Als sie schließlich den Gruberschen Hof wieder erreichten, war es längst dunkel geworden.
»Na, heute ist’s dann wohl nix mehr mit dem Lernen, was?« lachte das Madl.
Florian hob die Schultern. »Aber morgen früh legen wir dann richtig los. Und ich werde mich auch net mehr einfach aus dem Staub machen. Versprochen.«
»Na, dann ist es ja gut.« Alexandra lachte und hob mahnend den Zeigefinger. »Sonst kannst’ auch was erleben, Bursche!«
Nachdem sie noch etwas zu Abend gegessen hatten, zogen sich beide auf ihre Zimmer zurück. Die junge Alexandra konnte gar keinen klaren Gedanken fassen, als sie sich nach einiger Zeit ins Bett legte. Ständig kam ihr der Florian in den Sinn. Sie hatte ihn anfangs völlig falsch eingeschätzt. Er war gar kein verwöhnter Nichtsnutz. Vielmehr war er ein sehr sensibler Mensch, der ständig von einer gewissen Traurigkeit begleitet wurde, die er aber durch seine aufgesetzte Lässigkeit verbarg.
Mit seinem Vater hatte er ständig Streit. Er kam nicht damit zurecht, daß sein eigenes Leben bereits durch seinen Vater verplant worden war.
Und genauso ging es Alexandra ja auch. Ihr Vater wollte nicht, daß sie ihr Leben selbst in die Hand nahm, womit sie nicht zurecht kam.
Als Alex dem Florian das vorhin am See erzählt hatte, hatte der junge Mann ihr aufmerksam zugehört. Sogar versucht zu trösten hatte er das Madl, und das hatte die Alex sehr gerührt.
Seltsamerweise kam ihr jetzt in den Sinn, daß der Florian nicht nur sehr nett war, sondern auch noch umwerfend gut aussah…
Diese und ähnlich wirre Gedanken gingen dem Madl die ganze Zeit durch den Kopf. Der Abend mit dem Florian war einfach wunderbar gewesen. Lange war sie nicht mehr so glücklich gewesen.
Und auch dem Florian erging es so. Als er im Bett lag, kreisten seine Gedanken einzig und allein um Alexandra. Was für ein hübsches, liebes Madl sie doch war, und er hatte sie so gemein behandelt!
Dafür hätte sich der Bursche selbst ohrfeigen können. Aber das würde nie wieder vorkommen, das war sicher. Die Alex hatte es nicht verdient, von irgend jemanden schlecht behandelt zu werden!
Florian war über sich selbst verwundert, aber er freute sich tatsächlich auf den Unterricht morgen früh. Ganz pünktlich würde er sein und konzentriert lernen wollte er. Schließlich gab sich das Madl wirklich Mühe mit ihm.
Sehnsuchtsvoll dachte er an den Abendspaziergang mit ihr zurück. Sie waren sich so nahe gewesen. Schon lange hatte er sich nicht mehr zu einem Madl so hingezogen gefühlt. Eigentlich, wenn er es recht betrachtete, sogar noch nie. Er hatte richtiges Herzklopfen gehabt, als sie zusammen gewesen waren. Und auch jetzt noch fühlte er sich richtig glücklich, wenn er an diese Stunden zurückdachte.
Ob es ihr ebenso erging?
*
Am nächsten Morgen klopfte der Florian pünktlich an die Tür zu Alexas Kammer, so, wie er es sich vorgenommen hatte. Als sie sich gleich darauf gegenüberstanden, blickte er sie stumm an. Auf seine Lippen legte sich ein Lächeln. Sein Herz pochte wie verrückt und plötzlich glaubte er, einen ganzen Schwarm Schmetterlinge im Bauch zu haben.
Auch Alex freute sich, ihn zu sehen, wie er erfreut feststellte. Sie hielten einen kleinen Plausch und machten sich dann an die Arbeit.
Die Alex freute sich darüber, daß der Florian nun so gut mitarbeitete. Er hörte ihr aufmerksam zu, wenn sie ihm etwas erklärte, und arbeitete sehr konzentriert die Aufgaben durch, die sie ihm gab.
So verging der Vormittag wie im Fluge. Die Arbeit machte richtig Spaß, nicht nur dem Madl, sondern auch dem Florian, was den Burschen selbst ein wenig überraschte. Es mußte an der Alex liegen, das war die einzige Erklärung, die er dafür hatte.
Beim Mittagessen nahm der Gruber-Johannes stirnrunzelnd wahr, daß sich seine Tochter mit dem Burschen aus der Stadt mit einem Mal auffallend gut verstand.
Was bedeutet das denn nun schon wieder? fragte er sich verwirrt. Gestern früh haben sie sich doch noch überhaupt net riechen können.
Net, daß sich da noch was anbahnt, dachte er grübelnd. Meine Tochter mit so einem verwöhnten Stadtburschen. Das hätt’ mir grad noch gefehlt!
»Möchtest’ noch einen Spaziergang mit mir unternehmen?« erkundigte sich die Alex, als der Vater und der Bruder die Küchenstube verlassen hatten. »Zur Entspannung, bevor es mit der Arbeit weitergeht?«
Der Florian, der ihr beim Abräumen des Tisches half, schüttelte den Kopf. »Mir wäre es lieber, wenn wir das auf heut’ abend verschieben. Du kennst ja den Spruch: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen!«
»Recht hast’!« Alex lächelte. Wie strebsam der Florian doch auf einmal war!
Und so fingen sie kurz darauf wieder mit dem Unterricht an. Und während sie konzentriert in Alex Kammer saßen, ging Pfarrer Trenker draußen auf dem Hof dem Gruber-Johannes ein wenig bei der Arbeit zur Hand, der dabei war, einen Holzzaun zu reparieren.
»Was hast’ denn beim Essen so seltsam dreingeschaut?« wollte der junge Pfarrer aus St. Johann wissen.
Der Gruber hämmerte mit Bärenkräften einen langen Holzpfahl ins Erdreich, um damit den Zaun zu stabilisieren. »Weiß net, was du meinst, Hochwürden«, gab er brummig zurück.
»Ach, nun tu doch net so.« Sebastian Trenker lächelte. »Ich mein’, die Alex und der Florian haben sich ja heut’ ausgesprochen gut verstanden. Und mir ist keineswegs entgangen, daß dir das gar net zu gefallen scheint. Oder täusch’ ich mich da etwa?«
»Was geht mich das an? Das Madl muß schließlich selbst wissen, was es macht. Hast du doch selbst gesagt.«
»Sicher. Mich hat halt bloß interessiert, wie du darüber denkst. Ich finde jedenfalls, daß der Florian ein netter Bursche ist.«
»Ach, diese Kerle aus der Stadt, die kannst doch alle vergessen. Die haben nur ihr Vergnügen im Sinn. Was richtige Arbeit ist, wissen die doch gar net.«
Der Geistliche runzelte die Stirn. »Na, das würd’ ich dann doch net sagen. Ich glaub jedenfalls net, daß es große Unterschiede zwischen Stadt- und Dorfburschen gibt. Und ich fänd’ schon, daß der Florian recht gut zur Alex passen tät’.« Sebastian mußte unwillkürlich grinsen. Er fand tatsächlich, daß der Florian Martens ein netter Bursche war. Äußerlich gab er sich zwar gern etwas oberflächlich, aber der Pfarrer hatte schnell gemerkt, daß dies nur aufgesetzt war. Schließlich verfügte der Geistliche über eine gehörige Portion Menschenkenntnis.
Allerdings wußte er auch, daß es dem Gruber-Johannes gar nicht passen würde, wenn aus den beiden jungen Leuten ein Paar wurde.
Und Grubers Reaktion bestätigte ihm dies auch sogleich: »Hör bloß damit auf, Hochwürden. Von dem Schmarren will ich nix mehr hören, verstanden?«
Sebastian Trenker mußte sich wohl oder übel geschlagen geben.
Fürs erste jedenfalls…
*
Es war gegen sechs Uhr am Abend, als sich Alexandra Gruber entspannt in ihrem Stuhl zurücklehnte und dem neben ihr sitzenden Florian ein Lächeln zuwarf.
»Na, da haben wir ja heut’ ganz schön was g’schafft«, sagte sie.
Florian nickte. »Bist aber auch wirklich eine gute Lehrerin, das muß ich schon sagen.«
»Danke für das Kompliment. Aber du bist auch wirklich ein sehr guter Schüler. Hast gut gearbeitet.«
Er lächelte ein wenig verlegen. »Nun übertreib mal net«, sagte er.
»Ich übertreib doch gar net. Nein, wirklich: Du kannst sehr stolz auf dich sein, Florian.«
Jetzt wurde der Bursche noch verlegener. Eine ganze Weile schwiegen beide, dann sagte Alexandra:
»So, und jetzt gehen wir ein bisserl an die frische Luft, ja?«
Er blickte sie an und nickte. »Sehr gerne.«
Wenige Minuten später traten sie ins Freie. Die Sonne war noch nicht untergegangen, aber es würde nicht lange dauern, bis sich die Dämmerung über das Land legte. Noch aber war es schön hell,
die wärmenden Sonnenstrahlen tauchten Felder und Wiesen in goldig schimmernden Glanz. Leichter Wind fuhr zischend durch Sträucher und Bäume, die Blätter raschelten und Vögel sangen ihre Lieder.
»Wollen wir wieder zum See gehen?« erkundigte sich der Florian. »Mir hat es dort gestern sehr gut gefallen.«
Sie nickte. »Gern.«
So liefen die zwei zum See. Leute, die ihnen begegneten, dachten, die beiden jungen Leute wären ein Paar, so vertraut wirkten sie auf Außenstehende. Sie unterhielten sich prächtig, und Florian brachte das Madl auch immer wieder zum Lachen.
Als sie den See erreichten, setzten sie sich auf eine Holzbank. Von hier aus hatten sie einen fabelhaften Ausblick auf das Wasser und die Umgebung.
Tief atmete die Alexandra die frische, leicht kühle Luft ein. Es war einfach wundervoll! Ein Blick hinüber zum Florian verriet ihr, daß es dem Burschen ebenso erging. Auch er fühlte sich hier einfach nur wohl.
Jetzt ging die Sonne unter. Gebannt verfolgten die jungen Leute dieses wundervolle Schauspiel. Als die Sonne schließlich als großer feuerroter Ball am Horizont verschwand und der Mond auftauchte und seinen fahlen Schein auf das Areal warf, nahm die Alex gar nichts mehr um sich herum wahr. Ihr war, als träumte sie, so wunderschön war alles. Und erst jetzt, als sie zum Florian blickte, nahm sie bewußt wahr, daß der Bursche seinen Arm um sie gelegt hatte.
Plötzlich rann dem Madl ein wohliger Schauer den Rücken herab. Ganz nah war sie dem Florian. Sie spürte die Wärme seines Körpers, und noch nie zuvor in ihrem Leben hatte sie sich so geborgen gefühlt wie in diesen Augenblicken…
Es war so schön…
Jetzt drehte sich der Florian weiter zu ihr. Sie sahen sich tief in die Augen. Blick tauchte in Blick. Mit der Hand strich er über ihre Wange. So unsagbar sanft, voller Zärtlichkeit.
Die Alexandra durchlief es heiß und kalt zugleich.
»Weißt’ was?« fragte er jetzt leise. Seine Stimme klang weich und war erfüllt von tiefer Sehnsucht.
Zaghaft schüttelte das Madl den Kopf.
»Ich glaub’, ich hab’ mich in dich verliebt, Alex«, gestand er dem Madl. Und seine Worte waren noch nicht verklungen, da näherten sich seine Lippen den ihren.
Zärtlich berührten sie sich. Alexandra wollte den Kuß erwidern, dem Florian zeigen, daß sie ebenso fühlte wie er.
Doch plötzlich riß sie sich von ihm los.
Entgeistert starrte er sie an.
»Aber… was is’ denn nur, Alex?« fragte er irritiert. »Habe… hab’ ich etwas falsch g’macht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Florian. Das ist es net. Du hast nix falsch g’macht.«
»Was ist es dann?«
Sie schwieg einen Moment. Suchte nach den rechten Worten. »Es ist nur«, versuchte sie zu erklären. »Also, um ehrlich zu sein, geht mir das einfach ein bisserl zu schnell, Florian. Bitte sei mir net bös’, ja? Gib mir einfach noch etwas Zeit.«
Er schüttelte den Kopf und nickte gleichzeitig. »Natürlich bin ich dir net bös’, Alex. Und natürlich geb ich dir soviel Zeit wie du brauchst. Ich hoff’ nur, du bist mir auch net bös’. Ich wollt’ dich wirklich net überrumpeln. Es ist einfach so passiert, verstehst’?« Er schlug sich leicht mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Was bin ich bloß für ein tollpatschiger Trampel!« stieß er aus.
Sie schenkte ihm ein Lächeln und sah ihm tief in die Augen »Du bist kein Trampel, Florian«, erwiderte sie ehrlich. »Nein, das bist’ wirklich net. Es ist alles in Ordnung, wirklich. Aber jetzt laß uns heimgehen, ja? Es wird langsam etwas frisch…«
Er nickte.
So traten sie also gemeinsam den Rückweg an. Unterwegs sprachen sie erstaunlich wenig. Irgendwie war ein unsichtbares Band zwischen ihnen. Der Florian machte sich Vorwürfe, weil er die Alex so überrumpelt hatte. Aber er hatte wirklich gedacht, daß sie es auch wollte.
Und während der Florian schweigend grübelte, schlugen auch Alexandras Gedanken wahre Purzelbäume.
Das Madl war einfach hin und her gerissen!
Es war so schön gewesen, als sie und der Florian sich so nah waren, als sie dem herrlichen Sonnenuntergang beiwohnten. Und auch der Kuß – eigentlich konnte sich die Alex gar nicht erklären, warum sie urplötzlich so abweisend reagiert hatte. Der Florian war so zärtlich, so fürsorglich gewesen.
Aber irgend etwas in ihr hatte sich dagegen gesträubt. Sie wußte selbst nicht warum, aber sie glaubte, daß es besser war, es vorläufig dabei zu belassen.
Als sie den Hof schließlich erreichten, saß der Gruber-Johannes draußen auf der Veranda und trank sein Bier. Sobald er die jungen Leute erblickte, verfinsterte sich seine Miene.
Freundlich grüßte der Florian Alexandras Vater. Doch der ignorierte ihn.
»Kann ich dich mal einen Moment sprechen?« fragte der Gruber, an seine Tochter gewandt. »Allein?«
Das Madl hob die Schultern. »Sicher.«
Johannes Gruber wartete, bis der Florian im Haus war. »Scheinst’ dich ja auf einmal recht gut mit dem Burschen zu verstehen«, stellte er trocken fest.
»Warum auch net?« stellte seine Tochter achselzuckend die Gegenfrage. »Ist doch nix dabei, oder?«
»Nix dabei?« Er ballte die rechte Hand zur Faust. Seine Stimme wurde lauter. »Und ob was dabei ist! Dieser Junge ist nix für dich, hörst’?«
Irritiert sah das Madl ihn an. »Aber Vater«, sagte sie. »Der Florian ist doch lediglich mein Nachhilfeschüler. Mehr net.«
»Ach ja? Dafür verbringst’ aber auffallend viel außerhalb des
Unterrichts mit ihm. Oder habt
ihr eben auch gelernt, wo immer ihr euch auch rumgetrieben habt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, haben wir net. Wir waren lediglich ein wenig spazieren. Ist das neuerdings verboten?« Lauernd blickte sie den Vater an. Langsam stieg auch in ihr die Wut hoch. Was hatte er jetzt schon wieder auszusetzen? Es war aber auch wirklich wie verhext: Ganz gleich, was sie auch tat – stets hatte der Vater was dagegen einzuwenden!
»Von mir aus kannst’ spazieren gehen solang du willst. Aber net mit diesem Burschen, hörst’? Das ist einfach kein Umgang für dich.«
»Aber Vater, wir waren doch nur…«
»Nix aber!« Kurz hielt er inne. »Sag: Hat er schon versucht, dich ins Bett zu bekommen? Genau so einer ist der Bursche nämlich. Bloß darauf aus, die Madeln rumzukriegen!«
Wut kochte in der jungen Frau hoch. Sie verengte die Augen zu Schlitzen und sah ihren Vater verständnislos an. »Weißt’ was, Vater?« sagte sie verbittert. »Du hast doch überhaupt keine Ahnung. Und verstanden hast’ schon gar nix.«
»Was willst’ damit sagen?«
»Was ich damit sagen will? Daß du dich net ständig in mein Leben einmischen sollst! Ich bin kein kleines Kind mehr, Vater. Und eins kann ich dir sagen: Wenn du so weitermachst, kann ich’s kaum noch erwarten, endlich in die Stadt zu ziehen!«
Mit diesen Worten und einem traurigen Glanz in den Augen wandte sich die Alex abrupt von ihrem Vater ab und stiefelte ins Haus.
Na, der Tag hat ja ein schönes Ende genommen! dachte sie verbittert. Und dabei hatte er so schön begonnen…
*
Über den ›Beinahe-Kuß‹ verloren die Alexandra und der Florian am nächsten Tag kein Wort mehr. Doch das Madl ließ ihn wissen, daß sie ihm auf keinen Fall böse war. Sie sagte ihm deutlich, daß sie auch sehr viel für ihn empfand, aber einfach noch nicht soweit war und mit ihren Gefühlen erst ins reine kommen mußte.
Dafür hatte der Bursche vollstes ehrliches Verständnis.
Nach dem Unterricht an diesem Tag beschlossen die zwei, hinunter zum Ort zu gehen, um in der Eisdiele einen Milchkaffee zu trinken. Der Spaziergang nach Steinbach tat beiden gut, nach dem langen Sitzen war ein wenig Bewegung genau das Richtige.
Als sie das Café erreichten, beschlossen sie, auf der Terrasse Platz zu nehmen. Es war noch nicht ganz so spät, und da die Sonne wärmende Strahlen auf die Erde sandte, war es auch nicht zu kalt. So suchten sie sich ein lauschiges Plätzchen, und als sie sich schließlich an einem runden Tisch gegenüber saßen, lehnte sich die Alex zurück.
Hörbar atmete sie auf.
»Schön ist’s hier an der frischen Luft«, stellte sie fest.
Der Florian nickte. »Ja, da hast’ recht.«
Da kam auch schon der Kellner, ein großer schlanker Mann mittleren Alters. Freundlich erkundigte er sich nach den Wünschen seiner Gäste.
Beide entschieden sich für Milchkaffee, der auch prompt serviert wurde.
Die beiden jungen Leute genossen das Sitzen an der frischen Luft, tranken ihren Kaffee und unterhielten sich ein wenig.
Als der Florian kurz den Waschraum aufsuchte, fuhr ein schnittiger Sportwagen mit offenem Verdeck vor.
Alexandra Gruber blickte auf.
»Nanu«, murmelte das Madl erstaunt. »Wer kann das denn sein?«
Auch wenn der Florian ebenfalls einen Sportwagen fuhr, war es eigentlich eher selten, derartige teure Wagen in Steinbach zu sehen. Hier fuhren die Leute eher Klein- oder Familienwagen.
Die Person, die den Wagen fuhr, stieg jetzt aus dem Wagen. Es war eine junge Frau. Sie war groß und schlank. Ihr blondiertes Haar wies eine modische Kurzhaarfrisur auf. Von dem Gesicht der jungen Frau war nicht viel zu sehen, denn sie trug eine große dunkle Sonnenbrille. Sehr wohl auf den ersten Blick zu erkennen war, daß die Kleidung der jungen Frau nicht nur modisch, sondern ganz sicher auch äußerst teuer war.
Was für ein Modepüppchen, dachte Alex naserümpfend.
Die junge Unbekannte schaute sich kurz um. Sie erblickte Alexandra, die allein auf der Außenterrasse des Cafés saß, und lief zielstrebig auf sie zu.
»Grüß Gott«, sagte die junge Frau. »Können S’ mir vielleicht behilflich sein? Ich bin auf der Suche nach dem Gruber-Hof.«
Alexandra zuckte innerlich zusammen. Was wollte diese Mode-Tante denn auf dem Hof ihres Vaters? Und vor allem – von wem wollte sie dort etwas?
Diese Gedanken schossen ihr in Sekundenschnelle durch den Kopf. Die hübsche Stirn hatte sie in argwöhnische Falten gelegt, als sie sagte:
»Das kann ich Ihnen in der Tat sagen. Ich wohne nämlich dort.«
Erstaunt blickte die Unbekannte auf. »Na, das ist ja vielleicht ein Zufall. Wunderbar! Ich wollte nämlich noch vor Sonnenuntergang dort eintreffen und habe ehrlich gesagt, keine Lust, mich jetzt noch in dieser Einöde zu verfahren.«
»Verstehe«, erwiderte die Gruber-Tochter knapp. Einöde! Was anderes hab’ ich von der auch net erwartet! dachte sie leicht pikiert.
Gerade wollte sie damit beginnen, der Frau, die ihr von vornherein nicht gerade sehr sympathisch war, den Weg zu erklären, da kehrte der Florian zurück.
Noch stand die Unbekannte mit dem Rücken zu ihm. Jetzt aber drehte sie sich um, und Alexandra sah, wie sich Florians eben noch fröhlicher Gesichtsausdruck schlagartig veränderte.
»Du?« fragte er verdutzt, an die Unbekannte gewandt. »Was… was machst du denn hier?«
Jetzt blickte er zu Alex und sah ihre fragende Miene.
»Ähm, das ist übrigens Monika«, stellte er Alex die Frau vor. »Monika Thiemann. Eine alte Bekannte«, fügte er rasch hinzu. »Und das«, sagte er an Monika Thiemann gerichtet, »ist Alexandra Gruber, meine Nachhilfelehrerin.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Monika Thiemann knapp zu Alexandra. Dann, wieder an Florian gerichtet: »Aber der Ausdruck alte Bekannte trifft es doch wahrlich nicht ganz, nicht wahr, Florian? Schließlich waren wir einmal verlobt!«
Bei diesen Worten zuckte Alexandra erneut zusammen, und diesmal nicht nur innerlich, sondern so gut sichtbar, daß diese Reaktion auch dem Florian nicht entging.
»Die Zeiten sind aber längst vorbei«, sagte der Bursche rasch, und es war nicht zu übersehen, daß er ziemlich nervös wurde. Keine Frage, daß ihm die Situation mehr als peinlich war. »Außerdem haben wir die Verlobung schon nach zwei Monaten wieder aufgelöst.«
Während er das Thema am liebsten auf der Stelle beendet hätte, dachte die Monika Thiemann gar nicht daran, es dabei bewenden zu lassen.
»Aber nur, weil du es wolltest«, entgegnete sie bissig. »Ich wollte mich nicht von dir trennen!«
Er winkte ab. »Ich dachte eigentlich, das Thema hätten wir längst hinter uns gelassen. Was willst’ überhaupt hier?«
»Na, dir einen Besuch abstatten!« erwiderte sie und fügte hinzu: »Damit du nicht so einsam bist, hier in dieser Einöde…«
Florian verzog die Miene, »wäre net nötig gewesen, Monika. Woher weißt du eigentlich, daß ich in Steinbach bin?«
»Na, von deinem Vater. Ich wollte dich eigentlich daheim besuchen, und dein Vater sagte mir dann, wo ich dich finde. Da dachte ich mir, gerade jetzt ist ein Besuch noch besser. Als Abwechslung zu der Lernerei, meine ich.«
Er hob die Schultern. »Den Weg hättest’ dir ebensogut sparen können. Mir geht’s hier nämlich sehr gut, auch ohne deine Anwesenheit.«
»Ach, nun stell dich doch net so an«, schlug sie seine Worte in den Wind und bedachte ihn eines Augenaufschlages, wie er im Buche stand. »Denk doch nur an die schöne Zeit, die wir hatten!«
Für Alexandra waren die Worte wie ein Stich ins Herz. Abrupt erhob sie sich.
»Na, dann will ich mal net stören, wenn ihr euch so viel zu erzählen habt«, meinte sie trocken. »Ich geh dann schon mal nach Haus, Florian. Wir sehen uns dann morgen früh zum Unterricht, nehme ich mal an?«
»Aber…« Der Florian wollte noch etwas sagen, sie aufhalten, doch da lief Alexandra schon schnellen Schrittes davon.
*
Florian wollte der jungen Frau sofort folgen, doch Monika Thiemann hielt ihn zurück.
»Ach, laß das Madel doch, Florian«, sagte sie und hielt ihn am Ärmel fest. »Dieses Mauerblümchen ist doch ohnehin weit unter deinem Niveau.«
Florian sah sie entgeistert an. »Wie meinst du das denn jetzt schon wieder?« wollte er wissen.
»Na, da fragst du noch? Du willst mir doch net ernsthaft erzählen, daß du was an dem Madel findest, oder etwa doch?«
Florian erwiderte nichts.
Aber das war für seine Ex-Verlobte Antwort genug. »Das kann doch unmöglich dein Ernst sein?« fragte sie fassungslos. »Du verläßt mich, und dann machst du dich hier in dieser Einöde an ein solches Madl heran?«
»Aber Monika«, seufzte der Bursche. »Das eine hat doch nix mit dem anderen zu tun! Wir sind doch schon seit langer Zeit auseinander.«
»Trotzdem!« erwiderte sie bockig. »Das Madl paßt überhaupt nicht zu dir. Mensch, Florian, sieh doch endlich ein, daß nur ich die Richtige für dich bin. Denk doch an unsere gemeinsame Zeit, wie schön damals alles war. Das kannst du wiederhaben. Du brauchst nur einen Ton zu sagen!«
Er schüttelte heftig den Kopf. »Ich will dich aber net zurück, Monika. Ich mag dich, wirklich. Du bist ein nettes Mädchen, und ich habe mir auch nach unserer Trennung immer gewünscht, daß wir uns auch weiter gut verstehen. Ob du’s glaubst oder net, aber ich war sehr enttäuscht, als du gar nix mehr von mir wissen wolltest.«
»Ach ja? Du warst es doch, der die Trennung wollte.«
»Sicher.« Aber es war ein großer Wunsch von mir, daß wir im Guten auseinandergehen. Ich wünsch mir schon noch, daß wir weiterhin Kontakt haben. Aber nur als gute Freunde, verstehst du?«
»Gute Freunde! Pah! Ich will dich ganz oder gar nicht, hörst du? Aber das hast du ja schon damals nicht verstanden.«
»Und du hast schon damals nur schwer begriffen, daß wir einfach net zusammen passen. So leid es mir tut, aber du bist nun mal net die Frau, mit der ich den Rest meines Lebens verbringen will. Ich liebe dich nun mal net mehr! Ich wäre liebend gern mit dir befreundet, Monika. Aber mehr ist net mehr möglich. Versteh das bitte.«
Mit diesen Worten riß er sich von ihr los. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, stapfte er davon.
Monika Thiemann kochte vor Wut.
*
Währenddessen hatte Alexandra Gruber den elterlichen Hof erreicht. Jetzt lag sie in ihrer Kammer auf dem Bett und grübelte nach.
Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Immer wieder schob sich das Bild vom Florian und dieser Monika Thiemann vor ihr geistiges Auge.
Mit so einer soll der Florian wirklich verlobt gewesen sein? fragte sie sich immer wieder. Sie konnte es einfach nicht glauben. Oder vielmehr wollte sie es einfach nicht glauben.
Sicher, das gehörte anscheinend der Vergangenheit an. Und der Florian schien ja auch nicht gerade sehr erbaut gewesen zu sein, seine Ex-Verlobte wiederzusehen. Oder hatte er bloß so getan, weil sie gerade anwesend war? Denn die Monika schien sich ja ganz offensichtlich noch immer sehr zu dem Burschen hingezogen zu fühlen.
Vielleicht erging es dem Florian tief in seinem Innern ebenfalls so, und er wollte es nur nicht vor Alex zugeben?
Diese und ähnliche Fragen stellte sich Alexandra wieder und wieder.
Antworten fand sie nicht.
Als es einige Zeit später an ihrer Kammertür klopfte, reagierte sie nicht.
»Alex?« hörte sie da die Stimme vom Florian. »Bist du da?«
Sie gab keinen Mucks von sich.
»Bitte, Alex. Wenn du da bist, so öffne doch die Tür. Ich möchte mit dir sprechen.«
Doch Alexandra tat weiter so, als sei sie nicht da, rührte sich nicht.
Und irgendwann gab der Bursche es auf, und sie hörte, wie sich seine Schritte langsam entfernten.
*
»Und? Habt ihr einen schönen Abend verbracht?«
Es war am nächsten Morgen, als Alexandra Gruber diese Frage stellte. Sie und Florian hielten sich im Zimmer des Madels auf, um mit dem Unterricht zu beginnen. Aus dem Klang ihrer Stimme war deutlich herauszuhören, daß sie nicht gerade bei bester Laune war.
Florian Martens hob die Schultern. »Wir haben ein bißchen geredet. Mehr net. Ich war ja auch schnell wieder auf dem Hof.« Er blickte sie forschend an. »Ich hab’ noch an deiner Tür geklopft, weil ich mit dir sprechen wollte. Aber du hast net geöffnet.«
»Ich… war noch lange unterwegs«, erwiderte sie rasch. »Ich war erst spät wieder daheim.«
»Ach so.« Der Florian verengte skeptisch die Augen. Richtig glauben konnte er ihr das nicht. Für ihn klang es eher nach einer Ausrede, weil Alexandra nicht mit ihm sprechen wollte.
Er räusperte sich. »Ich hab’ das Gefühl, du bist sauer auf mich?« fragte er.
»Wie kommst denn darauf?« Hastig winkte das Madl ab. »Welchen Grund sollt’ ich denn haben, sauer auf dich zu sein? Du hast eine alte Bekannte wieder getroffen, mehr net. Also, was soll das denn?«
»Eben!« bestätigte er. »Sicher, ich war mal mit der Monika zusammen. Aber erstens war das net lang, und zweitens gehört das längst der Vergangenheit an.«
Einen Moment herrschte Schweigen. Dann fragte Alexandra: »Wieso seid ihr eigentlich auseinander gegangen? Die Monika schaut doch sehr gut aus. Andere Männer wären froh, so eine Verlobte zu haben.«
»Das mag sein.« Er hob die Schultern. »Aber in einer Partnerschaft ist das Aussehen doch wohl net das Wichtigste. Und ich hab’ nach kurzer Zeit einfach festgestellt, daß wir net zusammen passen. Die Monika ist eine nette junge Frau, aber ich liebe sie nun mal net, und die Verlobung war ein Fehler. Aber das hab’ ich halt erst später gemerkt.«
»Magst sie denn noch?«
Er hob die Schultern. Es wirkte ein wenig hilfesuchend, und er wußte auch nicht so recht, was er sagen sollte. »Hör’ mal, Alex«, meinte er schließlich. »Ich könnt’ dir jetzt sagen, daß ich die Monika gar net mehr leiden kann, damit wir das Thema beenden. Aber ich will dich net anlügen. Ich will ehrlich zu dir sein. Deshalb gebe ich zu, daß ich schon ein wenig traurig darüber bin, daß ich mit der Monika in der letzten Zeit gar keinen Kontakt mehr hatte. Ich hatte nach unserer Trennung gehofft, daß wir Freunde bleiben. Aber eben nur Freunde. Net mehr und net weniger. Doch das wollte die Monika net, und deshalb ist’s halt so gelaufen.«
»So ist das.« Alex verzog die Miene. »Und wie lange will sie in Steinbach bleiben?«
»Keine Ahnung. Ich kann sie ja auch net zwingen, wieder heimzufahren.«
»Sicher.« Das Madl beendete das Thema. »Und jetzt laß uns mit dem Unterricht beginnen«, sagte sie übergangslos. »Schließlich haben wir noch viel zu tun.«
Florian nickte. Und so begannen sie dann auch gleich darauf mit dem Nachhilfeunterricht.
Doch mit ihren Gedanken war die Alexandra an diesem Tag ganz woanders.
Sie konnte sich einfach nicht richtig konzentrieren…
*
Als Sebastian Trenker dem Gruber-Johannes an diesem Mittag wieder ein wenig bei der Hofarbeit zur Hand ging, spürte der Geistliche gleich, daß sein Freund nicht gerade bei bester Laune war. Zwar war das in letzter Zeit nicht unbedingt etwas besonderes, aber Sebastian merkte, daß es heute noch schlimmer zu sein schien als sonst.
»Hast du dir meine Worte eigentlich mal durch den Kopf gehen lassen?« wollte der Pfarrer wissen und lenkte das Thema damit gleich in die richtige Richtung.
»Wegen dem Madel?« Der Gruber schaute auf. Dann zuckte er mit den Achseln. »Schon. Ein wenig zumindest.«
»Und?«
»Nix und.« Er machte eine alles umfassende Handbewegung. Eine Weile schwieg er. Es war ihm förmlich anzusehen, daß es hinter seiner faltigen Stirn gewaltig brodelte. Dann: »Ach, ich hab’s ja versucht, Sebastian. Ich wollt’ mich ja bemühen, keinen Streit mehr mit dem Madel anfangen.«
»Aber?«
»Ach, ich weiß auch net. Immer, wenn ich mit ihr in Ruhe reden will, kommt’s doch wieder zum Streit. Weißt du, ich komm damit einfach net zurecht. Ich kann mich net mit dem Gedanken abfinden, daß das Madel den Hof verlassen will. Hinzu kommt, daß sie sich auch mit diesem Burschen so gut versteht. Aber ich sag dir, Sebastian, der ist nix für sie. Er wird sie nur enttäuschen, und dann wird sie sich wünschen, auf mich gehört zu haben!«
Der Pfarrer aus St. Johann legte seinem Freund lächelnd eine Hand auf die Schulter. »Das ist schon möglich«, sagte er. »Aber es kann auch anders kommen. Und selbst wenn net – die Alex ist alt genug und muß ihre eigenen Erfahrungen machen. Sie ist zwar deine Tochter, aber auch du kannst sie vor Enttäuschungen net bewahren. Niemand kann das. Das mußt du einfach begreifen.«
»Das ist weit einfacher gesagt als getan«, gab der Gruber grübelnd zurück.
»Ich weiß. Aber du mußt es versuchen. Sonst wirst die Alex verlieren. Und das willst du doch auch net, oder?«
Nein, das wollte der Gruber-Johannes weiß Gott nicht. Ihm war klar, daß sich etwas Grundlegendes ändern mußte, daß er sich ändern mußte.
Aber würde er es auch schaffen, diese neu gewonnene Erkenntnis in die Tat umzusetzen?
*
Hatte Alexandra Gruber insgeheim gehofft, daß die Ex-Verlobte vom Florian gleich wieder aus Steinbach verschwand, so wurde sie bitter enttäuscht.
Am frühen Abend fuhr sie in ihrem schnittigen Sportwagen vor und wollte den Florian zu einem Spaziergang abholen.
Der war erst gar nicht angetan von dieser Idee, zumindest sah es für Alex so aus. Aus einiger Entfernung beobachtete das Madl, wie sich die zwei unterhielten. Schließlich sah sie, wie der Florian nickte, und gleich darauf ging er gemeinsam mit Monika Thiemann fort.
Betroffen senkte die Alex den Blick. Geht er also wirklich mit ihr spazieren, dachte sie traurig. Und ich dacht’, er schickt sie fort und verbringt den Abend mit mir…
Sie blickte ihnen hinterher, bis sie vollends außer Sichtweite gerieten.
Wohin sie wohl gehen? fragte die Alex sich, während sie sich in der Küche einen Kräutertee aufbrühte. Sie lachte bitter auf. Wahrscheinlich geht der Florian mit ihr genau dorthin, wo er auch mit ihr immer war.
Zum See…
Grübelnd trank sie einen Schluck Tee. Sie wußte nicht, woran es lag, aber irgendwie schmeckte ihr das Getränk heute überhaupt nicht.
Ohnehin fühlte sie sich hundeelend. Immer wieder mußte sie an den Florian denken. Sie hatte es ihm nie wirklich gesagt, aber sie liebte den Burschen. Er war genau der Mann, auf den sie immer gewartet hatte.
Und er hatte ihr doch auch gesagt, daß er viel für sie empfand. Sogar küssen wollte er sie!
Sehnsüchtig dachte sie an diesen Augenblick zurück. Damals hatte sie sich darüber geärgert, daß sie es nicht zum Kuß hatte kommen lassen.
Heute war sie froh darüber. Schließlich wußte sie jetzt, daß dem Florian nicht wirklich etwas an ihr lag. Sonst würde er doch jetzt nicht soviel Zeit mit dieser Monika Thiemann verbringen! dachte das Madl verbittert.
Am liebsten hätte sie sich jetzt in ihre Kammer verkrochen. Aber wozu? Um dort weiter ihren trüben Gedanken nachzuhängen? Um Zeit zu vertrödeln, nur wegen dem Florian?
O nein! Plötzlich wurde ihr klar, daß das völlig sinnlos war. Warum sollte sie sich alles verleiden lassen?
Nein, ich werde jetzt auch etwas unternehmen! nahm sie sich entschlossen vor. Ich werd’ meine ganze Zeit net nur mit Nachdenken verbringen.
Und so verließ sie schon wenige Minuten später den Hof. Draußen begegnete sie dem Vater.
»Wo willst denn hin so eilig?« erkundigte sich der Gruber-Johannes. »Hast’ net noch einen Moment Zeit? Ich würd’ gern noch einmal mit dir reden.«
Hastig schüttelte die Alexandra den Kopf. O nein, dachte sie. Nach einer weiteren Auseinandersetzung mit dem Vater steht mir jetzt gar net der Sinn.
»Jetzt geht’s net, Vater. Laß es uns auf später verschieben, ja?«
Und damit war sie auch schon auf und davon. Daß der Vater dieses Mal gar nicht auf Streit aus war bekam sie ebenso wenig mit wie die Tatsache, daß er jetzt ziemlich enttäuscht darüber zu sein schien, weil seine Tochter keine Zeit aufbringen konnte…
Die Alexandra zog es in den Ort. Sie wollte in der Eisdiele einen Kakao trinken und vielleicht auch ein Stück Schokoladenkuchen essen. Etwas Süßes konnte sie jetzt gut gebrauchen. Nervennahrung, sozusagen…
Die frische Luft tat der jungen Frau mehr als gut, und die Bewegung tat ihr übriges dazu. Hinzu kam dann auch das Gezwitscher der Vögel und das leise Wispern des Windes. All das war Balsam für ihre angeschlagene Seele und ließ sie ihre Sorgen schon bald vergessen. Sie wunderte sich selbst darüber, daß sie nach kurzer Zeit an der frischen Luft gar nicht mehr über den Florian und diese Monika nachgrübelte.
Als sie das kleine Eiscafé dann aber erreichte, sollte sie schlagartig wieder an das erinnert werden, an das sie eigentlich heute abend nicht mehr nachdenken wollte.
Denn als sie sich nun einen Platz auf der Terrasse der Eisdiele suchen wollte, erblickte sie zwei Personen, die ihr nur zu gut bekannt waren.
Den Florian und die Monika!
Alexandra zuckte unwillkürlich zusammen. Einen Augenblick lang stand sie wie zur Salzsäule erstarrt da, unfähig, sich zu rühren.
Dann riß sie sich rasch aus ihrer Erstarrung und wich zur Seite.
Hastig blickte sie sich um.
Rechts von sich, abseits der Terrasse, entdeckte sie einige Büsche. Flink eilte sie dorthin und suchte hinter einem der Büsche Deckung. Von hier aus konnte sie den Florian und seine Begleitung beobachten, ohne Gefahr zu laufen, selbst entdeckt zu werden.
Aber war das nicht schon längst geschehen?
Fieberhaft dachte Alexandra nach. Der Florian hatte mit dem Rücken zu ihr gesessen. Er konnte sie unmöglich gesehen haben, als sie auf der Terrasse gewesen war. Aber die Monika saß ihm genau gegenüber. Sie hätte die Möglichkeit gehabt, und Alex fragte sich, ob sie sie nicht sogar gesehen hatte. Einen Augenblick hatte sie nämlich das Gefühl gehabt, eine überraschte Regung im Gesicht der jungen Frau gesehen zu haben.
Allerdings konnte es auch ebensogut möglich sein, daß sich die Alex das lediglich eingebildet hatte, denn jetzt blickte die Monika nicht mehr in ihre Richtung, und auch der Florian wandte sich nicht um, um nach ihr Ausschau zu halten.
Achtsam beobachtete Alexandra den Florian und die Monika Thiemann weiter. Wie es aussah, schienen sie sich recht gut zu unterhalten. Alex versuchte auch, etwas von dem Gespräch mitzubekommen, doch die Distanz war zu groß. Sie konnte kein Wort verstehen. Ab und zu aber lachten sie laut auf, und das genügte, um die Eifersucht des Madels ins Unermeßliche steigen zu lassen.
Wie gut sie sich amüsieren, dachte Alex. Wirklich wunderbar! Erst macht dieser Hallodri sich an mich ran, dann vergnügt er sich wieder mit seiner Ex!
Eine ganze Weile hockte Alex weiter hinter dem Busch. Beobachtete, wie die zwei sich amüsierten und hatte Mühe, die aufkommenden Tränen zu unterdrücken.
Dann sah sie, wie der Florian beim Kellner die Rechnung beglich. Sobald der Kellner sich wieder zurückgezogen hatte, erhoben sich der Florian und die Monika.
Er half ihr in die Jacke, wobei sich beide drehten, so daß die Monika der Alexa jetzt den Rücken zuwandte, während der Florian in ihre Richtung blickte.
Rasch duckte sich Alex. Einen Moment lang verbarg sie sich ganz hinter dem Busch, konnte so auch nicht sehen, was sich weiter abspielte.
Tief atmete sie durch.
Dann wagte sie einen weiteren Blick, kam hoch und lugte hinter dem Busch hervor.
Und was sie jetzt zu sehen bekam, versetzte ihr einen Stich mitten ins Herz.
Eng hatte die Monika die Arme um Florians Hals geschlungen, und sie küßten sich!
Alexandra war, als hätte sich eine unsichtbare Kralle um ihr Herz gelegt, die jetzt unbarmherzig zudrückte.
Tränen schossen ihr aus den Augen. Hastig wandte sie sich um und rannte, so schnell ihre Füße sie tragen konnten, davon.
»Was ist denn los?« fragte die Monika Thiemann, als Florian sich hastig von ihr löste.
Der Bursche hatte das Gefühl, sein Herzschlag müsse aussetzen. Alles war so schnell gegangen. Die Monika hatte ihm ihre Lippen auf den Mund gepreßt, ohne daß er es eigentlich gewollt hatte. Sicher, er hatte es geschehen lassen, hatte sich nicht gewehrt, und das war ein Fehler gewesen. Ein folgenschwerer Fehler.
Während sie sich geküßt hatten, hatte er über Monikas Schulter hinweg die Alexandra Gruber hinter einem der nahen Büsche entdeckt. Nur einen Moment hatte er ihr Gesicht gesehen, dann hatte sich das Madl umgedreht und war davongerannt, als sei der Leibhaftige hinter ihr her.
Florian zuckte zusammen. Plötzlich wurden seine Knie weich wie Pudding. Was hatte er bloß getan? Wie hatte er es zulassen können, sich von der Monika die Lippen auf den Mund pressen zu lassen? Und das Madl, das er liebte, war Zeuge dessen geworden und lief nun weinend davon.
»Laß mich in Ruh’!« fuhr der Florian die Monika an. »Ich hab’ dir gesagt, daß ich nix mehr von dir will. Du kamst vorhin zu mir, um mit mir in aller Ruhe zu reden, weil auch du Freundschaft willst. Ich hab’ mich auf ein Gespräch mit dir eingelassen, weil ich dir geglaubt hab’. Wie kommst jetzt dazu, so etwas zu tun?«
»Aber Florian.« Monika Thiemann warf ihm ein Lächeln zu. »Ich liebe dich nun mal, so begreif…«
Doch den Rest des Satzes nahm der Florian schon gar nicht mehr wahr. Da lief er auch schon davon. Er mußte der Alexandra hinterher, mußte sie einholen, um mit ihr zu sprechen. Er mußte diese ganze Sache klarstellen, so schnell wie möglich!
Er lief, so schnell er konnte. In seinen Seiten begann es zu stechen, und der Atem wurde ihm auch rasch knapp.
Da konnte er die Alex, die er zunächst aus den Augen verloren hatte, wieder sehen. Jetzt lief er noch schneller.
»Alex!« rief er keuchend. »Bitte, Alex. So bleib doch stehen. Wir müssen reden!«
Doch die Alexandra blieb nicht stehen. Statt dessen lief sie auch immer schneller, doch nach einer Weile gelang es dem Florian schließlich, das Madel einzuholen. Er packte sie an der Schulter, und jetzt blieb auch die Alex stehen.
»Was willst?« fragte sie barsch.
Er keuchte. »Mit dir sprechen, Alex.«
»Ich wüßt’ net, was wir noch zu sprechen haben sollten.«
»Aber Alex, so laß mich doch erklären. Es wäre mir sehr wichtig, daß du mich anhörst.«
Alexandra verkrampfte innerlich. Sie hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Aber sie zwang sich dazu, denn sie wollte jetzt nicht weinen. Nicht vor dem Florian, der soeben eine andere Frau geküßt hatte. Diese Blöße wollte sie sich nicht geben!
Also riß sie sich tapfer zusammen. Eine Weile lag bedrückendes Schweigen in der Luft.
Dann nickte das Madl. »Also gut.« Alexandras Stimme war kühl und trocken, völlig emotionslos, wenngleich es in der jungen Frau ganz anders aussah. »Sag, was du zu sagen hast!«
»Ja, also…« Der Florian suchte nach den richtigen Worten. »Das, was du vorhin gesehen hast, ist net so, wie du jetzt denken magst.«
»Laß mich raten, was du sagen willst: Der Kuß mit der Monika war dir net wichtig, er hat dir nix bedeutet.« Sie seufzte. »Ja, das wirst’ wohl so sehen. Vielleicht unterscheidet uns genau das voneinander: Dir bedeutet so etwas nix, mir schon. Vielleicht habt ihr in der Stadt da einfach andere Ansichten. Ich kann mir schon denken, daß du während deines Studiums viel mehr Partys und Flirten im Sinn hattest als den Unterrichtsstoff. Das wird dann wohl auch der Grund dafür sein, daß du die Prüfung net gleich auf Anhieb bestanden hast.«
Er blickte sie stumm an. Plötzlich nahm sein Gesicht einen traurigen Ausdruck an. »Nein«, sagte er. »So darfst du das auch net sehen.«
»Ach nein?« erwiderte sie. Ihre Stimme wurde lauter und kämpferisch. »Aber du darfst alles, wie? Mir erzählen, wieviel du doch für mich empfindest und dann einfach eine andere Frau küssen. Nein, mein Lieber, das laß ich net mit mir machen. Sicher, wir sind net miteinander liiert. Ich hab’ dich um ein wenig Zeit gebeten, und da hast mir g’sagt, daß du mir diese Zeit geben willst. Wenn sich das von heut’ auf morgen geändert hat und ich dir gleichgültig geworden bin, so brauchst du mir das nur zu sagen. Aber hinter meinem Rücken deine Ex abbusseln, das ist weiß Gott kein feiner Zug. Und jetzt laß mich bitt’ schön allein. Ich will nix mehr von alldem hören!«
Hastig wandte sie sich um und lief eiligen Schrittes weiter.
Florian spürte, daß es besser war, das Madl jetzt erst einmal in Ruhe zu lassen…
*
Zuhause angekommen, zog sich die Alexandra sofort in ihre Kammer zurück.
Jetzt konnte sie ihre Tränen auch nicht länger zurückhalten. Das, was sie vorhin hatte mit ansehen müssen, konnte und wollte sie nicht wahrhaben.
Sie hatte doch so viel für den Florian empfunden, und jetzt das! Wie hatte er das tun können? Nach so kurzer Zeit eine andere Frau küssen?
War sie selbst schuld daran? War es ein Fehler gewesen, ihn um etwas Zeit zu bitten? Aber sie konnte doch keine Partnerschaft mit ihm eingehen, wenn sie noch nicht soweit war, wenn sie sich nicht völlig sicher war!
Wäre bloß diese Monika Thiemann niemals hier in Steinbach aufgetaucht! dachte das Madl verbittert. Dann wäre heute alles noch so schön wie vor wenigen Tagen gewesen.
Während Alexandra diese vielen Gedanken durch den Kopf gingen und sie nicht zur Ruhe kommen ließen, machte sich Florian in seinem Gästezimmer bittere Vorwürfe.
Immer wieder stellte er sich ein und dieselbe Frage, auf die er einfach keine Antwort fand: Wie hatte er es nur zulassen können, sich von der Monika küssen zu lassen? Sicher, sie hatte ihn praktisch überfallen damit und er war einfach nicht in der Lage gewesen, so schnell zu handeln.
Denn da hatte er ja schon die Alex entdeckt!
Trotzdem – er hatte die Monika sofort von sich stoßen müssen, hätte es nicht soweit kommen lassen dürfen. Hätte die Alex gesehen, daß er den Kuß gar nicht gewollt hatte, wäre alles vielleicht ganz anders gekommen und sie wäre jetzt auch net so sauer auf ihn.
Aber das war jetzt net mehr zu ändern. Der Florian mußte überlegen, wie er sich wieder mit Alexandra versöhnen konnte. Mehr noch: Er mußte einen Weg finden, ihr klarzumachen, daß er sie liebte, und nur sie!
Aber wie sollte er das anstellen?
*
Am Abend unternahm der Florian noch einige Versuche, mit Alexandra zu reden.
Doch es war sinnlos; das Madl öffnete nicht einmal die Tür ihrer Kammer, als er beharrlich anklopfte und sie immer wieder bat, ihn doch eintreten zu lassen.
Irgendwann gab er es schließlich auf. Ihm war klar, daß er nichts erzwingen konnte. Das wäre der absolut falsche Weg gewesen.
So verbrachte der Florian eine schlaflose Nacht. Seine Gedanken waren einzig und allein bei Alexandra.
Und dem Madl ging es nicht viel anders in dieser Nacht. Alex konnte kaum ein Auge zutun. Hinzu kam, daß sich das Wetter in der Nacht plötzlich verschlechterte. Sturm kam auf. Der Wind rappelte heftig an den Hausfassaden.
Irgendwann begann es auch zu regnen, und das Geräusch der gegen die Fenster peitschenden Tropfen ließ das Madl noch unbehaglicher zumute sein.
Irgendwann siegte dann aber doch die Müdigkeit gegen die vielen Sorgen und Probleme, und das Madl tauchte ein in einen tiefen Schlaf.
Als Florian Martens am nächsten Morgen auftauchte, um mit dem Unterricht zu beginnen, hatte das Madl längst einen folgenschweren Entschluß gefaßt.
»Ich hab’ dich schon erwartet«, sagte Alexandra mit ruhiger, monotoner Stimme. Das fröhliche Strahlen, das sonst stets auf ihrem hübschen Gesicht lag, war verschwunden. Statt dessen blickte sie traurig drein, und auch in ihren schönen Augen fehlte jeglicher Glanz. »Du kannst dir sicher vorstellen, daß ich jetzt unmöglich zum Alltag übergehen und mit dem Nachhilfeunterricht fortfahren kann«, fuhr sie fort.
Florian nickte unbeholfen. Forschend musterte er die junge Frau, versuchte, irgend etwas aus ihrem Gesicht zu lesen. Doch da war nichts zu lesen. »Sicher«, antwortete er nach einer kurzen Weile. »Wir müssen vorher noch einiges klären, dessen bin ich mir schon bewußt.«
»So hab’ ich das net g’meint, Florian.« Entschlossen schüttelte sie den Kopf. »Ich find nämlich net, daß es da noch was zu klären gibt.«
»Sondern?«
Sie holte tief Luft. »Ich kann dich net mehr länger unterrichten, Florian. Es tut mir leid, daß du jetzt meinetwegen Probleme mit deiner Nachprüfung bekommen wirst. Aber es würde einfach net mehr funktionieren. Das Geld bekommt dein Vater selbstverständlich zurück, richt’ ihm das bitt’ schön aus.«
»Was sagst du da?« Florian Martens sah sie entgeistert an. »Soll das etwa heißen, daß…«
Alexandra nickte. »Ja, Florian. Ich möcht’, daß du deine Sachen packst und nach Haus fährst.« Einen kurzen Moment stockte sie, bevor sie leise hinzufügte: »Für immer.«
»Das kann doch net dein Ernst sein!« Florian riß die Augen auf. Flehend blickte er Alexandra an. Hoffte, daß sie es sich noch einmal überlegte und ihm anbot, noch einmal in aller Ruhe über alles zu reden.
Doch Alexandra blieb standhaft. Sie wollte nicht mehr reden, wollte nur noch ihre Ruhe haben und Florian nicht tagtäglich wegen dem Unterricht begegnen müssen. Deshalb wollte sie, daß er Steinbach verließ.
Betroffen senkte der Bursche den Blick. »Oh, Alex«, murmelte er leise. »Wenn du mich doch nur erklären ließest…«
Sofort schüttelte sie den Kopf. »Du brauchst mir nix weiter zu erklären, Florian. Ich weiß, was ich gesehen hab’, und das reicht mir. Mein Entschluß steht fest. Ich möcht’ dich recht herzlich bitten, bis heut’ abend den Hof zu verlassen.«
Damit war alles gesagt.
*
Nach diesem Gespräch packte auch Alexandra Gruber ihre Sachen zusammen. Mit einer großen Tasche bepackt, stand sie einige Zeit später vor der Tür des Bürgermeisters.
Der Seibold-Loisl sah die junge Frau überrascht an. Sein Blick blieb an der großen Tasche hängen, die neben ihr auf dem Boden stand.
»Na, was ist denn mit dir los, Madel?« fragte er verwirrt. »Hast du dich etwa wieder mit deinem Herrn Vater verkracht?«
Alexandra nickte traurig.
»Und jetzt willst du bei mir einziehen?« Der Bürgermeister, immer noch ziemlich verwirrt, deutete auf die Tasche.
Doch Alexandra schüttelte heftig den Kopf. »Nein, natürlich net. Jedenfalls net direkt.«
»Na, das mußt du mir jetzt aber schon näher erklären«, sagte der Bürgermeister und gab die Tür frei. »Aber komm doch erst einmal rein, Madel!« forderte er sie auf.
Alexandra nickte und trat in den Wohnraum. Sie setzten sich, und das Madel begann zu erzählen, was ihr auf dem Herzen lag. Und sie sprach nicht nur über die ständigen Auseinandersetzungen, die sie mit ihrem Vater hatte, sondern ließ auch die Sache mit Florian Martens nicht aus.
»Es ist einfach soviel passiert in der letzten Zeit«, sagte sie zum Abschluß, »daß ich jetzt einfach ein bisserl Abstand brauch’. Und deshalb wollt’ ich fragen, ob ich vielleicht für ein paar Tage in Ihrer Hütte droben in den Bergen wohnen könnt’?«
Der Seibold-Loisl sah sie mitfühlend an. »Ach, Madel«, sagte er. »Es tut mir in der Seele weh, wenn ein so hübsches junges Ding wie du von so viel Sorgen geplagt wird. Aber glaubst du denn, Flucht ist der rechte Weg? Ich will mich hier ja net als Oberlehrer aufspielen. Aber ich hab’ nun ja auch schon einige Jährchen auf dem Buckel, und eines hab’ ich in der letzten Zeit gelernt: Davonlaufen ist nie eine Lösung gewesen!«
»Sicher.« Alexandra nickte und winkte gleichzeitig ab. »Ich will ja auch gar net fortlaufen. Net für lang jedenfalls. Ich brauch halt nur ein bisserl Ruhe. Etwas Zeit für mich, um in Ruhe über alles nachzudenken. Und diese Zeit könnt’ ich auf dem Hof nie und nimmer haben. Sie wissen doch, wie mein Vater ist…«
Jetzt lachte der Bürgermeister. »O ja, das weiß ich…« Er nickte entschlossen. »Also gut, Madel. Ich geb’ dir die Schlüssel zur Hütte. Fühl dich nur ganz wie zu Haus’ droben.«
Dankbar lächelte die Alexandra ihm zu. »Ach«, sagte sie zum Abschluß noch. »Es wäre gut, wenn das unter uns bleiben würde…«
*
Florian Martens packte nicht sofort seine Koffer. Damit ließ er sich noch Zeit. Denn bevor er endgültig den Bergbauernhof verließ, wollte der Bursche noch einmal in den Ort fahren. Er hatte noch etwas zu erledigen.
Es war Mittag, als er die Pension erreichte, in der Monika Thiemann abgestiegen war.
Mit grimmiger Miene stieg Florian aus dem Wagen und fragte den Pensionswirt, in welchem Zimmer Monika Thiemann logierte. Daß sie hier wohnte, hatte sie ihm bei ihrem letzten Treffen erzählt, kurz bevor sie sich ihm an den Hals geworfen hatte.
Der Pensionswirt nannte die Zimmernummer und erklärte dem Burschen, wo sich der Raum befand.
Entschlossen stapfte Florian die Holzstufen zum ersten Stock hoch. Unter seinen Sportschuhen knarrten die Dielen, als er den Flur entlang ging.
Dann hatte er in Monikas Zimmer erreicht. Noch einmal atmete er tief durch, dann klopfte er an.
Sofort erklang Monikas Stimme von drinnen. »Ja? Wer ist da?«
»Mach auf, Monika. Ich bin’s, der Florian.«
Sofort waren Schritte zu vernehmen. Einen Augenblick später wurde geöffnet. Strahlend blickte Monika ihn an.
»Florian! Schön, daß du da bist! Und ich dachte schon, du wärest arg sauer auf mich. Aber eigentlich wußte ich ja, daß du noch Vernunft annimmst. Ich bin schließlich die einzige, die gut ist für…«
»Sei gefälligst still!« schnitt der Florian ihr barsch das Wort ab. Unsanft drängte er sie in ihr Zimmer. Nachdem er selbst über der Schwelle war, schloß er die Tür hinter sich.
»Aber Florian!« fragte die Monika verwirrt. »Warum bist du denn so grob zu mir? Habe ich dir irgendwas getan?«
Entgeistert sah er sie an. »Ob du mir was getan hast? Das fragst du noch? Jetzt tu doch net so scheinheilig, das weißt du doch ganz genau. Der Kuß gestern, weißt du eigentlich, was du mir damit angetan hast, du hinterhältige Intrigantin?«
Noch immer tat die junge Frau völlig ahnungslos. »Wie sprichst du denn mit mir, Florian? Den Kuß hast du doch auch gewollt. Und nur weil ich dich geküßt hab’, bin ich doch noch lange keine Intrigantin. Das eine hat doch nichts mit dem anderen zu tun!«
»Jetzt tu doch net so! Ich kann’s dir net nachweisen, aber ich bin mir sicher, daß du die Alexandra gesehen hast, bevor du dich mir an den Hals geworfen hast. Du hast sie gesehen und dachtest
dir, wenn du mich jetzt küßt, sieht es die Alex und trennt sich von mir! So war’s doch, oder etwa net?«
»Trennen?« Sie tat immer noch erstaunt. »Ich wußte ja noch nicht einmal, daß ihr ein Paar seid!«
»Waren wir ja auch net. Noch net! Aber geahnt hast’ doch ganz sicher, daß sich da was zwischen der Alex und mir anbahnt. Und durch den Kuß dachtest du, daß du so wieder freie Bahn bei mir hast. Ja, genauso war es! Der Kuß war pure Berechnung gewesen, net mehr und net weniger!«
Jetzt veränderte sich Monikas Gesichtsausdruck. Tief sah sie ihm in die Augen. »Ja, Florian«, sagte sie schließlich. »Du hast recht. Ich konnte diese Chance einfach nicht verstreichen lassen. Denn ich ahnte natürlich schon, daß sich dieses kleine Bauernmadl an dich ranmacht. Und der Gedanke daran, daß du mit ihr statt mit mir den Rest deines Lebens verbringst, konnte ich nicht ertragen. Ich wollte dich einfach zurückhaben und nicht für immer verlieren!«
»Tja, jetzt hast du mich aber verloren, Monika«, antwortete der Bursche trocken. Sein Gesicht war starr und emotionslos. »Für immer. Ich will dich nimmer wiedersehen, hast du das verstanden? Nie mehr!«
Mit diesen Worten wandte er sich um und verließ erst das Zimmer und kurz darauf die Pension.
*
Gegen Nachmittag erreichte die Alexandra Gruber die Berghütte des Bürgermeisters. Das Madel war ganz schön außer Atem geraten, denn bis zu der Hütte war es ein ganz schöner Marsch gewesen, und sie war zügigen Schrittes gegangen. Und die Bewegung an der frischen Luft hatte ihr mehr als gutgetan, es war die richtige Entscheidung gewesen, hier konnte sie wieder zu sich selbst finden.
Jetzt stand sie hier vor der Hütte des Bürgermeisters. Ringsum die wundervolle Berglandschaft. Unberührte, reine Natur, wohin sie blickte.
Tief atmete Alexandra durch, sog die frische, kühle Luft tief in die Lungen.
Plötzlich, als sie so ihren Gedanken nachhing, kam ihr Florian Martens in den Sinn, und sie dachte daran, wie schön es gewesen wäre, wenn sie jetzt gemeinsam mit ihm hier gewesen wäre. Inmitten dieser herrlichen Landschaft.
Ja, alles hätte so schön sein können.
Und jetzt? Jetzt würde sie ihn wahrscheinlich nie wieder sehen…
Rasch schlug sie die trüben Gedanken in den Wind und ging weiter auf den Eingang der Hütte zu. Aus der Hosentasche kramte sie den Schlüssel, den der Seibold-Lois ihr überlassen hatte, und schloß auf. Gleich darauf trat sie über die Schwelle.
Drinnen war es dunkel. Vorhänge waren vor die Fenster gezogen, und nur durch einige Ritzen fiel der Sonnenschein. Rasch lief Alex zu einem der Fenster und zog den Vorhang beiseite.
Sofort wurde der Raum vom Schein der Sonne durchflutet. Das Madl zog auch die Vorhänge der anderen Fenster beiseite und öffnete anschließend die Fenster. Anscheinend war der Bürgermeister schon lange nicht mehr hier oben in der Hütte gewesen, denn es roch schon ein wenig muffig.
Nachdem sie alle Fenster geöffnet hatte, sah sich die junge Frau um. Hübsch war es hier drinnen. Alles war zwar uralt, aber praktisch und gemütlich eingerichtet. Vor allem der schöne Kamin tat es der jungen Frau an. Es würde sicher sehr gemütlich hier sein am Abend, wenn sie bei prasselndem Kaminfeuer auf dem Sofa saß, eingehüllt in eine kuschelige Wolldecke…
Jetzt aber wollte sie erst einmal ihre Sachen auspacken und sich ein wenig einrichten.
Und Staub gewischt werden muß hier, stellte sie fest. Aber dringlichst…
*
Der Florian Martens hatte nach seinem Gespräch mit der Monika noch einmal versucht, mit Alexandra zu reden. Doch er hatte sie nicht finden können. Jetzt war es bereits Abend, und er wollte nicht in der Nacht zurück in die Stadt fahren. Deshalb beschloß er, noch eine Nacht hier zu bleiben und morgen in aller Früh loszufahren.
Zeitig legte er sich schlafen. Er spielte mit dem Gedanken, noch einmal zur Kammer des Madels zu gehen, doch dann verwarf er den Gedanken wieder. Es war sicher sinnlos, und wahrscheinlich war die Alex jetzt ohnehin noch wütender auf ihn geworden, weil er noch nicht abgereist war.
Doch schlafen konnte der Bursche auch noch nicht. So unternahm er noch einen Spaziergang, kehrte nach einer Weile auf den Hof zurück und legte sich dann wieder hin.
Noch immer konnte er kein Auge zutun. Immerzu mußte er an Alexandra denken. Das Madel ging ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf.
Stundenlang lag er wach da und dachte nur nach. Doch irgendwann schüttelte er bestimmt den Kopf.
»Jetzt reicht’s!« sagte sich der Bursche. »Du hast alles versucht. Wenn sie dich net mehr will, kannst du auch nix dran ändern.«
Er drehte sich zur Seite und versuchte krampfhaft, einzuschlafen.
Es gelang ihm nicht.
Der junge Bursche konnte nicht ahnen, daß es Alexandra Gruber ebenso erging. Auch sie lag in dieser Nacht schlaflos im Bett, aber nicht in ihrer Kammer, sondern in der Berghütte des Bürgermeisters. So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte einfach kein Auge zutun. Tausend Gedanken schossen ihr immer wieder und wieder durch den hübschen Kopf.
Hatte sie einen Fehler gemacht?
*
»Du reist ab, Florian?«
Verwundert blickte Sebastian Trenker, der junge Pfarrer aus St. Johann, am nächsten Morgen auf die Koffer, die der junge Martens gerade in den kleinen Kofferraum seines Sportwagens packte. Sebastian hatte gerade ein Gespräch mit dem Gruber-Johannes und befand sich jetzt auf dem Weg ins Wohnhaus.
Florian nickte. »Ja«, sagte er knapp. »Ich fahre wieder nach Hause. Leider.«
Der Geistliche musterte ihn eingehend. Dann runzelte er die Stirn. »Ist etwas passiert?« wollte er wissen. »Hast du dich vielleicht mit der Alex gestritten? Das könnte ja auch erklären, warum das Madel…«
Sebastian schaute auf. »Was ist mit der Alex?« wollte er wissen. Ihm schwante Ungutes.
»Wir können sie nirgends finden«, sagte der Pfarrer. »Der Gruber-Johannes hat sie gestern schon vermißt, weil sie nachmittags net auf dem Hof geholfen hat. Er hat sich dann aber doch nix weiter bei gedacht, und abends glaubte er, sie sei in ihrer Kammer. Heute früh aber war sie auch nirgends zu finden, und ihr Bett ist unbenutzt.«
Florian riß die Augen auf. Deutlich waren die Sorgenfalten zu erkennen, die sich auf seiner Stirn bildeten. »O nein!« stieß er auf. »Hoffentlich ist der Alex nichts zugestoßen! Wenn ihr was passiert ist, dann bin nur ich daran schuld. Nie werd’ ich mir das verzeihen können! Ich…«
Der Pfarrer legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Jetzt reg’ dich mal net so auf, Florian. Ihr wird schon nix zugestoßen sein. Aber was redest du denn da von Schuld? Hast du dich vielleicht mit der Alex gestritten?«
Der Florian atmete tief durch und nickte dann. »Sie haben’s erraten, Herr Pfarrer. Aber ehrlich gesagt, ist mir jetzt net unbedingt danach, drüber zu reden, wenn Sie verstehen?«
»Sicher kann ich das verstehen«, sagte der Pfarrer ehrlich. »Aber manchmal tut es gut, über seine Probleme zu sprechen, das kannst du mir glauben. Außerdem kenne ich die Alex schon eine ganze Weile, und vielleicht könntest du mir dabei helfen, zu verstehen, was gerade in ihr vorgeht, wenn du mir alles erzählst. Wie es aussieht, glaube ich nämlich ganz und gar net dran, daß ihr etwas zugestoßen ist, dem Herrn sei Dank. Ich glaub vielmehr, daß sie…«
»Weggelaufen ist?« fiel ihm der Bursche ins Wort.
Der Pfarrer nickte. »Das könnte ich mir zumindest gut vorstellen.«
»Also gut«, sagte der Florian sofort. Er seufzte schwer, dann begann er zu berichten, was sich zugetragen hatte.
Der Geistliche war ein guter Zuhörer, und als der Florian geendet hatte, nickte er. Sebastian Trenker glaubte dem Burschen, daß er die Alexandra liebte und daß er von der Monika nichts mehr wollte. Aber das war jetzt nicht das Wichtigste. Am wichtigsten war, daß sie Alex Gruber fanden. Ihr Vater machte sich große Sorgen um sie, auch wenn er das nie so offen zugegeben hätte.
»Es wäre natürlich net verkehrt, wenn du jetzt noch net abreisen würdest, Florian«, sagte der Pfarrer abschließend. »Vielleicht könntest du uns helfen, die Alex zu suchen.«
»Natürlich!« sagte der Bursche sofort. »Ich geh doch jetzt net fort, wo die Alex verschwunden ist! Nie und nimmer könnt’ ich das!«
Der Pfarrer nickte. Etwas anderes hatte er auch nicht erwartet…
*
»Sag mal, Loisl«, fragte der Sebastian Trenker den Bürgermeister von Steinbach. »Du hast net zufällig die Alex gestern oder heute gesehen?«
Der Bürgermeister zuckte kaum merklich zusammen. »Die Alex?« fragte er etwas verlegen nach. »Nein, Hochwürden, dem Madel bin ich schon lang net mehr begegnet. Wieso fragst du?«
»Nun, sie ist praktisch spurlos verschwunden. Und ihr Vater macht sich jetzt natürlich Sorgen. Er sucht seine Tochter schon überall, und da dachte ich, ich hör’ mich mal um. Ich weiß ja auch, daß ihr ein recht gutes Verhältnis zueinander habt. Du warst für sie doch immer wie ein Großvater.« Eindringlich blickte der Geistliche den Bürgermeister an. Der konnte seinem Blick kaum standhalten.
»Ja, sicher«, sagte der Seibold-Loisl. »Aber leider kann ich dir net weiterhelfen. Aber ihr wird schon nix zugestoßen sein, da macht euch mal gar keine Sorgen«, sagte er rasch.
»Denk ich auch net«, sagte der Pfarrer zustimmend. Jetzt lächelte er wissend. Natürlich war ihm nicht entgangen, wie nervös der alte Seibold plötzlich geworden war, den doch sonst nichts aus der Ruhe bringen konnte. »Ich denk’ eher, daß sie für einige Zeit ihre Ruhe haben will. Das Madel hatte ja in letzter Zeit einige Probleme.«
»Ja, sie braucht einfach ein wenig Ruhe, und die hat sie in der…«
Abrupt brach der Bürgermeister ab. Er lief rot an und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.
Sebastian Trenker grinste breit. »Hast du also doch mit ihr gesprochen?« fragte er. »Und du weißt sogar, wo sie ist? Na hör mal, Loisl, das war aber net sehr anständig von dir, einen Pfarrer zu beschwindeln!«
Natürlich meinte er die Worte nicht böse. Er machte Spaß, aber er bewirkte damit, daß sich der Bürgermeister noch etwas unwohler fühlte. Unruhig trat er von einem Fuß auf den anderen.
»Na, weißt du, Hochwürden, es ist… Also…«
»Ja?«
»Nun ja, das Madl hat mich gebeten, niemandem etwas zu sagen, und da kann ich doch net einfach…«
»Du wolltest ja auch gar nix sagen, du hast dich lediglich verplappert. Und das wird die Alex dir ganz sicher net übelnehmen. Also: Wo steckt sie denn? Vielleicht in deiner Berghütte, in die du dich selbst auch zurückziehst, wenn du mal ausspannen willst?«
Doch der Bürgermeister zögerte noch immer.
»Nun komm schon, Lois«, drängte Sebastian Trenker. »Es ist für einen guten Zweck!«
Jetzt schaute der Seibold-Loisl auf. »Aber wieso willst du das denn unbedingt wissen? Ich mein, das Madl will seine Ruhe haben, und wenn der alte Gruber weiß, daß es seiner Tochter gutgeht und an nix fehlt, reicht das doch aus.«
»Eigentlich hast du da schon recht, Lois. Nur gibt es da noch einen Burschen, der sich gern mit der Alex vertragen würde. Die beiden hatten einen Streit, und…«
Der Lois winkte ab. »Ja, ist schon recht«, sagte er mit leiser Stimme. »Ich weiß ja drüber Bescheid. Und ja, das Madel ist in der Hütte.« Seine Stimme wurde lauter, als er hinzufügte: »Aber das hast du net von mir, verstanden?«
Der Pfarrer lachte herzlich. »Aber sicher, Lois…«
*
»Wo ist diese Hütte?« fragte der Florian. Ungeduldig blickte er den Pfarrer an. Dem Burschen war anzusehen, daß er aufgeregt war. »Ich geh sofort dahin!«
Sebastian Trenker hob beruhigend die Hand. »Immer langsam, junger Freund«, sagte er. »Jetzt nur nichts überstürzen.«
»Aber ich muß wissen, ob es ihr gutgeht, ob alles in Ordnung ist.«
»Nun mach dir mal keine Sorgen, Florian. Ich bin sicher, daß alles in Ordnung ist. Die Alex möchte nur ein bisserl ihre Ruhe haben, mehr net. Und wenn du jetzt überstürzt aufbrichst, wird das Madel dich womöglich gleich wieder heimschicken. Und das willst du doch auch net, oder?«
Der Bursche nickte und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Natürlich net, aber…« Seine Stimme wurde leiser. Sehnsucht klang in ihr mit. »Ich möchte die Alex einfach sehen, verstehen Sie? Ich meine, ich war richtig zornig auf sie, weil sie mich nach Hause geschickt hat. Ich stand kurz davor, den Ort endgültig zu verlassen, in der Gewißheit, die Alex nimmer wiederzusehen. Dabei lieb ich sie doch so. Ich will net von ihr getrennt sein, das ist mir jetzt endgültig klargeworden, als ich hörte, sie sei spurlos verschwunden. Und das alles will ich ihr sagen. Jetzt sofort!«
Der Pfarrer lächelte ermutigend. »Das verstehe ich ja auch. Du willst die Alex zurück. Und genau deshalb müssen wir den geeigneten Augenblick abwarten.«
»Wir?«
»Ja, wir. Ich werde dich nämlich zur Hütte begleiten. Vielleicht kann ich ja auch meinen Teil dazu beitragen, daß die Alex dir net mehr böse is’. Ich kenne sie ja schließlich auch schon sehr lange. Laß uns bis zum Abend warten. Wenn wir droben bei der Hütte sind, wenn es dunkel ist, stehen die Chancen vielleicht günstiger. Ein romantischer Sternenhimmel könnte hilfreich sein, wenn du verstehst?«
Der Bursche nickte. »Sicher.« Er atmete tief durch. »Also, wann machen wir uns auf den Weg?«
*
»Wo treibt sich denn das Madl nur herum?« fragte der Gruber-Johannes den Pfarrer Trenker, als die beiden Männer in der Küche zusammen saßen. »Sie kann mich doch net einfach hier allein lassen!«
»Aber ich hab’ dir doch eben schon gesagt, daß sie nur ein wenig Ruhe und Abstand braucht«, antwortete der Sebastian. »Aber ich kann dir versichern, daß mit ihr alles in Ordnung ist.«
Der alte Gruber winkte ab. »Aber woher willst du das denn wissen?«
»Das erzähle ich dir ein andermal. Sie wird jedenfalls bald wieder hier sein. Ganz bestimmt. Mach dir mal keine Gedanken.«
»Ich mach mir ja gar keine Gedanken, ich versuch nur schon die ganze Zeit, mit ihr zu sprechen. Aber es hat ja nie Zeit, das Madl.«
»Und worüber wolltest’ mit ihr sprechen?«
»Nun«, der Gruber machte eine alles umfassende Handbewegung. »Ich…, also…«
»Ja?«
»Ich hab’ mir halt deine Worte noch mal durch den Kopf gehen lassen. Du weißt schon.«
»Und?«
»Na ja, also, ich wollt’ dem Madl eigentlich sagen, daß es von mir aus machen kann, was es will. Ich hab’ halt eingesehen, daß ich net das Leben meiner Tochter bestimmen kann und daß sie ihre eigenen Erfahrungen machen muß. Und wenn sie sich eine eigene Wohnung nehmen will, dann hat das Madl meinen Segen. So, und damit ist das Thema ein für allemal beendet!«
Der Gruber schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und erhob sich. Es war ihm sichtlich schwergefallen, so zu sprechen, denn er war nun mal ein alter Griesgram. Aber im Grunde war er ein guter Mensch, wie er jetzt auch wieder bewiesen hatte.
Dann wäre das also auch geklärt, dachte der junge Pfarrer aus St. Johann zufrieden.
Jetzt galt es nur noch abzuwarten, ob sich die Alex und der Florian wieder zusammenraufen konnten.
Aber eigentlich war er auch da ganz optimistisch…
*
Kurze Zeit später machten sich der Florian und Pfarrer Trenker auf den Weg zur Berghütte des Seibold-Lois, warm angezogen und mit Taschenlampen ausgerüstet. Die Lampen waren ihm eine gute Hilfe, obgleich es auch nicht allzu dunkel war. Die Nacht war sternenklar, zudem spendete der Mond schwachen Schein.
Der Weg war recht lang. Sebastian Trenker hatte damit keine Probleme. Er war ein leidenschaftlicher Wanderer, was man vom Florian nicht gerade behaupten konnte. Der Bursche geriet oft außer Puste, so daß die Männer immer wieder Pausen einlegen mußten. Die fielen allerdings nie zu lang aus, denn der Florian wollte nicht zuviel Zeit verlieren; er wollte so schnell wie möglich die Hütte erreichen.
Schließlich – es war noch ein wenig dunkler geworden – sahen sie die Berghütte in einiger Entfernung vor sich. Jetzt gab der Florian richtig Tempo, wollte auf den Eingang der Hütte losstürmen, doch der Pfarrer hielt ihn zurück.
»Laß mich mal vorangehen«, meinte er, und der Florian nickte.
Kurz darauf standen sie beide vor der Tür. Kurz flüsterte der Geistliche dem Burschen etwas zu, dann klopfte er an.
Zunächst tat sich nichts. Der Pfarrer klopfte noch einmal, und dann war von drinnen Alexandras Stimme zu hören.
»Wer ist da?« fragte sie.
»Ich bin’s, der Pfarrer Trenker.«
Sobald er geantwortet hatte, stahl sich der Pfarrer geschwind davon…
*
Alexandra Gruber hatte es sich auf dem Sofa, eingehüllt in eine warme Decke, gemütlich gemacht. Sie sah hinüber zum prasselnden Kaminfeuer und schloß dann für einen Moment die Augen.
Die Zeit, die sie bereits in der Hütte verbrachte, hatte sie genutzt, um viel nachzudenken. Im Moment war sie einfach völlig mit den Nerven durcheinander. Dabei ging es nur am Rande um die ständigen Auseinandersetzungen mit ihrem Vater. Viel mehr beschäftigte sie der Florian. Immer wieder stellte sie sich die gleiche Frage: War es ein Fehler, den Burschen wegzuschicken? Und die spontane Antwort lautete stets: Ja!
Sie wollte es selbst nicht wahrhaben. Der Florian hatte sie so sehr enttäuscht, aber sie liebte ihn noch immer. Diese Gefühle waren einfach stärker als ihr Verstand, und sie wußte nicht, wie es ohne ihn weitergehen sollte.
Plötzlich wurde Alex aus ihren Gedanken gerissen, als es an der Tür klopfte.
Erstaunt blickte sie auf. Wer konnte das denn sein?
Wieder klopfte es.
»Wer ist da?« fragte sie laut.
»Ich bin’s, der Pfarrer Trenker«, kam sogleich die Antwort, und Alex erkannte die Stimme des sympathischen Pfarrers sofort.
Überrascht ging sie zur Tür. Nanu, dachte sie, was kann der Pfarrer denn nur von mir wollen? Und wie hat er mich überhaupt gefunden?
Mit einem Ruck öffnete sie die Tür. Und blickte in das Gesicht vom…
Florian!
»Du?«
Alexandra sah den Florian überrascht an. Mit ihm hatte sie ja nun gar nicht gerechnet!
Aber nicht nur das Madl war überrascht, sondern auch der Florian selbst. Starr blickte er die Alex an. Er wollte etwas sagen, bekam jedoch nur ein leises Krächzen heraus.
»Was willst du denn hier?« fragte das Madl mit betont unfreundlicher Stimme. Sie konnte ihn doch jetzt unmöglich herzlich willkommen heißen! »Ich hab’ dir doch gesagt, daß…«
Jetzt erblickte sie etwas seitlich den Sebastian Trenker.
»Jetzt schimpf doch net sofort mit dem Burschen!« sagte der Pfarrer lächelnd. »Das ist doch gar net deine Art, Alex. Außerdem: Es ist eine so schöne Nacht, die solltet ihr jetzt wirklich net mit Streit verbringen. Sprecht euch lieber aus, denn ich weiß, ihr habt euch viel zu erzählen. Also, geht spazieren und redet. Ich sehe es dir doch an, Alex, daß du doch eigentlich auch willst.«
Einen Augenblick herrschte Schweigen. Dann, nach einer Weile, fragte der Florian Martens vorsichtig: »Na, wie schaut’s aus, Alex? Wärst du bereit, dich mit mir zu unterhalten?«
Einen Moment ließ sie ihn noch zappeln, und diesen Moment nutzte sie auch, um selbst nachzudenken. Tausend Gedanken gingen durch den Kopf. Sie dachte an die schönen Stunden mit dem Florian, daran, wie sehr sie ihn mochte. Aber sie dachte auch an den Moment, als sie ihn mit der Monika Thiemann erwischt hatte.
Machte es überhaupt Sinn, sich mit dem Burschen zu unterhalten?
Doch nach einer Weile nickte sie. Sie mochte ihn doch so sehr. Nachdem sie glaubte, der Florian sei abgereist, hatte sie sich eingestanden, eine Chance vertan zu haben.
Und diesen Fehler wollte sie nicht noch einmal begehen.
»Komm doch herein«, forderte sie ihn auf. Dankbar trat der Bursche über die Schwelle. Doch bevor sie die Tür verschlossen, blickten beide noch einmal zum Sebastian Trenker hinüber. Dankbar lächelten sie ihm zu. Der gute Hirte aus St. Johann wandte sich zufrieden ab und machte sich auf den Heimweg. Er war jetzt ganz sicher, daß alles gut werden würde…
Und während der Pfarrer nach Steinbach zurückkehrte, nahmen die beiden jungen Leute in der Hütte Platz.
Einen Moment war es sehr still. Nur das Rascheln des Kaminfeuers und der Wind draußen waren zu hören. Sonst war alles ruhig.
Dann aber durchbrach der Florian das Schweigen. »Also, Alex, ich möchte jetzt erst einmal eins klarstellen.«
»Ich höre?« Alex gab sich betont sachlich. Doch das war eigentlich nur Fassade, ein Schutzmantel, denn in Wirklichkeit wollte sie sehr wohl hören, was der Bursche zu sagen hatte. Jetzt, wo sie sich hier gegenüber saßen, beim flackernden Kaminfeuer, wurde ihr immer klarer, wieviel sie doch für den Florian empfand. Nach dem Vorfall neulich hatte sie vielleicht ziemlich überreagiert. Doch das war ja auch kein Wunder gewesen. Aber vielleicht war ja doch noch nicht alles verloren, und sie wollte den Florian auf jeden Fall anhören.
»Ich möchte dir beteuern, daß ich nix mehr für die Monika empfinde«, sagte Florian jetzt. »Und ehrlich gesagt habe ich noch nie wirklich viel für sie empfunden.«
»Ach? Und wieso warst du dann mit ihr zusammen?« hakte sie nach. »Ihr wart ja schließlich sogar verlobt!«
»Sicher. Ich weiß selbst net mehr, welcher Teufel mich damals geritten hat. Sicher, anfangs mochte ich die Monika. Ich fand sie klasse, dachte, sie sei die Richtige für mich. Aber von wirklicher Liebe konnte da keine Rede sein. Ich wußte damals ja net einmal, was wirkliche Liebe eigentlich ist, verstehst? Ich hab’ halt für die Monika geschwärmt, mehr aber net. Und daß wir uns verlobten, das kam halt irgendwie so. Nach unserer Verlobung ging dann aber auch alles sehr schnell. Rasch wurde mir klar, daß ich mir die ganze Zeit vor der Verlobung nur etwas vorgemacht habe. Ich stellte fest, daß die Monika und ich einfach net zusammen passen, und deshalb habe ich die Beziehung dann auch sehr schnell beendet.« Er räusperte sich kurz. »Die Monika hat das einfach net wahrhaben wollen. Du kannst dir gar net vorstellen, wie sie sich nach unserer Trennung verhalten hat. Sie hat mich regelrecht terrorisiert, wollte einfach net verstehen, daß ich net mehr mit ihr zusammensein wollte. Sicher, ich hab’ mir schon gewünscht, daß wir Freunde bleiben. Aber mehr auch net. Nur eine reine Freundschaft schwebte mir vor, und das ist ja wohl auch net verboten.«
»Sicher.« Die Alex nickte verständnisvoll. Ja, sie konnte den Florian schon verstehen. Er wollte eine Freundschaft mit der Monika, doch sie hatte immer mehr gewollt, und das hatte dem Burschen sicher zu schaffen gemacht. Sie konnte sich denken, daß die Situation damals nicht einfach für ihn gewesen war.
»Als ich dann nach Steinbach kam, hab’ ich sehr schnell gemerkt, daß ich dich sehr mag, Alex. Dann kam die Monika, und wie du sicher auch gemerkt hast, war ich gar net begeistert davon, daß sie hier war. Du weißt selbst, daß ich mich über ihre Anwesenheit net grad gefreut hab’. Du hast uns dann sehr schnell allein gelassen, deshalb hast du auch net mitbekommen, daß ich mich mit der Monika an dem Abend sogar gestritten hab’. Sie hat mir eröffnet, daß sie mich noch immer liebt und wieder mit mir zusammensein will.«
Alex horchte auf. »Und was hast du ihr daraufhin gesagt?«
»Ich hab’ ihr klar und deutlich gesagt, daß ich sie net zurück will und daß ich dich, Alex, sehr mag. Da wurde sie dann richtig wütend und wir haben uns im Streit getrennt.«
»Aber am nächsten Tag habt ihr euch doch wieder getroffen. Und ihr habt…«
»Ja, ich weiß!« unterbrach der Bursche sie. »Die Monika kam zu mir und wollte noch einmal mit mir reden. Sie sagte, daß sie verstanden habe, daß ich sie nicht zurückwill. Und jetzt wollte sie, so sagte sie mir, doch eine reine Freundschaft mit mir. Und das hat mich dann überzeugt. Wir sind zum Eiscafé gegangen, und ich gebe zu, daß wir uns nett unterhalten haben. Aber eben auch nur nett. So, wie Freunde es halt tun.«
»Und dann?«
»Nun, nach einer Weile habe ich die Rechnung gezahlt. Wir erhoben uns, um den Rückweg anzutreten. Da warf Monika sich mir plötzlich an den Hals. Sie küßte mich.« Er senkte den Blick. »Ich weiß, ich hätte sie sofort in ihre Schranken weisen müssen. Aber ich war so überrascht, kam mir richtig überrumpelt vor, daß ich einfach nicht fähig war, etwas zu tun. Aber ich habe den Kuß nicht erwidert, das schwöre ich!« Einen Moment hielt er inne. »Und dann sah ich auch schon dich, Alex. Und alles weitere weißt du ja.«
Sie nickte. Schweigend dachte sie nach. Plötzlich, nach Florians Erklärungen, kam ihr der ganze Streit mit dem Florian so unendlich dumm vor. Sie hatte völlig falsch reagiert, und ihr wurde klar, daß das alles nicht hätte sein müssen, wenn sie dem Florian sofort die Möglichkeit gegeben hätte, ihr alles zu erklären.
»Magst du ein wenig mit mir vor die Tür gehen?« fragte sie leise. »Ich könnt’ jetzt ein wenig frische Luft gebrauchen.«
Florian nickte. »Gern«, sagte er.
Sie erhoben sich. Der Florian erstickte vorsichtshalber das Kaminfeuer, dann verließen sie gemeinsam die Hütte.
Draußen schlug ihnen die kühle Nachtluft entgegen. Sie gingen einige Schritte, und irgendwann blieb die Alex stehen. Einen Moment blickten beide hinauf gen Himmel, beobachteten die vielen wundervollen Sterne und genossen einfach den Augenblick.
Dann fragte Alex: »Du hast vorhin gesagt, daß du damals, als du mit der Monika zusammen warst, noch gar net wußtest, was wirkliche Liebe ist.«
»Stimmt.« Florian nickte. »Das hab’ ich gesagt, und so war es auch.«
»Und? Weißt du es denn jetzt?«
Er drehte sich zu ihr. Tief blickte er ihr in die Augen. »Ja«, gab er ehrlich zur Antwort. »Seit ich dich kenne, weiß ich, was wirkliche Liebe ist.« Einen Augenblick wartete er, bevor er zärtlich sagte: »Ich liebe dich, Alex. Ich liebe dich von ganzem Herzen. Und das ist net nur so dahergesagt, das schwöre ich!«
Alexandra sah ihn schweigend an. Plötzlich fühlte sie, wie es in ihrer Magengegend zu kribbeln begann. Seine Augen strahlten sie an. Jetzt war Alex ganz sicher, daß sie keine Zeit mehr brauchte, um Klarheit über ihre Gefühle zu bekommen.
»Ich liebe dich auch, Florian«, erwiderte sie. Ihre Gesichter waren jetzt ganz nah beieinander, und dieses Mal war es Alex, die den ersten Schritt machte.
Sie kam dem Florian noch näher und drückte ihm ganz sanft die Lippen auf den Mund.
Zärtlich küßten sie sich.
Es dauerte lange, ehe sie sich atemlos voneinander lösten. Glücklich sahen sie sich an und gingen dann Hand in Hand zur Berghütte zurück. Sie hatten sich wiedergefunden und diese Nacht gehörte ihnen allein.