Читать книгу Der Bergpfarrer Staffel 20 – Heimatroman - Toni Waidacher - Страница 9

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Der Bauernstammtisch im »Löwen« leerte sich, nur Paul Anstätter schien noch keine Lust zu haben zu gehen.

»Trinken S’ noch eine Maß mit, Hochwürden? Ich geb einen aus. Heut ist so ein Tag, an dem man jemanden zum Reden braucht.« Der gut aussehende Mann Ende vierzig grinste sein Gegenüber ein wenig unsicher an. »Dafür bietet sich unser Herr Pfarrer geradezu an.«

Sebastian Trenker, schon seit langem der Pfarrer von St. Johann und gerne Gast in der Runde, lächelte zurück. Irgendwie hatte er es schon geahnt, dass da noch was kommen würde. Der Anstätter Bauer beteiligte sich sonst lebhafter am Gespräch der Nachbarn. »Was hast denn auf dem Herzen, Paul?«

Paul Anstätter drehte den Bierdeckel in seiner rechten Hand. Augenscheinlich suchte er nach den rechten Worten. »Wissen S’, Hochwürden, das ist net so einfach, was ich zu bereden hätt’. Ich dacht aber, mit anderen, da ist es noch schwieriger.«

»Das muss ich jetzt aber net verstehen«, meinte Sebastian und nickte der Saaltochter freundlich zu, die ihm ein neues Bier hingestellt hatte. »Magst dich net ein bissel deutlicher ausdrücken?«

»Es geht um meine Hochzeit.« Dem stattlichen Bauern fiel es offensichtlich schwer, die richtigen Worte zu finden. »Es ist net so, dass ich die Moni net von Herzen lieb hab’. Wäre das net der Fall, dann würden wir jetzt net hier sitzen, sondern Sie wären im Pfarrhaus am Schreibtisch und ich daheim vor dem Fernseher.«

»Woher weißt das so genau, Paul?«, fragte der Geistliche schmunzelnd. »Um diese Zeit bin ich auch meistens vor dem Fernseher und schau mir die Nachrichten an. Auch ein Geistlicher lebt auf der Erde und net im Himmel. Ich muss schließlich wissen, was auf der Welt vorgeht, sonst kann ich net mitreden.«

Paul wurde immer nervöser. »Das hab ich so net gemeint. Ich wollte damit nur sagen, dass ich ein offenes Ohr sehr zu schätzen weiß. Also, es geht um Monika.«

»So weit waren wir schon«, meinte Pfarrer Trenker nach einer Weile, als ihm die Sprechpause des Anstätter Bauern wieder zu lang wurde. »Du hast Monika lieb und willst sie heiraten. Und auf einmal bekommst kalte Füße, je näher die Stunde Null rückt, die dich von einem freien Mann zu einem Gefangenen machen soll. Ist es so?«

»Nein, net direkt«, murmelte Paul vor sich hin und trank sein Glas in einem Zug leer. »Noch ein Bier, bitt’ schön«, rief er der jungen Bedienung zu, die abends manchmal vom Nachbarort zum Helfen in die Wirtschaft kam. »Das mit der Moni geht schon in Ordnung. Ich war lang genug allein, um den Unterschied zu kennen. Es geht mehr um Klaus, meinen Sohn. Seit er weiß, dass ich wieder heiraten will, benimmt er sich so kühl und abweisend.«

»Das wird vergehen.«

»Glauben S’ das wirklich?« Zweifelnd schaute Paul den Pfarrer an. »Sie kennen Klaus doch auch schon lang, seit seiner Taufe. Er ist ein guter Bub, und wir haben uns immer gut verstanden. Jetzt möchte ich nix tun, was uns auseinanderbringt. Auf einmal aber hab’ ich auf das Gefühl, es könnte schiefgehen mit meiner Familienplanung.«

»Klaus ist derselbe Hitzkopf, der du mal warst, Paul. Erinnere dich nur an deine Schulzeit. Die Lehrer hatten alle Angst vor deinen Streichen.«

»So schlimm war es nun auch wieder net«, protestierte Paul Anstätter verlegen. »Und Klaus treibt keine Späße, zumindest net in diesem Fall. Er meint nur, meine Monika und ihre Tochter wollten sich bei uns in ein gemachtes Nest setzen, weil sie selbst nix haben. Aber das stimmt net. Außerdem, selbst wenn das stimmen würde, dass Monika arm ist, würde ich sie dennoch lieben«, fügte er hastig hinzu.

»Klaus ist eifersüchtig«, wiederholte Pfarrer Trenker geduldig. »Er war viele Jahre der wichtigste Mensch an deiner Seite, dann hast du Carola kennengelernt, und die Beziehung ist schmerzhaft gescheitert. Schmerzhaft auch für ihn, der schon auf eine neue Mutter gehofft hatte. Jetzt habt ihr beide einige Jahre alles gemeinsam bewirtschaftet, und schon bringst wieder eine neue Frau daher, noch dazu eine mit Tochter. Da musst dich net wundern, wenn er rebelliert.«

»So hab’ ich das noch gar net gesehen«, räumte Paul Anstätter ein. »Aber da könnten S’ wirklich recht haben. Ich werde mir meinen Sohn noch einmal vornehmen und ein ernstes Wörterl mit ihm reden.«

»Erzähl doch noch ein bissel von deinen beiden Frauen.«

Paul lächelte versonnen vor sich hin. »Beide sind wunderbare Menschen. Martina hab’ ich freilich erst einmal gesehen. Aber Monika hat mir schon viel von ihr erzählt. Sie arbeitet als freiberufliche Webdesignerin und ist schon recht erfolgreich. Meine Monika ist in der Altenpflege tätig. Sie ist so ein lieber, herzlicher Mensch. Ich kann es gar net mehr abwarten, bis sie endlich die Frau an meiner Seite ist. Dieses Mal soll es für immer sein.«

»Da kann ich dich gut verstehen, und ich halt dir auch die Daumen, dass du endlich die richtige Wahl getroffen hast. Glaubst denn, Monika wird es hier bei uns aushalten? Immerhin sind die beiden aus München, und wir leben hier auf dem Land. Auch wenn inzwischen der Tourismus bei uns seinen Einzug gehalten hat, ist es doch net so wie in einer Großstadt«, gab Sebastian zu bedenken.

»Moni stammt aus Südtirol. Sie ist eine Bauerntochter und mit allen Arbeiten vertraut. Wenn sie einverstanden ist, dann will ich zum nächsten Jahr hin doch noch das große Gästehaus bauen, damit wir alle genug zu tun haben. Vielleicht bleibt ja dann auch Martina bei uns, und mein ewiger Traum von der Großfamilie geht doch noch in Erfüllung.« Man konnte Paul ansehen, wie glücklich er jetzt wieder war.

»Das kann Martina bestimmt«, meinte der Pfarrer. »Wenn sie freiberuflich arbeitet, ist es eigentlich egal, wo ihr Büro ist. Oder net?«

»Ich denk schon.« Die beiden Männer prosteten sich zu, und Pauls Welt war wieder in Ordnung. Er wusste schon, warum er seine Probleme am liebsten mit Sebastian Trenker besprach.

*

»Es könnte so schön sein«, seufzte die junge Frau auf dem Beifahrersitz des schon etwas älteren Autos, das gemächlich die Landstraße dahinzuckelte. »Ich wär jetzt lieber auf Urlaubstour mit dir, vielleicht sogar unterwegs nach Südtirol zu Onkel und Tante, dann würde ich jetzt vorschlagen, wir steuern das nächste Gasthaus an und machen erstmal Pause.« Sie strich sich durch das seidig schimmernde Blondhaar, das bis weit über ihre Schultern reichte. Es war deutlich, dass sie etwas bedrückte.

»Das kommt auch wieder, Schatz«, antwortete die ein wenig älter aussehende Frau schmunzelnd. »Zuerst haben wir aber etwas anderes vor. Sei net immer so skeptisch, Tina. Ich bin alt genug, um zu wissen, was ich tue.«

»Das klingt ja geradezu, als wolltest du einen geschäftlichen Vertrag schließen. Nein, Mutti, ich kann mir net vorstellen, dass du in dein großes Glück fährst.« Zweifelnd schaute Martina zu ihrer Mutter, deren Profil noch immer wie das einer jungen Frau wirkte. Ihre Mitte vierzig konnte man ihr jedenfalls nicht ansehen. Manchmal wurden sie sogar für Schwes­tern gehalten, wenn sie zusammen auftraten.

Bei der Vorstellung musste Tina doch lächeln. Sie dachte an die ers­te Begegnung mit Paul Anstätter, rein zufällig bei einer Ausstellung, bei der sich die Mutter und ihr Freund aus Jugendtagen nach vielen Jahren mal wieder begegnet waren. Paul war so verblüfft gewesen, hatte noch gesagt, er hätte gar nicht gewusst, dass Monika eine jüngere Schwester gehabt hätte. Die Mutter hatte da­rauf geantwortet, dass es nur eine noch ältere Schwester gab und diese auf dem Hof in Südtirol lebte mit einer großen Familie.

»Was ist, Schatz? Darf ich mitlachen?« Monika Berger freute sich unbändig auf ihr neues Leben an der Seite von Paul Anstätter, des Mannes, den sie über alles liebte. Ihre einzigen Sorgen galten lediglich ihrer Tochter Martina und auch Pauls Sohn, Klaus, der dieser Verbindung anscheinend auch mit gemischten Gefühlen entgegensah.

Doch jede Schwierigkeit ist dazu da, dass man sie meistert, sagte sich Monika immer wieder. So hatte sie auch die schwere Zeit seit dem Unfalltod ihres Mannes gemeistert.

»Ich musste nur an euer erstes Treffen denken«, antwortete Tina. »Das war ja offensichtlich Liebe auf den ersten Blick. Ich wundere mich nur, dass es nicht damals schon gefunkt hat, als ihr noch in Südtirol gelebt habt. Ihr wart doch Nachbarskinder, wenn ich dich richtig verstanden hab’.«

»Ja, Paul war immer so still, wir alle haben uns gewundert, als er plötzlich mit einem Madl dahergekommen ist, einer Bauerntochter aus St. Johann. Seinem jüngeren Bruder Karl war das gerade recht. Er hat Paul ausbezahlt und den elterlichen Hof übernommen. Paul investierte sein Erbe in das Anwesen seiner Frau, und es scheint gut funktioniert zu haben. Leider ist Anneliese nur wenige Jahre nach der Geburt ihres Sohnes an einer schweren Krankheit gestorben.«

»Dann hat er diese Carola kennengelernt.«

»Die traf er erst einige Jahre nach Annelieses Tod«, antwortete Monika Berger. »Aber diese Beziehung ging von Anfang an nicht. Sie waren wohl sehr verliebt und lebten wie im siebten Himmel, doch für Carola sollte das ganze Leben ein einziges Fest sein. Carola glaubte, Paul würde sie immer auf Händen tragen, mit ihr reisen und genießen. Dass zum täglichen Leben auch Arbeit gehört, auf diese Idee kam Carola wohl net.«

»Deshalb haben sie sich auch wieder getrennt, kurz vor der schon geplanten Hochzeit«, überlegte Martina halblaut vor sich hin. »Drum prüfe, wer sich ewig bindet«, witzelte sie und lachte.

»Mit Paul und mir wird es für die Ewigkeit sein«, antwortete ihre Mutter ernst.

Dann lenkte sie ab: »Schau dir nur diese wundervolle Gegend an. Dabei sind wir gerade mal zwei Stunden unterwegs. München und St. Johann sind also gar net so weit auseinander.«

»Das hab’ ich mir schon genau auf der Karte angeschaut. Je näher wir deiner neuen Heimat kommen, desto mulmiger wird mir zumute. Ich bin froh, dass ich meine kleine Wohnung in Starnberg noch behalten hab’. So kann ich notfalls flüchten, falls es mir in St. Johann net gefällt.«

»Es wird dir gefallen, davon bin ich überzeugt. Schau, da steht schon St. Johann, elf Kilometer noch. Wir sind gleich da.« Monika wurde sichtlich aufgeregter. Immer wieder strich sie sich ihr dunkelblondes Haar zurecht, das sie im Nacken mit einem roten Band zusammengefasst hatte.

»Ganz tief durchatmen, Mutsch. Noch hast du net unterschrieben. Es gibt immer noch den Weg zurück.« Martina glaubte, die Mutter mit diesen Worten beruhigen zu müssen, in Wirklichkeit aber sagte sie sie mehr zu sich selbst. Die Vorstellung, nicht nur einen Stiefvater, sondern gleich auch einen erwachsenen Stiefbruder zu bekommen, verursachte ihr etwas mehr als Magengrimmen.

»Wir sind da.« Nach einer Weile, die sie schweigend verbracht hatten, fuhr Monika vor dem schönen Bauernhaus vor. Ein großer Balkon, mindestens zehn Meter lang, aus dunkel gebeiztem Holz, war über und über voll dunkelroter Geranien, die ihre Schönheit üppig verschenkten.

Tina stieg aus und blieb neben der Autotür stehen, bereit, gleich wieder einzusteigen, wenn es ihr nicht gefiel. Aber in ihrem Innern merkte sie, dass es ihr gefiel, zumindest von der äußeren Ansicht her. Ein Gefühl, als würde sie heimkommen, regte sich in ihr.

»Nun, was sagst du?« Monika hatte den Hof zwar schon auf Bildern gesehen, aber so wunderschön hatte sie sich alles doch nicht vorgestellt. »Ich glaube, hier werde ich mich wohlfühlen.« Sie schaute sich um, hoffte, dass Paul gleich auf sie zustürmen und in die Arme schließen würde.

Das jedoch geschah nicht. Ein junger, gut aussehender Mann tauchte aus der links vom Haus stehenden Scheune auf und schaute den beiden Frauen ernst entgegen.

Man konnte ihm ansehen, dass er zwar wusste, wer die Besucher waren, dass er aber für sich noch nicht so richtig entschieden hatte, ob er freundlich oder abweisend sein sollte.

»Ich bin Klaus.« Er streckte Monika die Hand hin. »Und Sie sind die Frau, die mein Vater in drei Wochen heiraten will.« Die Ablehnung in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Haben Sie sich das gut überlegt? Bei uns ist es ziemlich einsam, und auf dem Land leben muss man gewöhnt sein.«

Monikas Lächeln erlosch. »Danke für den herzlichen Empfang. Ist Ihr Vater auch da?«

Klaus nickte. »Er kommt sofort, telefoniert nur noch mit einem Lieferanten.« Er wandte sich Martina zu. »Und du willst meine Schwester werden?« Sein Lächeln hatte etwas Zynisches, als er sie von oben bis unten musterte.

»Wer sagt da was von wollen?«, fragte Tina schnippisch zurück. Ihre schönen blauen Augen waren dunkel geworden. Zorn stieg in ihr auf. Alle die schlimmen Bilder, die sie sich während der Fahrt ausgemalt hatte, schienen sich nicht nur zu bewahrheiten, sondern sich auch noch zu verselbstständigen. Anscheinend war es noch schlimmer als befürchtet.

»Ich will nur die Hochzeit meiner Mutter abwarten, und dann gehe ich zurück nach Starnberg. Also keine Angst, ich werde Ihnen den Platz net streitig machen.« Aus Protest übersah sie beflissen die vertraute Anrede.

»So zornig? Das schadet deiner Schönheit, liebes Schwesterl.« Klaus wurde immer ironischer. Er ärgerte sich über sich selbst, denn er merkte, dass die Fremde ihm auf Anhieb ziemlich sympathisch war. So etwas durfte ihm nicht passieren. Seit er von der bevorstehenden Heirat seines Vaters erfahren hatte, war er dabei, sich gegen jede Freundlichkeit von der verhassten Seite zu wappnen.

Tina jedoch hatte beschlossen, sich von dem Bauernsohn nicht provozieren zu lassen. Kühl lächelnd zuckte sie die Schultern. »Ich werde schon auf meine Schönheit aufpassen. Da brauch ich net so einen ungehobelten Klotz von Bauernsohn, der mir sagt, was mir schadet.« Ohne auf seine Reaktion zu warten, ging sie ein paar Schritte vom Haus weg.

Monika hatte ziemlich verwirrt die Auseinandersetzung von Tochter und künftigem Stiefsohn mit angehört. Es war offensichtlich, dass ihre Träume von einem trauten Heim sich so wohl nicht bewahrheiteten.

Erleichtert lief sie auf Paul zu, der gerade aus dem Haus gelaufen kam. »Entschuldige, Schatzerl, ich war noch am Telefon, hab’ aber so schnell wie möglich abgebrochen. Ihr habt euch schon mit Klaus bekannt gemacht?«

»Das kann man wohl sagen«, antwortete Monika und wartete darauf, dass er sie umarmte, was er auch sofort tat. »Sie haben sich gleich gestritten. Das wird keine Freundschaft mit den beiden«, flüsterte sie ihm so leise ins Ohr, dass niemand sonst es hören konnte.

»Wie meinst das, Schatzerl?«, flüsterte Paul zurück. »Heißt das womöglich, dass du mich jetzt nimmer heiraten kannst, weil unsere Kinder sich net auf Anhieb so gut verstehen wie wir?« Er hielt sie noch immer innig in seinen Armen.

»Nein, natürlich net. Vielleicht fügt sich mit der Zeit alles von selbst. Darauf will ich hoffen.«

»Lass uns erst einmal auf Hochzeitsreise gehen«, fuhr er leise fort. »Wenn die beiden erst aufeinander angewiesen sind, wird es sich entscheiden, ob sie net doch noch Freunde werden können. Diese Zeit müssen wir halt abwarten.« Er hielt sie im Arm, als wollte er sie für alle Zeiten auf diese Weise beschützen.

»Welch ein Liebesglück«, spöttelte Klaus und starrte auf seinen Vater. »Sag bloß, du findest das Verhalten der beiden net peinlich.« Er wandte sich an Martina, die ebenfalls ein wenig neidisch der Mutter und ihrem Verlobten zugeschaut hatte.

»Warum denn?«, fragte sie gleichmütig zurück. Sie wollte ihm ihre Gefühle nicht preisgeben, wollte ihm nicht zeigen, dass sie sich für sich selbst ebenfalls so eine Liebe wünschte, in der sie sich so geborgen fühlen konnte. »Meine Mutter hat es verdient, dass sie endlich glücklich wird. Bei deinem Vater kann ich das net sagen, da ich ihn net kenne.«

»Du wirst ihn schon noch kennenlernen«, sagte Klaus. »Und mich auch, das darfst mir glauben.«

Es klang wie eine Drohung.

»Ich glaub’s dir«, antwortete Tina. Über ihren Rücken lief eine Gänsehaut.

*

Das Zimmer, das Paul Anstätter ihr zugewiesen hatte, war hell und freundlich eingerichtet. Ein breites Bett stand an der linken Wand hinter der Tür, und gegenüber der Tür war ein großes Fenster, das um diese Jahreszeit die Morgensonne ungehindert einließ.

Nach dem Abendessen, das sie gemeinsam eingenommen hatten, war sie etwas frustriert und ziemlich müde nach oben gegangen. Sie wollte nur noch allein sein und über alles in Ruhe nachdenken können.

Doch dazu kam es nicht mehr. Kaum zehn Minuten, nachdem sie sich ausgezogen und ins Bett gelegt hatte, war sie auch schon eingeschlafen. Das Buch, in dem sie noch versucht hatte zu lesen, fiel zu Boden, aber auch das hörte sie nicht mehr.

Als sie am nächsten Morgen schon ziemlich früh die ersten Sonnenstrahlen an der Nase kitzelten, öffnete sie die Augen. Im ersten Moment nahm sie kaum etwas wahr, war noch zu gefangen in ihrem letzten Traum. Alles war verworren gewesen, deshalb konnte sie sich auch nicht gleich zurechtfinden.

Erschrocken richtete sich Tina auf. Ihre langen blonden Haare, die weit über ihre schmalen Schultern fielen, kringelten sich in weichen Locken ineinander, dass sie aussah wie ein Engel.

Doch das wusste die junge Frau natürlich nicht. Ihre Gedanken gingen in eine ganz andere Richtung. Nach und nach fiel ihr nämlich wieder ein, wo sie sich befand und zu welchem Zweck. Ein unangenehmes Gefühl beschlich sie, obwohl es dafür eigentlich gar keinen besonderen Grund gab. Lediglich die Abneigung ihres künftigen Stiefbruders störte sie etwas, aber doch gewiss nicht so sehr, dass es ihr bei dem Gedanken, ihm gleich wieder begegnen zu müssen, den Appetit verdarb.

Eine Viertelstunde blieb Martina noch im Bett liegen, reckte und streckte sich und versuchte dabei, ihre Gedanken zu ordnen und zu sammeln. Drei Wochen waren es bis zur Hochzeit ihrer Mutter. So lange musste sie gute Miene zum bösen Spiel machen, denn sie wollte ihr nicht den schönsten Tag verderben. Die Mutter hatte es verdient, glücklich zu werden.

Nach einer Weile stieg sie entschlossen aus dem Bett und lief barfuß in das angrenzende kleine Bad. Die Spiegelleuchte flammte auf, denn in diesem Raum war kein Fenster. Dennoch wirkte alles sauber und glänzend und vor allem hell und freundlich.

Martina stand vor dem Spiegel und betrachtete sich. Die auffallend blauen Augen sahen etwas müde aus, und die langen blonden Haare waren noch wirr von der Nacht. Dennoch wußte sie, dass sie mit wenigen Handgriffen ihr Bild so würde verändern können, dass sie zufrieden mit sich sein konnte. Es war das Vorrecht ihrer Jugend, auch nach einer nicht so guten Nacht noch frisch auszusehen.

Rasch schlüpfte sie in ihren bunten Sommerrock, der locker ihre schlanken Beine umspielte, und wählte dazu ein einfarbig hellblaues Sommershirt, das ihre blonden Haare bestens zur Geltung brachte. Ein letzter Blick noch in den Spiegel, dann verließ sie ihr Zimmer.

Jetzt sah sie erst, wie geschmackvoll das ganze Haus eingerichtet war. Ein richtiges Bauernhaus hatte sie sich etwas anders vorgestellt, einfacher und vielleicht auch ein wenig ärmlich. Dieses Haus hier jedoch strahlte eine Ruhe aus, eine gepflegte Bescheidenheit, die man sich nur leis­ten konnte, wenn man beim Einkaufen nicht nach dem Preis fragen musste.

Ein dicker Teppich, der den ganzen Flur des oberen Stockwerks bedeckte, schluckte jedes Geräusch, und an den Wänden hingen Bilder, denen man ansehen konnte, dass es Originale waren, zwar keine bekannten, aber eben doch Originale.

Martina fand problemlos die Küche. Der Duft nach frischem Kaffee wies ihr den Weg, so dass sie gar nicht fehl gehen konnte. Die Tür war nur angelehnt, und anscheinend befanden sich bis jetzt nur Vater und Sohn beim Frühstück.

»… das hatte ich dir nicht geglaubt, Vater. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass du deine Drohung wahr machen könntest«, schnappte Martina als Gesprächsfetzen auf.

Sie blieb wie angewurzelt stehen. Ihr fröhliches »guten Morgen« blieb ihr im Halse stecken. Es war für sie offensichtlich, dass die beiden Männer über sie, Martina, und über ihre Mutter sprachen.

Obwohl es gegen ihre Natur war, blieb sie stehen und lauschte. Doch die Männer schwiegen kurz. Dann hörte sie wieder

Pauls Stimme, die etwas bedrückt klang.

»… im Grunde geht es dich doch gar nix an, Klaus. Du bist erwachsen und hast bald dein eigenes Leben. Ich will net allein zurückbleiben als der alte Zausel vom Berg. Noch bin ich jung genug, um für eine eigene Familie sorgen zu können. Das heißt aber net, dass du nimmer zu meiner Familie gehören wirst. Du bist mein Sohn, und es ist mir sehr wichtig, dass du mit meiner Entscheidung einverstanden bist.«

»Wenn ich net einverstanden bin, dann schickst sie weg? Sag, Vater, schickst sie dann weg, wo ich dir doch so wichtig bin?«

In der Küche war es jetzt mit einem Mal so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können.

»Nie und nimmer, Bub. Es tut mir leid. Glaub mir, das würde mir verdammt schwer fallen, aber ich hab’ sie so lieb, und ich werde mir von niemandem mein Glück nehmen lassen.« Die Stimme des Anstätterbauern klang sanft und doch unendlich entschlossen. »Bitte, denk nach, und dann lass uns in ein paar Tagen noch einmal reden. Ich bin sicher, wenn du Monika und auch Tina erst besser kennengelernt hast, wirst nimmer so reden.« Die Stimme des Bauern klang hart und entschlossen, aber gleichzeitig auch irgendwie verzweifelt.

Martina spürte das Klopfen ihres Herzens bis zum Hals hoch. Was sollte sie tun? Gleich würde Kreszentia, die Hausmagd, mit einer weiteren Kanne Kaffee kommen und sie erwischen, malte sie sich aus. Bei diesem Gedanken wurde ihr so übel, dass sie einfach handelte, ohne weiter nachzudenken. Sie trat ein paar Schritte zurück und kam dann noch einmal so lautstark, dass sie nicht zu überhören war. Dann klopfte sie an die Zimmertür und trat ein.

Vater und Sohn saßen am Frühstückstisch, beide hatten ihren Blick auf die Eintretende gerichtet. »Guten Morgen, Martina.« Der ältere der beiden Männer fass­te sich zuerst. »Bist schon länger herunten?«

»Gerade bin ich gekommen«, antwortete Martina. »Also erst einmal einen guten Morgen.« Sie bemühte sich, freundlich zu sein, obwohl sie den beiden Männern am liebsten ins Gesicht geschleudert hätte, dass sie den wichtigs­ten Teil der Unterhaltung mehr oder weniger unfreiwillig mit angehört hatte.

»Guten Morgen, Madl. Ich hoffe, du hast gut geschlafen. Hast dir deinen Traum gemerkt?« Paul Anstätter redete und redete, als gelte es, Kopf und Kragen zu retten. »Das, was man zum ersten Mal in der neuen Heimat träumt, wird in Erfüllung gehen.«

»Oh, das lieber net«, entfuhr es der jungen Frau. Sie warf Klaus einen ärgerlichen Seitenblick zu. »Ich hab’ nämlich geträumt, dass dein Sohn und ich gestritten haben und dass ich als Verlierer aus dieser Auseinandersetzung he­rausgegangen bin. Das kann ich ja überhaupt net leiden.« Eigentlich sollte das ein Scherz sein, aber in ihrem tiefsten Innern wusste Martina, dass jedes Wort der Wahrheit entsprach. Irgendetwas war an diesem Bauernsohn, das ihr dauernd den Zorn ins Herz und die Tränen in die Augen trieb.

Klaus zog die Augenbrauen hoch. Er versuchte ein Grinsen, das jedoch irgendwie schief wirkte. »Setz dich doch, Schwesterherz. Der Kaffee kommt gleich. Wo bleibt eigentlich meine künftige Stiefmutter?« Der Spott in seiner Stimme war unüberhörbar.

»Sei still, Klaus. Ich hab’ dir gesagt, dass ich dein Verhalten net dulde. Entweder du…«

»Ich bin ja schon still, Vater. Verzeihung«, fügte er hastig hinzu, an Martina gewandt. »Soll ich dir eine Semmel mit Butter bestreichen? Magst du Honig?« Verbindlich lächelte er sie an, als würde es den Zwist zwischen ihnen gar nicht geben.

»Guten Morgen allerseits.« Frisch wie der junge Frühling betrat Monika das Zimmer. »Warum hat mich niemand geweckt? Ich hoffe, ich bin noch net zu spät zum Frühstück.«

»Bist du net, Schatzerl.« Sofort sprang Paul auf, um sie mit einem liebevollen Kuß zu begrüßen. »Schön schaust aus heute früh. Ich wollte euch beide ausschlafen lassen, immerhin hattet ihr ges­tern einen ziemlich anstrengenden und aufregenden Tag. Und da heut auch keine besonderen Arbeiten anliegen, haben Klaus und ich beschlossen, dass wir es auch einmal langsamer angehen lassen. Wir wollen euch ein bissel die Umgebung zeigen, unser Land, auf dem ihr ab jetzt auch leben werdet.« Stolz schwang in seiner tiefen Stimme mit.

Überhaupt war Pauls Stimme etwas, das Monika schon immer fasziniert hatte. Sie war dunkel und samtweich, ebenso wie seine dichten Haare, die gut zu den eisblauen Augen passten. Ja, Paul war ein besonderer Mann, und Monika konnte noch immer nicht glauben, dass sie bald die rechtmäßige Frau an seiner Seite sein würde.

»Ich bin gleich fertig mit frühstücken«, meinte Monika. »Eine Tasse Kaffee genügt mir.«

*

Zwei Wochen waren genug für Tina, um zu erkennen, dass sie auf dem Anstätterhof ihre Heimat gefunden hatte. Nur einen Wermutstropfen gab es, und der hieß Klaus Anstätter. Anfangs hatte sich Tina noch um eine gute Stimmung bemüht, indem sie geflissentlich seine Anspielungen einfach überhört hatte. Inzwischen aber hatte sie gegen den zukünftigen Stiefbruder so eine Abneigung entwickelt, dass sie es meist nicht einmal mehr ertragen konnte, mit ihm an einem Tisch zu sitzen.

Doch auch Klaus hatte es zur Zeit nicht besonders leicht mit seinem neuen Leben. In seinem Kopf hatte nichts anderes mehr Platz als der Gedanke an die junge Frau, die mit einem desinteressierten Lächeln über all seine Kampfansagen hinweg ging.

Was sollte er nur tun? Seine wunderbare, vertraute und ruhige Welt gab es nicht mehr. Jetzt herrschte das Chaos auf dem Hof. Und die Ursache seiner Verzweiflung lief lächelnd durch die Gegend und hatte den Vater bereits fest im Griff.

Tina ahnte von den verzweifelten Gedanken ihres Gegners nichts. Sie saß an diesem Morgen vor dem Haus in der Sonne und träumte vor sich hin. Die vergangenen Jahre ihres Lebens zogen noch einmal an ihrem geistigen Auge vorbei, und sie stellte insgeheim bei sich fest, dass sie sich schon lange nicht mehr so wohl gefühlt hatte. Bei dem Gedanken an Klaus musste sie sogar ein wenig lächeln, denn wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst war, musste sie sich eingestehen, dass der junge Rebell ihr nicht unsympathisch war.

»Stör ich dich, Martina?«

Eine freundliche Männerstimme holte sie aus ihren Träumen. Erschrocken schaute sie auf und direkt in zwei helle Männeraugen, die sie jetzt freundlich mus­terten. »Paul, ich… nein, du hast mich net erschreckt«, stammelte sie und fühlte sich ertappt wie ein Schulkind, obwohl sie nichts Verbotenes getan hatte.

»Ich wollte etwas mit dir besprechen, Martina.«

»Schieß los, Paul«, tat sie burschikos. »Ist es wegen Klaus? Ich weiß, dass er mich net leiden kann. Soll ich gehen? Ich hab’ in Starnberg noch meine kleine Wohnung. Es ist also kein Prob­lem.«

»Red net so einen Unsinn daher.« Das Lächeln im Gesicht des Mannes war verschwunden. Etwas umständlich setzte er sich zu ihr auf die Bank. »Ich hab’ mit Monika geredet, und sie meinte, das müsse ich allein mit dir bereden.«

»Es geht doch um unser schlechtes Verhältnis, oder? Hat Klaus sich bei dir beschwert? Ich will ihm ganz gewiss net die Heimat nehmen. Er war zuerst da, und ich werde das Feld schnellstmöglich wieder räumen. Nur ab und zu Urlaub möchte ich schon bei meiner Mutter machen dürfen. Aber da wird dein Sohn hoffentlich…«

»Bist net endlich still, Madl?«, fuhr der Bauer auf, beruhigte sich jedoch gleich wieder. »Du bist wie deine Mutter. Würde ich Monika net so lieb haben, dann würde ich extra einen Knopf bei ihr einbauen lassen, mit dem man ihren Redefluss immer mal wieder für eine Weile abschalten kann.«

In seinen Worten lag so eine innige Liebe, dass Martina plötzlich Tränen in die Augen stiegen. Hastig schaute sie zur Seite, bis sie wieder richtig sehen konnte. »Entschuldige bitte. Was ist es dann?«

»Unser altes Gästehaus ist zu klein für den Ansturm, den wir seit letztem Jahr haben. Auch für dieses Jahr sind mehr Anfragen eingegangen, als wir erfüllen konnten. Deshalb hab’ ich mit deiner Mutter besprochen, dass wir so schnell wie möglich noch ein zweites Gästehaus bauen wollen.«

»Klingt sehr gut. Dann habt ihr eine Menge Arbeit vor euch.« Leises Bedauern schwang in ihrer Stimme mit. »Schade, dass ich dann nimmer hier sein werde.« In Gedanken verloren ließ Tina ihren Blick über die mächtige Bergwelt schweifen, die schneebedeckten Zwillingsgipfel, die von hier aus besonders gut zu sehen waren.

»Wer sagt das?«

Verständnislos blickte die junge Frau Paul an. »Was meinst du denn?«

»Wer sagt, dass du dann nimmer hier sein wirst?«

»Ich red doch die ganze Zeit nix anderes.«

»Ehrlich gestanden hab’ ich deinen Worten keine so große Bedeutung beigemessen. Außerdem war auf dem Feld so viel zu tun, dass ich kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Warum willst denn net bleiben, Tinchen?« In seiner Stimme lag eine sanfte Wärme.

»Hab’ ich dir doch gesagt. Dein Sohn kann mich net leiden«, antwortete sie leise. »Bitte, versteh das net falsch, ich will Klaus net anklagen. Er gehört hierher auf den Hof, ich bin ein Eindringling. Ich kann ihn sogar verstehen. Er verteidigt sein Territorium und die Liebe seines Vaters, die er net teilen will.«

»Siehst das alles net ein bissel zu theatralisch, Madl?«

Sie schüttelte den Kopf. »Bestimmt net. Klaus zeigt mir jeden Tag, wie sehr ihn meine Anwesenheit stört. Ich werde froh sein, wenn ihr endlich verheiratet seid, dass ich wieder gehen kann.«

»Danach sind wir noch fünf Wochen auf Hochzeitsreise. Es war doch abgemacht, dass du auch die Zeit noch hierbleibst, um Klaus bei der Arbeit zu helfen. Du hattest es selbst vorgeschlagen.«

»Da wusste ich noch net, was mich erwartet.«

»Ist es denn so schlimm bei uns?« Es fiel Paul sichtlich schwer, weiter über dieses Thema zu sprechen, denn er spürte in seinem Innern, dass der Widerstand allein von Klaus ausging und Tina an den dauernden Spannungen keine Schuld traf. Gleichzeitig wuss­te er auch, dass er seinen Sohn dafür nie anklagen durfte, um die Fronten nicht noch mehr zu verhärten.

»Ich bin sehr gern hier«, gab Martina leise zu.

»Das macht es mir leichter, dich zu fragen, ob du net vielleicht Lust hättest, deine Arbeit nach hier zu verlegen. Du hast auch in Starnberg dein Büro in deiner Wohnung. Also könntest du doch auch von hier aus arbeiten. Gleichzeitig biete ich dir noch einen Zusatzjob an, die Buchhaltung und die Werbung für unser neues Gästehaus. Über das Gehalt reden wir, wennst ja gesagt hast.« Erwartungsvoll schaute er sie an.

»Ist das dein Ernst?« Martina konnte fast nicht glauben, was sie eben gehört hatte. Das Angebot klang so verlockend, dass sie eigentlich gar nicht ablehnen konnte. Allein die Vorstellung, in Zukunft allein in Starnberg wohnen zu müssen, nicht einfach über die Straße zur Mutter gehen zu können auf einen kurzen Plausch, hatte ihr von Anfang an weh getan.

»Mit so etwas spaße ich net. Nun, wie schaut’s aus, Martina? Gehst auf meinen Vorschlag ein, dann werden wir in Zukunft eine große glückliche Familie sein.« Paul hatte bereits sein Siegerlächeln im Gesicht. Er war überzeugt davon, dass sie annehmen würde. Die Vorstellung, wie sehr sich Monika freuen würde, wenn er ihr sagte, dass sich ihr innigster Wunsch erfüllen würde, ließ sein Herz rascher pochen.

»Ich kann net. Wir alle wären keine glückliche Familie. Im Gegenteil, wir hätten dauernd nur Stress. Ich will deinem Sohn ganz bestimmt net den schwarzen Peter zuschieben, aber du musst doch gemerkt haben, dass zwischen ihm und mir immer nur heiße Funken sprühen, die jeden Moment ein Feuer anzünden können.« Martina bemühte sich, alles realistisch und ohne Glorienschein zu sehen, so gern sie das auch getan hätte.

»Dann machen wir es anders. Du bekommst von mir eine Probezeit von einem Monat, und im Gegenzug gibst du uns auch eine Probezeit von einem Monat. Wir versprechen uns, dass wir unsere ganze Kraft einsetzen werden, damit das Vorhaben gelingt.«

»Ab wann soll diese Probezeit laufen? Ich denke, in zwei Wochen ist Hochzeit, und dann seid ihr erst mal weg. Ich verspreche, dass ich versuchen werde, Klaus so lange zu helfen, wie er es zulässt, ohne mir die Augen auszukratzen«, versuchte sie einen Scherz.

»Das ist ein Wort.« Paul legte den linken Arm um ihren Schultern und drückte sie für einen Moment an sich. »Du bist deiner Mutter sehr ähnlich, Madl. Ich kann meinen Sohn net verstehen, dass er sich net gleich bei eurem ersten Treffen in dich verliebt hat.«

»Geh, red net so einen Unsinn daher, Paul. Das ist so wahrscheinlich wie Ostern im Januar. Außerdem will ich keinen Mann. Es genügt, dass meine Mutter wieder unter die Haube kommt. Ich werde mein ganzes Leben lang allein bleiben. Da muss ich mich wenigstens net ärgern oder mir Sorgen machen.«

»Dich will eh keiner.« Klaus war unbemerkt aus dem Haus gekommen und hatte Martinas letzte Worte noch mitbekommen. »So eine Klapperschlange wie dich will eh keiner«, wiederholte er seine Worte von eben und lachte dabei. Aber es war keine Fröhlichkeit in seiner Stimme, kein Lachen in seinen Augen, eher Zorn oder Eifersucht oder beides.

»Wie lang stehst schon hier?«, fragte Martina erschrocken.

»Lang genug, um euer Familienglück ein bissel mit genießen zu können.«

Martina sprang auf. »Ich hab’ es dir doch gesagt. Siehst es jetzt net selbst, Paul, dass alles keinen Sinn hat?« Sie musste ihre ganze Kraft aufwenden, um nicht in Tränen auszubrechen. Zornig drehte sie sich um, dass ihr langes Blondhaar über eine Schulter flog. »Gleich nach der Hochzeit werde ich von hier verschwinden.«

Paul sprang nun ebenfalls auf und wollte ihr folgen, doch Klaus hielt ihn am Arm fest. »Lass sie doch gehen, Vater. Je eher sie von hier verschwindet, desto besser.«

»Wie meinst das?« Zum ersten Mal verspürte Paul einen grenzenlosen Zorn auf seinen eigenen Sohn. »Soll ich Monika etwa auch wieder heimschicken, weil mein geliebter Herr Sohn etwas dagegen hat? Es wird nimmer lang dauern, dann suchst dir eine eigene Frau, und ich hock allein hier auf dem Hof. Oder ich darf vom Austrag aus euer junges Glück beobachten und mir dabei vorstellen, wie schön ich es mit Monika hätte haben können. Für wie alt hältst du mich eigentlich, Bub? Ich bin noch net einmal fünfzig, da ist man mit seinem Leben noch net am Ende. Und ich hab’ ganz gewiss net vor, mir den letzten Teil, der mir noch bleibt, von dir kaputt machen zu lassen, nur weil du net mit deiner Eifersucht klarkommst.«

»Vater…«

»Halt den Mund, jetzt bin ich dran. Ich hab’ dich geduldig gewähren lassen, hab’ Monika und Martina um Stillhalten gebeten, weil mein Sohn, diese Diva, mit der neuen Besetzung des Theaterspiels net klargekommen ist. Aber jetzt ist Schluss. Wir werden das neue Gästehaus bauen, und Martina bekommt darin eine kleine Wohnung. Ich hab’ es ihr eben angeboten. Sie hätte gern angenommen, das hab’ ich ihr angemerkt, aber dann meinte sie, dass es dir mit Sicherheit net recht wäre, wenn sie hierbleibt. Also hat sie abgelehnt.«

»Wie gescheit von ihr«, spöttelte Klaus. Doch sein Herz sprach eine andere Sprache, es tat auf einmal höllisch weh. Den Grund dafür kannte er nicht und er war auch nicht bereit, darüber nachzudenken. Noch nicht.

*

Ein harter Arbeitstag ging zu Ende. Paul Anstätter war stundenlang mit zweien seiner besten Knechte auf der Südwiese gewesen und hatte das zweite Heu für dieses Jahr eingebracht. Danach waren sie staubig und verschwitzt nach Hause zurückgekehrt.

In der Zwischenzeit hatte Monika mit der Zenz fürs Essen für die ganze Mannschaft gesorgt, während Tina versucht hatte, den abgestürzten Computer in Pauls Büro wieder zum Laufen zu bringen.

Jetzt endlich war Feierabend auf dem Anstätterhof. Die Knechte und Mägde hatten sich bereits ins Gesindehaus zurückgezogen, und Tina war gleich nach dem Abendessen zurück an Pauls Computer gegangen, der noch immer nicht so richtig wollte.

Monika stand in der Küche und spülte das letzte Geschirr, um es anschließend in den Schrank zu räumen. Sie drehte sich nicht einmal um, als jemand die große, geräumige Küche betrat. Erst als sie Hände auf ihren Schultern spürte, die sie vorsichtig zu massieren versuchten, glitt ein warmes Lächeln über ihr hübsches Gesicht.

»Gehen wir noch spazieren? Ich bin net müde, und ich hab’ Sehnsucht nach dir, Monilein. Kannst das ein bissel verstehen?« Er legte von hinten seine Wange an die ihre, was leicht möglich war, da er sie um mehr als einen Kopf überragte.

»Ich kann dich gut verstehen, denn mir geht es net anders. Und ich geh sehr gern mit dir. Lass mich nur noch das restliche Geschirr aufräumen, sonst muss ich es nach unserem Spaziergang machen.« Monika war, wie es gut auf einen Hof passte, unrettbar praktisch veranlagt.

Eilig verstaute sie Teller und Besteck in den dafür bestimmten Schränken, dann lief sie aus der Küche und nach oben in ihr Zimmer. Einen Moment lang dachte sie daran, dass sie es später, wenn sie nach der Hochzeit ins Schlafzimmer umgezogen war, als Arbeitsraum benützen konnte.

Es bedurfte nur weniger Handgriffe, bis Monika mit ihrem Aussehen einigermaßen zufrieden war. Ihre halblangen dunkelblonden Locken umschmeichelten ihr schmales, etwas blasses Gesicht, in dem die nachtschwarzen Augen, umrahmt von einem dunklen Wimpernkranz, besonders auffielen.

Fasziniert schaute Paul die Frau an, die in kaum mehr als einer Woche mit ihm vor dem Traualtar stehen würde. »Du bist so schön, Monika, dass ich dich am liebsten als Bild über meinem Bett hängen hätte.«

»Mich kann man net kopieren«, konterte die Frau sofort. »Mich kann man höchstens lieb haben oder hassen«, sagte sie und bot ihm ihre Lippen zum Kuss. »Wohin willst gehen?«

»Ich hab’ gedacht, ich zeig dir den Wasserfall drüben am Wendelstein. Den hast noch net gesehen. Das ist net so weit von hier, und eine Bank gibt es da auch.« Zärtlich schaute er ihr in die Augen, und dann streichelte er zart über ihre Wangen, ihre Schläfe und dann über ihren Hals.

Martina spürte kleine Schauer über ihren Rücken rieseln. Es war ein wundervolles Gefühl, das sie schon seit sehr vielen Jahren nicht mehr gehabt hatte. Fast war sie versucht zu glauben, dass dies alles, was sie in den letzten Wochen erlebt hatte, nur ein Traum gewesen war.

»Es ist kein Traum, Schatzerl«, flüsterte Paul in diesem Moment, als hätte er ihre geheimen Gedanken erraten. »Das muss ich mir immer wieder sagen, denn sonst fürchte ich, einfach aufzuwachen und du bist verschwunden.« Seine Lippen näherten sich den ihren, und dann küsste er sie zärtlich.

Es dämmerte bereits, als die beiden Liebenden Hand in Hand einen Bergweg hinaufgingen. Einzelne Vögel zwitscherten noch, doch deren Stimmen klangen bereits ein wenig verschlafen. Dann verstummten sie ganz.

»Herrlich ist es hier«, schwärmte Monika verträumt und griff nach dem Arm ihres Verlobten. Glücklich legte sie ihren Kopf an seine Schulter. »So möchte ich bis an mein Lebensende mit dir gehen«, sagte sie leise, während sie einen Fuß vor den anderen setzte.

»Bald sind wir da.« Paul blieb an einer Wegbiegung stehen. »Schau dir den Ausblick an. Von hier aus kannst du ganz St. Johann sehen. Siehst du die ersten Lichter, die sie bereits eingeschaltet haben? Aus dieser Entfernung könnte man glauben, es mit einer Spielzeugwelt zu tun zu haben. Ganz klein wird man da.«

Monika nickte zustimmend. »Es ist wohl richtig, wenn man ab und zu solche Gefühle hat«, sagte sie leise. »So wird man wenigs­tens net übermütig, wenn einen das Glück überrollt, so wie das im Augenblick mit uns geschieht. Es kann sich genauso schnell auch wieder ins Gegenteil verwandeln.« Sie war sehr ernst geworden.

»Da hast recht, Schatzerl. Man kann nix festhalten im Leben. Es kommt alles, wie es muss. Um so mehr hat man die Verpflichtung, den Augenblick zu genießen und für alles dankbar zu sein.« Er legte seinen Arm um ihre Schultern und drückte sie an sich.

»Weißt du, ich bin dem Himmel sehr dankbar, dass er uns über so viele Umwege zueinander geführt hat. Das hätten wir uns damals, als wir noch Kinder waren und zusammen in St. Vinzenz zur Schule gegangen sind, bestimmt net träumen lassen.« Monika redete leise, denn sie hatte plötzlich Angst, mit ihren Worten etwas zu zerstören, wenn sie sie zu laut aussprach.

»Du hast mir damals schon gefallen«, antwortete er, ohne sie loszulassen. »Aber du hattest ja nur Augen für euren Sommergast Manfred. Du hast ihn ja dann auch bald geheiratet und bist mit ihm nach München gezogen.« Obwohl er es nicht wollte, klang doch ein kleiner Vorwurf in seiner Stimme mit. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er nächtelang um ihr Elternhaus geschlichen war in der Hoffnung, sie vor ihrer Abreise noch einmal zu sprechen. Er hatte versuchen wollen, sie von diesem Vorhaben abzubringen. Aber es wäre wohl ohnehin schon zu spät gewesen.

»Du hast dann ja auch nimmer lang gewartet und dich in Anneliese verliebt, bist mit ihr nach St. Johann gezogen. Meine Mutter hat es mir später gesagt, als ich sie besuchte.« Sie lächelte kaum merklich vor sich hin.

»Anneliese war ein liebes Madl. Sie besuchte ihre Großtante, die im Sterben lag. Ich kannte die alte Frau flüchtig. Sie lebte schon lange in St. Vinzenz, war immer allein und hauste zurückgezogen auf einer Alm. Keiner von uns wusste, dass sie eine reiche Schriftstellerin war, die ein gutes Stück Land hier in St. Johann besaß. Anneliese sollte es erben, obwohl sie die Großtante noch nie zuvor gesehen hatte.«

»Und dann habt ihr euch verliebt.«

»Net gleich. Anneliese lernte ihre Großtante kennen, und sie mochte sie auf Anhieb. Über ein Vierteljahr blieb sie in St. Vinzenz. In dieser Zeit lernten wir uns näher kennen und verliebten uns. Als die alte Tante starb, war Anneliese im dritten Monat mit Klaus schwanger. Wir haben geheiratet und sind nach hier gezogen.«

»So genau hast du es mir noch nie erzählt. Deine Geschichte klingt fast wie ein Roman«, meinte Monika etwas betroffen. »Du hast Anneliese wirklich geliebt.«

»Ja, das hab’ ich«, stimmte Paul zu. »Aber Anneliese starb vor über zehn Jahren, und seitdem leb ich allein und ziemlich einsam.«

»Das stimmt so net. Du warst zwischenzeitlich noch einmal mit einer Frau zusammen, sogar mit ihr verlobt«, berichtigte sie ihn.

»Verlobt schon, aber eigentlich nur, weil wir uns beide net richtig kannten. Carola versprach sich von unserer Ehe viel Geld, schöne Reisen und möglichst wenig bis keine Arbeit. All diese Träume konnte ich ihr net erfüllen, denn ohne Arbeit kein Geld und keine Reisen. Aber das wollte sie net einsehen. Also haben wir uns nach zwei Verlobungsjahren wieder getrennt. Sie ging nach Berlin, hat inzwischen wieder einen Lebensgefährten, wie ich gehört hab’. Einen, der ein bissel mehr an den Hacken hat.«

Monika schmiegte sich innig an ihn. »Armer Klaus. Kein Wunder, dass er uns gegenüber so miss­trauisch ist. Ich glaub, es wird net gerade einfach sein, die Freundschaft deines Sohnes zu gewinnen. Er hält uns für Glücksritter, die es nur auf das Geld des Vaters abgesehen haben.«

»Ganz so schlimm wird es schon net sein«, versuchte er sie zu beruhigen. »Klaus wird schon bald einsehen, dass ihr beiden mein Glück vollkommen macht, und dass auch er davon profitieren kann, wenn er sich in die Gemeinschaft einfügt. Man muss ihm halt noch Zeit lassen.«

»Ich versprech dir, dass ich ihn net bedrängen werde. Ich mag Klaus, und ich hoffe, dass ich ihn irgendwann davon überzeugen kann, es net auf das Geld seines Vaters abgesehen zu haben. Das haben weder Martina noch ich nötig. Wir haben beide in all den Jahren viel gearbeitet und uns ebenfalls ein kleines Vermögen angespart. Die Wohnung in Starnberg gehört Martina, sie hat sie sogar schon ganz bezahlt.«

»Davon erzähl Klaus aber noch nix«, bat Paul. »Ich möchte, dass er euch unabhängig von allem Finanziellen lieben lernt, dass er sein Misstrauen besiegt und merkt, dass net alles im Leben mit Geld zu kaufen ist.«

»Du hast recht, Schatzerl. Was bekomme ich doch für einen klugen Mann.« Sie trat vor ihn und schaute ihm in die Augen. »Weißt du eigentlich, Paul Anstätter, dass ich dich unendlich lieb hab’?«

Er legte beide Handflächen an ihre Wangen. Langsam näherten sich seine Lippen den ihren. Sein Kuss war sanft und fordernd zugleich. Fest hielt er die Frau in seinen Armen, und am heftigen Pochen ihres Herzens konnte er erkennen, dass sie aufgeregt war wie ein junges Mädchen beim ers­ten Kuss.

Blutrot versank die Sonne hinter den Bergen. Der Himmel war klar, und bald würde er voller Sterne sein. In der Ferne konnte man das leise, gleichmäßige Rauschen des Wasserfalls hören wie einen kleinen Gruß aus der Ewigkeit.

*

Sebastian Trenker hatte sich an diesem Samstagabend mal wieder die Zeit genommen, seinen Freund Paul zu besuchen. Immerhin gab es noch eine Menge zu besprechen vor der Hochzeit am nächsten Wochenende.

»Nun willst du also einen dritten Versuch starten?«

»Ich war mit Carola nur verlobt«, antwortete Paul sofort. »Aber das wissen S’ doch, Hochwürden.«

»Das hab’ ich auch net gemeint«, antwortete der Pfarrer lächelnd. »Ich wollte damit sagen, dass diese Ehe unauflösbar ist. Diese Verbindung zählt jetzt – vor Gott und der Welt.«

Paul nickte. Die beiden Männer befanden sich allein in der guten Stube, denn Monika und ihre Tochter machten noch einen Spaziergang in den Feldern. »Ich hab’ ganz bestimmt net vor, noch einmal von vorne anzufangen. Diese Ehe wird auf jeden Fall meine letzte sein, das weiß ich ganz genau. Ich liebe Monika mindestens so sehr, wie ich meine erste Frau geliebt habe. Diese Ehe wurde durch Annelieses Tod beendet.«

Pfarrer Trenker nickte. »Ich weiß, kann mich noch gut an sie erinnern, auch wenn es schon so viele Jahre her ist. Sie war eine schöne und wahrhaft gutherzige Frau, ich mochte sie gern.« Er dachte an die Beerdigung. Es war ihm nicht leichtgefallen, die richtigen Worte zu finden damals, denn auch er war sehr traurig über diesen Verlust gewesen.

»Hat dein Sohn sich inzwischen etwas beruhigt?«

Der Bauer schüttelte den Kopf. »Ich hab’ im Gegenteil eher den Eindruck, es wird immer schlimmer mit Klaus.«

»Soll ich einmal mit ihm reden?«

»Danke für das Angebot, aber ich glaub net, dass das viel Sinn haben wird. Ich vertraue auf die Zeit. Er wird sich an die neue Familie gewöhnen und seine negative Meinung über sie berichtigen. Ich liebe Monika über alles, und auch Tina ist mir bereits ans Herz gewachsen, als wäre sie meine eigene Tochter.«

»Genau das wird es sein, Paul. Ich glaub gar net, dass Klaus Sorge hat wegen eures Vermögens. Er hat Angst, deine Liebe zu verlieren. Bis jetzt war er der einzige Mensch, dem du seit dem Tod seiner Mutter deine Liebe geschenkt hast. Jetzt sind da zwei Frauen, die eine ernstzunehmende Konkurrenz für ihn sind.« Sebastian Trenker trank einen Schluck Kaffee.

»Kann ich mir net vorstellen. Klaus ist ein erwachsener Mann, der bald eine eigene Familie gründen wird.«

»Klaus hat seine Mutter verloren zu einer Zeit, da er sie besonders gebraucht hätte«, gab Sebastian zu bedenken. »Vermutlich sitzt dieser Schock bei ihm tiefer als du denkst.«

Paul Anstätter schwieg eine ganze Zeitlang. Offensichtlich musste er über die Worte des Bergpfarrers nachdenken. »Vielleicht haben S’ recht«, räumte er nach einer Weile ein. »Nur weiß ich keinen Ausweg aus diesem Dilemma. Anneliese ist schon so lange tot, und ich will net bis an mein Lebensende allein bleiben. Die Verlobung mit Carola war ein Fehler, das hab’ ich bald gemerkt, aber Monika ist anders. Sie ist ein wunderbarer, herzlicher Mensch. Ein Leben ohne sie kann ich mir gar net mehr vorstellen.« Die Vorstellung, genau das könnte womöglich eintreten, machte Paul unruhig und besorgt.

»Ich wollte dich net noch zusätzlich belasten mit meinen Vermutungen«, versuchte Sebastian, ihn wieder zu beruhigen. »Aber ich denke, du musst dich auch in deinen Sohn einfühlen. Du hast die Pflicht, auch ihm gerecht zu werden. Das hat nix damit zu tun, dass ich deiner zukünftigen Frau misstraue. Im Gegenteil, ich bin sogar überzeugt davon, dass du mit ihr eine wirklich sehr gute Wahl getroffen hast.«

»Ich versteh schon, was Sie meinen«, versicherte Paul und füllte erneut beide Biergläser. »Der Beruf bringt Sie dazu, eine neutrale Position einzunehmen, mir den Ernst der Entscheidung für alle Beteiligten demonstrieren.«

Sebastian Trenker lachte leise. »Beruf ist gut gesagt«, meinte er. »Das ist wohl schon eher eine Berufung. Ich könnte nichts anderes tun als das, was ich mir ausgesucht hab’. Aber ich bin froh, dass wir endlich einmal so ausführlich geredet haben. Es lag mir schon eine ganze Weile auf dem Herzen, das mit deinem Klaus«, fügte er noch als Erklärung hinzu. Im Stillen nahm Sebastian sich vor, den jungen Anstätter anzusprechen, sobald sich eine günstige Gelegenheit dafür ergab.

Die beiden Männer unterhielten sich jetzt noch über den Ablauf der Hochzeitszeremonie, und Pfarrer Trenker versprach hoch und heilig, dass er auch an der anschließenden Feier auf dem Anstätterhof teilnehmen würde. Insgeheim sagte er hauptsächlich wegen Klaus zu, denn ganz waren seine Sorgen noch nicht vorbei. Und wenn es wirklich zu einer Auseinandersetzung kommen würde, dann wollte er dabei sein, um das Schlimmste zu verhindern.

Als es bereits dämmerte, machte sich Sebastian Trenker zu Fuß auf den Heimweg. Er war froh über die Bewegung, obwohl die Hitze des Tages noch auf Hof und Feldern lastete. Deshalb war er auch froh, dass manchmal ein kühles Lüftchen wehte, als er den Berg weiter hinunterging.

Paul Anstätter jedoch saß noch eine ganze Zeitlang am Tisch und dachte nach. Das, was der Bergpfarrer gesagt hatte, leuchtete ihm ein. Doch was er tun sollte, wuss­te er dennoch nicht.

*

Klaus fühlte sich etwas unbehaglich. Er war schon länger nicht auf dem Friedhof am Grab der Mutter gewesen. Aber heute zog es ihn wie magisch hin. Den ganzen Tag hatte er auf dem Feld gearbeitet und dabei versucht, seine Gedanken in die richtigen Bahnen zu lenken, doch es war ihm nicht geglückt.

Sein Verstand sagte ihm, dass er keinen Grund hatte zu rebellieren. Gleichzeitig jedoch nagte etwas an seinem Herzen, für das er keinen Namen hatte. Er nannte es Misstrauen, Vorsicht, aber in seinem Innern wusste er, dass es gerade das nicht war.

Es war ein heißer Tag gewesen, und auch jetzt, am Abend, stand die Luft unbeweglich, kein Windhauch erleichterte das Atmen und bewegte die staubigen Blätter der alten Eiche. Sogar die Vögel waren heute schon früh verstummt, obwohl es noch heller Tag war. Lediglich die Sonne stand schon tief über den Bergen, bereit, jeden Augenblick hinter ihnen zu versinken.

Um diese Tageszeit befand sich kein Besucher mehr auf dem Friedhof von St. Johann. Ungestört konnte Klaus bis zur Mauer gelangen, wo das Grab der Mutter neben einem Schlehenbusch lag. Obwohl er damals noch klein gewesen war, konnte er sich gut an ihre Beerdigung erinnern, bei der mehr als das halbe Dorf anwesend war.

Trauer erfüllte sein Herz, als er ihren Namen in dem fast schwarzen Grabstein las. Anneliese Anstätter. Gerade mal sechsunddreißig war sie geworden, dann hatte diese entsetzliche Krankheit sie innerhalb eines halben Jahres gnadenlos dahingerafft.

Traurige Gedanken gingen Klaus durch den Kopf, während er den Topf mit der dunkelrot blühenden Geranie inmitten des kleinen Beetes abstellte, die blecherne Kanne holte, sie mit Wasser aus dem Brunnen füllte und die schon etwas verwelkten Pflanzen begoß.

Nachdenklich stand er danach am Grab und versuchte, sich an das Gesicht der Mutter zu erinnern. Aber es war verschwunden, einfach aus dem Gedächtnis gelöscht. Das machte ihn so verzweifelt, dass ihm unvermittelt Tränen über die Wangen liefen.

»Was ist mit dir, Klaus?« Sebas­tian Trenker war unbemerkt neben ihn getreten. Er sah die Tränen und spürte, dass er mit dem jungen Mann reden musste. »Magst mir deinen Kummer anvertrauen?«

Klaus zuckte die Schultern. Has­tig wischte er sich das Gesicht ab. »Ich weiß selber net, was in mich gefahren ist. Vermutlich ist das meistens so, dass man nach einigen Jahren vergisst, wie ein Mensch ausgeschaut hat, wenn er net mehr präsent ist.«

»Du hast vergessen, wie deine Mutter ausgeschaut hat. Und das macht dich so unglücklich? Schau, das ist wirklich ein ganz normaler Ablauf. Die Seele versucht, trotz eines großen Verlusts weiterzuleben. Würde die Trauer im Herzen net mit der Zeit weniger, dann könnte der Mensch nie wieder die Sonne anschauen ohne diesen Schmerz im Herzen. Das ist aber net der Sinn des Lebens.« Noch immer lag die Hand des Pfarrers auf dem Arm des jungen Mannes.

Klaus dachte eine Weile nach, dann nickte er. »Da könnten S’ schon recht haben, Hochwürden«, sagte er zu dem älteren Mann. »Aber im Moment hätte ich meine Mutter so nötig wie schon lang net. Seit die beiden Frauen auf unserem Hof eingezogen sind, ist nix mehr, wie es war. Ich hab’ schon überlegt, ob ich das Feld räumen soll.«

»Wie meinst das?«

»Ich könnte mir in München oder in einer anderen Großstadt eine Arbeit suchen«, antwortete Klaus betont gleichgültig. »Dann hätten die beiden freie Bahn und könnten meinen Vater ausnehmen, solange er noch was hat.« Bitterkeit lag in seiner Stimme.

»Wie redest denn über deine künftige Familie?« Der Bergpfarrer spürte, dass jetzt entschiedene Worte nötig waren. »Ich hab’ beide schon kennengelernt. Du schätzt sie falsch ein. Ganz bestimmt sind sie net des Geldes wegen auf eurem Hof. Gönn deinem Vater doch das Glück. Er hat es wahrlich verdient.«

»Und was ist mit mir?«

»Siehst, jetzt redest endlich aus dem Herzen. Es geht dir net ums Geld, es geht dir um die Liebe deines Vaters, die du net teilen kannst. Aber das musst doch auch gar net. Gib euch allen eine Chance, schau dir die Geschichte an und dann entscheide, wie es weitergehen soll.«

»Sie haben keine Ahnung«, konterte der junge Mann. »Monika ist ja eine liebe Person, und eigentlich kann ich den Vater schon irgendwie verstehen. Nur kann ich net ertragen, dass er meine Mutter so schnell vergessen hat.«

»Aber geh, er hat sie doch net vergessen! Nach über zehn Jahren verliert die Trauer um den Verlust eines geliebten Menschen seinen Schmerz. Es bleibt eine Wehmut, die nie endet. Dennoch heißt das net, dass man sein Leben auch beenden muss. Gönn ihm doch seine Familie. Wie lang wird’s dauern, dann hast du auch deine Familie, und dein Vater bleibt allein zurück.«

»Das hat er auch gesagt.«

»Und er hat recht. Glaub mir, Klaus, es ist net in Ordnung, wenn du dich gegen ihn stellst. Das hat er net verdient. Jeder Mensch braucht ein bissel Liebe, einen anderen, der zu ihm gehört und zu ihm hält.«

»Na ja, das mit Carola zeigt ja wohl, dass das auch danebengehen kann«, wandte Klaus ein. Ein trauriger Blick streifte das Grab der Mutter. Doch zu seiner Überraschung merkte er, dass auch sein Schmerz mit einem Mal anders geworden war, sich während der Unterhaltung mit Sebastian Trenker verändert hatte.

»Wer sucht, kann verlieren. Wer net sucht, hat schon verloren. Daran musst immer denken. Wie würde es dir gefallen, wenn sich dein Vater auf dem Hof verkriechen und immer nur um deine Mutter trauern würde? Was hättest du davon?«

Klaus schwieg, offensichtlich dachte er noch immer nach. »Kann schon sein«, räumte er nach einer Weile ein. »Monika ist ja wirklich eine nette und dazu bildhübsche Person. Nur ihre Tochter…«

»Was ist mit Martina? Sie ist ein Madl aus der Stadt, und trotzdem hat sie sich in den Wochen, die sie hier lebt, schon recht gut dreingefunden. Sie geht einkaufen, redet mit den Leuten, und man hat das Gefühl, als hätte sie schon immer in St. Johann gelebt.«

»Merken S’, was ich meine?« Klaus war schon wieder voller Zorn. »Sie schmeichelt sich überall ein, alle mögen sie, und im Geheimen plant sie…«

»Geh, was plant sie denn?« Sebastian lachte leise vor sich hin. »Welche Möglichkeiten hat sie denn, etwas zu planen? Glaubst denn wirklich, sie will dich aus deinem Heim ekeln?« Er schaute Klaus forschend ins Gesicht. »Verliebt hast dich in sie, und das willst für dich net akzeptieren.«

»Ich und verliebt?« Klaus spürte, wie es ihm heiß ins Gesicht stieg vor Wut. Am liebsten hätte er den Mann vor sich in diesem Moment an den Schultern gepackt und einfach geschüttelt. »Ich glaub, das hier ist net der richtige Ort, um solche Dinge zu besprechen. Aber verliebt hab’ ich mich ganz gewiss net, net in eine aus der Stadt.«

»Ist schon recht«, murmelte Sebastian vor sich hin und schüttelte mit einem kaum merklichen Lächeln den Kopf. »Du musst selbst drauf kommen, was Sache ist. Aber steigere dich net in solch einen Unsinn hinein, der dir das Leben nur unnötig schwer macht. Hör auf meinen Rat.«

Klaus nickte geistesabwesend. »Schönen Abend auch noch«, murmelte er. Dann ging er mit raschen Schritten auf das Friedhofs­tor zu.

In seinem Innern rebellierte es gegen die Vermutung des Bergpfarrers. Er sollte sich in Martina verliebt haben! Dass er nicht lachte. Einen größeren Unsinn hatte er schon lange nicht mehr gehört. Ausgerechnet in diese berechnende Großstadtpflanze. »Eher blü­hen im November die Osterglocken«, sagte er leise vor sich hin. Und plötzlich musste er lachen, einfach so. Aber den Grund dafür kannte er nicht.

*

»Das hättest net gedacht, Schwesterchen, dass mein Vater dir hier einen roten Teppich ausrollen und eine gut bezahlte Arbeitsstelle anbieten würde, net wahr?« Der Spott tropfte nur so aus den Worten von Klaus Anstätter. »Mein Vater hatte schon immer ein mitleidiges Herz mit den Armen«, fügte der Mann noch hinzu, weil er das Gefühl hatte, seine Worte hätten Martina gar nicht erreicht.

»Lass mich zufrieden, Klaus. Ich will weder die Arbeit in dem geplanten Gästehaus noch will ich was von eurem Geld. Und damit du es gleich weißt, ich werde nach der Hochzeit sofort von hier verschwinden. Schau zu, wie du allein mit der vielen Arbeit fertig wirst. Auf mich brauchst jedenfalls net zu zählen.« Hastig wandte sich Martina ab und verließ wie von Furien gehetzt den Stall, wo sie eben das Federvieh hatte füttern wollen.

Verwundert blickte Klaus ihr nach. Eigentlich hatte er auf einen saftigen Streit gehofft, denn er liebte es, Martina aufzuregen und zur Verzweiflung zu bringen. Sie war wunderschön, wenn sie zornig war, und wenn es in ihren Augen dann feucht schimmerte, hatte er ein angenehmes Machtgefühl in der Magengegend.

So bösartig kannte Klaus sich gar nicht. Manchmal fragte er sich sogar, was denn in ihn gefahren war, dass er der Frau das Leben hier so sauer machte. Es war ganz gewiss Platz für alle auf dem Hof, und Arbeit gab es ebenfalls mehr als genug. Und dennoch kam er nicht dagegen an, er musste den Platzhirsch spielen und versuchen, alle anderen zu vertreiben.

Martina hatte jedenfalls genug. Keine Minute länger als unbedingt nötig wollte sie hierbleiben, wo sie nicht einmal mehr geduldet wurde. Verzweifelt hielt sie Ausschau nach der Mutter, doch ihre Augen waren tränenblind. Sie konnte kaum etwas von ihrer Umgebung sehen.

»Himmel, Tina, was ist denn? Du siehst aus, als müsstest du dich sofort mit hohem Fieber ins Bett legen. Dabei ist so ein schöner Abend. Paul und ich werden gleich noch einen Spaziergang nach einem harten Arbeitstag unternehmen.« Monika war unbemerkt aus der Dämmerung getreten und legte nun einen Arm um die Schultern ihrer Tochter. »Was hast denn, Kind? Du zitterst ja am ganzen Leib. Ist dir kalt? Ich glaub, ich bring dich erst einmal ins Bett. Und wenn es mit einer Wärmflasche net besser wird, dann holen wir den Doktor. Aber so kann es net weitergehen.« Besorgnis schwang in ihrer Stimme mit.

»Es geht schon, Mutterl«, antwortete Tina ausweichend, dann brach alles aus ihr heraus: »Ich wollte dir auch nur sagen, dass ich es auf diesem Hof keine Minute länger als unbedingt nötig aus­halten kann. Gleich wenn ihr

zur Hochzeitsreise aufgebrochen seid, werde ich zurückfahren nach Starnberg. Leider kann ich in diesem Punkt auch keine Rücksicht auf dich nehmen.«

»Du musst auf mich keine Rücksicht nehmen, Kind. Das hab’ ich nie von dir verlangt«, versuchte Monika, ihre aufgeregte Tochter zu beruhigen. »Aber magst du mir net sagen, was vorgefallen ist?«

»Es geht nur um Klaus, er kann mich net leiden, und ich merke jeden Tag, wie er sich mehr und mehr bemüht, mich von hier wegzuekeln. Jetzt hat er sein Ziel erreicht! Ich gehe, wenn die Feier vorbei ist.«

»Was hat er denn jetzt schon wieder angestellt?«

»Das kann ich dir gar net so genau sagen. Es sind seine Worte, seine Blicke. In seiner Gegenwart fühle ich mich net nur wie ein Eindringling, sondern auch gleich noch wie ein Erbschleicher, als hätte ich es auf sein Geld abgesehen. Was glaubt denn der, wer ich bin? Ich hab’ einen tollen Job, verdiene meinen Lebensunterhalt ganz alleine und muss net hier in der Einsamkeit von St. Johann versauern. Ich leb eh lieber in der Stadt.« Trotzig warf sie den Kopf zurück, dass ihre blonden Haare nur so flogen.

»Ja, das stimmt alles, und Klaus weiß das bestimmt. Weiß der Himmel, welcher Teufel ihn von Zeit zu Zeit reitet, dass er sich so daneben benimmt. Vielleicht solltest du ihn die nächsten Tage einfach mal ignorieren. Könnte sein, dass das mehr bringt, als wenn du auf seine Sticheleien eingehst.«

»Ich hab’ bereits alles versucht, hab’ rebelliert, bin ihm aus dem Weg gegangen, war nett zu ihm. Nichts! Mit dem Kerl ist einfach kein Auskommen. Er ist bös’, und daran wird sich auch nichts ändern, wenn ich noch irgendeine andere Taktik versuche. Ich hab’ die Nase voll. Er hat gewonnen, und ich gehe. Hoffentlich gibt er dir dann wenigstens Ruhe.« Tina atmete schwer vor innerer Erregung.

»An mir wird er sich die Zähne ausbeißen«, antwortete ihre Mutter lächelnd, dann blickte sie jemanden an, der hinter Tina stand, und nickte kurz. »Kann ich dich allein lassen, Liebes?«, fragte sie Tina dann.

Martina drehte sich um. Paul stand lächelnd da und beobachtete die beiden Frauen mit liebevollem Blick. »Sollen wir daheim bleiben?«, fragte er Monika mit einem besorgten Blick auf Tina.

»Sollen wir?«, fragte Monika ihre Tochter. »Wenn du willst, bleib ich bei dir, und wir setzen uns noch eine Weile auf die Bank vor dem Haus. Spazieren können wir auch später noch gehen, net wahr, Paul?«

Der Mann nickte. »Freilich, der Abend ist noch lang. Ich kann noch eine Weile in mein Büro und die Lieferscheine nachtragen.« Er hatte sich bereits wieder umgedreht.

»Nein, das muss net sein. Ich geh früh ins Bett, fühl mich net besonders. Geht nur.« Das stimmte zwar nicht ganz, aber Martina hatte natürlich gemerkt, wie sehr die Mutter sich auf die Stunden mit ihrem Verlobten gefreut hatte.

Sie umarmte die Mutter kurz und gab ihr einen liebevollen Kuss auf die Wange. Dann ging sie zur Tür und blieb einen Moment lang vor Paul stehen. »Mach sie glücklich, Paul. Mami hat es verdient. Und wenn du es nicht tust, dann…« Sie blickte ihn ernst an.

»Du kannst dich auf mich verlassen, Madl. Ich werde alles tun, damit sie glücklich ist. Und wennst mir erlaubst, auch dich in mein Herz schließen zu dürfen, dann machst mich zum glücklichsten Menschen, denn ich hab’ dich jetzt schon lieb gewonnen wie eine Tochter, die ich leider nie bekommen hab’.«

Martina schluckte, dann nickte sie. Antworten konnte sie nicht, sie spürte, wie Tränen in ihr aufstiegen. Noch ehe er weiterreden konnte, rannte sie an ihm vorbei und die Treppen zu ihrem Zimmer hinauf. Wenig später hörte man ihre Tür ins Schloss fallen.

Bedrückt trat Paul zu seiner zukünftigen Frau und legte beide Hände an ihre Schultern. Voll inniger Liebe schaute er sie an. »Ist die ganze Aufregung wieder wegen Klaus?«, fragte er besorgt.

Monika nickte. »Vielleicht solltest du noch einmal mit ihm reden, ehe wir heiraten. Ich hätte keine ruhige Minute auf unserer Hochzeitsreise, wenn ich wüsste, dass zu Hause alles drunter und drüber geht.«

»Ich hab schon den Pfarrer gebeten, dass er immer mal wieder hier nach dem Rechten sieht oder wenigstens den Max schickt, damit der ein bissel nach dem Rechten schaut.« Liebevoll streichelte Paul über das Gesicht der Frau, die sich jetzt vertrauensvoll an ihn schmiegte.

»Mach dir net unnötig Sorgen, Liebes. Es wird sich schon alles finden.«

Sie versuchte zu lächeln. »Du hast recht. Es kommt alles, wie es muss.«

Martina stand am Fenster und starrte nach unten in den Hof. Die Mutter hatte längst die Schar weißer Hühner in das Gatter gesperrt, damit sie über Nacht nicht vom Fuchs geholt wurden. Auch die Knechte hatten heute schon zeitig Feierabend gemacht. Es war Samstag, das konnte man deutlich merken, die Leute wollten runter zum Tanz im »Löwen«.

Seufzend legte die junge Frau ihre Stirn an die kühle Fensterscheibe. Es hätte alles so schön sein können, wenn nicht die ständigen Querelen mit Klaus gewesen wären.

Schweren Herzens dachte Martina daran, dass ihre Tage hier inzwischen an beiden Händen abzuzählen waren. Am nächsten Wochenende war Hochzeit, und danach würde sie nach Starnberg in ihre kleine und inzwischen sehr einsame Wohnung zurückkehren. Aufträge hatte sie noch genug, mit denen sie sich von ihrer Trauer ablenken konnte, doch die konnten ihr nicht die Mutter, nicht die Familie ersetzen, die sie sich erhofft hatte.

Plötzlich hielt Martina es in ihrem Zimmer nicht mehr aus. Sie musste nach draußen, Luft atmen, Freiheit spüren. Die Enge des Raumes, der eigentlich ziemlich groß war, wurde mit einem Mal unerträglich.

Ein zarter Windhauch wehte ihr entgegen, der die Luft, vom heißen Sommertag erwärmt, angenehm erscheinen ließ. Martina blieb einen Moment lang stehen und versuchte, den Duft auf sich wirken zu lassen. Ein feiner Geruch nach Heu war es, der sie zum Träumen brachte.

Doch sie fand ziemlich schnell in die Wirklichkeit zurück, denn das Schreckgespenst ihrer Heimreise stand plötzlich wieder vor ihrem geistigen Auge. Deshalb ging sie eilig über den Hof bis zum Holzzaun, wo sie schon mit der Mutter gestanden hatte. Von hier aus hatte man einen herrlichen Ausblick zu den Berggipfeln, die sogar jetzt im Sommer noch ein wenig Schnee hatten.

Martina lehnte sich an den Zaun und versuchte, ihre Träume wiederzufinden. Aber es wollte ihr nicht gelingen. Ihr Herz war schwer, und ohne dass sie es merkte, liefen Tränen über ihre Wangen.

So kam es, dass sie die leisen Schritte nicht hörte, die sich ihr näherten. Sie war so in ihrem Schmerz gefangen, dass sie zutiefst erschrak, als eine bekannte Männerstimme sie ansprach. Doch dieses Mal klang es weder hart noch spöttisch.

»Kann ich dir helfen, Martina?«

Entsetzt öffnete sie die Augen. Dann wischte sie hastig die Tränen ab. »Danke, es ist nix«, versicherte sie verlegen und drehte ihm den Rücken zu. »Was willst, Klaus? Hast mir net schon genug weh getan?«

»Ich weiß net, was du meinst.«

»Du weißt es sehr gut«, antwortete Martina bestimmt. »Aber es ist gut. Ich bin dir net böse, du gehörst hierher, ich net. Ich hab’ schon mit meiner Mutter geredet, sie ist einverstanden, dass ich nächsten Sonntag verschwinde.«

»Deshalb die Tränen?«

»Das geht gerade dich nix an«, konterte sie, ohne ihn anzusehen. Noch immer drehte sie ihm den Rücken zu, denn sie spürte, dass sie sich nicht mehr lange würde beherrschen können. Zu tief saß der Kummer, zu sehr hatte sie sich bereits an das Leben hier auf dem Hof gewöhnt, um es so einfach wieder aufgeben zu können.

»Magst net mit mir reden?«, versuchte Klaus es noch einmal. Wie ein begossener Pudel stand er da und starrte auf seine Schuhspitzen, die voller Staub waren. »Vielleicht tut es mir ja leid, dass ich so widerlich zu dir war.«

Er musste an das Gespräch mit dem Bergpfarrer denken. Aber das war es nicht allein…

Langsam drehte sich Martina um. Sie konnte nicht glauben, was sie eben gehört hatte. Mit völlig anderer Stimme hatte er Worte ausgesprochen, die sie ihm nie zugetraut hätte. »Wie meinst du das?«, fragte sie ungläubig.

Er schwieg und schaute sie an. »Du hast eben so traurig ausgeschaut. Magst mir net sagen, was in deinem Kopf herumgeht? Wir kennen uns kaum, und du sagst vieles, was ich net verstehen kann.«

»Mir geht es mit dir genauso«, pflichtete sie ihm bei. Sie sprach ebenso leise wie er, wollte den Zauber dieses Augenblicks nicht zerstören. »Du warst von Anfang an gegen mich. Dabei wollte ich dir nie etwas wegnehmen. Unsere Eltern haben sich ineinander verliebt, das ist alles.«

»Ich weiß«, gestand er. »Nur…«

»Nur?« Sie standen sich so dicht gegenüber, dass sie glaubte, seinen Herzschlag spüren zu können. »Du glaubst, wir wollten dir etwas wegnehmen. Aber das ist Unsinn. Wir brauchen euren Besitz net.«

»Ach, Unsinn.« Es war Klaus sichtlich peinlich, dass sie darauf anspielte. »Ich hab’ nie gedacht, dass ihr euch hier ins gemachte Nest setzen wollt.«

»Du hast nur davon geredet.«

»Ich weiß.« Wieder wich er ihrem Blick aus. »Und es tut mir verdammt leid. Heute Nachmittag nach unserer letzten Auseinandersetzung hab’ ich erst gemerkt, was für einen Unsinn ich dauernd dahergeredet hab’. Ich weiß net, was mit mir los war.«

»Und was hat deinen Sinneswandel bewirkt? Ich hab’ dir nix anderes gesagt als all die Wochen zuvor schon. Du hast uns allen das Leben unnötig schwer gemacht. In der Zeit hätten wir die Hochzeit vorbereiten können, alles besprechen, und vielleicht wäre uns auch gemeinsam ein Geschenk für die Eltern eingefallen. Auch wenn du es net wahrhaben willst, ab nächste Woche sind wir Bruder und Schwester, wenn auch nur Stiefgeschwister.«

Klaus schaute ihr jetzt in die Augen. »Stiefgeschwister«, wiederholte er leise. Langsam hob er beide Arme und legte seine Hände auf ihre Schultern. Lange sah er in ihre Augen.

Sie hielt seinem Blick stand. So hatte sie noch niemandem in die Augen gesehen. Ein warmes Gefühl war in ihrem Herzen, ein leises Singen, eine wunderbare Melodie, so, als würde der Himmel voller Geigen hängen.

Sein Gesicht kam dem ihren immer näher, ohne dass er dabei ihren Blick losließ. Sie hatte das Gefühl, als ob er sie gleich küssen wollte. Und sie irrte sich nicht…

*

Die Tage, die diesem Abend folgten, waren ruhig und friedlich. Das fiel sogar Paul auf, der dies überglücklich mit seiner zukünftigen Frau besprach. »Siehst, Schatzerl, es fügt sich alles. Wir können uns ganz beruhigt auf unsere Hochzeit freuen«, sagte er am Abend vor dem großen Tag zu Monika, die es sich nicht hatte nehmen lassen, einige Torten für die große Feier selbst zu backen. Gerade war sie noch dabei, die Schwarzwälder Kirschtorte mit kleinen Sahnetupfen zu verzieren.

Sie lächelte vor sich hin, ohne sich nach Paul umzudrehen. »Ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben. Hast mit Max geredet? Wird er mit den Kameraden von der Bergwacht Spalier stehen, wenn wir aus der Kirche kommen?«

»Er wird«, beruhigte Paul sie. »Und die Männer von der Feuerwehr kommen auch. Ich versprech dir, es wird eine wunderschöne Hochzeit, ein unvergesslicher Tag, den wir tief in unseren Herzen bewahren werden. Der Kammeier, du weißt doch, unser Messner, hat versprochen, dass er alles filmen wird als Erinnerung. Und Hans, unser Knecht, fotografiert mit meiner Kamera. Du siehst, ich hab’ an alles gedacht.«

Jetzt endlich drehte sich Monika zu ihm um. »Ich weiß schon, warum ich mich ausgerechnet in dich verliebt hab’, Schatz. Du bist einfach wunderbar.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen zärtlichen Kuss auf den Mund.

So vergingen die Tage bis zu dem großen Fest ziemlich friedlich. Sogar Klaus schien seine Abneigung gegen die Frauen auf einmal vergessen zu haben. Zwar wunderte sich Paul darüber, aber er hütete seine Zunge und stellte nicht eine einzige Frage. Er war nur glücklich, dass nun vermutlich doch alles zu funktionieren schien, wie er es sich in seinen Träumen so oft vorgestellt hatte.

Martina half beim Kuchenbacken, und gemeinsam mit Klaus und noch einigen Mägden wurden auf dem Hof Tische und Bänke aufgestellt und mit bunten Blüten dekoriert. Es war eine schöne Zeit, eine gute Zeit. Einige Male trafen sich Martinas Blicke mit denen von Klaus, und es herrschte zwischen ihnen eine Einigkeit, die man ihnen gar nicht zugetraut hätte.

Schließlich war der große Tag da. Monika war so aufgeregt, dass ihr alles aus den Händen fiel, das sie anfasste. Wie ein Wirbelwind lief sie durch die Räume, ständig in der Angst, etwas Wichtiges womöglich vergessen zu haben.

Martina beobachtete lächelnd die Mutter, die plötzlich wieder zu einem ganz jungen Mädchen geworden war, das zum ersten Mal in seinem Leben den Hafen der Ehe ansteuerte. Immer wieder starrte sie in den Spiegel, zupfte an ihrem wunderschönen cremefarbenen Kleid, dann gefiel ihr die Frisur wieder nicht so recht. »Was soll ich nur machen? fragte sie schließlich völlig entnervt. »Ich werde mich blamieren. Alle werden auf mich starren und laut fragen, wo dieser tolle Mann so eine Frau gefunden hat, die net aufs Land passt.«

Tina antwortete nicht, sie schloss die Mutter einfach in die Arme. »Tief durchatmen, Muttilein, dann wird es dir gleich wieder besser. Das ist bestimmt ganz normal in dieser Situation. Erinnere dich zurück, war es net beim ersten Mal auch so?«

Monika zuckte die Schultern. »Ich weiß es nimmer, kann mich net mehr daran erinnern. Bitte, hilf mir mit der Frisur, Tinchen. Sonst werde ich nie fertig.«

Ruhig und gelassen machte sich die Jüngere daran, die Mutter für ihren großen Tag zu frisieren, und als es Zeit war, in die Kirche zu fahren, war alles fertig. Monika stand wieder vor dem Spiegel und betrachtete sich abschätzend. »So kann man es lassen«, meinte sie schließlich und unterdrückte ihre Nervosität, die sie für eine Weile vergessen hatte.

Das halbe Dorf war auf den Beinen, um die Braut aus der Stadt zu sehen. In den Wochen, die Monika nun schon in St. Johann lebte, hatte sie sich mit einigen Bewohnern bereits angefreundet, und die wollten natürlich an dem großen Tag der sympathischen Frau mit dabei sein.

Paul Anstätter wartete bereits an der Kirchenpforte, und Pfarrer Trenker und dessen Bruder Max, der Polizist, standen bei ihm und versuchten, ihm moralischen Beistand zu leisten. Allerdings hatte Paul den gar nicht nötig, denn gleich würde endlich sein innigs­ter Wunsch in Erfüllung gehen. Nichts sehnte er mehr herbei als diesen Augenblick.

Dann kam die Braut in Begleitung ihrer Tochter und Klaus, der sich für diesen Tag ebenfalls in seine Sonntagstracht gezwängt hatte. Ein wenig unglücklich sah er dabei aus, denn der junge Mann zog eben doch lieber Jeans an.

Als der Pfarrer die Braut kommen sah, lächelte er überrascht. »Eine fesche Frau hast dir ausgesucht, Paul«, flüsterte er dem Anstätter zu. Er lächelte Monika freundlich an, dann verschwand er in seiner Kirche, um sich gedanklich für die Trauung vorzubereiten.

Eigentlich hätte Paul auch schon in der Kirche sein sollen, um vor dem Altar die Braut in Empfang zu nehmen, doch als er Monika sah, konnte er den Blick nicht mehr von ihr wenden. Mit einem zärtlichen Lächeln trat er auf sie zu und begrüßte sie. »Schimpft doch nicht mit mir«, bat er mit einem entschuldigenden Blick auf seine Familie. Dann nahm er Monikas Arm und schritt mit ihr zusammen zügig in die Kirche.

Alle Bänke waren voll besetzt mit festlich gekleideten Gästen. Die meisten von ihnen waren auch zur nachmittäglichen Feier auf dem Hof eingeladen. Die restlichen waren Schaulustige, unter ihnen auch einige Touristen, die es sich nicht hatten nehmen lassen, die letzten hinteren Plätze der schmucken Kirche zu besetzen.

Pfarrer Trenker hatte für Paul Anstätter und seine zukünftige Frau eine sehr schöne Zeremonie vorbereitet. Er sprach von der besonderen Gnade der zweiten Liebe, die man festhalten muss, weil sie ein ganz besonderes Geschenk Gottes darstellte, von der Einigkeit zweier Menschen, die sich gefunden haben, um allen Stürmen des Lebens zu trotzen, und von der Unendlichkeit der Liebe, mit der man alles schaffen kann.

Paul Anstätter hatte Tränen in den Augen, und auch Monika wischte sich immer wieder die Tränen ab, die ihr über die Wangen liefen. Immer wieder suchte seine Hand die ihre, als wollte er sich vergewissern, dass sie noch da war und er das alles nicht nur träumte.

Als das frisch gebackene Ehepaar aus der Kirche trat, empfing sie goldenes Sonnenlicht und herzlicher Jubel der Nachbarn, Freunde und Bekannten. Max Trenker hatte seine Kameraden und Kollegen sogar vom Nachbarort mobilisiert, die zusammen mit der freiwilligen Feuerwehr ein langes Spalier bildeten, durch das Paul und Monika schreiten muss­ten.

Als sie mit all ihren Gästen zum Hof zurückkehrten, hatten die Mägde bereits alles vorbereitet. Es duftete nach Braten und Soßen, und auf den Tischen standen große Schüsseln mit Knödeln, Salaten und anderen Beilagen.

Während es sich die Gäste gemütlich machten, ging Monika ins Schlafzimmer, das sie ab heute zusammen mit ihrem Paul bewohnen würde, und zog sich um. Sie hatte ein wunderschönes helles Kleid gekauft für diesen Anlass, das ihre schlanke Gestalt wundervoll unterstrich.

Auch Martina war für einen kurzen Moment in ihr Zimmer gegangen, um sich für den bevorstehenden Nachmittagsrummel zu sammeln. Sie freute sich auf die Feier, bei der sogar eine eigens dafür engagierte Trachtenkapelle aufspielte.

Gleichzeitig jedoch wusste sie nicht, wie es weitergehen sollte. Die vergangene Woche hatte ihren Entschluss, am nächsten Tag nach Starnberg zurückzukehren, ins Wanken gebracht.

Nachdenklich trat die junge Frau ans Fenster. Sie schaute zu den Gästen hinunter und hörte die fröhlichen Stimmen und zwischendurch immer mal wieder Gelächter, was ihr ins Herz schnitt. Eine tiefe Sehnsucht war in ihr, nach Liebe, nach Wärme, nach einer wirklichen Heimat. Doch wo sollte sie danach suchen?

»Kommst du mit runter, Tinchen?«, fragte die Mutter, die strahlend wie ein Sonnentag an der Tür stand. »Ich bin so glücklich, und ich bin sehr stolz auf dich, weil du so wunderschön aussiehst.«

Martina drehte sich zu ihr um. »Am liebsten würde ich hier oben bleiben und warten, bis alles vorbei ist«, antwortete sie kläglich. »Ich weiß selbst net, warum ich auf einmal so traurig bin.«

Mit weichem Lächeln in ihrem schönen Gesicht trat Monika zu ihrer Tochter und legte einen Arm um ihre Schultern. »Glaubst net, ich wüsste es net längst?«

»Was meinst damit?«

»Na, du bist verliebt und willst es dir net einmal selbst eingestehen.«

»Ach was, du denkst wieder um zehn Ecken herum«, wehrte Martina verlegen ab. »Ich hab’ nur noch etwas Schwierigkeiten, mich mit der veränderten Situation abzufinden. Du bist jetzt für deinen Mann da, und ich hab’ meinen ers­ten Platz in deinem Herzen verloren. Das muss ich erst verdauen.« Sie versuchte ein Lächeln.

»Du hast nix verloren, Tinchen«, antwortete Monika und gab ihrer Tochter einen liebevollen Kuss auf die Wange. »Du bist mein einziges Kind, das ich von ganzem Herzen lieb hab’. Und daran wird sich nie etwas ändern.«

»Ach, Muttilein, warum ist nur alles so schwierig?«, fragte Martina, den Tränen nahe.

»Weil du dich net zur Liebe bekennen willst. Du hast denselben Dickkopf wie Klaus. Ich hoffe nur, ihr beiden wacht rechtzeitig auf, ehe es zu spät ist.«

»Was meinst du damit? Was hat Klaus mit meinen Gefühlen zu tun?«

»Na, er ist es doch, den du liebst.«

»Jetzt gehst du zu weit, Mama.« Erschrocken war Martina von ihr abgerückt. »Diesen eingebildeten Menschen soll ich lieben? Nein, da kennst du mich aber schlecht.« Sie trat vor den Spiegel und zupfte an ihrer Frisur herum, obwohl sie noch immer völlig in Ordnung war.

»Du wolltest morgen den Hof verlassen. Von diesem Gedanken bist du aber abgekommen. Oder nicht?«

»Du meinst, weil ich mit Klaus die letzten Tage keine Auseinandersetzung mehr hatte? Ich weiß net, ob das meinen Entschluss beeinflussen kann«, gab sie zu bedenken. »Vermutlich hält mein Stiefbruder nur still, um euer Glück net zu gefährden.«

»Überleg es dir, Schatzerl. Ich wäre wirklich beruhigter, wenn ich dich noch hier vorfinden würde bei meiner Rückkehr. Vielleicht kannst mir ja den Gefallen tun. Wennst dann immer noch gehen willst, werde ich dich nicht mehr mit Macht festzuhalten versuchen. Versprochen.«

Martina dachte einen Moment lang nach. »Versprochen«, antwortete sie und wusste im nächs­ten Moment, dass sie dieses Versprechen noch bereuen würde.

*

Als am nächsten Vormittag das Auto von Paul und Monika mit all den Taschen beladen war, standen Martina und Klaus bereit, um sich von den Eltern zu verabschieden. Paul ergriff zuerst die Hand seines Sohnes, doch dann schloss er ihn zum Abschied noch einmal in die Arme. »Pass gut auf alles auf, vor allem auf dich«, flüsterte er ihm zu.

»Mach ich, Vater. Erholt euch gut. Du kannst dich auf mich verlassen.« Ein wenig hilflos stand Klaus da und wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Einerseits konnte er es kaum erwarten, bis die beiden endlich verschwunden waren, denn er hasste nichts so sehr wie Abschiede, und gleichzeitig wünschte er sich, dass die fünf Wochen, die sie sich eine Auszeit von zu Hause und von der Arbeit genommen hatten, schon wieder vorbei waren.

Auch Martina fiel der Abschied sichtlich schwer, genau wie ihrer Mutter. Beide kämpften mit den Tränen und konnten sich kaum voneinander trennen. Immer wieder umarmten sie sich, doch dann saßen Paul und Monika endlich im Auto. Paul startete und fuhr langsam los.

Wie sehr gute Freunde standen Martina und Klaus nebeneinander und winkten, bis sie das Auto nicht mehr sehen konnten. Es herrschte Schweigen.

Martina fasste sich als erste. »Sie sind wirklich glücklich«, meinte sie leise. »Man könnte sie fast beneiden.«

»Nur fast?« Klaus warf ihr einen ironischen Seitenblick zu. »Ich hoffe nur, es bleibt so. Noch eine Enttäuschung würde mein Vater nimmer verkraften.« Er drehte sich um und ging mit weit ausgreifenden Schritten zum Stall, ohne sich noch um die junge Frau zu kümmern.

»Oh Himmel, warum nur hab’ ich versprochen zu bleiben?« Martina starrte ihm hinterher. Was sollte sie von seinem Verhalten denken? Gestern noch war er die Liebenswürdigkeit in Person gewesen, und heute sah es aus, als hätte er ihr erneut den Kampf angesagt.

Es dauerte eine ganze Weile, bis Martina sich gefasst hatte. Mit allem Möglichen hatte sie gerechnet, nur nicht mit diesem erneuten Stimmungsumschwung. So schnell konnte sie sich nicht da­rauf einstellen.

Dann jedoch beschloss die junge Frau, den Stier bei den Hörnern zu packen. Eilig folgte sie Klaus zum Stall. Im Halbdunkel konnte sie den Mann erkennen, der vor dem Traktor stand und sich nicht rührte.

»Klaus, magst net mit mir reden?«, fragte sie leise. »Hab’ ich was gesagt oder getan, das unser gutes Verhältnis der letzten Tage wieder zerstört hat?« Obwohl sie in ihrem Innern schon wieder heißen Zorn spürte, zwang sie sich doch, freundlich und verbindlich zu bleiben.

Klaus drehte sich nicht einmal zu ihr um. »Wie kommst denn da drauf? So ein Unsinn, ich hatte lediglich keine Zeit, länger mit dir herumzustehen. Ich bin jetzt hier der Bauer und muss dafür sorgen, dass alles seinen gewohnten Gang geht.«

»Um das geht es doch gar net«, widersprach sie. »Ich bin ja auch noch da, und ich hab’ versprochen zu helfen, wo immer ich gebraucht werde. Magst net mit mir reden? Immerhin sind wir jetzt eine Familie.« Martinas Gedanken folgten dem Klang der Worte, die sie eben zum ersten Mal laut ausgesprochen hatte.

»Eine Familie?« Er lachte freudlos. »Ich wüsste net, wie das gehen sollte. Ich denke, wir sind beide schon zu erwachsen, um an so einen Unsinn zu glauben.«

»Was ist passiert, Klaus? Bitte, red mit mir. Die letzten Tage waren ruhig und voller Frieden. Was hab’ ich getan, dass es jetzt wieder anders ist?« Sie brauchte all ihre Kraft, um nicht in Tränen auszubrechen.

»Geh, das weißt doch längst.«

»Nix weiß ich. Ich dachte, wir hätten uns zusammengerauft, aber du glaubst noch immer, wir wären hinter eurem Besitz her. Aber deinen Reichtum wollte ich nie.«

»Wer sagt das denn?« Er war über diesen Ausspruch so erschrocken, dass er blass wurde. »Du weißt gar nix, machst dir net einmal die Mühe, es zu erkennen.«

»Dann sag du es mir. Oder sag es mir net, ist mir inzwischen auch gleichgültig. Vermutlich ist es eh besser, wenn ich hier den Platz räume. Er war nie meiner und wird nie meiner sein. Wenn ich weg bin, dann bist du wieder der Platzhirsch.« Sie drehte sich um und wollte die Scheune wieder verlassen.

Mit ein paar Schritten war Klaus bei ihr und hielt ihren Arm fest. »So einfach ist das net«, herrschte er sie an. »Du hast versprochen, dass du hierbleibst. Was soll ich deiner Mutter sagen, wenn sie anruft und dich sprechen will? Der schwarze Peter würde natürlich wieder an mir hängenbleiben. Das kommt ja gar net in Frage. Du bleibst die fünf Wochen noch hier, bis die beiden wieder zurück sind.«

Martina riss sich zornig los. »Das hast dir schön ausgedacht«, fuhr sie ihn an. »Aber net mit mir.« Ihre sonst so sanften Augen sprühten Funken vor Zorn. »Ich soll mir dein unangenehmes Benehmen gefallen lassen, nur damit du gut dastehst. Nein, danke, lieber Stiefbruder, genau das werde ich net tun. Morgen früh verschwinde ich, wie eigentlich geplant, von hier.« Sie warf den Kopf zurück und marschierte stolz davon. Dass sie weinte, konnte er nicht mehr sehen.

*

Eine schlaflose Nacht lag hinter ihm, die er die meiste Zeit am Fenster verbracht hatte. Im Bett hielt er es nicht lange aus. Etwas war in ihm, das ihn nicht nur beunruhigte, sondern ihn sogar da­ran hinderte, einen klaren Gedanken zu fassen.

Die letzten Wochen lagen hinter ihm, und eigentlich hätte er glücklich und stolz sein müssen, denn endlich hatte er erreicht, was er die ganze Zeit schon angestrebt hatte. Martina verließ den Kampfplatz und ging als Verlierer. Er, Klaus, hatte diese Schlacht gewonnen.

Doch um was hatte er eigentlich gekämpft? Um den Besitz, den er glaubte, mit irgendwelchen Leuten aus der Stadt teilen zu müssen, mit Glücksrittern, die es nur auf sein Erbe abgesehen hatten?

Immer wieder schüttelte Klaus über sich selbst den Kopf. Was hatte er nur all die Wochen gedacht? Hatte er wirklich geglaubt, die beiden Frauen hätten es auf den Hof abgesehen? In was für einen idiotischen Gedanken hatte er sich da nur verrannt?

Die Nacht wollte einfach nicht vergehen. Es war schon weit nach Mitternacht, da hielt Klaus es nicht mehr aus in seinem Zimmer. Er rannte nach draußen, blieb im Flur stehen und überlegte, ob es schicklich war, wenn er an Martinas Tür klopfte und um ein Gespräch bat.

Als er bereits die Hand gehoben hatte, um zu klopfen, merkte er, was er gerade tun wollte. Erschrocken zuckte er zurück. Jetzt hatte er endlich alles erreicht, und nun war er im Begriff, seinen Erfolg wieder zu zerstören.

Entschlossen ging Klaus wieder in sein Zimmer zurück. In der Nachttischschublade hatte er noch Baldriantabletten. Zwei davon nahm er jetzt ein, und nach einer halben Stunde merkte er endlich eine Wirkung.

Dennoch fühlte er sich wie gerädert, als er am nächsten Morgen erwachte. Albträume hatten ihn geplagt, die alle irgendwie mit Martina zu tun gehabt hatten. Einmal hatte er sogar verzweifelt versucht, sie aus Bergnot zu retten, und dann war sie ihm doch entglitten. Da hatte ihn eine unerträgliche Verzweiflung gepackt, die er mit in den Tag nahm.

Noch immer verwirrt saß er an seinem Bettrand und versuchte, sich zu sammeln. Ein harter Arbeitstag lag vor ihm, denn das Heu von der großen Wiese am Weiher musste eingebracht werden. Für den heutigen Tag waren schwere Unwetter angesagt worden, und noch wusste er nicht, wie er alles rechtzeitig vor dem Regen schaffen sollte.

Draußen dämmerte es bereits, als er endlich angezogen in der Küche stand und sich einen Kaffee aufbrühte. Angenehmer Kaffeeduft weckte seine Lebensgeis­ter, und einen Moment lang überlegte er sogar, ob er nicht ein Tablett mit Kaffee, Brötchen und einem weich gekochten Ei zu Martina bringen und sie um Hilfe bitten sollte.

»Bist jetzt ganz narrisch geworden, Klaus?«, fragte er sich selbst und schüttelte den Kopf. »Da setzt deine ganze Kraft ein, um diese Person wegzuekeln, und dann willst ihr Frühstück ans Bett bringen.«

Er nahm einen kräftigen Schluck Kaffee und stöhnte erschrocken auf, weil er sich den Mund heftig verbrannt hatte.

Der Wetterbericht im Radio

bereitete ihm Kopfzerbrechen. Noch immer redete der Ansager von heftigen Unwettern und starken Regengüssen. Das Heu, von der Sommersonne ohne Unterbrechung getrocknet und würzig duftend, würde einen Großteil seines Wertes verlieren, wenn es nass wurde. Doch wie sollte er die viele Arbeit schaffen? Der Vater war nicht da, um beim Einbringen zu helfen, und einer der Knechte hatte sich am Fuß verletzt, dass er die nächsten Tage gänzlich ausfiel.

Sorgenvoll trat der Mann ans Fenster. Leichte Schritte hinter ihm ließen ihn herumfahren. »Ich hab’ Kaffee gerochen.« Martina sah wunderschön aus mit den wirren Haaren und der Bluse, die sie über ihre Jeans gezogen hatte. »Entschuldige, ich dachte, Zenz wäre hier.«

»Sie ist heut bei ihrer Schwes­ter«, antwortete Klaus kühl. Das jedoch kostete ihn große Anstrengung, denn mit einem Mal begann sein Herz heftig zu klopfen. Er blickte auf Martinas schlanke Gestalt, ihre langen Haare, die ihre Schultern umspielten, und in diesem Moment ergriff ihn eine unbändige Sehnsucht nach ihrer Nähe.

»Dann geh ich besser wieder.«

»Bleib.«

Überrascht blieb sie stehen und blickte ihn kühl an. »Wie bitte?«

»Bleib bitte, ich möchte mit dir reden.«

»Ich wüßte net, worüber. Heute Nachmittag bist mich endgültig los. Ich hab’ es gestern nimmer geschafft, alle meine Sachen zu packen. Aber ich versprech, dass ich mich beeilen werde, damit ich dir net länger als unbedingt nötig zur Last falle.« Sie lächelte abfällig.

»Das hab’ ich net gemeint. Ich… wollte dich bitten, noch etwas zu bleiben und mir zu helfen. Ich seh mich sonst net raus mit der vielen Arbeit. Immerhin geht es auch um die Zukunft deiner Mutter. Das Heu muss eingebracht werden, und es soll regnen. Heut brauch ich jede Hand.« Alle Wut war aus seiner Stimme verschwunden.

»Das kann net dein Ernst sein.«

Er nickte. »Doch, ist es. Ich bitte dich zu bleiben und mir zu helfen. Ich… hab’ keine andere Wahl. Du hast deiner Mutter versprochen, dass du bleibst. Glaubst net, dass sie von dir enttäuscht wäre, wennst dein Versprechen net einhältst?«

»Sie wird es verstehen, wenn ich es ihr erkläre.« Martina war schon wieder an der Tür. »Ausgerechnet du machst einen Rückzieher. Ich glaub es ja net. Und du denkst, ich bin so ein dummes kleines Hascherl, das alle seine Pläne wieder umwirft, nur weil der große Bruder gerufen hat.«

Klaus verzog das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Etwas an dem, was sie eben gesagt hatte, verursachte ihm schon wieder ein körperliches Unbehagen, das sich bis zur Schmerzgrenze zu steigern schien. »Ich bin net dein Bruder«, knurrte er, nur um etwas zu sagen. »Wennst Frieden haben willst mit mir, dann vermeidest in Zukunft diese Bezeichnung für mich. Ich bin Klaus, nix weiter.« Die Kaffeetasse in seiner Hand zitterte plötzlich.

»Ob du nun mein Bruder bist oder einfach nur der Sohn meines Stiefvaters, ist mir gleich. Du willst mich net da haben, und ich mag inzwischen auch net. Und ich empfinde es als eine Unverschämtheit von dir, dass du mich zum Bleiben bewegen willst, nur weil dir die Arbeit über den Kopf wächst. Das hättest dir vorher überlegen müssen, ehe du mir das Leben hier so sauer machst.«

»Dein letztes Wort?«

Sie nickte. »Mein letztes Wort. Ich hab’ dir nie etwas getan, und du bist mir vom ersten Augenblick an mit Misstrauen entgegengetreten, hast getan, als wollte ich euch ausrauben. Glaub mir, das hab’ ich net nötig. Mit meinem Job kann ich sehr gut für mich selbst sorgen. Oder was glaubst, wen ich ausgeraubt hab’, um mir die Eigentumswohnung in Starnberg zu kaufen?« Triumphierend starrte sie ihn an.

»Ich weiß das ja alles, und es tut mir auch leid. Vermutlich hab’ ich mich net ganz richtig verhalten. Aber du musst auch mich verstehen. Erst vor zwei Monaten, als die Heirat zwischen deiner Mutter und meinem Vater schon beschlossene Sache war, hab’ ich davon erfahren. Ich musste ja annehmen, dass er irgendwelchen Glücksrittern aufgesessen ist. Bei Carola war es ja auch net anders, die hat er sich von einem Seminar aus München mitgebracht. Und die hatte es auch nur auf sein Geld abgesehen.«

»Ah, und das gibt dir das Recht, alle über einen Kamm zu scheren, net wahr?« Tinas Gesicht war blass vor Zorn. Am liebsten hätte sie den Mann gepackt und geschüttelt, wie er da so vor ihr stand, schuldbewusst, niedergeschlagen, wie ein kleiner Junge, den man bei einem Vergehen erwischt hatte.

»Hast ja recht. Dann schließen wir einen Kompromiss. Du bleibst noch, und ich werde in dieser Zeit friedlich sein, dich net angreifen, und – ich bezahl dir zehn Prozent mehr als einer Magd. Dafür bleibst, bis wir das Heu in der Scheune haben. Na, was sagst dazu?«

Martina hatte plötzlich das unerträgliche Gefühl, im falschen Film zu sein. Die Situation war irgendwie entwürdigend für sie, obwohl sie merkte, dass es ihm wirklich ernst war mit seiner Verzweiflung. Er wollte sie nicht beleidigen, sondern um jeden Preis halten. Und genau das wollte sie auch, sie wollte bleiben. Denn in diesem Moment merkte Martina, dass sie sich verliebt hatte, in diesen Mann, der sie die ganze Zeit über nur schlecht behandelt hatte. Welch ein Widersinn!

Noch ehe sie nachdenken konnte, schüttelte sie den Kopf. »Ich hab’ alles versucht, aber mit dir ist kein Auskommen. Ich will dich net als allein Schuldigen hinstellen, aber ich weiß wirklich net mehr, was ich noch machen soll, dass du mir glaubst. Ich hatte nie einen richtigen Vater, hatte nie Familie. Dafür sind Mutti und ich so eng zusammengewachsen, dass ich immer dachte, es würde so weitergehen bis ans Ende aller Tage. Dann kam dein Vater und…«

Klaus schaute sie nachdenklich an. »So ähnlich war es auch bei uns. Und dann kam deine Mutter.«

»Siehst du, deshalb kann ich net hierbleiben. Zwischen uns beiden wird es nie Freundschaft geben können.« Sie schluckte, weil ihr plötzlich ein Schluchzen im Hals steckte. »Du denkst immer nur, alle wollen an euer Geld.«

»Ach, lass doch den Quatsch. Das war nur ein Vorwand, um Vater von dem unsinnigen Gedanken an Heirat abzubringen. Aber das hat net funktioniert. Bleibst jetzt, da wir uns ausgesprochen haben?«

»Ich weiß net, was ich machen soll.«

»Bleib, ob mit oder ohne Bezahlung. Ich weiß, der Vorschlag eben war gemein. Ich bin gemein. Und ich möchte mich für mein Verhalten entschuldigen.«

»Wir brauchen euer Geld net«, versuchte Martina noch einmal schwach, ihren Standpunkt klarzumachen. Sein Verdacht, ihre Mutter und sie könnten es auf finanzielle Sicherheit abgesehen haben, tat noch immer sehr weh.

»Das ist jetzt net so wichtig«, lenkte er ab, weil ihm das Thema höchst unangenehm war. »Lass mich net im Stich, Martina. Wir versuchen, die restliche Zeit, so gut es geht, miteinander auszukommen, und dafür hilfst mir heute und vielleicht auch morgen noch mit der Arbeit auf dem Feld. Ich steh sonst wirklich allein im Regen.«

Bei dieser Vorstellung musste Martina herzlich lachen. Und auch, wenn sie es nicht eingestehen mochte, so war sie doch unendlich erleichtert, dass sie an diesem Tag noch nicht fahren musste.

»Magst jetzt auch einen Kaffee? Wir müssen bald los, wenn wir es noch rechtzeitig schaffen wollen.«

»Kaffee wäre gut, danke.« Sie nahm die Kanne entgegen, die er ihr reichte, und füllte ihre Tasse mit dem duftenden Getränk. Dann griff sie auch nach einem der geschmierten Brote, die Klaus gerichtet hatte.

Schweigend nahmen sie ihr sehr zeitiges Frühstück ein, und als es ganz schwach zu dämmern anfing, saßen sie bereits auf dem Traktor, dem Klaus den Heuanhänger hinten angehängt hatte.

Martina fühlte sich noch etwas müde nach der letzten Nacht, aber sie wusste, dass sich das ändern würde, wenn sie erst einmal unterwegs waren. Noch fühlte sich die Morgenluft kühl und feucht an, und dennoch spürte Martina eine angenehme Wärme in ihrem Körper, die zu ihrem Herzen strömte.

Die Aussprache mit Klaus hatte sie gleichzeitig verwirrt und auch irgendwie glücklich gemacht. Was genau er ihr eigentlich damit hatte sagen wollen, wusste sie jedoch noch immer nicht, nur dass es ihm leid tat, so gemein zu ihr gewesen zu sein.

Dennoch war Martina vorsichtig genug, um ihm nicht gleich mit Begeisterung entgegenzulaufen und sich an seine Brust zu werfen. Das Glück war ein wendig Ding, es konnte heute alles geben und morgen wieder verschwunden sein. Deshalb musste sie ihr Herz festhalten, so gut es eben noch ging.

»Gleich sind wir da. Die beiden Knechte kommen mit dem zweiten Traktor nach und fangen am anderen Ende an«, erklärte er ihr. Er blieb stehen und schaltete für einen Moment den Motor aus. Dann drehte er sich zu ihr um und schaute ihr ins Gesicht.

Auf der linken Seite hob sich ein dunkler Nadelwald, der einen beruhigenden Duft nach Nadelholz ausströmte. Rechts erstreckte sich eine große Wiese, deren Enden von hier aus nicht zu sehen waren und die begrenzt wurde von einem Wald auf der gegenüb­erliegenden Seite. Der aber war von dieser Perspektive aus noch nicht zu sehen.

»Danke, dass du geblieben bist«, sagte der junge Mann leise. Sein Blick suchte den ihren. »Ich bin froh, dass…«

»Sollten wir net anfangen, ehe das Unwetter kommt?«, unterbrach sie ihn sanft. Diese Situ­ation machte es ihr noch schwerer, ihre Gefühle für ihn zu bremsen. Ihr Herz flog ihm nur so zu, obwohl ihr Verstand heftig dagegen rebellierte.

»Hast recht. Fangen wir an.« Er sprang vom Traktor und richtete den Heuwagen zum Beladen. »Willst du fahren oder soll ich? Zuerst müssen wir eh das Heu in Reihen zusammenziehen. Am bes­ten, wir…«

»Ich kenn mich ein bissel aus damit«, unterbrach ihn Martina. »Ich hab’ schon viele Ferien in Südtirol bei meinen Verwandten verbracht. Die machen auch jedes Jahr Heu, und ich durfte helfen. Also musst es mir nimmer beibringen. Wir sollten uns beeilen, damit wir rechtzeitig fertig werden.«

Schweigend drückte Klaus ihr einen Rechen in die Hand, und sie machten sich an die Arbeit. Im Wald zwitscherten die ersten Vögel, und vom Ort her war das Bellen eines Hundes zu hören.

Kaum eine Stunde später hörten sie auch schon den Motor des zweiten Traktors, der ans andere Ende der Wiese fuhr. »Endlich«, meinte Klaus nur, dann arbeitete er weiter.

Zwischen den beiden jungen Leuten war eine seltsame Stimmung, ein Knistern, das nicht von dem trockenen, duftenden Heu kam. Es lag in der Luft, war wie eine elektrische Spannung kurz vor einem Gewitter. Aber es war nicht unangenehm, eher so ein Prickeln, wie wenn man mit Herzklopfen nach einem heftigen Blitz auf den Donner wartet.

Viel zu schnell stand die Sonne am Himmel, heiß und unerbittlich. Allerdings waren auch schon bald die ersten schwarzen Wolken zu sehen, die sich zunächst noch etwas zögernd in der Ferne zusammenstellten. Ein leiser Wind kam auf, da hatten sie von dem Heu gerade mal ein Drittel zusammengerecht.

»Solltest du net schon mal aufladen?«, fragte Martina vorsichtig, die sich noch an die Arbeit in Südtirol erinnerte. »Falls das Wetter schneller da ist als berechnet, haben wir wenigstens einen Teil gerettet. Es wäre doch schade um das wundervolle Heu, es duftet traumhaft.« Ein leiser schwärmerischer Unterton war in ihrer Stimme.

Klaus hielt in seiner Arbeit inne und schaute sie verstohlen an. Etwas in ihren Worten hatte sein Herz berührt, so intensiv, dass er sich einen Moment lang an seinem breiten Rechen festhalten musste. Doch dann fand er schnell seine Fassung wieder. »Kannst recht haben. Willst du oder soll ich?«

»Ich bleib auf dem Boden«, antwortete sie lächelnd und arbeitete eilig weiter. In ihrem Herzen war ein Singen, ein Jubeln, und sie konnte sich doch den Grund dafür nicht erklären. Was hatte sich in den letzten Stunden verändert, seit sie heute früh noch völlig verbittert und frustriert aus ihrem Bett gestiegen war?

Klaus rannte zum Heuwagen zurück und begann, die einzelnen Reihen aufzunehmen, die von dem Gebläse in den Anhänger getrieben wurden. Über sein markantes Gesicht lief der Schweiß und hinterließ helle Spuren auf der staubbedeckten Haut.

Gegen Mittag war Martina erstmal am Ende ihrer Kräfte. Ihre Arme waren schwer wie Blei, und ihr Hals war so rauh und ausgetrocknet, dass sie überzeugt davon war, in der nächsten Zeit keinen Ton mehr herauszubekommen.

Zum Glück hatten sie genügend zu trinken dabei und auch noch einige belegte Brote. In der Ferne konnten sie auch die beiden Knechte sehen, die ebenfalls gerade Pause machten. Ein Blick zum Himmel jedoch sagte Martina, dass diese Pause wohl nicht sehr lang dauern durfte.

»Kaffee?«, fragte sie Klaus, als der vom Traktor gesprungen war und sich neben sie an den Waldrand ins Gras gesetzt hatte. »Oder lieber Pfefferminztee?«

»Kaffee, bitte.« Er hielt ihr seinen Becher hin. Dann schaute auch er prüfend zum Himmel. »Zwei Stunden noch, dann müss­ten wir uns mit den anderen in der Mitte treffen. Wenn das Wetter wenigstens noch drei Stunden hält, dann haben wir gewonnen.«

Aber der Himmel bestimmte es anders. Obwohl die beiden ihre Mittagspause wirklich sehr kurz hielten, schien es doch, als würden sie es nicht ganz schaffen. Der Himmel war inzwischen grau, eine ebenmäßige Fläche, die irgendwie gefährlich aussah.

»Wir müssen uns beeilen«, meinte Klaus besorgt und sprang wieder auf den Traktor. Martina lief ebenfalls davon bis zum Ende der Reihe, von wo aus sie eine neue Reihe begann. Ihre Bewegungen waren trotz Schmerzen in den Armen rasch und zielsicher, und als die ersten Regentropfen fielen, hatten sie in der Mitte des Feldes die Knechte erreicht.

Die fuhren als erste wieder zurück, denn Klaus wollte versuchen, auch noch das letzte Stück aufzunehmen. Sie arbeiteten Hand in Hand in höchster Eile. Dann endlich hatten sie es geschafft, aber da war der Himmel schon bereit, sämtliche Schleusen zu öffnen.

»Jetzt aber nix wie heim«, meinte Klaus, als er Martina wieder auf den Traktor half. Für einen Moment waren sie sich so nahe, konnte er ihren schlanken Körper an seinem fühlen, und er war so glücklich, dass er seine Müdigkeit gar nicht merkte.

Der Heimweg verlief nicht gemütlich. Dunkle, fast schwarze Wolken jagten über den Himmel, ein Wind kam auf, der innerhalb kurzer Zeit zu einem regelrechten Sturm anschwoll. Die Regentropfen wurden immer zahlreicher und klatschten in die Gesichter der beiden, dass sie immer wieder die Augen schließen mussten. Sie waren kalt und fühlten sich an wie kleine Nadelstiche, die die Haut durchbohren wollten.

»Kannst du net ein bissel schneller fahren?«, fragte Martina. Ihre Stimme war kaum zu hören, der Sturm riss ihr die Worte vom Mund und verwehte sie in der Weite des Tales. Sie hatten St. Johann bereits hinter sich gelassen und steuerten nun auf den Anstätterhof zu.

»Schneller geht net«, keuchte Klaus und wischte sich wieder das Gesicht ab. »Ich steh eh schon die ganze Zeit auf Vollgas. Mehr gibt der alte Kasten net her.«

Als sie endlich den Hof erreichten, goss es bereits in Strömen. Klaus steuerte den Traktor in die Scheune, deren großes Tor von einem Knecht aufgehalten wurde. »Kannst jetzt ins Haus gehen, den Rest kann ich machen«, rief der Bauer ihm noch zu. Dann stellte er den Motor ab und sprang he­runter, um das Tor zu schließen.

Jetzt war das Unwetter direkt über ihnen. Gerade noch hatten sie es geschafft, ein Dach über dem Kopf zu erreichen. Es stürmte, blitzte und donnerte. Einige Male war der Donnerschlag so heftig, dass der Boden vibrierte.

Martina spürte, wie Panik in ihr aufstieg. Seit sie einmal gesehen hatte, wie ein Blitz ins Nachbarhaus einschlug, da hatte sie noch mit der Mutter in München gelebt, fürchtete sie kaum etwas so sehr wie Unwetter.

Zitternd stand sie, an einen Tragebalken gelehnt, und hielt sich die Hände vors Gesicht. Bei jedem Blitz zuckte sie zusammen, obwohl sie versuchte, ihre Angst nicht so deutlich zu zeigen.

Beim nächsten Blitz jedoch erschrak sie so sehr, dass sie einen leisen Schrei ausstieß. Das war nicht wegen des Gewitters, sondern wegen des Mannes, der mit einem Mal vor ihr stand. Sie hatte ihn nicht kommen gehört, denn der Regen prasselte jetzt so laut auf das Scheunendach, dass außer diesem Geräusch gar nichts sonst zu hören war.

Fest presste sie ihre beiden Hände vors Gesicht. Ihr Herz klopfte so heftig, dass sie gar nicht so schnell atmen konnte. Was wollte er? Warum stand er vor ihr und schaute sie schweigend an?

Plötzlich spürte sie seine Hände auf den ihren. »Tina«, sagte er in einer Lautstärke, die sie gerade so hören konnte. »Musst keine Angst haben, Tina. Ich bin ja bei dir.« Noch ehe sie reagieren konnte, spürte sie, wie seine Arme sie fest umschlossen.

Ohne nachzudenken ließ sie es geschehen. Sie lehnte sich an ihn, legte ihren Kopf an seine Schulter und hielt noch immer die Augen geschlossen. Sie konnte sein Rasierwasser riechen, das Heu und den frischen Schweiß des harten Arbeitstages. Aber selbst das war ihr angenehm, denn dieser Geruch vermittelte Vertrautes, eine Nähe zu einem Menschen, dem ihr Herz mehr und mehr zuflog.

Nach einiger Zeit lockerte sich sein Griff, so wie auch das Unwetter sich abschwächte. Doch noch immer lag sein Arm um sie, jedoch so, dass er in ihr Gesicht sehen konnte, soweit dies die dämmerige Beleuchtung in der Scheune erlaubte. »Besser?«, fragte er und lächelte kaum merklich.

Sie nickte. »Ja, das Gewitter scheint vorbei zu sein.«

»Und es ist nix passiert.« Er lachte leise in sich hinein. »Wa­rum hast du solche Angst davor?«

Sie erzählte ihm von dem fatalen Blitzeinschlag im Nachbarhaus, den sie als Jugendliche erlebt hatte. »Das war so furchtbar, als das ganze Haus danach in Flammen aufging«, beendete sie ihre Erzählung, »dass ich seitdem eine richtige Panik bekomme, wenn ein Gewitter kommt.«

»Jetzt kann ich dich besser verstehen«, sagte er leise und hielt sie noch immer fest. »Weißt, dass es für mich ein sehr schönes Gefühl war, dich beschützen zu dürfen«, fragte er aus seinen Gedanken heraus.

»Warum?«

»Heut hab’ ich dich anders erlebt als sonst. Du warst einfach nur du, weder meine ungeliebte Stiefschwester noch die Stief­tochter meines Vaters noch meine Widersacherin oder Feindin. Du warst einfach Martina, die sich gefürchtet hat. Und das war eine ganz neue Erfahrung für mich.« Sein Blick versank in dem ihren.

Martina hielt den Atem an. Würde er sie jetzt wieder küssen, wie schon einmal, als er sich stärker, ihr überlegen gefühlt hatte? Und wie sollte sie reagieren, wenn? Sollte sie ihn zurückweisen oder einfach nur genießen?

Als sie seine Lippen auf den ihren spürte, beschloss sie, diesen süßen Augenblick auszukosten als das, was er war – ein wunderbares Geschenk, mit dem sie nicht mehr gerechnet hatte. Sie schloss die Augen.

*

Zwar hatte Martina gedacht, nach den gemeinsamen Stunden auf der Wiese beim Heueinbringen und der Zeit in der Scheune während des Gewitters würde sich an dem Verhältnis zwischen ihr und Klaus etwas ändern, doch diese Hoffnung erfüllte sich nicht.

Klaus griff sie nicht mehr an, suchte auch keinen Streit und vermied es, darauf anzuspielen, dass sie wieder gehen sollte. Aber offensichtlich ging er ihr aus dem Weg, so gut er konnte.

Einige Tage konnte Martina das noch als Zufall abtun, denn auf dem Hof gab es im Hochsommer jede Menge Arbeit, an der sie sich inzwischen auch sinnvoll beteiligen konnte. Dennoch war der Gedanke nicht wegzuleugnen, dass Klaus die Zärtlichkeiten, die sie im Schutz der Dunkelheit ausgetauscht hatten, lieber wieder vergessen wollte.

Einige Male überlegte Martina, ob sie den Mann darauf ansprechen sollte, doch immer dann, wenn sie den Zeitpunkt dazu für geeignet hielt, verließ sie wieder der Mut. Sie zog sich lieber in ihr Zimmer zurück und litt still vor sich hin.

Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. Sie wollte unbedingt wissen, was geschehen war. Doch mit Fragen hätte sie nichts erreicht, so gut kannte sie Klaus bereits. Doch diesen Zustand des Schweigens konnte sie auch nicht mehr länger ertragen.

Nach einigen durchwachten Nächten, in denen sie sich wiederholt fragte, was sie falsch gemacht hatte, stand ihr Entschluss fest. Der Tag des Abschieds war gekommen. Dieses Mal würde sie sich nicht mehr von ihm umstimmen lassen.

Es war ein Donnerstag, als sie anfing, wahllos ihre Kleidungsstücke in die Reisetaschen zu werfen. Eigentlich war sie ziemlich ordentlich und ging sehr pfleglich mit ihrer Kleidung um, doch mit einem Mal war ihr alles gleichgültig.

Bis zum Nachmittag war sie fertig. Eigentlich hatte sie vorgehabt, heimlich zu verschwinden, ihm nur einen Brief zu hinterlassen, in dem sie ihm alles mitteilte, was ihr auf der Seele lag. Diesen ständigen Stimmungswandel seinerseits konnte sie jedenfalls nicht mehr länger ertragen. Ein ständiges Wechselbad der Gefühle.

Überzeugt davon, dass Klaus noch auf dem Kartoffelacker war, packte sie, ohne besondere Vorsicht, ihre Taschen in ihr kleines Auto, mit dem sie auch vor Wochen hier angekommen waren. Jetzt würde es sie wieder nach Hause zurück bringen.

Nach Hause…

Wo war eigentlich ihr Zuhause? Früher hatte sie immer gedacht, ihre kuschelige Wohnung in Starnberg, nicht sehr weit vom See entfernt, wäre dieses Heim, in dem sie sich noch lange Zeit wohlfühlen konnte. Inzwischen aber hatte sich alles verändert, am meisten jedoch ihre Sehnsucht nach einem gemütlichen Nest, in dem sie zu Hause war. Ihre Wohnung in Starnberg jedenfalls war nicht mehr dieses Nest.

Als sie die letzte Tasche im Auto verstaut hatte, war sie überzeugt davon, dass jetzt die Stunde des Abschieds gekommen war. Sie stand vor der offenen Autotür und schaute sich noch einmal um. Den Abschiedsbrief an Klaus hatte sie auf den Küchentisch gelegt, den an ihre Mutter in deren Nachttischschublade. Sie würde sich bestimmt melden, wenn sie von der Hochzeitsreise zurück war.

Tränen verschleierten ihren Blick, als sie einstieg. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und startete. Das kleine Auto setzte sich in Bewegung und niemand kam, um sie aufzuhalten. Jetzt liefen die Tränen über ihre Wangen, aber da sie keiner sehen konnte, störte es sie auch nicht.

Plötzlich fuhr ein Auto auf den Hof, das sie kannte. Es war das Polizei­auto von St. Johann. Und sie erkannte auch die beiden Insassen. Es waren Sebastian Trenker, der Pfarrer, und sein Bruder Max, der Polizist. Was wollten sie hier?

Pfarrer Trenker sprang als erster aus dem Wagen und lief auf Martina zu. Er klopfte ans Autofenster und bedeutete ihr, dass sie aussteigen solle. Schließlich trat er zur Seite, damit sie die Wagentür öffnen konnte.

Hastig wischte sich Martina das Gesicht ab und stieg aus. »Ich…«

»Wohin wolltest denn, Martina?«, fragte Pfarrer Trenker verwundert. »Du hast doch noch net gehört, was passiert ist.« Er schaute sich zu seinem Bruder um, der unmerklich den Kopf schüttelte. »Können wir hineingehen? Ist Klaus da?«

Martina hatte plötzlich das Gefühl, als würde eine eisige Hand nach ihrem Herzen greifen und es ganz fest zusammendrücken. »Ist was passiert?«, fragte sie leise. »Bitte sagen Sie, was los ist, Hochwürden.«

Der Pfarrer deutete auf das Haus. »Sag bitte Klaus Bescheid, dass ich ihn auch bei dem Gespräch dabeihaben will. Es geht ihn genauso an wie dich.«

Als hätte er gespürt, dass er gebraucht wurde, fuhr er eben mit seinem Rover auf den Hof. Er stellte ihn einfach ab und sprang heraus. Verwundert schaute er von einem zum anderen, sah auch, dass Martinas Auto vollgepackt war mit Taschen. »Du wolltest schon wieder flüchten?«, fragte er mit einem Lächeln, das seine Augen nicht erreichte.

»Wir haben euch etwas zu sagen«, begann der Pfarrer. »Mein Bruder hat vorhin einen Anruf bekommen von der Polizei in St. Vinzenz. Eure Eltern haben einen Busausflug mitgemacht. Auf einem Pass ist der Bus…«

Martinas Hand suchte Halt bei Klaus, der ebenfalls zusammengezuckt war. »Was ist passiert? Sind sie…«

»Gehen wir hinein«, meinte Sebastian. Er und sein Bruder folgten Klaus, dem es noch am bes­ten gelang, Fassung zu bewahren. »Man weiß noch nix Genaues«, sagte er, um der Situation ein wenig die Spannung zu nehmen. »Aber wir glauben, dass wir heute noch Nachricht bekommen.«

Alle folgten Klaus in die Stube, die um diese Tageszeit noch abgedunkelt war wegen der Hitze. Klaus öffnete die Fensterläden und ließ angenehme Abendluft ins Zimmer. Dann setzte er sich zu den anderen auf einen der bequemen Sessel.

»Was genau ist denn passiert?« Er warf Martina, die unter Schock stand und stumm dasaß, einen besorgten Seitenblick zu.

»Der Ausflugsbus fuhr den Pass hinunter. Vermutlich waren die Bremsen heißgelaufen. Der Fahrer konnte nicht mehr bremsen, und in einer Kehre schoss der Reisebus dann über die Straße hinaus. Man weiß noch net, wie tief der Bus gestürzt ist und ob es Überlebende gibt.«

Mit einem Schmerzenslaut legte Martina die Hände vors Gesicht. Im Geist sah sie die Mutter tödlich verletzt am Straßenrand liegen. Sie hatte das Gefühl, innerlich zu verbrennen vor Verzweiflung.

Klaus erhob sich und setzte sich neben die junge Frau. Dann legte er einen Arm um sie und hielt sie ganz fest. »Wir können nix tun?«

Max Trenker schüttelte den Kopf. »Nix«, wiederholte er leise. »Wir können nur darauf warten, dass genauere Meldungen vom Unglücksort kommen. Die Kollegen vor Ort werden mich benachrichtigen.«

Zenz brachte einen großen Krug mit frischer Zitronenlimonade, die sie immer selbst zubereitete. Ein Blick in die versteinerten Gesichter sagte ihr, dass etwas Furchtbares geschehen sein musste. Aber sie wagte nicht zu fragen, sondern verließ eilig wieder das Zimmer.

Einmal läutete das Handy des Polizisten. Alle zuckten zusammen. Max meldete sich, lauschte eine Weile, dann klappte er es wieder zusammen. »Man weiß noch net viel, außer, dass bis jetzt keine Toten gefunden worden sind.«

»Und Überlebende?«, fragte Klaus. Jetzt klang auch seine Stimme nicht mehr sicher.

»Über eure Angehörigen weiß man noch nix«, antwortete der Polizist wieder. »Wir werden warten müssen.«

»Ich fahr nach St. Vinzenz.« Plötzlich sprang Martina auf. »Ich muss zu meiner Mutter. Sie würde das auch für mich tun.« Noch ehe einer der Männer reagieren konnte, war sie schon aus dem Zimmer. Wenig später fiel die Haustür ins Schloss.

»Um Himmels willen, geh ihr nach, Klaus!«, rief der Pfarrer erschrocken. »Du kannst sie in dem Zustand net fahren lassen. Das ist lebensgefährlich. Oder soll ich…«

»Nein, ich geh schon.« Klaus sprang auf. Er war im ersten Moment so überrascht gewesen, dass er gar nicht handeln konnte. Jetzt aber rannte er hinter Martina her, als gälte es, ihr Leben zu retten.

Er erwischte Martina gerade, als sie den Motor starten wollte. Hastig, noch ehe sie begriff, was geschah, fasste er ins geöffnete Fenster und zog den Schlüssel aus dem Schloss. Der Motor verstummte, kaum dass er angefangen hatte zu brummen.

»Was soll das?«

»Du bleibst hier«, herrschte er sie an. »Bist denn ganz narrisch geworden? Bald ist es Nacht, und bis du in Südtirol bist, haben wir hier längst Nachricht von dort. Dann können wir immer noch entscheiden, was wir tun.«

»Lass mich zufrieden. Ich bin alt genug.«

»Steig aus.«

»Das geht dich nix an. Es geht um meine Mutter. Wenn du dir

um deinen Vater keine Sorgen machst, dann ist das deine Entscheidung. Ich liebe meine Mutter, und ich muss ihr helfen.«

»Du kannst ihr am besten helfen, wennst hier abwartest, bis wir Nachricht bekommen haben. Ich versprech dir, wenn den Eltern wirklich was passiert ist, dann fahren wir sofort los.« Er öffnete gegen ihren Willen die Autotür und zog sie am Arm heraus.

»Du bist gemein, Klaus. Hätte ich dich nur nie kennengelernt, hätte meine Mutter deinen Vater net wiedergesehen, dann könnte sie jetzt noch leben.« Sie schluckte das Schluchzen hinunter, das ihr in der Kehle steckte.

»Wir wissen doch gar nix«, versuchte er, sie zu beruhigen. »Vielleicht ist alles gar net so schlimm, wie es jetzt noch ausschaut, und wir machen uns unnötig verrückt. Komm mit ins Haus und lass uns zusammen warten. Ich… möchte jetzt auch net allein sein.«

»Bist du doch net. Der Pfarrer ist da und der Polizist, alles Leute, mit denen du befreundet bist. Ich bin ein Fremdkörper hier, mich hast die ganzen Tage net angeschaut, bist mir aus dem Weg gegangen. Warum? Ich weiß es net, hab’ dir nix getan. Ich dachte, es wäre jetzt alles irgendwie in Ordnung zwischen uns beiden, aber da hab’ ich mich wohl geirrt. Nix ist in Ordnung. Und jetzt hab’ ich den einzigen Menschen verloren, den ich noch hatte. Bist jetzt zufrieden, Klaus Anstätter?« Verzweifelt schlug sie die Hände vors Gesicht.

Klaus machte einen großen Schritt auf sie zu, dann nahm er sie einfach in die Arme und hielt sie fest. Wie einem kleinen Kind redete er ihr zu, streichelte ihr Haar und ließ sie nicht mehr los, bis sie sich wieder ein wenig beruhigt hatte.

»Entschuldige«, murmelte Mar­tina verlegen und wischte sich über das Gesicht. »Ich darf mich net so gehen lassen. Du hast recht, ich kann niemandem helfen, wenn ich einfach so kopflos in die Nacht fahre.« Sie machte sich von ihm los und ging zum Haus zurück.

Klaus folgte ihr etwas verwirrt. Trotz der großen Sorgen, die er sich um den Vater und dessen Frau machte, hatte er die kurze Zeit, in der er die verzweifelt weinende Martina im Arm gehalten hatte, irgendwie genossen. Es war ein warmes Gefühl gewesen, vertraut und voller Träume. Trotz allem.

Jetzt war dieser Zauber wieder vorbei, und die grausame Wirklichkeit hatte ihn eingeholt.

Pfarrer Trenker und sein Bruder Max blieben noch bis gegen Mitternacht, aber es kam keine weitere Nachricht mehr. Max versuchte sein Glück noch einmal beim Polizeirevier von St. Vinzenz, aber da lief nur ein Anrufbeantworter, mit Hinweis auf eine allgemeine Notfallnummer. Vermutlich waren alle Beamten beim Rettungseinsatz an der Unglücksstelle.

»Wir können jetzt nix mehr machen«, meinte Max resigniert. »Vermutlich ist es das beste, wenn wir jetzt heimfahren. Ich geb dir sofort Bescheid, Klaus, wenn ich was erfahre. Macht euch net zu viele Sorgen. Es bringt nix«, sagte er noch zum Abschied.

Pfarrer Trenker schaute den beiden jungen Leuten forschend ins Gesicht. »Kann ich euch allein lassen, oder wäre es euch lieber, wenn ich bleib?«, fragte er, und man konnte ihm ansehen, wie sehr er mit ihnen fühlte.

Klaus schüttelte den Kopf. »Danke, Hochwürden, wir kommen schon zurecht. Wenn wir Ihre Hilfe brauchen, rufen wir sie an.« Er begleitete die beiden Männer noch zur Tür und wartete, bis sie abgefahren waren. Dann ging er zu Martina zurück.

»Wir sollten auch ins Bett gehen«, meinte die junge Frau, machte aber keine Anstalten aufzustehen. Sie spürte grenzenlose Müdigkeit im ganzen Körper, die sie am klaren Denken hinderte. Gleichzeitig spürte sie wieder diese entsetzliche Panik, wenn sie daran dachte, allein in ihrem Bett liegen und immer nur nachdenken zu müssen. Die Gedanken waren wie wilde Tiere, die man nicht vertreiben konnte.

»Ich will dir net zu nahe treten, aber was meinst du, wenn wir uns beide Decken nehmen und jeder schläft auf einem Sofa. Groß genug sind die beiden, dass wir uns ausstrecken können. So sind wir net allein und haben auch das Telefon in unserer Mitte.« Klaus war ein wenig verlegen, als er diesen Vorschlag machte, aber insgeheim musste auch er sich eingestehen, dass er vor dem Schreckgespenst Einsamkeit Angst hatte.

Als von ihr kein Widerspruch kam, holte er aus dem Schrank einige Wolldecken und reichte zwei davon Martina. »Wir sollten versuchen, etwas zu schlafen. Morgen werden wir vielleicht unsere ganze Kraft brauchen.« Er streckte sich auf dem Sofa aus, das dem anderen Sofa gegenüberstand.

Martina wickelte sich in die weichen Decken ein und schloss die Augen. Sie war überzeugt davon, dass sie keinen Moment würde schlafen können. Klaus machte die Deckenlampe aus, es war ziemlich dunkel im Zimmer. Irgendwann glitt die junge Frau trotz aller Ängste, trotz allen Kummers doch hinüber in das Reich der Träume. Es nahm sie gefangen und schenkte ihr für ein paar Stunden Vergessen.

Klaus hatte dagegen mehr Schwierigkeiten. Zu viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf, und trotz aller Sorgen, die er sich um den Vater und dessen Frau machte, empfand er Martinas Nähe nicht nur als angenehm, sondern als ausgesprochen beruhigend.

Viele Dinge gingen ihm durch den Kopf, auch sein wechselhaftes Verhalten, über das er sich bis jetzt kaum Gedanken gemacht hatte. Jetzt jedoch suchte er nach Antworten auf seine vielen Fragen. Vor allem den Grund suchte er dafür, dass er an einem Tag besonders liebenswürdig zu Martina gewesen war, am nächsten Tag jedoch abweisend, fast bösartig ihr das Leben auf dem Hof schwer gemacht hatte.

Jetzt dämmerte ihm langsam, woran das lag. Seine bittere Erfahrung mit Carola, die der Vater so überstürzt auf den Hof geholt und die es wirklich nur auf ein bequemes Leben abgesehen hatte, steckte ihm noch in den Knochen. Aber Martina und ihre Mutter waren anders. Sie waren offen und ehrlich, und sie wollten sich nicht nur verwöhnen lassen und das Leben genießen. Sie waren beide bereit, auch mit anzupacken, damit kein Stillstand eintrat.

Am liebsten hätte Klaus Martina jetzt noch einmal geweckt, um ihr zu sagen, wie leid ihm sein Verhalten der letzten Wochen tat, wie sehr er bereute, ihr das Leben so schwer gemacht zu haben, dass sie bereits zweimal von hier verschwinden wollte, ohne ihm etwas davon zu sagen.

Wie furchtbar musste es für Martina gewesen sein, dass ausgerechnet sie, die Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit in Person, wie eine Schwerverbrecherin behandelt wurde, der man nur nichts nachweisen konnte. Und das alles war aus dem Gefühl der Eifersucht geschehen, aus der Angst, die Liebe des Vaters zu verlieren. Dabei hätte er wissen müssen, dass dies gar nicht möglich war, dass er immer sein Vater sein würde, ein Band, das nur der Tod trennen konnte.

Jetzt fiel ihm der Unfall wieder ein, und die Angst um seinen Vater und auch um Monika wurde immer größer. In diesem Moment tat er einen Schwur, den er niemals brechen würde. Wenn der Vater und seine Frau wohlbehalten zurückkehrten, würde er mit Martina und auch mit Monika sprechen und ihnen alles erklären, selbst wenn er damit das Risiko einging, deren Freundschaft damit vollends zu verlieren.

Die Gewissensbisse wurden immer schlimmer. Klaus drehte sich auf seinem Sofa von einer Seite auf die andere, aber er wurde immer wacher. Schließlich war er so nervös, dass er aufstand und sich aus der Küche ein Glas Wasser und eine leichte Schlaftablette holte. Immerhin musste er am nächsten Morgen wieder fit sein. Nur nachdenken wollte er nicht, denn inzwischen konnte er sich selbst nicht mehr verstehen.

Nach einer guten halben Stunde endlich tat die Tablette ihre Wirkung. Klaus fielen die Augen zu, und die drückenden Gedanken kamen immer langsamer, zögernder. Schließlich war auch er eingeschlafen.

Das gnadenlose Schrillen des Telefons, das sie in die Mitte zwischen sich auf den Tisch gelegt hatten, holte beide aus ihren Träumen. Martina öffnete erschrocken die Augen und wusste im ersten Moment gar nicht, wo sie war und weshalb sie die Nacht nicht in ihrem eigenen Bett verbracht hatte, sondern in der Stube.

Klaus drehte sich brummend auf die andere Seite und zog sich die blaue Wolldecke über den Kopf. Die Wirkung der Tablette hatte noch kaum nachgelassen.

So war es Martina, die sich als Erste wieder erinnerte und den Hörer von der Gabel riss. Sie meldete sich mit Namen und lauschte. »Sind Sie ganz sicher? Ich meine…« Ihre Hand zitterte heftig, mit dem sie den Hörer ans Ohr presste.

Jetzt war auch Klaus ganz wach. Sofort standen auch die Ereignisse des gestrigen Nachmittags wieder vor seinem geistigen Auge. »Wer ist es?«, fragte er aufgeregt. »So red doch. Was ist mit den Eltern?«

Martina schwieg. Ihre Lippen zitterten. Sie bedankte sich und legte den Hörer auf die Gabel zurück. Dann schaute sie Klaus an, ohne etwas zu sagen.

»Ist es…. sind sie… tot?«

Martina schüttelte den Kopf. »Sie leben beide, und es geht ihnen gut.« Sie wirkte wie erstarrt, als könnte sie diese wundervolle Nachricht noch gar nicht glauben.

Klaus schüttelte den Kopf. Noch immer schien er nichts zu begreifen. Langsam erhob er sich und trat ans Fenster, starrte blicklos nach draußen.

Verwundert schaute Martina ihm nach. Sie wusste nicht, was sie von seinem Verhalten denken sollte. Eigentlich hatte sie erwartet, dass er in Jubel ausbrechen würde. Und nun kam gar nichts.

Da sah sie, dass seine Schultern zuckten. Er weinte. Die Anspannung der letzten Stunden fiel von ihm ab, und er hatte plötzlich keine Kontrolle mehr über seine Reaktion. Erst als er eine sanfte Hand auf seiner Schulter spürte, zuckte er zusammen, wischte sich hastig das Gesicht ab. »Es ist nix«, murmelte er und wandte sich ab.

»Ich weiß«, antwortete Martina leise. »Ich weiß…«

*

Zwei Tage später kamen Paul und seine Frau um eine Woche früher als geplant nach Hause zurück. Sie sahen glücklich aus, doch auch, wenn der Unfall keine Verletzungen verursacht hatte, so sah man ihnen die Anspannung der letzten Tage doch an.

Martina hatte zur Begrüßung eine Torte gebacken und den Ess­tisch schön mit Blumen dekoriert, und Klaus hatte sich beeilt, damit er mit der täglichen Arbeit auf dem Hof heute etwas früher fertig wurde, um Zeit für Vater und Stiefmutter zu haben.

Beide freuten sich sehr, die Eltern bald wieder um sich zu haben.

Endlich würde das Schreckgespenst der Unfallmeldung sein Gesicht verlieren, wenn sie sich selbst davon überzeugt hatten, dass nichts geschehen war.

Die Wiedersehensfreude war auf beiden Seiten sehr groß. Bis weit in die Nacht hinein saßen sie am Tisch, und die Eltern erzählten und erzählten, auch von dem Unfall, der zum Glück kein Menschenleben gekostet hatte. Einige der Mitfahrenden waren leicht verletzt worden, aber keiner hatte lange im Krankenhaus behandelt werden müssen.

Der Bus war lediglich ein ganzes Stück einen Abhang hinuntergesaust, doch seine Fahrt war durch das Können des Fahrers rasch gebremst worden, der den Bus immer wieder an die Felswand gelenkt und diese gestreift hatte, um das Tempo auf diese Weise zu drosseln. Die Zeit bis zur Entdeckung und Bergung der Buspassagiere hatte sich allerdings als eine nervenzerfetzend langwierige Angelegenheit gestaltet. Zumal sich niemand mit dem Handy mit der Außenwelt in Verbindung setzen konnte, da sie offensichtlich in einem Funkloch gelandet waren.

Monika versuchte immer wieder, im Gesicht ihrer Tochter zu lesen, ob sich das Verhältnis zwischen den beiden jungen Leuten inzwischen gebessert hatte. Doch Martina konnte ihr dazu nichts sagen und auch nichts signalisieren, denn sie wusste es selbst nicht.

Zwar hatte sich seit jenem Morgen, als sie Klaus in Tränen gesehen hatte, einiges gebessert, doch eine klärende Aussprache hatte es noch immer nicht gegeben. So war die junge Frau noch immer entschlossen, bald nach Starnberg zurückzukehren.

Spät in der Nacht verabschiedeten sich die Eheleute von ihren Kindern, denn sie waren rechtschaffen müde. Monika folgte ihrer Tochter noch in die Küche unter dem Vorwand, ihr beim Spülen helfen zu wollen. Die beiden Männer blieben bei einem Glas Wein in der Stube.

»Und, wie ist es gelaufen?«, fragte die Mutter, nachdem sie leise die Tür geschlossen hatte. »Ich hab’ mir große Sorgen gemacht, ob hier auch alles läuft, nachdem du und Klaus ständig im Kampf gelegen hattet. Hat sich euer Verhältnis endlich etwas gebessert?«

Martina fiel ihrer Mutter um den Hals. »Ich bin so unendlich glücklich, Mutti, dass du heil wieder da bist. Du kannst dir net vorstellen, was für Angst wir um euch gehabt haben«, sagte sie statt einer Antwort auf die Frage.

»Wir haben uns ja gleich gemeldet, als wir endlich wieder im Ort waren. Zuvor bat ich einen der Polizisten, so schnell wie möglich bei euch anzurufen, was er ja auch getan hat.« Liebevoll streichelte die Mutter über den Rücken ihrer Tochter. »Und nun erzähl, wie ist es gelaufen?«

Martina lachte leise, aber es klang nicht besonders fröhlich. »Wir hatten anfangs ganz schön Schwierigkeiten, aber das hat sich ziemlich schnell gebessert.« Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, doch wozu sollte sie der Mutter das Herz schwer machen?

»Dann wirst du Pauls Angebot annehmen und im Gästehaus mitarbeiten?«, fragte sie hoffnungsvoll. Schon oft hatte sie ihrer Tochter zu verstehen gegeben, dass sie nichts lieber sehen würde, als dass auch sie hier ihre Heimat fand.

Martina zuckte die Schultern. »Ich weiß noch net, was ich machen werde«, antwortete sie ausweichend. »Zuerst muss ich sowieso nach Starnberg zurück. Ich war viel zu lang schon weg. Zwar hat Petra, meine Nachbarin, die Post bearbeitet und mir gesagt, dass nichts Wichtiges dabei war, doch ich will mich selbst von allem überzeugen.«

»Dagegen hab’ ich nix«, antwortete die Mutter lächelnd, »solange du wieder zu mir zurückkommst. Ich kann mir vorstellen, dass wir hier alle als eine wunderbare Familie zusammen leben können.«

Martina zweifelte noch immer daran, aber das wollte sie der Mutter nicht zeigen, ihr nicht das Glück zerstören, das sie wirklich verdient hatte. »Es ist doch in Ordnung, wenn ich morgen fahre?«

Monika war etwas enttäuscht, aber sie zeigte es nicht. »Natürlich ist es in Ordnung, auch wenn ich dich jetzt schon vermisse, mein Schatzerl.«

Hand in Hand brachten die beiden Frauen die Küche in Ordnung, und dann gingen auch sie ins Bett. Klaus und sein Vater saßen noch länger in der Stube. Sie hatten sich viel zu erzählen. Und zum ersten Mal war Klaus mit seinem Vater einer Meinung. Auch er wollte jetzt, dass Martina die Geschäftsführung für das neue Gästehaus übernahm, und auch zum ersten Mal gestand er sich ein, dass er Martina liebte.

Am nächsten Vormittag hatte Martina erneut ihre Taschen ins Auto gebracht, die sie seit ihrer wegen des Unfalls verschobenen Abfahrt nicht ausgepackt hatte. Monika stand am Auto, um sich von ihrer Tochter zu verabschieden, und auch Paul kam im letzten Moment noch angelaufen, um sie zum Abschied in die Arme zu nehmen.

Nur Klaus ließ sich nicht blicken. Paul sagte, dass sein Sohn schon früh in den Ort gefahren sei, um unaufschiebbare Termine wahrzunehmen, doch Martina merkte deutlich, dass dies nicht die Wahrheit war. Aus seinem Verhalten schloss sie, dass Klaus froh war, sie endlich vertrieben zu haben.

Die Enttäuschung trieb ihr die Tränen in die Augen, die ihren Blick verschleierten. Immer wieder musste sie ihre Fahrt unterbrechen, bis die Tränen versiegt waren.

Ihre kleine Wohnung war gut gelüftet und sah aus, als sei sie eben erst gegangen. Die Nachbarin hatte ausgezeichnet für alles gesorgt. Und doch fühlte sich Martina so fremd in den Räumen, die sie früher immer als kuschelig und anheimelnd empfunden hatte, weil sie all ihre Lieblingsdinge enthielten.

Ihr erster Weg führte zum Telefon, um die Mutter von ihrer Ankunft zu unterrichten, und der nächste Weg war zum Briefkas­ten. Einige Aufträge waren gekommen und sehr viel Werbung. Auch die Post, die Petra auf den Schreibtisch gelegt hatte, brachte keine Überraschungen.

Stöhnend ließ sich Martina aufs Sofa fallen. Sollte das alles gewesen sein, ihr Ausflug in die Welt der Liebe, ihre Begegnung mit einem Mann, der sie zwar geküsst, sie gleichzeitig aber auch verachtet hatte? Nein, das hatte sie nicht nötig. Nicht einmal verabschiedet hatte Klaus sich von ihr. Deutlicher konnte er ihr seine Verachtung nicht zeigen.

Martina legte den Kopf zurück und starrte an die weiße Decke. Wie leer würde ihr Leben ab jetzt verlaufen? Die Mutter war Stunden entfernt, Freunde hatte sie wegen Zeitmangel ohnehin keine nennenswerten, und der Mann, den sie liebte, hatte nur Verachtung für sie, obwohl dazu gar kein Grund bestand.

Plötzlich begann Martina zu schluchzen. Sie wollte es nicht, aber es kam einfach über sie. Ihr Herz blutete, und ihre Seele fühlte sich unendlich verlassen. Die Sehnsucht nach Klaus wurde immer stärker, und doch wusste sie gleichzeitig, dass sie niemals Erfüllung finden würde.

Irgendwann musste Martina trotz ihres Kummers eingeschlafen sein, denn als sie die Augen öffnete, war es im Raum bereits dämmrig. Was hatte sie geweckt, ein Geräusch, eine Bewegung?

Da war es wieder. Es hatte an ihrer Wohnungstür geläutet. Nur kurz, deshalb hatte sie es wohl in ihren Traum mit eingebunden.

Martina rieb sich die vom Weinen verschwollenen Augen. Eigentlich wäre es besser, sie würde in diesem Zustand nicht an die Wohnungstür gehen. Nicht einmal ihrer Nachbarin wollte sie so unter die Augen treten, denn Petra hätte mit Sicherheit gefragt, wa­rum sie geweint hatte.

Als es erneut klingelte, überwand sie ihren inneren Widerstand und ging zur Tür. Einen Moment lang zögerte sie noch, doch dann drehte sie den Schlüssel um und drückte die Klinke nieder.

»Ja bitte?«

»Martina, ich…«

Erschrocken prallte die junge Frau zurück. »Klaus, was ist, wa­rum…«

»Darf ich reinkommen?«

Sie trat zur Seite. »Ist was passiert? Warum bist du gekommen?«

»Ich konnte mich heute früh net von dir verabschieden, weil…«

»Und jetzt bist gekommen, um das nachzuholen?« Sie lächelte ihn verwirrt an. »Ich versteh net, was du mir sagen willst.«

Wie ein kleiner unglücklicher Junge stand der Mann vor ihr und schaute sie schuldbewußt an. »Ich war so ein Depp«, sagte er leise. »Die ganze Zeit dachte ich, ich müßte dich aus meinem Reich ekeln, damit niemand mir die Liebe meines Vaters nehmen kann. Ich konnte es schon net ertragen, dass Monika einen Platz in seinem Herzen bekommen hatte. Aber das konnte ich noch irgendwie einsehen. Nur dass da auch noch so eine Art Tochter da war, die ebenfalls einen Platz beansprucht, damit konnte ich net umgehen. Dabei hatte ich mich längst in dich verliebt, konnte es nur für mich net akzeptieren.«

Martina schwieg. Sie konnte nicht so einfach glauben, was er ihr da sagte. »Hat dein Vater dich geschickt? Er sagte heute früh, dass du zu arbeiten hast und dich deshalb net von mir verabschieden konntest.«

»Das war net die Wahrheit«, bekannte Klaus verlegen. »Ich wollte dir net Lebwohl sagen, weil ich es net ertragen konnte, dass du gehst.«

»Warum hast net mit mir drüber geredet?«

»Mein Vater erzählte mir in der Frühe, dass du dabei bist, deine Sachen ins Auto zu packen. Ich hab’ das net verstanden, dachte, unser gutes Verhältnis die letzten Tage sei von dir nur gespielt gewesen.«

»Ich hab’ nie gespielt, weder die Freundlichkeit noch den Zorn gegen dich«, konterte Martina, die langsam begriff, was er ihr überhaupt sagen wollte. »Ich war immer ehrlich zu dir. Du hast mich ja net akzeptiert, hast mir unterstellt, meine Mutter und ich hätten es nur auf euer Vermögen abgesehen. Aber das ist ein Irrtum. Die Wohnung, in der du dich befindest, gehört mir und sie ist sogar schon abbezahlt. Das hab’ ich alles mit meiner Arbeit verdient.« Stolz lag in ihrer Stimme, aber auch Trauer über die üble Meinung, die er von ihr hatte.

»Es ging mir nie um Geld.«

»Warum bist jetzt gekommen? Doch net, um dich nachträglich noch von mir zu verabschieden«, versuchte sie einen kleinen Scherz, um der Situation die bedrückende Stimmung zu nehmen. »Magst dich setzen? Ich kann uns einen Kaffee aufbrühen. Allerdings weiß ich net, ob er dir schmecken wird, die Packung hab’ ich an dem Tag geöffnet, an dem ich mit meiner Mutter zu euch gefahren bin.«

»Er wird mir schmecken.« Zum ersten Mal glitt ein kleines Lächeln über das Gesicht des Mannes. »Kannst mir noch einmal verzeihen, Martina?«

Eigentlich hatte Martina auf etwas anderes gewartet, hatte gehofft, er würde ihr seine Liebe erklären und sie bitten, wieder nach St. Johann zurückzukehren, vielleicht sogar als seine Frau. Aber er sagte nichts dergleichen, sondern setzte sich aufs Sofa und schaute sich interessiert um. »Schön hast es hier.«

»Ja, ich hab’ die Wohnung so eingerichtet, dass ich mich hier wohlfühle«, rief sie aus der Küche zurück. »Ich hab’ von meiner Nachbarin einen Käsekuchen bekommen zur Begrüßung. Magst ein Stück?«

»Gern.« Am liebsten wäre Klaus aufgesprungen und hätte Martina auf Knien um ihre Hand gebeten. Doch eine seltsame Angst vor Zurückweisung hielt ihn zurück. Er schaute der Frau zu, die zwei Teller mit appetitlichen Kuchenstückchen auf den Tisch stellte und eine Kanne dampfenden Kaffee dazu.

»Mit Milch oder Sahne?«

»Sahne bitte.« Klaus wusste nicht, weshalb er das sagte, denn gewöhnlich trank er seinen Kaffee schwarz. Sein Blick folgte der Frau, die noch einmal in die Küche ging, um einen Becher Sahne zu holen.

Nun musste Klaus seinen Kaffee mit Sahne weißen, obwohl er das gar nicht mochte. Doch Martina zuliebe würde er auch das tun.

»Es ist schon Abend«, meinte Martina nach einer Weile. »Willst du heute noch zurückfahren?«

Klaus wußte, dass jetzt der Augenblick der Wahrheit gekommen war. Er musste Martina endlich alles gestehen. Mit leisem Klirren stellte er seine Tasse und das Tellerchen zurück.

Erschrocken schaute die Frau auf. »Ich will dich net wegschicken«, versicherte sie hastig, weil sie dachte, er hätte ihre Bemerkung als Rauswurf gedeutet. »Aber da es schon spät ist, sollte ich wissen, wie du die Nacht verbringen willst. Wennst mit dem Sofa vorliebnimmst, kannst gern auch hierbleiben.«

Schweigend schaute Klaus sie an. Dann schüttelte er den Kopf. »Wo ich die Nacht verbringen werde, steht noch net fest«, sagte er leise. »Es kommt darauf an, was du mir jetzt antwortest.«

»Du hast mich nix gefragt«, sagte Martina verwirrt. Etwas war in seiner Stimme, das ihr signalisierte, wie wichtig dieser Augenblick war.

»Ich weiß, dass ich dir in den vergangenen Wochen das Leben ziemlich schwer gemacht habe«, begann er stockend. »Aber ich habe es net aus Willkür getan, sondern – weil ich dich liebe. Ich hab’ mich gegen diese Gefühle gewehrt, hatte immer noch Carola vor Augen. Du musstest es ausbaden, was sie angerichtet hatte. Das tut mir von Herzen leid, und ich hoffe, du gibst mir Gelegenheit, das alles wiedergutzumachen.«

»Wie meinst du das?«

»Mein ganzes Leben will ich dafür verwenden, dir meine Welt zu Füßen zu legen. Du bist die Frau meines Herzens, mit dir möchte ich leben, eine Familie gründen. Gemeinsam werden wir mit unseren Eltern den Hof zum Blühen bringen, und ich werde dich auf Händen tragen.«

Martina saß da wie erstarrt. Schließlich hielt sie die Stille, die sich plötzlich auftat, nicht mehr aus. Hastig sprang sie auf und trat ans Fenster. Da hatte sie sich die ganze Zeit gewünscht, er möge sie lieben und ihr das auch sagen. Und nun tat er es, und sie hatte mit einem Mal Angst davor.

»Martina, sag doch was.«

Sie zuckte die Schultern. »Ich…, damit hab’ ich nie gerechnet«, murmelte sie kaum hörbar, ohne sich umzudrehen. »Ich dachte immer, du bist mein Feind.«

Klaus nahm seinen ganzen Mut zusammen und trat neben sie. »Dein Feind?«, wiederholte er erschrocken. »War ich so fürchterlich?«

Martina drehte sich zu ihm um. Ein feines Lächeln lag um ihre Lippen. »Noch fürchterlicher«, gestand sie mit bebender Stimme. »Aber ich kann dir verzeihen und dich auch irgendwie verstehen.«

»Und lieben?«, fragte Klaus traurig, denn er glaubte auf einmal, ihre Liebe mit seiner Eifersucht verscherzt zu haben.

»Und lieben«, antwortete Martina und lächelte noch immer.

Vor Erleichterung traten Klaus Tränen in die Augen. Doch er schämte sich nicht dafür, denn es waren Tränen des Glücks. Fest nahm er die junge Frau in die Arme, als wollte er sie nie wieder loslassen. »Ich liebe dich so sehr«, flüsterte er ihr zu.

»Und ich liebe dich unendlich, nur deshalb habe ich mir alles von dir gefallen lassen. Ich habe gespürt, dass du schwerwiegende Gründe für dein Verhalten hattest, und konnte es deshalb ertragen.«

»Bis heute früh«, fügte er hinzu.

Sie nickte. Dann bot sie ihm ihre Lippen zum Kuss. »Jetzt wollte ich endlich eine Entscheidung, deshalb bin ich gegangen.«

Klaus streichelte über ihr Gesicht. »Die Entscheidung ist gefallen«, sagte er. »Wir haben uns für die Liebe entschieden.« Dann küsste er sie.

Einen Monat später wurde in St. Johann eine große Hochzeit gefeiert. Pfarrer Trenker ließ es sich auch dieses Mal wieder nicht nehmen, eine eigene Ansprache für das Brautpaar zu halten.

»Wieder hat die Liebe gesiegt«, waren die letzten Worte dieser Rede, und alle Anwesenden konnten an dem leisen Vibrieren in seiner Stimme hören, dass auch er ergriffen war. Mit liebevollem Lächeln wanderte der Blick des Pfarrers über seine Schäfchen, während vom Kirchturm die Glocke für das Glück zweier Menschen läutete.

Der Bergpfarrer Staffel 20 – Heimatroman

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