Читать книгу Der Bergpfarrer Staffel 21 – Heimatroman - Toni Waidacher - Страница 9

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Heike Burckhard öffnete die Wohnungstür und strahlte ihre Freundin an, die davor stand.

»Hey, da bist du ja! Komm’ doch herein. Wir haben noch ein paar Minuten.«

»Die brauche ich auch, um mich zu regenerieren«, antwortete Stephanie Wagner lachend. »Ein fürchterlicher Wind ist das. Ich muss ja grauenhaft aussehen!«

Sie betrat die kleine Penthousewohnung, in der Heike seit zwei Jahren lebte, und ging gleich ins Badezimmer.

»Ich mach’ uns was zu trinken«, sagte die Freundin, »den Prosecco hab’ ich schon heut’ Mittag kalt gestellt.«

»Aber nur ein Glas«, rief Steffi aus dem Bad, »wir wollen schließlich net schon angetrunken ankommen. Wie ist er denn so?«

»Wer?«

»Wer! Dein neuer Nachbar natürlich! Ich denk’, wir gehen auf seine Einweihungsparty?«

»Nett«, rief Heike.

»Net? Aber wieso denn net? Hat er dich wieder ausgeladen?«

»Wer?«

»Na, dein Nachbar! Hast du net grad gesagt, wir geh’n doch net auf die Einweihungsparty?«

Steffi hatte ihre Haare geordnet, Lippenstift und etwas Rouge aufgelegt. Aber nur ganz wenig, denn wirklich nötig hatte sie es nicht. Die Dreiundzwanzigjährige hatte ein hübsches, oval geformtes Gesicht, mit einem mandelförmigen Augenpaar. Das dunkle schulterlange Haar kontrastierte auf aparte Weise mit dem Blau der Augen. Sie trug eine modische Jeans, die sich eng an ihre schlanken Beine schmiegte, und ein strassbesetztes Oberteil. Ein schmales goldenes Kettchen bildete den einzigen Schmuck.

Heike Burckhard erschien in der Badezimmertür, zwei Gläser in den Händen, von denen sie eines der Freundin reichte.

Sie war ebenfalls dreiundzwanzig Jahre alt und arbeitete, genau wie Steffi, auch in der Bankfiliale, ganz in der Nähe vom Stachus.

»Wieso hab’ ich gesagt, wir gehen net auf die Party?«, schüttelte sie den Kopf. »Du hast gefragt, wie er so ist, der neue Nachbar, und ich hab’ gesagt, er ist nett.«

»Ach so«, lachte Steffi, »entschuldige, da hab’ ich dich völlig missverstanden.«

»Macht ja nix. Jetzt lass uns erstmal anstoßen. Prost!«

Sie tranken den herrlich prickelnden italienischen Schaumwein in einem Zug aus.

»Ah, das tut gut«, meinte Heike.

»Aber das ist auch das einzige an Alkohol, was ich heut’ zu mir nehmen werd’«, erklärte Steffi. »Wer weiß, was ich sonst noch für Dummheiten anstelle. Außerdem muss ich ja auch noch nach Hause fahren.«

»Bist du etwa mit dem Auto gekommen?«, fragte die Freundin erstaunt.

»Nein, natürlich net! Mit dem Bus. Aber vielleicht steig’ ich ja dann in den Falschen ein, wenn ich zu viel intus hab’«, schmunzelte Stephanie Wagner.

»Du kannst doch hier schlafen«, schlug Heike vor. »Und morgen frühstücken wir schön zusammen, oder wir gehen in ein Lokal zum ›Sonntagsbrunch‹.«

»Klingt verlockend. Aber ich muss morgen unbedingt mal nach Hause. Meine Eltern beschweren sich schon und behaupten, dass sie mich gar net mehr zu Gesicht bekämen.«

»Schade, aber net zu ändern.«

Heike winkte mit ihrem Glas.

»Also gut, belassen wir’s bei dem einen«, meinte sie augenzwinkernd, »der Abend ist ja noch lang’.«

In aufgeräumter Stimmung machten sich die beiden Madeln auf den Weg zur Einweihungsparty. Andreas Brunner hieß der neue Nachbar, der vor ein paar Tagen in die Wohnung unter der von Heike Burckhard gezogen war. Beim Einzug hatte er für längere Zeit den Aufzug blockiert und sich dafür bei den anderen Mietern mit der Einladung entschuldigt.

Als die Freundinnen die Treppe herunterkamen, hörten sie schon die Musik aus der Wohnung dröhnen. Es lebten vorwiegend jüngere Leute in dem Apartmenthaus, die sich gewiss nicht daran störten, dass es an diesem Abend etwas lauter war als sonst – zumal der neue Nachbar sie ja alle eingeladen hatte.

Die Wohnungstür stand offen, ein Schild klebte daran, auf dem ›Herzlich willkommen!‹ stand, und aus den Boxen der Musikanlage erklang ›Dancing Queen‹ von ›Abba‹, der früheren schwedischen Popgruppe. Schon im Wohnungsflur drängten sich viele Partybesucher, Stimmen und Gelächter tönten durcheinander. Heike zog Steffi mit sich; die beiden drängten sich durch die Menge, und es dauerte eine Weile, bis sie sich zum Wohnzimmer durchgekämpft hatten.

Dort war ein großes kaltes Büfett aufgebaut und ein langer Tapeziertisch diente als Bar. Etliche Flaschen und Gläser standen darauf, sogar ein kleines Fässchen Bier, aus dem fleißig gezapft wurde.

Heike schaute sich suchend um und deutete auf einen schlanken jungen Mann, mit kurzen dunklen Haaren, der an der ›Bar‹ stand und Gläser mit irgendwelchen Mixgetränken füllte.

»Da ist er ja!«, rief sie durch den Lärm.

Steffi sah hinüber – und hatte das Gefühl, ihr würde jeden Moment das Herz stehen bleiben.

Was hatte die Freundin gesagt, wie ihr neuer Nachbar sei? Nett?

Das war eine ganz und gar unglaubliche Untertreibung!

Zwar hatte sie noch kein Wort mit ihm gewechselt, aber trotzdem war Steffi davon überzeugt, noch nie in ihrem Leben einen charmanteren Mann gesehen zu haben. Nicht nur, dass er unverschämt gut aussah, alleine sein Lachen, mit dem er den anderen Gästen die Drinks reichte, brachte ihr Herz zum Schmelzen.

Ihre Hand zitterte ein wenig, als sie sie ihm reichte.

»Das ist meine Freundin Steffi«, stellte Heike sie vor. »Ich hoffe, es ist in Ordnung, dass ich sie mitgebracht habe?«

»Aber klar«, nickte der Gastgeber und drückte ihre Hand. »Ich bin Andreas. Amüsiert euch gut. Was darf’s denn zu trinken sein?«

Er mixte ihnen einen exotischen Cocktail, dessen Name Steffi allerdings gleich wieder vergaß, weil sie viel zu aufgeregt war. Mit dem Glas in der Hand schaute sie sich um. An den Wänden hingen zahlreiche Fotografien, denen man auf den ersten Blick ansah, dass ein Profi sie gemacht hatte. Porträts, aber auch Landschaftsaufnahmen. Eindrucksvoll und faszinierend wirkten sie auf jeden Betrachter. Vor allem das Foto einer jungen Frau ließ Steffi nicht mehr los. Atemberaubend schön war sie und lehnte an einem Felsen. Der Wind spielte mit ihrem schulterlangem Haar und presste ein dünnes Kleid an den makellosen Körper, sodass dessen Umrisse sichtbar wurden. So enthüllte das Kleidungsstück mehr, als es verdeckte. Dennoch war es keineswegs ein billiges, ordinäres Foto, sondern eines von ästhetischer Schönheit.

»Andreas ist Berufsfotograf«, erklärte Heike, die sich zu Steffi gesellte, nachdem sie sich mit einem anderen Gast unterhalten hatte.

Sie nickte in die Runde.

»Nette Mischung, was?«

Steffi Wagner nickte. Offenbar hatte Andreas Brunner einen großen Freundeskreis, denn so viele Leute, wie hier versammelt waren, wohnten nicht in diesem Haus. Aber Heike hatte Recht, die Mischung stimmte.

Es herrschte eine tolle Stimmung, es wurde gegessen, getrunken, getanzt und gelacht. Die beiden Freundinnen hatten sich gerade am Büfett gestärkt, als die Musik plötzlich abbrach. Alle schauten auf Andreas, der sich auf einen Stuhl gestellt hatte, ein Mikrophon in der Hand.

Steffi ging einen Schritt vor, um ihn besser sehen zu können, und spürte förmlich, wie der Stachel der Eifersucht sie aufspießte, denn an Andreas’ Seite stand genau jene Schönheit, deren Foto auch an der Wand des Wohnzimmers hing.

*

Der Fotograf bedankte sich in einer kurzen Rede bei seinen Gästen für ihr Erscheinen und die netten Mitbringsel, doch davon bekam Steffi kaum etwas mit. Sie hatte sich zurückgezogen und stand dicht am Eingang zum Wohnzimmer. Vor ihr hatte sich eine Traube gebildet, die nicht zuließ, dass sie einen Blick auf Andreas Brunner erhaschen konnte. Doch das wollte sie auch gar nicht.

Stefanie stand einfach nur da und fragte sich, was in sie gefahren war, dass sie sich jetzt so – überflüssig fühlte.

Was ist denn bloß los mit mir?, überlegte sie. Ich kenne diesen Mann nicht einmal zwei Stunden und stelle mich an wie eine eifersüchtige Ehefrau! Dabei hatte ich mir doch geschworen, dass ich mich net wieder so schnell verlieben werd’.

Es war gerade mal vier Wochen her, dass die Beziehung zu Thomas Berger in die Brüche gegangen war. Über ein Jahr lang waren sie ein Paar gewesen, und Steffi war schon sicher gewesen, einen Glücksgriff getan zu haben. Thomas schien der Mann ihrer Träume zu sein. Er sah gut aus, war charmant und zuvorkommend, ein blendender Unterhalter und gefragter Tanzpartner auf Partys. Aber dann, sie hatten gerade überlegt, ob sie nicht zusammenziehen sollten, zogen dunkle Wolken über ihrem Glück auf. Immer häufiger gab es Streitereien, meist nur über belanglose Kleinigkeiten, die aber immer in Wut und Tränen endeten. Zwar raufte man sich wieder zusammen, doch währte der Frieden selten länger als ein paar Wochen. Nach einer besonders harten Auseinandersetzung trennten sich Steffi und Thomas schließlich.

Es dauerte natürlich seine Zeit, bis sie darüber hinweggekommen war, und besonders Heike stand ihr zur Seite und tröstete sie. Steffi hatte sich geschworen, dass sie sich nicht so schnell wieder verlieben wollte, doch nun musste sie feststellen, dass genau das geschehen war.

Die Musik hatte längst wieder eingesetzt. Heike kam auf sie zu und schaute sie fragend an.

»Hier steckst du. Ist was?«

Steffi schüttelte den Kopf.

»Ich glaub’, ich geh’ jetzt lieber«, sagte sie.

Die Freundin war bestürzt.

»Jetzt schon? Gefällt’s dir net?«

»Doch, doch. Es ist nur – du weißt doch, dass ich morgen zu meinen Eltern fahren will. Bitte entschuldige mich bei Andreas. Es war ein sehr schönes Fest.«

Noch ehe Heike Burckhard etwas sagen konnte, hatte Steffi sie umarmt und war gegangen. Als sie die Tür hinter sich ins Schloss gezogen hatte, lehnte sie sich dagegen und atmete erst einmal auf. Dumpf drang die Musik an ihre Ohren und erinnerte sie daran, dass sie nicht einmal getanzt hatte. Schließlich straffte sich ihre Gestalt, und Steffi Wagner lief schnell die Treppe hinunter, trat aus der Haustür hinaus und lief zur Bushaltestelle hinüber, die knapp fünfzig Meter auf der anderen Straßenseite war. Sie hatte Glück, der nächste Bus fuhr in ein paar Minuten. Als sie eingestiegen war, setzte Steffi sich so, dass sie das Haus nicht sah, an dem der Bus vorüberfuhr.

Doch so ganz konnte sie es nicht verhindern, denn die Lichter in den Fenstern spiegelten sich in den Seitenscheiben des Busses.

Zwanzig Minuten später war sie zu Hause angekommen und schloss die Wohnungstür auf. Steffi Wagner hatte die gemütliche Dreizimmerwohnung vor zwei Jahren bezogen. Inzwischen war sie heilfroh, dass sie sie damals, als sie erwogen hatte, mit Thomas zusammenzuziehen, nicht aufgegeben hatte. Rasch machte sie sich fürs Bett fertig, setzte sich dann aber doch noch vor den Fernseher.

Ausgerechnet ein Liebesfilm!

Nein, das wollte sie sich dann doch nicht antun. Seufzend schaltete sie das Gerät wieder aus, nachdem sie einmal sämtliche Programme durchgesehen hatte und feststellen musste, dass wieder einmal nichts gesendet wurde, was sie wirklich interessiert hätte. Steffi las noch ein paar Seiten, bevor sie das Licht löschte und die Augen schloss.

Allerdings wollte es ihr nicht gelingen, gleich einzuschlafen. Immer wieder musste sie an Andreas Brunner denken und sah dann automatisch auch die graziöse Schönheit an seiner Seite.

Wer mochte diese Frau wohl sein? Seine Freundin vielleicht?

Möglicherweise waren sie sogar verlobt und hatten die Absicht zu heiraten… Groß genug war die Wohnung ja, dass zwei Personen darin leben konnten.

Allerdings – wäre die Frau dann nicht auch als Gastgeberin aufgetreten?

Steffi wühlte sich aus dem Bett und tastete sich im Dunkeln in die Küche, wo sie sich ein Glas Milch aus dem Kühlschrank holte.

»Was machst’ dir bloß für Gedanken!«, murmelte sie vor sich hin, während sie wieder ins Bett ging. »Wahrscheinlich denkt der Typ morgen schon net mehr an dich – wenn er dich net längst vergessen hat.«

Irgendwann schlief sie dann doch ein und wachte am Morgen später auf, als es ihre Absicht gewesen war. Steffi frühstückte auf dem kleinen Balkon und machte sich dann auf den Weg zu ihren Eltern, die in einem kleinen Ort in der Nähe von München wohnten.

Wie immer hatte Liesl Wagner reichlich fürs Mittagessen gekocht. Steffi fragte sich, wer die Berge von Knödeln, die Unmenge Kraut und den riesigen Schweinebraten essen solle. Von der Vorsuppe und dem Nachtisch ganz abgesehen …

Früher, als Thomas noch mitgekommen war, hatte es wohl seinen Grund gehabt. Er war ein guter Esser, und bei Steffis Mutter schmeckte es ihm immer besonders gut.

Wahrscheinlich rechnete sie damit, dass ich noch jemanden mitbringe, dachte Steffi, während sie ein Grießnockerl, das in ihrer Suppe schwamm, zerteilte.

Aber da gab es niemanden, den sie hätte mitbringen können …

»Du schaust müd’ aus«, meinte ihr Vater, als sie bei Tisch saßen. »Ist wohl spät geworden gestern Abend, was?«

Die Tochter ging nicht auf die Bemerkung ein.

»Wahrscheinlich arbeitest’ auch zu viel«, warf ihre Mutter ein. »Wann hast’ denn eigentlich Urlaub?«

»Das dauert leider noch ein paar Wochen«, erwiderte Steffi.

»Hast’ dir schon überlegt, wohin du fährst?«, wollte Gustav Wagner wissen.

Sie schüttelte den Kopf. Die Eltern fuhren immer, seit vielen Jahren schon, an die Nordsee. Dem konnte Steffi aber nichts abgewinnen. Früher war sie notgedrungen mitgefahren, aber viel lieber verbrachte sie die Ferien in ihrer bayerischen Heimat. Sehr oft war sie in den Bayerischen Wald gefahren, oder im Winter, wenn es ge­passt hatte, zum Skifahren in die Berge.

»Mal sehen«, antwortete sie. »Wahrscheinlich zum Wandern in die Berge.«

Ihr Vater nickte.

»Weißt du, früher, als du noch net geboren warst«, erzählte er, »da sind wir, die Mama und ich, auch ab und an in die Berge gefahren. Von München aus, wo wir damals wohnten, ist’s ja nur ein Katzensprung. Ich fand’s immer sehr schön dort. Aber dann wollt’ deine Mutter lieber mal an die See, und da sind wir dann schließlich auch dabei geblieben.«

»Wo wart ihr denn, wenn ihr in die Berge gefahren seid?«, erkundigte sich Steffi.

»Ach, das war immer ganz verschieden. Es ist ja überall schön dort. Aber an einen Ort erinnre ich mich besonders gern, St. Johann heißt er. Es hat uns so gut gefallen, das wir sogar mehrmals hingefahren sind.«

Gustav Wagner wandte sich seiner Frau zu, die den Braten anrichtete.

»Sag’ mal, erinnerst du dich, wie die Pension hieß, in der wir seinerzeit gewohnt haben?«, rief er.

Liesl Wagner drehte den Kopf.

»Welchen Ort meinst’ denn überhaupt?«

»Na, damals, in St. Johann.«

Steffis Mutter kam an den Tisch.

»Ach du meine Güte«, meinte sie und zuckte die Schultern, »das ist doch eine Ewigkeit her! Wie soll ich das jetzt noch wissen?«

Sie stellte die Platte mit dem Braten hin und setzte sich.

»Lass mich mal überlegen«, sagte sie nachdenklich.

»Schon gut, Mutter«, winkte ihr Mann ab, »ich schau nach dem Essen mal die Fotoalben durch. Ganz sicher hab’ ich neben den Fotos auch einen Hausprospekt eingeklebt.«

Nachdem sie sich durch Braten, Knödel und Kraut gekämpft hatten, saßen sie ermattet am Tisch. Während Liesl Wagner den Nachtisch holte, ging ihr Mann in die Wohnstube und suchte nach dem Fotoalbum. Lange brauchte er nicht zu suchen, denn sorgfältig wie er war, hatte er sämtliche Alben beschriftet und fand sofort das richtige.

»Hier hab’ ich’s«, sagte er, als er an den Tisch zurück kam. »Pension Stubler. Natürlich, wie konnt’ ich das nur vergessen! Mama, weißt’ noch, das famose Frühstück, das die Ria immer serviert hat? Mein Gott, wie lang’ ist das her!«

Steffis Mutter kochte hervorragend, bei ihr kam nichts aus der Dose oder der Tüte. Auch den Nachtisch, eine Vanillecreme mit Karamellsoße, hatte sie selbst gekocht, obwohl es so etwas heutzutage längst auch im Supermarkt fertig zu kaufen gab. Aber da war Liesl Wagner eisern und ging auch keine Kompromisse ein.

Die Creme war so locker und leicht, dass sie fast von alleine hinunterrutschte. Als sie fertig waren und eine Tasse Kaffee tranken, saßen sie auf der Terrasse des Einfamilienhauses, und Steffi hatte das Album auf dem Schoß.

Mehr als hundertzwanzig Fotos hatte ihr Vater gemacht und eingeklebt. Die meisten waren noch schwarzweiß. Gustav hatte seinen Stuhl neben die Tochter gerückt und erklärte die Fotos, wo es nicht die Bildunterschriften taten.

»Sieht phantastisch aus!«, nickte Steffi. »Das würd’ mir auch gefallen.«

»Du musst erstmal die Kirche sehen«, meinte ihr Vater. »Leider hab’ ich damals nur wenige Fotos gemacht, aber drinnen ist sie ganz besonders schön.«

»Wer ist das denn?«, fragte Steffi und deutete auf ein Bild, das ihre Eltern mit einem jungen Burschen zeigte.

Der junge Mann hatte ein markantes Gesicht und machte in seiner Wanderkleidung einen sportlichen Eindruck. Obgleich es kein Farbfoto war, konnte man doch eine gesunde Bräune in seinem Gesicht erkennen.

Gustav Wagner schaute genauer hin.

»Ach ja, der«, nickte er dann, »das ist der Sebastian. Unser Bergführer damals. Ein toller Bursche! Und was der uns alles gezeigt hat!«

»Ja, ja, der Sebastian Trenker«, sagte seine Frau lächelnd. »Ich würd’ ja gern mal wissen, was aus dem geworden ist. Wahrscheinlich ist er immer noch Bergführer.«

Steffis Eltern schwelgten in Erinnerungen und kamen regelrecht ins Schwärmen, wenn sie auf den jungen Mann zu sprechen kamen, der ihnen in ihren Urlauben die Schönheiten seiner Heimat gezeigt hatte. Steffi war sehr angetan von dem, was sie zu hören bekam.

»St. Johann wird sich in all den Jahren sicher verändert haben«, vermutete ihr Vater. »Es wird wohl moderner geworden sein. Damals gab es nur diese eine Pension und ein Gasthaus, in dem Fremdenzimmer vermietet wurden. Das dürfte inzwischen aber anders sein.«

Er sah seine Tochter fragend an.

»Na, haben wir dir den Mund wässrig gemacht?«

Steffi nickte.

»Ich glaub’, ich hab’ mich schon entschieden«, antwortete sie. »In diesem Jahr fahre ich nach St. Johann und wandle auf den Spuren meiner Eltern.«

*

Als sie am Abend nach Hause fuhr, hatte Steffi, neben der Anschrift und Telefonnummer der Pension Stubler, auch das Foto mitgenommen, das ihre Eltern zusammen mit dem jungen Bergführer zeigte. Wenn die Mutter Recht hatte, dann war dieser Sebastian Trenker wohl immer noch Bergführer.

Wie alt mochte er jetzt wohl sein?

Steffi schätzte, dass der Bursche auf dem Foto noch nicht einmal zwanzig Jahre alt war, also würde er heute etwa Mitte vierzig sein.

Ob er sich noch an Liesl und Gus­tav Wagner erinnerte?

Wohl kaum, schließlich mussten es Tausende sein, die er inzwischen kennen gelernt hatte auf seinen Bergtouren.

In ihrer Wohnung verstaute sie erst einmal die ganzen Vorräte, die ihre Mutter für sie eingepackt hatte. Jede Menge Schweinebraten mit Sauce war darunter. Was sie nicht schaffen würde, musste sie wohl einfrieren, überlegte Steffi, während sie alles in den Kühlschrank stellte, der ihr plötzlich merkwürdig klein erschien …

Noch vor dem Abendessen setzte sie sich ans Telefon und wählte die Nummer der Pension in St. Johann. Nachdem es einige Male geläutet hatte, wurde am anderen Ende abgenommen.

»Pension Stubler.«

»Grüß Gott, Stephanie Wagner hier. Sprech’ ich mit Frau Stubler?«

»Ganz recht. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich würd’ gern ein Zimmer bei Ihnen mieten«, erklärte die junge Bankangestellte.

»Für wann denn, bitt’ schön? Und für wie lang’?«

Steffi hatte sich den Zettel mit den Urlaubsdaten zurechtgelegt und las sie vor.

»Ja, das geht«, antwortete die Wirtin nach einem kleinen Augenblick.

»Wunderbar!«, freute sich Steffi.

»Ich schick’ Ihnen gleich morgen eine schriftliche Bestätigung«, versprach Ria Stubler.

»Vielen Dank.«

Glücklich legte Steffi auf. Das hatte super geklappt. Während sie ein kleines Abendessen zu sich nahm, überlegte sie schon, was sie alles mitnehmen musste, um für einen Bergurlaub gut gerüstet zu sein. Dabei waren es noch gut drei Wochen, bis sie endlich Urlaub hatte.

Später, sie lag schon im Bett, geschah dann doch noch, was sie den ganzen Tag erfolgreich vermieden hatte – sie musste an Andreas Brunner denken…

Und schon gleich am nächsten Morgen wurde sie wieder an ihn erinnert, denn Heike Burckhard stieg stets in den Bus ein, in dem Steffi schon saß.

»Grüß dich«, sagte die Freundin. »Wie war’s denn bei deinen Eltern?«

»Na ja, halt wie immer.«

»Ich bin übrigens bald nach dir gegangen.«

Steffi wusste im ersten Moment gar nicht, was Heike meinte.

»Na, Samstagabend – die Party!«

»Ach so. War’s net mehr schön?«

»Doch, doch. Aber ohne dich hatte ich keine rechte Lust mehr. Übrigens hat unser Gastgeber dich vermisst …«

Steffi zuckte überrascht zusammen.«

»Mich …?«, fragte sie gedehnt. »Ich dachte, er hätt’ mich gar net wahrgenommen.«

»Na und ob! Er war sogar ziemlich enttäuscht, als er erfuhr, dass du schon fort bist.«

Glücklicherweise hielt der Bus kurz darauf, und sie mussten aussteigen. Auf dem Weg zur Bank, die ein paar Straßen weiter lag, kamen sie an der Bäckerei vorbei, in der sie immer belegte Semmeln zum Frühstück kauften, sodass das Gespräch über den Samstag Abend erstarb.

Sehr zu Steffis Erleichterung!

Allerdings ließ sie nicht los, was Heike gesagt hatte – Andreas Brunner wäre enttäuscht gewesen, weil sie schon gegangen war.

Was hatte das nun wieder zu bedeuten?

In der Mittagspause brachte Steffi das Gespräch auf ihren Urlaub. Heike hatte bereits einen Flug auf die Balearen gebucht.

»Berge?«, meinte sie naserümpfend, »ach nee, das ist nix für mich. Ich brauche Sonne, Strand und Meer. Jede Menge Action und noch ein paar gut aussehende Burschen, dann ist der Urlaub optimal!«

Schmunzelnd dachte Steffi an das Foto mit dem jungen Bergführer.

Wenn Heike wüsste! Fesche Burschen gab es in St. Johann ganz gewiss auch!

Die eine Woche verging wie im Flug, und ehe man sich versah, hatte die nächste schon angefangen. Steffi freute sich, dass ihr Urlaub immer näher rückte. In einem Reisebüro hatte sie sich Prospekte von St. Johann und dem Wachnertal besorgt und sich über den Ort und die Umgebung kundig gemacht. Was die Prospekte versprachen, schürte ihre Vorfreude nur noch mehr, und sie konnte es gar nicht mehr abwarten, bis ihr letzter Arbeitstag gekommen war.

Am darauffolgenden Sonntag, dem letzten vor ihrem Urlaub, fuhr sie ins Freibad. Indes schwamm sie nur ein paar Runden, denn über München lag eine Hitzeglocke, und das Bad war entsprechen überlaufen, sodass das Schwimmen keinen wirklichen Spaß machte. Stattdessen machte Steffi hinterher einen Schaufensterbummel und notierte in Gedanken, was sie eventuell noch für ihren Urlaub kaufen wollte. Nach zwei Stunden sank sie erschöpft auf einen Stuhl ihres Lieblingscafés und bestellte einen Capuccino. Sie hatte kaum einen Schluck getrunken, als sie eine Stimme neben sich hörte.

»Hallo, das ist aber ein Zufall!«, sagte jemand.

Steffi sah auf und erstarrte. Neben ihrem Tisch stand Andreas Brunner …

*

»Darf ich?«, fragte er und deutete auf einen freien Stuhl.

Steffi nickte hastig.

»Aber ja.«

Lächelnd nahm Andreas Platz und beugte sich zu ihr.

»Was trinkst du denn? Capuccino? Den nehme ich auch.«

Er bestellte bei der jungen Bedienung und lehnte sich behaglich zurück.

»Du warst aber schnell verschwunden auf der Party«, stellte er fest. »Hat’s dir net gefallen?«

»Doch«, erwiderte Steffi.

Die Antwort kam nur sehr zögernd über ihre Lippen, und krampfhaft suchte sie nach den richtigen Worten, um ihm zu erklären, dass sie …

Ja, was eigentlich?

Etwa, dass sie sich in ihn verliebt hatte und es nicht ertragen konnte, dass er bereits vergeben war?

Wohl kaum!

Und so saß Steffi Wagner sehr einsilbig ihrem Traummann gegenüber und wünschte sich, sie wäre ihm nicht so unvorbereitet begegnet.

Andreas plauderte über das herrliche Wetter, erzählte, dass er bald Urlaub machen würde, und ahnte dabei nicht, was in ihr vorging.

»Hast du auch schon Urlaub geplant?«, erkundigte er sich.

»Ja, morgen fahre ich schon los«, erzählte sie.

»Tatsächlich. Wohin geht’s denn?«

Von St. Johann hatte er noch nichts gehört, und Steffi vermutete, dass Andreas Brunner die schönsten Tage des Jahres wohl kaum in einem bayerischen Bergdorf verbringen würde. Da war es wohl wahrscheinlicher, dass er nach St. Tropez flog, also an die Riviera oder in irgendwelche anderen mondänen Badeorte.

Langsam legte sich ihre Anspannung, wie Steffi erleichtert bemerkte. Während es ihr gelang, sich zwanglos mit ihm zu unterhalten, beobachtete sie Andreas Brunner und spürte immer mehr, wie sehr ihr dieser Mann gefiel. Sie lachte über eine seiner witzigen Bemerkungen und wurde gleich darauf ernst, denn eben kam eine Gestalt über die Straße, die genau auf ihren Tisch zuhielt.

Es war genau jene Frau, deren Fotos Steffi in Andreas’ Wohnung gesehen hatte!

Ein dicker Kloß steckte in ihrem Hals, als sie sah, wie die Frau sich zu ihm hinunterbeugte und Andreas einen Kuss auf die Wange hauchte.

»Hallo«, sagte sie dann zu Steffi und lächelte ihr zu.

Die junge Bankangestellte reagierte mit einem kurzen Kopfnicken.

»Das ist Cora«, stellte Andreas die andere vor und nannte dann Steffis Namen.

»Himmel, ist das heiß heute!«, stöhnte Cora und fächelte sich mit der rechten Hand Luft zu, während sie sich setzte. »Ich brauche jetzt unbedingt was Kaltes!«

Steffi stand auf und legte Geldstücke auf den Tisch.

»Tja, ich muss dann mal los«, sagte sie nicht sehr glaubwürdig.

»Schon?«

Andreas schien darüber enttäuscht zu sein.

»Lass nur«, meinte er und schob das Geld in ihre Richtung. »Ich lad’ dich ein.«

»Danke«, murmelte sie und steckte die Münzen wieder ein.

Als sie die Straße überquerte, wagte Steffi nicht, sich umzudrehen.

Was mochten die beiden jetzt wohl von ihr denken?

Ihr abrupter Aufbruch kam ihr im Nachhinein dumm und kindisch vor. Sicher hatten sie das auch bemerkt und dachten genauso.

Schamesröte trat ihr bei diesem Gedanken ins Gesicht, und sie ärgerte sich noch mehr über sich. Gott sei Dank würde sie morgen erst einmal wegfahren, und dann konnte Gras über die Sache wachsen. Und wenn sie Glück hatte, dann hatte Andreas Brunner sie längst wieder vergessen, wenn sie zurückgekommen war. Denn einen wirklichen Grund, an sie zu denken, hatte er schließlich nicht.

Steffi verbrachte den restlichen Sonntag mit dem Packen ihrer Reisetasche, hockte vor dem Fernseher und schaltete den romantischen Liebesfilm nicht aus, sie dachte dabei an Andreas und seltsamerweise auch an Thomas. Aber an ihn allerdings mit weniger Wehmut, als an den Ersteren. Dann ging sie früh zu Bett und trat am nächsten Morgen ausgeruht ihre Urlaubsfahrt an.

Steffi hatte ursprünglich vorgehabt, mit dem Auto zu fahren, doch dann fand sie heraus, dass es nach St. Johann ganz unkomplizierte Reiseverbindungen mit Bus und Bahn gab, und hatte sich aus Gründen des Umweltschutzes und der Vernunft entschlossen, den Wagen in der Garage zu lassen. Sie kam am Vormittag auf dem Bahnhof der Kreisstadt an und fuhr von dort mit dem Bus weiter. Schon im Zug hatte die richtige Urlaubsstimmung sie ergriffen. Als der Bus jetzt über die enge, kurvige Bergstraße fuhr, wirkte diese Stimmung noch mehr auf Steffi ein. Gespannt schaute sie aus dem Fenster und erfreute sich an dem Panorama. Dann erreichten sie das Dorf, und der Bus hielt an der Haltestelle, direkt vor dem Hotel.

Voller Erwartung stieg Steffi aus und schaute sich um. Ja, St. Johann sah genauso aus, wie sie es von den Prospekten in Erinnerung hatte. Sie nahm ihre Reisetasche auf und ging weiter zur Pension, die nur ein paar Straßen entfernt war, wie sie auf einem Ortsplan festgestellt hatte, der neben der Bushaltestelle angeschlagen war.

Das Haus und der Garten machten einen gepflegten Eindruck. Aber das hatte Steffi auch nicht anders erwartet. Auf den Fotos der Eltern hatte man schon erkennen können, dass die Pension Stubler ein ordentlich geführter Betrieb war. Steffi ging die Stufen zur Haustür hinauf und klingelte. Nach ein paar Minuten öffnete eine freundlich dreinblickende, ältere Frau.

»Grüß Gott«, sagte sie. »Sie sind bestimmt die Frau Wagner aus München, gell?«

Steffi nickte.

»Ich bin die Frau Stubler«, stellte sich die Wirtin vor. »Aber sagen S’ ruhig Ria zu mir, das tun nämlich alle meine Gäste. Also, herzlich willkommen in St. Johann. Ich hoff’, dass Sie sich bei mir wohlfühlen werden.«

Sie ließ Steffi eintreten und nahm an der kleinen Rezeption einen Schlüssel vom Brett.

»Das Zimmer ist im ersten Stock«, erklärte Ria und ging voran, die Treppe hinauf.

Steffi wartete, bis die Wirtin die Tür aufgeschlossen hatte. Sie ließ ihr den Vortritt. Gespannt trat die junge Frau ein.

*

Das Zimmer war recht geräumig und gemütlich im alpenländischen Stil eingerichtet. Es gab Telefon und Fernseher und sogar einen Internet­anschluss. Steffi schaute sich um und nickte anerkennend.

»Sehr hübsch«, sagte sie zufrieden, »hier werd’ ich mich bestimmt wohlfühlen, Frau Stubler.«

»Ria«, korrigierte die Wirtin lächelnd.

»Dann müssen S’ aber auch Steffi sagen!«

»Gern.«

Ria erklärte, zu welchen Zeiten es Frühstück gab, und wo die Gäste sonst noch ihre Mahlzeiten einnehmen konnten, denn Mittagessen und Abendbrot gab es in der Pension nicht.

»Wenn Sie mal ein Bergtour machen, dann müssten S’ mir am Abend vorher Bescheid geben, damit ich Ihnen was herrichten kann«, verabschiedete sich die Wirtin und wünschte im Hinausgehen noch einen schönen Aufenthalt.

Steffi trat an die Balkontür und öffnete sie. Es war ein umlaufender Balkon, auf den sie hinaustrat. Sie lehnte sich an die Balustrade und atmete tief die würzige, nach Blumen und wilden Kräutern duftende Luft ein. Ihr Blick ging zu den Bergen hinüber, die zum Greifen nahe schienen, und sie dachte an die Bemerkung der Wirtin. Leider sah es nicht so aus, als würde sie in den Genuss einer geführten Bergtour kommen, denn als sie diese im Reisebüro, wo sie auch die Fahrkarte gekauft hatte, buchen wollte, teilte man ihr mit, dass solche Touren oft schon Wochen im Voraus angemeldet werden müssten. Der freundliche junge Mann versuchte zwar noch sein Möglichstes, doch seine Telefonate hatten keinen Erfolg.

»Es tut mir wirklich leid«, sagte er resignierend zu ihr. »Vielleicht haben Sie Glück und können vor Ort noch in eine Gruppe hineinkommen, falls dort jemand abspringt.«

Doch darauf allein wollte Steffi ihre Hoffnung nicht setzen. Sie hatte das Foto mitgenommen, das ihre Eltern zusammen mit dem jungen Bergführer Sebastian Trenker zeigte. Vielleicht arbeitete er tatsächlich immer noch in diesem Beruf, und vielleicht hatte er Erbarmen mit ihr, wenn er das Foto sah, und nahm sie mit.

Doch dazu musste sie erst einmal herausfinden, ob der Mann überhaupt noch in St. Johann lebte.

Steffi ging wieder hinein und packte die Tasche aus. Nachdem ihre Sachen im Kleiderschrank und im Bad untergebracht waren, beschloss sie, einen ersten Bummel durch das Dorf zu machen. Sie bürs­tete die Haare durch und schloss das Zimmer hinter sich ab.

Entgegen der Vermutung ihres Vaters hatte sich der Ort kaum verändert. Gewiss, hier und da waren ein paar Neubauten hinzugekommen, und auch das kleine moderne Einkaufszentrum war jüngeren Datums, aber alles fügte sich harmonisch in das Dorfbild ein, und man sah, dass mit Vorsicht und Umsicht zu Werke gegangen war. Zahlreiche Bilder an den Häusern, so genannte Lüftlmalereien, erkannte Steffi auch wieder. Sie hatte sie auf den Fotos im Album der Eltern gesehen.

Ihr erster Spaziergang durch St. Johann hinterließ einen positiven Eindruck, und Steffi suchte den Bier- und Kaffeegarten des Hotels auf, den die Pensionswirtin ihr wärmstens empfohlen hatte. Sie war erstaunt, wie viel Betrieb dort herrschte, aber das war angesichts der Tatsache, dass das Hotel ›Zum Löwen‹ der einzige gastronomische Betrieb in St. Johann war, nicht weiter verwunderlich. Irgendwo muss­ten sich die vielen Urlauber ja verköstigen.

Die junge Frau schaute sich erst einmal um und nahm dann an einem der langen Tische Platz. Die anderen Leute dort rückten bereitwillig beiseite, jemand reichte ihr eine Speisekarte herüber. Steffi nahm sie und bedankte sich mit einem freundlichen Lächeln. Der junge Mann, der so aufmerksam gewesen war, lächelte zurück.

»Für den kleinen Hunger empfehle ich eine Suppe mit Leberknödeln«, meinte er. »Haben Sie aber großen Hunger, dann sollten Sie auf jeden Fall die gemischte Salatplatte probieren. Aber Vorsicht – die Portionen hier sind riesig!«

»Vielen Dank für die Warnung«, schmunzelte Steffi und betrachtete ihn genauer.

Der Mann war in etwa in ihrem Alter.

Er saß schräg gegenüber von ihr und trug ein leichtes Polohemd. Das Gesicht war freundlich, die Haare modern geschnitten, und er machte ganz und gar den Eindruck des entspannten Urlaubers.

»Carsten Scheffler«, stellte er sich vor.

»Angenehm. Stephanie Wagner«, antwortete sie.

»Ich wette, Ihre Freunde sagen Steffi«, grinste er so charmant, dass sie ihm unmöglich böse sein konnte.

»Stimmt genau«, sagte sie und bestellte bei der Bedienung eine Suppe mit Leberknödeln und ein Mineralwasser.

»Ich vermute, Sie machen Urlaub hier und sind gerade erst angekommen«, setzte Carsten Scheffler die Unterhaltung fort.

Steffi blickte ihn erstaunt an.

»Richtig«, antwortete sie. »Sieht man mir das etwa an?«

»Außerdem wohnen Sie in der Pension Stubler«, setzte er noch eins drauf.

»Sind Sie Hellseher oder so was?«, fragte sie verblüfft.

»Nö«, lachte er fröhlich, »ich wohn’ nur auch dort und hab’ vorhin zufällig gesehen, wie Sie angekommen sind.«

Steffi konnte nicht anders, als ebenfalls laut zu lachen.

Suppe und Wasser kamen fast gleichzeitig. Dazu wurde eine Semmel serviert. Es schmeckte wirklich ausgezeichnet.

»Wie lang’ sind Sie denn schon hier?«, erkundigte sie sich.

Carsten Scheffler war am vergangenen Donnerstag in St. Johann eingetroffen. Er stammte aus der Nähe von Würzburg und war von Beruf Ingenieur. Für eine große Firma konstruierte er Brücken.

Steffi löffelte die Suppentasse aus und schob sie dann beiseite.

»Vielen Dank für die Empfehlung«, sagte sie. »Es war wirklich ganz ausgezeichnet.«

»Ja, kochen können sie hier«, nickte er. »Ich fürchte nur, auf die Dauer wird’s dann doch langweilig, immer hier zu essen. Da muss man dann zur Abwechslung doch schon mal in die Stadt fahren.«

»Das kommt für mich net in Frage«, erwiderte Steffi. »Ich bin nämlich mit der Bahn angereist, und ob abends noch lang’ die Busse fahren, weiß ich net.«

Der Ingenieur lächelte.

»Es wird mir ein Vergnügen sein, Sie zu chauffieren, Steffi«, sagte er mit einem vieldeutigem Blick.

Und ihr wurde klar, dass sie auf dem besten Wege war, eine Eroberung zu machen …

*

Sie gingen gemeinsam zur Pension zurück.

»Sehen wir uns später noch?«, fragte Carsten hoffnungsvoll.

»Mal sehen«, antwortete sie. »Ich möcht’ mich erstmal ein bissel ausruhen, und außerdem warten meine Eltern schon darauf, dass ich mich melde.«

»Ich verstehe«, nickte er. »Sie müssen natürlich auch erstmal ankommen.«

Carsten Scheffler bewohnte das übernächste Zimmer.

Sie verabschiedeten sich auf dem Flur, und Steffi winkte ihm noch einmal zu, bevor sie die Tür hinter sich schloss.

Zuerst musste sie jetzt unbedingt zu Hause anrufen und den Eltern mitteilen, dass sie gut angekommen war. Liesl Wagner wartete tatsächlich schon ungeduldig auf die Nachricht.

»Und ist es schön dort?«, wollte sie wissen.

»Herrlich, Mama«, erwiderte die Tochter. »Wirklich ganz toll!«

»Wie geht’s denn der Frau Stubler?«

»Ach, ich denk’, ganz gut. So richtig hab’ ich noch net mit ihr sprechen können. Ich komm’ auch grad’ erst wieder zurück.«

»Hast’ dich schon ein bissel umgeschaut? Schön.«

»Ja, und ich hab’ eine Kleinigkeit gegessen.«

»Prima. Dann wünsch’ ich dir noch viel Spaß im Urlaub und dass du nette Leute kennen lernst.«

»Danke, Mama. Grüß den Papa von mir«, sagte Steffi und beendete das Gespräch.

Sie streckte die Arme aus und reckte sich. Dabei musste sie ein leises Gähnen unterdrücken.

Vielleicht war es keine schlechte Idee, sich einen Moment hinzulegen und etwas zu schlafen, überlegte sie. Die Bahnfahrt war zwar nicht sonderlich anstrengend gewesen, aber die mit der Reise verbundenen Aufregung und all das Neue, das sie hier erwartet hatte, hatten schon ein wenig Energie gefordert.

Und wer konnte schon sagen, wie lang der Abend noch werden würde …

Schmunzelnd legte sie sich auf das Bett und schloss die Augen. Auch wenn sie in den vergangenen Stunden nur sehr selten an Andreas Brunner gedacht hatte, so war er doch irgendwie ständig bei ihr gewesen, und auch jetzt sah sie sein Gesicht vor sich.

Du musst ihn vergessen!, dachte Steffi. Was willst du von einem Mann, der gebunden ist!

So bitter der Gedanke auch war, sie musste nun einmal akzeptieren, dass es eine andere Frau in Andreas’ Leben gab.

Und Carsten Scheffler?

Steffi schreckte auf, als ihr bewusst wurde, dass sie den Ingenieur tatsächlich als möglichen Kandidaten in Erwägung gezogen hatte.

Gewiss, er sah gut aus, war witzig und unterhaltsam, aber das war auch schon alles. Sie war nicht mit dem Gedanken in die Ferien gefahren, sich hier einen Mann zu angeln. Dazu tat die Sache mit Thomas noch zu weh.

Irgendwie gelang es ihr dann doch noch, eine halbe Stunde zu schlafen. Als sie wieder aufwachte, fühlte Steffi sich ausgeruht. Es war kurz nach vier Uhr, eigentlich die richtige Zeit für eine Tasse Kaffee. Als sie die Treppe hinunterging, nahm sie den Duft von frisch gebrühtem Kaffee wahr, der in der Luft hing.

»Hm, das riecht aber gut«, sagte die Bankangestellte, als sie die Pensionswirtin sah.

»Möchten S’ eine Tasse?«, fragte Ria und machte eine einladende Handbewegung. »Kommen S’ doch zu uns auf die Terrasse.«

Steffi folgte ihr durch das Frühstückszimmer nach draußen. Dort saß bereits Carsten Scheffler an einem der Tische und lächelte sie fröhlich an.

»Na, ausgeschlafen?«

Die junge Frau nickte und setzte sich. Auf dem Tisch standen Tassen und Teller, auf einer Etagere waren Kuchenstücke und Kekse arrangiert.

»Ich mach’ das für meine Gäste«, erklärte Ria Stubler. »Gehört zum Service.«

»Das ist aber wirklich nett«, sagte Steffi überrascht. »Davon haben meine Eltern aber nix erzählt …«

Ria sah sie verwundert an.

»Ihre Eltern haben auch schon bei mir gewohnt?«, fragte sie. »Wann war denn das? Wagner … Wagner, ich kann mich gar net daran erinnern …«

»Das ist auch schon über zwanzig Jahre her«, lachte Steffi und erzählte, wie es überhaupt dazu gekommen war, dass sie jetzt hier Urlaub machte.

»Ach, das ist ja herrlich!«, freute sich Ria. »Ich glaub’, ich erinnre mich jetzt ein bissel. Ihre Mutter hat blondes Haar, net wahr? Und ihr Vater arbeitet bei der Post, oder?«

»Stimmt genau«, nickte Steffi.

»Das ist wirklich eine nette Geschichte«, meinte Carsten. »Und ich freue mich ganz besonders, dass es Ihren Eltern hier damals so gut gefallen hat.«

»Sie?«, sagte Steffi erstaunt, »was hat das denn mit Ihnen zu tun?«

»Das ist doch klar«, lachte er. »Hätte es den Eltern net gefallen, wären Sie heut’ kaum hier, und ich würd’ Sie net kennen gelernt haben!«

Ria schaute die beiden jungen Menschen verstohlen an und schmunzelte in sich hinein.

»Da ist übrigens noch etwas«, sagte Steffi und kramte das Foto aus ihrer Handtasche hervor. »Das sind meine Eltern. Und ich such’ den andren Mann, der da noch zu sehen ist. Er war damals Bergführer, und ich hoff’, dass er das immer noch ist. Sein Name ist Sebastian Trenker. Kennen Sie ihn vielleicht?«

Die Pensionswirtin nahm das Foto und betrachtete es, dann lachte sie hell auf.

»Ob ich ihn kenn’? Aber gewiss doch! Das ist nämlich unser Herr Pfarrer!«

»Was?«

Steffi sah sie ungläubig an.

»Der … der Pfarrer von St. Johann?«

»Ja, ja, glauben S’ es nur ruhig«, nickte Ria Stubler. »Unsren Bergpfarrer werd’ ich wohl noch kennen! Außerdem ist der Nachname hier net so geläufig. Na, und das Gesicht auf dem Foto – ganz unverkennbar!«

Steffi war wirklich überrascht. Damit hatte sie nicht gerechnet. Und einen Geistlichen konnte sie wohl kaum bitten, für sie als Bergführer zu arbeiten.

»Warum nennen Sie ihn denn den ›Bergpfarrer‹?«, wollte Carsten Scheffler wissen. »Predigt er etwa auf dem Berg?«

»Das kann durchaus auch mal vorkommen«, antwortete Ria. »An Fronleichnam, zum Beispiel, führt die Prozession immer ein Stück den Berg hinauf, und dann liest Hochwürden eine Messe unter freiem Himmel. Aber das ist net der Grund, warum er so genannt wird, sondern vielmehr, weil er sich so gut in den Bergen auskennt wie sonst niemand anderer.«

Sie tippte auf das Foto.

»Schon ganz früh hat er als Bergführer gearbeitet und sich damit auch das Studium finanziert«, fuhr Ria fort. »Und auch heut’ noch steigt er regelmäßig auf, denn für Pfarrer Trenker gibt’s nix Schöneres, als in aller Frühe auf dem Bergsteig zu sitzen und unsrem Herrgott noch näher zu sein.«

Steffi biss sich enttäuscht auf die Lippe.

»Und ich hatte gehofft …«, sagte sie leise.

»Dass er immer noch Bergführer ist?«, fragte die Wirtin. »Nun, in gewisser Weise ist er das ja auch, und ganz sicher wird er Sie mitnehmen, wenn Sie ihn darum bitten.«

»Meinen S’ wirklich?«

»Aber freilich. Sie müssen nur schauen, dass es einen Tag gibt, an dem Hochwürden auch Zeit hat«, versicherte Ria.

Carsten Scheffler klatschte in die Hände.

»Dann sollten wir auf jeden Fall mal die Kirche aufsuchen und schau’n, ob wir Hochwürden dort antreffen«, meinte er und blickte Steffi treuherzig an. »Vorausgesetzt natürlich, dass es Ihnen recht ist, wenn ich mich anschließe …«

Die junge Frau nickte.

»Aber ja, Carsten«, antwortete sie lächelnd.

*

Als sie den Kiesweg, der zur Kirche hinaufführte, hoch gingen, blieb Steffi plötzlich stehen.

»Was ist?«, fragte Carsten.

»Ich weiß net«, antwortete sie zögernd, »ob es wirklich so eine gute Idee ist. Ich mein’, wir können doch den Pfarrer net einfach fragen, ob er mit uns eine Bergtour macht.«

»Warum net?«, entgegnete er achselzuckend. »Ria hat doch gesagt, dass er ein völlig unkomplizierter Mensch ist.«

Zweifelnd sah sie ihn an.

»Wir sollten also doch …?«

Der Ingenieur lächelte.

»Ich hab’ eine Idee«, sagte er. »Wir schauen uns erstmal nur um, ganz so, als wollten wir bloß die Kirche besichtigen. Falls wir Pfarrer Trenker dann tatsächlich sehen sollten, entscheiden wir ganz spontan, ob wir ihn ansprechen wollen. Kann ja sein, dass aus dem netten Burschen von damals inzwischen ein griesgrämiger Kerl geworden ist. Aber das kann ich mir eigentlich net vorstellen, so, wie die Frau Stubler über ihn geredet hat. Und sie sagt ja selbst, dass der Pfarrer hin und wieder jemanden mitnimmt, wenn er eine Bergtour unternimmt.«

»Einverstanden«, nickte Steffi und warf die Bedenken, die ihr auf dem Weg hierher gekommen waren, über Bord.

Außer ihnen waren noch zahlreiche andere Leute unterwegs. Sie schienen ebenfalls die Kirche besichtigen zu wollen oder kamen von dort. Steffi und Carsten warteten, bis eine ganze Reisegruppe das Gotteshaus verlassen hatte, und traten dann ein. Erwartungsvoll schauten sie durch die Glaswand des Vorraumes und gingen dann hinein.

Der Anblick war überwältigend!

Über ihnen war ein herrliches Deckenfresko zu sehen, die Fensterbilder stellten Szenen aus der Bibel dar, in Ecken und Nischen standen geschnitzte Heiligenfiguren, manche mit Blattgold überzogen. Überhaupt war Gold, neben Rot und Blau, die vorherrschende Farbe. Langsam gingen die beiden Besucher bis zum Altar und waren froh, dass außer ihnen nur drei weitere Leute da waren, die auf der anderen Seite standen und sich flüsternd unterhielten.

Auch Steffi und Carsten hatten unwillkürlich ihre Stimmen gesenkt und sprachen leise miteinander. Der Ingenieur hatte seinen Fotoapparat aus der Schutzhülle genommen und machte ein paar Fotos. Steffi war langsam weitergegangen und blieb vor einem Bild stehen, das an der Wand, neben der Tür zur Sakristei, hing. Es war ein recht großes Gemälde und zeigte das Porträt des Sohnes Gottes; Christus, am Abend vor der Kreuzigung, im Gebet versunken. Ein kleines Schildchen nannte den Namen des Bildes: ›Gethsemane‹.

Steffi Wagner war sehr ergriffen davon. Dem Künstler war es meis­terhaft gelungen, das Wissen um die Unabänderlichkeit seines Schicksals im Gesicht des Erlösers wiederzugeben.

»Unglaublich!«

Carsten war neben sie getreten und hatte diesen bewundernden Ausruf von sich gegeben.

»Schauen Sie mal dort.«

Steffi deutete auf eine Statue, die nur ein paar Schritte neben ihnen stand, auf die ihr Blick gefallen war.

»Herrlich!«

Der Ingenieur machte auch von der Gottesmutter ein Foto.

»Schon seltsam, dass sie einfach so herumsteht«, meinte er. »Die Madonna ist doch bestimmt sehr wertvoll.«

Im Gegensatz zu den anderen Figuren war die heilige Jungfrau nicht mit Blattgold verziert. Aber gerade das schlichte bearbeitete Holz übte auf den Betrachter einen besonderen Reiz aus.

»Stimmt«, nickte Steffi. »Ob man gar keine Angst hat, dass sie gestohlen werden könnte?«

»Das dürfte net so einfach sein«, sagte jemand hinter ihnen. »Denn die Madonna ist schon durch eine Alarmanlage geschützt.«

Sie drehten sich nach dem Sprecher um und sahen einen Mann vor sich, den Steffi sofort erkannte.

Gewiss, er war älter geworden, aber die Ähnlichkeit mit dem jungen Mann auf dem Foto war unverkennbar.

Vor ihnen stand Pfarrer Trenker!

Sie musste zugeben, dass sie ihn, ohne Ria Stublers Hinweis, nur schwerlich als Geistlichen angesehen hätte, denn lediglich ein kleines goldenes Kreuz am Revers seiner Jacke und der Priesterkragen wiesen ihn als einen Mann Gottes aus. Ansonsten hätte dieser Geistliche schon eher ein Schauspieler oder prominenter Sportler sein können, so wirkte er auf jeden, der ihn zum ersten Mal sah.

Er lächelte und trat näher.

»Grüß Gott, ich bin Pfarrer Trenker«, stellte er sich vor. »Schön, dass Sie sich die Zeit nehmen, sich unsre schöne Kirche anzuschauen.«

»Mein Name ist Carsten Scheffler«, sagte der Ingenieur und stellte dem Geistlichen seine Begleiterin vor.

Steffi hatte nicht den Blick von dem sonnengebräunten Gesicht lassen können. Es war faszinierend, was die Zeit aus dem einstigen Bergführer gemacht hatte. Er war ein sportlicher Mann, mit einem durchtrainierten Körper und einem markanten, sympathischen Gesicht.

»Sie werden es net glauben, aber ich kannte Sie schon, bevor wir hergekommen sind«, sagte Steffi Wagner mit einem Schmunzeln.

Sebastian runzelte die Stirn und überlegte, ob er dieser hübschen jungen Dame schon einmal begegnet war. Indes konnte er sich nicht erinnern. Möglicherweise hatte sie aber schon etwas über ihn gelesen oder gehört. Hin und wieder ge­schah es doch, dass ein Artikel über ihn in den Zeitschriften erschien, den Sebastian zu seinem Bedauern nicht hatte verhindern können. Auch im Fernsehen war er schon aufgetreten, als er vor Jahren einmal, auf Wunsch einer Fernsehjournalistin das ›Wort zum Sonntag‹ gesprochen hatte.

»Sie machen mich neugierig«, lächelte der Geistliche Steffi Wagner an. »Verraten Sie mir auch, woher Sie mich kennen?«

»Aber klar«, lachte sie und kramte in ihrer Handtasche herum.

Sie holte die Fotografie hervor und reichte sie ihm.

»Das sind meine Eltern«, erklärte sie, »und die dritte Person darauf werden Sie wohl erkennen …«

Sebastian nahm das Foto, betrachtete es und lachte hellauf.

»Nein, ist das herrlich!«, rief er begeistert auf. »Meine Güte, wie lang’ ist das wohl her? Zwanzig Jahre, schätz’ ich mal.«

»Eher noch ein paar Jahre drauf«, meinte Steffi. »Als das Foto gemacht wurde, war ich noch gar net geboren.«

Sie erzählte, wann und wie sie das Foto im Album der Eltern entdeckt hatte.

»Warten Sie, Steffi Wagner ist ihr Name«, sagte der Bergpfarrer nachdenklich. »Dann heißen Ihre Eltern Liesl und … Gustav, net wahr? Ihr Vater ist Beamter bei der Post.«

»Stimmt genau«, nickte sie, verblüfft über das phänomenale Gedächtnis des Geistlichen.

»Ja, ich hab’ damals viele, viele Menschen auf die Berge geführt«, sagte Sebastian. »Ich weiß gar net, auf wie vielen Fotos ich noch verewigt bin. Aber sagen Sie, wie geht es Ihren Eltern? Ich hoffe, dass sie bei guter Gesundheit sind? »

Steffi konnte das glücklicherweise bestätigen und richtete die Grüße aus, die die Eltern ihr aufgetragen hatten.

»Wir wohnen in der Pension Stubler«, erzählte Carsten Scheffler. »Die Ria erzählte uns, dass Sie auch heut’ immer noch Bergtouren machen, wenn es Ihre Zeit zulässt …?«

Sebastian Trenker lächelte.

»Das ist richtig. Und jetzt wollen Sie fragen, ob ich Sie mitnehmen würd’.«

Der Ingenieur nickte.

»Das lässt sich gewiss einrichten«, antwortete der gute Hirte von St. Johann. »Allerdings wird’s nix vor kommenden Donnerstag. Doch das würd’ ich gern’ mit euch im Pfarrhaus besprechen. Kommt doch morgen Nachmittag rüber, dann können wir uns darüber unterhalten.«

Die beiden jungen Leute sahen sich an und nickten freudig.

»Wunderbar! Vielen Dank«, sagte Carsten.

Sie verabschiedeten sich und traten hinaus in den Sonnenschein. Erst jetzt wurde ihnen bewusst, wie angenehm kühl es im Innern der Kirche gewesen war.

»Ist das nicht ein tolles Badewetter?«, meinte Carsten Scheffler. »Wie wär’s, wollen wir morgen zum Schwimmen an den Achsteinsee fahren?«

Steffi hatte von dem beliebten Ausflugsziel im Wachnertal schon von ihren Eltern gehört und darüber in den Prospekten gelesen. Es wäre natürlich wunderbar, dorthin zu fahren. Andererseits wollte sie sich Carsten nicht aufdrängen.

»Unsinn«, sagte er, als sie ihm ihre Bedenken mitteilte, und schüttelte energisch den Kopf. »Schließlich hab’ ich doch das Angebot gemacht.«

»Dann freue ich mich jetzt schon darauf«, erwiderte sie lächelnd.

»Ich mich auch«, antwortete er und schaute sie dabei beinahe zärtlich an.

*

Inzwischen war es früher Abend geworden, und sie überlegten, dass sie eigentlich schon zum Essen ins Wirtshaus gehen könnten. Zu ihrer Freude fanden sie im Biergarten einen freien Tisch.

»Gut, dass wir zuerst hier nachgeschaut haben, ob noch was frei ist«, meinte Carsten. »Hier draußen ist’s doch schöner, als bei diesen Temperaturen drinnen zu sitzen.«

Steffi musste ihm Recht geben. Es war immer noch genauso warm, wie es den ganzen Tag über gewesen war; kaum ein Lüftchen regte sich. Sie bestellten gemischte Salate mit gebratenen Hähnchenbruststreifen. Salat schmeckte jetzt sicher besser als eine warme Mahlzeit. Steffi trank dazu ein Radlermaß, während Carsten sich ein kühles Bier gönnte. Sie unterhielten sich blendend und sprachen auch über ihre Arbeit und ihr Leben daheim, wobei Steffi allzu Persönliches aussparte und die in die Brüche gegangene Beziehung zu Thomas nicht erwähnte.

Carsten Scheffler, der ja bereits seit der letzten Woche in St. Johann urlaubte, erzählte ihr, was er schon alles unternommen hatte.

»Aber besonders freue ich mich auf die Bergtour«, gestand er. »Ich bin mal gespannt, wohin es geht.«

Als sie bezahlten und den Biergarten verließen, war es kurz nach neun. Eigentlich noch recht früh für einen Urlaubstag, doch sie hatten beschlossen, den Abend nicht zu lange auszudehnen.

Vor den Zimmern verabschiedeten sie sich und wünschten sich gegenseitig eine gute Nacht. Steffi schloss die Tür und setzte sich auf einen Stuhl am Fenster. Sie musste zugeben, dass sie ein wenig durcheinander war. Auch wenn Carsten Scheffler es mit keinem Wort erwähnt hatte, so war es doch nicht zu übersehen gewesen, dass er einem Flirt mit ihr nicht abgeneigt war.

Freilich – er war ihr nicht unsympathisch, denn dann hätte sie sich kaum so viel mit ihm abgegeben und ihren weiteren Urlaub alleine geplant. Aber so recht vorstellen konnte sie sich nicht, dass daraus mehr werden könnte als eine nette Urlaubsbekanntschaft.

Das Klingeln ihres Handys unterbrach ihre Gedanken. Steffi schaute auf das Display und sah, dass es ihre Eltern waren, die anriefen. Sie nahm das Gespräch entgegen.

»Wie geht es dir?«, wollte ihre Mutter wissen. »Hast’ schon jemanden kennen gelernt?«

Steffi runzelte die Stirn.

»Wie kommst du denn darauf?«, entgegnete sie verwundert.

»Na ja, das ist doch ganz normal, dass man im Urlaub Bekanntschaften schließt«, meinte Liesl Wagner unbekümmert.

»Ach, Mama, ich bin doch grad den ersten Tag hier«, antwortete Steffi und verschwieg wohlweislich, mit wem sie den Tag und den Abend verbracht hatte.

Ihre Mutter hätte sie bloß mit unzähligen Fragen gelöchert …

Stattdessen erzählte sie von ihrem Besuch in der Kirche und dass sie dabei Pfarrer Trenker kennen gelernt hatte.

»Er lässt euch schön grüßen, und am Donnerstag machen wir mit ihm eine Bergtour.«

»Wir? Wer denn noch?«, hakte Liesl Wagner sofort nach.

»Hab’ ich wir gesagt?«, versuchte Steffi sich herauszureden. »Ich meinte natürlich, dass wir, also Pfarrer Trenker und ich, eine Bergtour machen.«

Sie hoffte, dass ihre Mutter das so schluckte. Dann erzählte sie noch, wie schön die Kirche sei und dass sich in St. Johann in all den Jahren nur wenig verändert hatte.

»Mal sehen«, meinte Liesl, »vielleicht fahren Vater und ich doch noch mal dorthin.«

Sie verabschiedete sich und reichte den Hörer an ihren Mann weiter, der auch noch ein paar Worte mit seiner Tochter wechselte. Als Steffi ihr Handy dann ausschaltete, fühlte sie sich plötzlich doch sehr müde. Sie verzichtete darauf, noch einmal den Fernseher einzuschalten und ging stattdessen schlafen.

Es wurde ein tiefer, traumloser Schlaf, aus dem sie am nächsten Morgen ausgeruht erwachte. Als Steffi die Augen öffnete, blinzelte die Sonne durch einen schmalen Spalt in den Vorhängen. Sie sprang aus dem Bett und öffnete weit das Fenster. Es war gerade mal acht Uhr, bemerkte sie, als sie auf dem Weg ins Bad einen Blick auf die Uhr am Nachttisch warf.

Schon gestern hatte der Wetterbericht für heute dieselben Temperaturen wie am Vortag versprochen. Steffi wählte dementsprechend eine leichte weiße Hose mit einem passenden Top dazu. An den Füßen trug sie Riemchenschuhe, als sie die Treppe hinunterlief.

Ria Stubler begrüßte sie herzlich.

»Haben S’ gut geschlafen in der ersten Nacht?«, erkundigte sich die Wirtin fürsorglich.«

»Ja, vielen Dank. Ganz wunderbar.«

»Das freut mich. Ich hab’ draußen gedeckt. Hoffentlich ist’s Ihnen recht, dass ich Sie mit dem Carsten an einen Tisch gesetzt hab’ …«

»Aber ja«, nickte Steffi beruhigend. »Wir wollen übrigens nachher zum Baden an den Achsteinsee fahren.«

»Ja, ich weiß. Das hat er schon erzählt. Wie möchten S’ denn das Frühstücksei?«

Steffi erbat es sich weich gekocht und ging durch den Frühstücksraum hinaus auf die Terrasse, wo schon etliche Pensionsgäste saßen und sich schmecken ließen, was die Wirtin ihnen servierte. Carsten Scheffler saß am selben Tisch, an dem sie gestern Kaffee getrunken hatten, und blätterte in der Tageszeitung. Er faltete sie zusammen und stand auf, als er Steffi auf die Terrasse treten sah.

»Guten Morgen«, begrüßte er sie lächelnd. »Na, wie war die erste Nacht?«

»Ich hab’ herrlich geschlafen«, antwortete sie, ebenfalls lächelnd, und setzte sich.

»Ich bin auch grad erst heruntergekommen«, erzählte Carsten. »Und jetzt freu’ ich mich auf das Frühstück. Sie werden staunen, Steffi!«

Kurz darauf kam Ria Stubler. Steffi konnte es kaum glauben, als sie sah, was die Wirtin ihnen alles auftischte.

Eine große Platte mit Wurst, Schinken und Bergkäse stand vor ihnen. Dazu viele Töpfchen mit Honig und verschiedenen Marmeladen, die die Wirtin alle selbst gekocht hatte. Dazu frisches Obst, appetitlich in Häppchen geschnitten und angerichtet. In einem Korb lagen rösche Semmeln, Laugenbrezeln sowie helles und dunkles Brot.

»Lieber Himmel, wer soll denn das alles essen?«, rief Steffi aus.

»Das hab’ ich beim ersten Mal auch gefragt«, lachte Carsten.

»Langen S’ nur tüchtig zu«, munterte Ria Stubler sie auf. »Der Appetit kommt beim Essen. Außerdem können S’ sich gern noch ein paar belegte Brote für später machen. Dann sparen S’ sich das Geld fürs Mittagessen.«

»So ist sie, unsre Ria«, schmunzelte Carsten, als die Wirtin gegangen war, um nach den Eiern zu schauen.

Die waren genau auf den Punkt gekocht, und dass der Kaffee hier besonders gut schmeckte, hatte Steffi ja schon gestern feststellen können.

*

Beim Frühstück unterhielten sie sich über den geplanten Badeausflug. Steffi kannte den Achsteinsee ja nur von den Prospekten, Carsten war am vergangenen Samstag dorthin gefahren und hatte ein paar Stunden am See verbracht.

Zwischendurch kam Ria an den Tisch und erkundigte sich, ob noch von allem genug da sei. Fürsorglich, wie sie nun einmal war, hatte sie schon ein paar Bogen Papier mitgebracht, damit Steffi und Carsten sich belegte Brote machen konnten.

»Schwimmen macht hungrig«, meinte die Wirtin. »Ich geb’ euch am besten einen Korb mit, in dem ihr alles transportieren könnt.«

Als sie dann später in Carstens Auto zum See fuhren, befanden sich nicht nur die Brote in dem Korb, sondern auch Flaschen mit Wasser und Apfelsaft, Plastikdosen mit Obst, und eine Wolldecke, auf der sie es sich bequem machen sollten.

Die Fahrt zum Achsteinsee dauerte kaum mehr als zwanzig Minuten. Carsten hatte vorgeschlagen, recht früh zu fahren, um sich einen guten Platz auf der Liegewiese zu sichern. Als sie auf den Parkplatz einbogen, sah Steffi, wie recht der Ingenieur mit seinem Vorschlag gehabt hatte; es standen schon etliche Wagen in den Parkbuchten. Carsten trug den Korb, als sie vom Parkplatz gingen. Der Weg führte an einer großen Wiese vorbei, auf dem unzählige Wohnwagen, Caravans und Zelte standen. Dahinter begann der eigentliche Badeabschnitt. Steffi hielt die Luft an, als sie das blau schimmernde Wasser des Sees erblickte. In ihm spiegelten sich die Berge wider, die sich majestätisch in den Himmel erhoben. Es gab einen Nichtschwimmerbereich, dahinter sah man schon viele Leute sich im Wasser tummeln. Einige von ihnen hatten die künstliche Insel erreicht, die sich fast in der Mitte des Sees befand, und waren hinaufgeklettert, um sich dort oben auszuruhen und zu sonnen. Aber nicht nur Schwimmen konnte man im Achsteinsee, auf dem Wasser fuhren zahlreiche Tret- und Ruderboote, und sogar ein paar Windsurfer waren unterwegs.

Rings um den See führte die Uferpromenade, an der viele Häuser standen, in denen Andenkenläden, Eiscafés, Wirtshäuser und Geschäfte untergebracht waren, die Bademoden führten, oder die vielen anderen Dinge des täglichen Bedarfs, die die Camper benötigten.

Noch war auf der Liegewiese recht viel Platz, aber Carsten wuss­te aus Erfahrung, dass sich das in den nächsten Stunden ganz sicher ändern würde. Sie suchten sich eine schöne Stelle aus, an der sie nicht in der prallen Sonne lagen, und breiteten die Decke aus. Ihre Badesachen hatten sie schon in der Pension untergezogen, so dass sie nicht erst zu den Umkleidekabinen gehen muss­ten, sondern gleich zum Wasser laufen konnten.

Entgegen ihrer Erwartung war der See keineswegs eiskalt, wie Steffi es eigentlich angenommen hatte. Ganz im Gegenteil – sie fand, das Wasser hatte eine angenehme Temperatur, als sie sich hineinstürzten.

Carsten hatte schon die ganze Zeit die hübsche junge Frau bewundert, die jetzt einen roten Bikini trug, der ihr hervorragend stand. Zu gerne hätte er sie in die Arme genommen und ihr gestanden, was er für sie empfand. Seit der ersten Begegnung, gestern Mittag im Biergarten des Hotels war es um Carsten Scheffler geschehen. Schon nach wenigen Minuten war ihm klar gewesen, dass er sich Hals über Kopf in Stephanie Wagner verliebt hatte. Und er suchte krampfhaft nach einer Möglichkeit, es ihr zu sagen. Aber auch kurze Zeit später, als sie wieder aus dem Wasser stiegen und es sich auf der Decke bequem machten, fand er nicht die richtigen Worte.

Vielleicht war es einfach noch zu früh, überlegte er. Schließlich kannten sie sich noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden.

Aber seine Chance würde kommen, da war sich der Ingenieur sicher.

Während er das überlegte, sah er Steffi verliebt an. Indes schien sie diesen Blick nicht zu bemerken, oder sie ignorierte ihn einfach …

*

Heike Burckhard blickte verwundert auf, als es an der Wohnungstür klingelte. Sie legte das Kleidungsstück aus der Hand, das sie gerade in den Koffer packen wollte, und eilte durch den Flur, um zu öffnen.

»Du?«, sagte sie überrascht.

»Das ist aber mal ein netter Besuch.«

Andreas Brunner lächelte.

»Entschuldige bitte den Überfall«, bat er. »Hast du ein paar Minuten Zeit?«

Die junge Frau nickte.

»Klar. Aber du musst mit ins Schlafzimmer kommen«, antwortete sie.

Der Fotograf sah sie verdutzt an.

»Machst du immer solche Angebote?«, wollte er wissen.

»Das kommt ganz darauf an«, schmunzelte Heike. »Aber bevor du dir falsche Hoffnungen machst – ich bin grad dabei, meinen Koffer zu packen. Ich flieg’ morgen in den Urlaub.«

»Ach so …«

Andreas folgte ihr durch den Flur und blieb in der Tür des Schlafzimmers stehen.

»Sag mal …«, fragte er gedehnt, »du hast net zufällig die Urlaubs­adresse von deiner Freundin, der Steffi?«

Heike ließ beinahe das T-Shirt fallen, das sie gerade in der Hand hielt.

Aha, daher wehte also der Wind!

»Wieso willst’ denn die wissen?«, antwortete sie mit einer Gegenfrage.

Andreas Brunner druckste einen Moment herum. Er wollte anscheinend nicht so recht mit der Sprache herausrücken.

»Also, du musst mir schon sagen, warum dich das interessiert«, blieb die junge Frau beharrlich.

»Okay«, nickte er, »ich sag’s dir. Am Sonntag hab’ ich sie zufällig in der Stadt getroffen. Es war in einem Straßencafé, und wir haben uns recht gut unterhalten … jedenfalls, bis Cora hinzukam. Dann ist Steffi plötzlich sehr schnell aufgebrochen.«

»Verstehe. Das war am Tag, bevor sie in den Urlaub gefahren ist. Und jetzt willst du von mir wissen, wo genau sie steckt?«

Andreas verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen.

»Wieso hast du eigentlich so ein Interesse an meiner Freundin?«, schoss Heike die nächste Frage ab.

Obgleich sie die Antwort ahnte, machte es ihr doch Spaß, den Fotografen ein wenig zappeln zu lassen.

»Na ja, es ist so …«, begann Andreas Brunner, »… wenn du es genau wissen willst, es hat eigentlich schon angefangen, als du sie zu meiner Einweihungsfeier mitgebracht hast.«

Die junge Frau lächelte.

»Du hast dich verliebt«, stellte sie fest.

»Bis über beide Ohren«, gestand er.

Heike knallte den Kofferdeckel zu und schob sich an Andreas vorbei.

»Komm mit«, sagte sie und ging in die Küche.

Dort nahm sie zwei Flaschen Weizenbier aus dem Kühlschrank und öffnete sie.

»Ist alkoholfrei«, bemerkte sie, während sie Andreas eine Flasche reichte.

Sie deutete auf einen Stuhl.

»Setz’ dich.«

Der Fotograf nahm Platz, während sie sich auf die Eckbank setzte. Neben ihr lag ein Stapel Papiere. Heike wühlte darin.

»Nach St. Johann fährt sie, hat Steffi noch gesagt«, erzählte Andreas. »Leider wurden wir dann durch Corinna unterbrochen …«

»Wo ist er denn bloß?«, murmelte Heike ungeduldig und zog endlich einen beschriebenen Zettel hervor. »Ach, hier!«

Sie reichte Andreas den Zettel und lächelte.

»Hier, Romeo«, meinte sie unbekümmert, »das ist die Adresse der Pension, in der Steffi abgestiegen ist.«

Andreas riss ihr das Papierstückchen förmlich aus der Hand.

»Du bist ein Schatz!«

Dann senkte er kurz den Blick und schaute wieder hoch.

»Sie … sie ist doch alleine gefahren?«

Heike nickte beruhigend, und er atmete erleichtert auf.

»Und glaubst du, dass ich eine Chance bei ihr habe?«, wollte er wissen.

»Das kann ich net beurteilen«, antwortete Heike. »Ich kann dir nur sagen, dass Steffi eine schwere Zeit durchgemacht hat.«

Sie erwähnte mit ein paar Worten die Geschichte um Thomas Berger.

»Ich erzähle dir das auch nur, damit du weißt, woran du bist«, erklärte die Bankangestellte. »Steffi ist nicht nur eine Kollegin, sondern eben auch eine sehr gute Freundin.«

»Ich danke dir für deine Offenheit«, sagte er.

»Was hast du denn jetzt vor?«, erkundigte sie sich.

Andreas grinste lausbubenhaft.

»Dreimal darfst du raten«, erwiderte er.

»Du fährst zu ihr.«

»Freilich. Ich hab’ ohnehin noch einen Auftrag, der mich in die Berge führt. Ich soll für einen Reisekatalog Fotos von zwei bayerischen Dörfern machen, und eines davon liegt in der Nähe von Garmisch Partenkirchen, was wiederum net weit von St. Johann ist.«

»Dann wünsch’ ich dir viel Erfolg«, sagte Heike.

»Vielen Dank. Ich freu’ mich jetzt schon wahnsinnig darauf, Steffi wiederzusehen und sie zu überraschen.«

»Wann willst’ denn fahren?«

»Vielleicht schon morgen, wenn alles klappt. Dann kann ich morgen und übermorgen die Fotos machen und anschließend nach St. Johann fahren.«

Heike spielte einen Moment mit ihrer Bierflasche.

»Sag’ mal«, meinte sie dann, »was läuft da eigentlich zwischen der Corinna und dir?«

Andreas sah sie mit großen Augen an.

»Nix«, antwortete er sofort. »Ganz ehrlich, absolut nix.«

Die junge Frau runzelte die Stirn.

»Na ja, ich will ehrlich sein – für mich sah es an dem Samstagabend bei dir anders aus. Und für Steffi vermutlich auch.«

Die Miene des Fotografen hellte sich plötzlich auf.

»Du meinst, sie ist deswegen früher gegangen und hatte dann am Sonntag auch plötzlich keine Zeit mehr?«

Heike nickte.

»Aber das kann ja nur eins bedeuten!«, rief er begeistert.

»Nämlich?«

»Na, dass ich ihr net gleichgültig bin!«

»Da könntest du Recht haben«, stimmte sie ihm zu.

Andreas klatschte in die Hände.

»Du musst mir glauben, Heike«, sagte er eindringlich, »zwischen Cora und mir ist nix. Es war nie was und es wird auch nie was sein! Wir sind tatsächlich nur gute Freunde und arbeiten gerne zusammen.«

Heike Burckhard schmunzelte.

»Mir musst du das net versichern«, sagt sie. »Steffi muss es dir glauben. Aber fall net gleich mit der Tür ins Haus, wenn du ihr gegenüberstehst. Denk’ dran, was ich dir über sie und Thomas Berger erzählt hab’.«

*

»Ich freu’ mich schon ganz narrisch auf die Bergtour«, bemerkte Carsten und steckte ein Stück Apfel in den Mund.

Es war inzwischen Mittag geworden. Sie waren noch zweimal Schwimmen gewesen und hatten die belegten Brote verzehrt. Auch das Mineralwasser und der Saft waren ausgetrunken.

»Ich freue mich auch sehr«, nickte Steffi. »Und meine Eltern wollen später ganz genau erfahren, auf welchen Bergsteig wir gegangen sind.«

Der Ingenieur hielt eine Wasserflasche hoch und kippte sie um, es war kein einziger Tropfen mehr drin.

Carsten sah auf die Uhr.

»Gleich halb zwei«, sagte er. »Wollen wir irgendwo etwas essen? Ich denke, in spätestens einer Stunde müssen wir zurückfahren, damit wir dann pünktlich im Pfarrhaus sind.«

Steffi war einverstanden. Auch sie hatte ein wenig Hunger, was bestimmt vom Schwimmen kam. Fast bedauerte sie ein wenig, dass sie schon so bald wieder aufbrechen mussten, aber sie war sicher, dass sie während ihres Urlaubs noch einige Male herkommen würde.

In einem der zahlreichen Wirtshäuser, die die Uferpromenade säumten, fanden sie im Garten einen freien Tisch. Die Speisekarte versprach einen besonderen Genuss: Felchen, frisch aus dem Achsteinsee gefangen, in Butter gebraten, mit Kartoffeln und Salat serviert. Sie bestellten das Gericht zweimal und tranken Weinschorle dazu.

Während der ganzen Zeit hatte Carsten hin und her überlegt, wie und ob er Steffi seine Liebe nicht doch schon gestehen durfte. Aber er hielt sich tapfer zurück, so schwer es ihm auch fiel.

»Wenn Sie Lust haben, dann könnten wir morgen einen kleinen Ausflug machen«, schlug er vor.

Steffi lächelte.

»Wollen wir uns net duzen?«, fragte sie und zuckte die Schultern. »Ich meine, wenn wir so viele Stunden zusammen verbringen, ist es doch albern, Sie zu sagen, oder?«

»Da hast du völlig Recht«, stimmte er ihr aus vollem Herzen zu.

Längst hätte er schon den Vorschlag gemacht – wenn er sich denn getraut hätte …

Dass Steffi es jetzt von sich aus anbot, ermutigte ihn ein wenig. Cars­ten meinte darin zu erkennen, dass er ihr auch nicht ganz gleichgültig war.

Die junge Frau hob ihr Glas.

»Also, dann lassen wir das unnütze Sie jetzt weg.«

Carsten prostete ihr lächelnd zu.

Freilich hätte er ihr jetzt auch gerne, so wie es Brauch war, einen Bruderschaftskuss gegeben, aber das wäre dann wohl doch ein bissel zu viel des Guten …

»Wohin soll der Ausflug denn führen?«, wollte Steffi wissen.

»Es gibt da im Ainringer Wald ein altes Jagdschloss, das sehr hübsch sein soll«, erzählte der Ingenieur. »Ich hab’s zwar noch net geseh’n, aber in den Prospekten sind ein paar Fotos von dem Schloss.«

Steffi erinnerte sich, sie auch gesehen zu haben.

»In ein, zwei Stunden müsste man die Tour eigentlich machen können«, meinte Carsten.

Sie hatten ihre Mahlzeit beendet und zahlten. Dann gingen sie zum Parkplatz, der inzwischen bis auf die kleinste Nische besetzt war, und fuhren zurück nach St. Johann.

»Wir treffen uns in einer Viertelstunde«, verabredeten sie sich vor den Zimmern.

Steffi ging rasch unter die Dusche und zog sich um. Als sie die Treppe hinunterkam, saß Carsten schon unten im Flur und blätterte in einer Zeitschrift. Er legte sie beiseite und stand auf. Sie verließen die Pension und gingen zur Kirche hinüber. Auch heute war wieder ein Strom von Besuchern unterwegs, um das Gotteshaus zu besichtigen.

Steffi und Carsten bogen indes ab und gingen zum Pfarrhaus hinüber. Der Geistliche öffnete selbst und begrüßte sie herzlich.

»Da seid ihr ja. Nur herein mit euch.«

Sebastian führte sie durch den Flur und das Wohnzimmer hinaus auf die Terrasse des Pfarrgartens, wo der Tisch schon gedeckt war. Pfarrer Trenker machte die beiden mit seiner Haushälterin bekannt, und Sophie Tappert schenkte Kaffee ein.

»Ich hab’ heut’ früh eure Vermieterin getroffen«, bemerkte Sebastian. »Ihr wart also zum Schwimmen, hat sie erzählt. Herrlich dort am Achsteinsee, oder?«

Steffi und Carsten nickten.

»Bestimmt war’s net das letzte Mal«, sagte die Bankangestellte.

»Und morgen wollen wir in den Ainringer Wald«, erzählte Carsten.

»Ach, sicher zum Jagdschloss, net wahr?«

Die beiden bejahten.

»Aber dehnt eure Wanderung net zu lang’ aus, denn am Donnerstag geht’s in aller Herrgottsfrühe los. Ich zeig’ euch nachher, welche Tour wir machen«, ermahnte der Bergpfarrer sie.

Während der Unterhaltung hatten sie sich den herrlichen Apfelkuchen schmecken lassen, den die Haushälterin erst am Morgen gebacken hatte. Selbstverständlich stammten die Äpfel aus dem Pfarrgarten, und Sophie Tappert hatte den Kuchen vor dem Backen mit einem Guss aus Schmand, Zucker und Eigelb versehen, der ihn besonders saftig machte.

»Der Apfelkuchen schmeckt wundervoll, aber ich kann net mehr«, sagte Steffi, als der Geistliche ihr noch ein Stück auf den Teller legen wollte.

Carsten indes nahm noch eines.

»Besser als in jeder Konditorei«, sagte er anerkennend.

Nach dem Kaffeetrinken nahm Pfarrer Trenker eine Karte zur Hand, die er schon bereitgelegt hatte, und faltete sie auseinander. Mit dem Finger fuhr er eine gestrichelte rote Linie entlang.

»Hier steigen wir auf und wandern zur Kandererhütte hinauf«, erklärte er. »Hier schaut es zwar recht kurz aus, aber ihr dürft net vergessen, dass wir keinen geraden Weg gehen. Alles in allem werden wir so an die acht bis neun Stunden unterwegs sein.«

»So lange?«, wunderte sich Cars­ten.

»Ja. Wie gesagt, es ist keine gerade Strecke, sondern der Weg führt über schmale Pfade und Geröllhalden, hin und wieder müssen wir ein bissel klettern, um weiterzukommen, und dann dürft ihr net vergessen, dass wir nachher auch wieder hinabsteigen müssen.«

Begeistert sahen Steffi und Cars­ten sich an. Genauso hatte sich die junge Frau die Tour vorgestellt. Der Ingenieur hatte zwar keine Vorstellung davon gehabt, doch die Schilderung des Geistlichen ließ auch seine Vorfreude wachsen.

»Wie schaut’s denn mit Wanderkleidung aus?«, fragte Sebastian. »Seid ihr dafür ausgerüstet?«

Beide hatten sie entsprechende Kleidung und Schuhwerk dabei.

»Prima«, nickte der gute Hirte von St. Johann, »dann müsst ihr morgen Abend nur noch zeitig ins Bett gehen.«

*

Am frühen Abend verabschiedeten sie sich. Der Geistliche begleitete sie vor die Tür und trug ihnen noch auf, dass sie auf keinen Fall Proviant mitbringen sollten, dafür werde er schon sorgen.

Steffi und Carsten gingen fröhlich den Kiesweg hinunter und überlegten, was sie an diesem schönen Sommerabend noch unternehmen sollten.

»Wie wär’s, wenn wir in die Stadt fahren?«, schlug der Ingenieur vor. »Ich kenn’ da ein sehr schönes italienisches Restaurant, in dem die Pasta noch mit der Hand gemacht wird. Anschließend könnten wir ins Kino geh’n, wenn du Lust hast …«

Steffi fand die Idee fabelhaft. In der Pension holten sie nur ihre Jacken zum Überziehen, falls es später doch kühl werden sollte, und fuhren dann gleich los.

»Ein andrer Gast hat mir den Tipp gegeben«, erzählte Carsten unterwegs.

Er war gleich am zweiten Abend in die Stadt gefahren, um dort zu essen, und hatte es nicht bereut. Das ›da Carlo‹ befand sich in einer kleinen Seitenstraße der Fußgängerzone. Der Wirt, Carlo Tonelli, kam selbst an die Tische, um die Gäste zu begrüßen und seine Empfehlungen zu geben. Er stammte aus der Tos­kana, und das Angebot des Lokals spiegelte die Spezialitäten seiner Heimat wieder. Freilich musste er auch Zugeständnisse machen und Pizzen anbieten, doch das Hauptaugenmerk lag auf so Köstlichkeiten, wie ›Saltimbocca‹, ›Kalbskotelett in Barolo‹ und verführerisch klingende Fischgerichte. Carlo legte großen Wert darauf, seine sämtlichen Nudelspezialitäten selbst herzustellen. Dazu gehörten neben den üblichen Fettuccine auch Ravioli, die mit Spinat und Ricotta gefüllt waren, oder Lasagne und Canneloni. Seit mehr als zehn Jahren betrieb er das kleine Lokal schon, das im Winter meis­tens ausgebucht war, weil in der kalten Jahreszeit die Plätze draußen auf der Straße fehlten. In dieser Zeit hatte er sich einen erstklassigen Ruf erworben, und es gab kaum einen Abend, an dem nicht alle Tische besetzt waren.

Steffi und Carsten saßen an einem kleinen Zweiertisch, der von Grünpflanzen umgeben war, die in Kübeln steckten. Sie verließen sich bei ihrer Bestellung auf die Empfehlung des Wirtes. Carlo hatte Tortellini vorgeschlagen, die er mit einer köstlichen Mischung aus Scampi und grünen Spargelspitzen gefüllt hatte. Er servierte sie in einer leichten Sahnesauce und hatte die Teller mit gehobelten weißen Trüffeln bestreut.

Dazu tranken sie einen köstlichen Weißwein aus dem Friauel. Selbstverständlich wurde hausgebackenes Ciabattabrot gereicht, zusammen mit einer pikanten Käse­creme, um die Wartezeit zu überbrücken.

Danach folgte als nächster Gang Lammkotelett in Rotweinsauce, zusammen mit Safranrisotto und Broccoli. Den Abschluss bildete ein wunderbar leichtes Tiramisu, das, zusammen mit dem Espresso genossen, eine wahre Krönung des ohnehin schon köstlichen Mahles war.

»Ich hoff’, es ist dir recht, wenn ich dich einlade?«, fragte Carsten, bevor er die Rechnung verlangte.

Steffi war einen Moment unschlüssig.

Durfte sie sich wirklich einladen lassen, ohne damit eine Verpflichtung Carsten gegenüber einzugehen?

»Gut«, nickte sie schließlich. »Aber nur, wenn ich mich bei Gelegenheit revanchieren darf.«

»Einverstanden«, lächelte er und schaute sie fragend an.

»Wie steht’s denn jetzt mit dem Kinobesuch? Für die Spätvorstellung ist noch Zeit.«

»Ich weiß net recht«, antwortete Steffi. »Ich geh’ zwar gern ins Kino, aber der Tag heut’ war doch sehr anstrengend. Und morgen wollen wir eine Wanderung machen. Vielleicht sollten wir unseren Kinobesuch lieber verschieben.«

»Okay«, nickte der Ingenieur. »Wir sind ja noch ein paar Tage hier.«

Er bezahlte, und anstatt ins Kino zu gehen, spazierten sie langsam zum Parkhaus zurück, in dem sie das Auto abgestellt hatten, und schauten dabei in die Auslagen der Geschäfte, an denen sie vorbeikamen.

»Vielen Dank für den schönen Abend«, sagte Steffi, als sie sich in der Pension verabschiedeten.

»Er hat mir auch sehr gut gefallen«, lächelte Carsten.

Er streckte die Hand aus und fuhr ihr zärtlich über das Haar.

»Gute Nacht«, wünschte er. »Schlaf’ schön.«

»Du auch«, erwiderte sie und schlüpfte durch ihre Tür.

Drinnen ließ sie das Licht aus und verzichtete darauf, die Vorhänge zuzuziehen. Steffi setzte sich ans Fens­ter und schaute zum Himmel hinauf, an dem unzählige Sterne blinkten. Der Mond leuchtet hell und tauchte alles in sein silbrig glänzendes Licht.

Ist es gefährlich, was ich da tue?, dachte Steffi Wagner.

Carstens zarte Berührung eben kam beinahe einem Liebesgeständnis gleich. Auch wenn er nichts gesagt hatte, so wusste sie doch, dass ihm ihre Bekanntschaft viel bedeutete. Kleine Gesten, Blicke und scheinbar zufällige, unabsichtliche Berührungen sagten mehr als tausend Worte. Außerdem merkte eine Frau es immer, wenn sich ein Mann für sie interessierte.

Doch das genau wollte sie nicht. Gewiss, Carsten Scheffler war ein netter Kerl, jemand mit dem man etwas unternehmen konnte, Spaß haben. Unter anderen Umständen könnte sie sich vielleicht sogar in ihn verlieben. Aber tief in ihrem Innern fühlte Steffi immer noch den Schmerz, den die Trennung von Thomas verursacht hatte. Und wenn sie sich tatsächlich auf Carsten einließ, sich vielleicht sogar in ihn verliebte, würde dieser Schmerz wieder mit seiner ganzen Intensität zurückkehren, wenn ihrer beider Urlaub zu Ende war und jeder zu sich nach Hause zurückfuhr.

Nein, das konnte und wollte sie nicht!

Außerdem – Steffi spürte es ganz deutlich, dass da noch etwas anderes war, das sie davon abhielt, eine Beziehung mit Carsten einzugehen, und das war die Tatsache, dass sie ihr Herz längst an einen anderen verloren hatte.

An einen, der allerdings schon vergeben war.

*

»Wir müssten eigentlich bald da sein.«

Carsten nahm die Wanderkarte, die Ria Stubler ihnen mitgegeben hatte, aus der Jackentasche und faltete sie auseinander. Der Weg zum Jagdschloss ›Hubertusbrunn‹ war eingezeichnet, und die beiden Wanderer waren keinen Meter von der vorgegebenen Route abgewichen.

»Höchstens noch zehn Minuten«, meinte der Ingenieur und setzte sich wieder in Bewegung.

Eine knappe Stunde waren sie jetzt auf dem Waldweg unterwegs. Zuvor hatten sie das Auto, das sie auf Anraten der Pensionswirtin genommen hatten, auf dem kleinen Parkplatz an der Waldschneise abgestellt.

»Das sollten S’ sich besser überlegen«, hatte Ria Stubler argumentiert, »denn bis zum Ainringer Wald sind’s gut acht Kilometer, und von dort aus, bis zum Schloss, noch mal etwas über eine Stunde zu laufen.«

Die Unterhaltung hatte während des Frühstücks stattgefunden. Die meisten Gäste hatten die Pension bereits verlassen, und die Wirtin fand einen Moment Zeit, sich zu Steffi und Carsten an den Tisch zu setzen.

»Die Karte müssen S’ auf jeden Fall mitnehmen«, sagte sie. »Außerdem brauchen S’ genug zu trinken. Haben S’ sich auch genug Brote gemacht?«

Wie eine Mutter über ihre Kinder wachte, achtete sie darauf, dass die beiden auch ja genug zu essen und zu trinken mitnahmen.

»Wahrscheinlich werden S’ das Schloss heut’ aber net besichtigen können«, erzählte Ria. »Hochwürden hat dort immer Jugendgruppen untergebracht, die meist erst am Samstag abreisen, sodass ›Hubertusbrunn‹ meist nur an den Wochenenden besichtigt werden kann.«

»Pfarrer Trenker?«, fragte Steffi. »Was hat denn der damit zu tun?«

Die Wirtin schmunzelte.

»Na ja, das Schloss gehört ihm doch!«

»Was?«

Carsten Scheffler zog ungläubig die Augenbrauen in die Höhe.

»Pfarrer Trenker ist Schlossbesitzer?«, hakte er nach. »Wie kann denn das sein?«

»Ach, das ist eine lange Geschichte«, antwortete die Wirtin.

»Die wir trotzdem gern hören würden.«

Also erzählte Ria Stubler, wie es dazu kam, dass der gute Hirte von St. Johann Besitzer eines Schlosses wurde.

›Hubertusbrunn‹ stand jahrelang verwaist und von Dornengestrüpp bewachsen, grad so wie das Dornrös­chenschloss im Märchen, im Ainringer Wald, nachdem der letzte Besitzer, Baron Maybach, zusammen mit seiner Frau tödlich verunglückt war. Erben gab es augenscheinlich keine, und so war das Kleinod dem Verfall preisgegeben. Doch eines Tages wurde Markus Bruckner, der rührige Bürgermeister von St. Johann, darauf aufmerksam, und er sann darüber nach, wie sich das Schloss gewinnbringend vermarkten ließe. Ein Spielcasino sollte nach seinem Willen daraus werden. Doch dieser Plan alarmierte Pfarrer Trenker, der in seinen düstersten Vorstellungen schon Wagenkolonnen durch den Wald fahren sah. Widerstand formierte sich, und der Bergpfarrer erhielt von noch einer Seite Unterstützung, mit der er überhaupt nicht gerechnet hatte.

Auf dem Anstetterhof lebte die Magd Maria Engler, zusammen mit ihrer Tochter Michaela. Jeder nahm an, dass Marias Mann früh verstorben war und sie das Kind alleine groß gezogen hatte – was in gewisser Weise auch stimmte, nur war Michaela nicht Marias leibliche Tochter.

Deren Eltern waren der Baron Maybach und dessen Frau. Maria, die als Kinderfrau im Haushalt des Freiherrn gearbeitet hatte, nahm sich nach dem Unglück Michaelas an und sorgte für sie, als wäre es ihr eigenes Kind.

Als das Madel erwachsen wurde, bleib nicht aus, was Maria immer mit Angst und Bangen erwartet hatte: Michaela verliebte sich in Markus, den Sohn des Anstetterbauern, mit dem sie all die Jahre aufgewachsen war. Die beiden schworen sich ewige Liebe, die auch eine schwere Trennung überstand, als Markus für drei Jahre als Entwicklungshelfer nach Afrika ging. Doch gleich nach seiner Rückkehr wollten sie heiraten.

Indes hatten sie nicht mit dem Widerspruch des Bauern gerechnet, der für seinen Sohn etwas Besseres wollte, als die Tochter seiner eigenen Magd. In ihrer Not wandten sich die Liebenden an Pfarrer Trenker, der alles daran setzte, Josef Anstetter umzustimmen, aber das gelang ihm erst, als Maria sich ihm anvertraute. Wie sich herausstellte, war Michaela doch nicht arm wie eine Kirchenmaus, sondern verfügte über ein beträchtliches Vermögen.

Als endlich alle Hindernisse aus dem Weg geräumt waren – zunächst zögerte Markus nun doch, weil er das Madel plötzlich mit anderen Augen sah und sich selbst als nicht gut genug für Michaela empfand, bis der Bergpfarrer ihn vom Gegenteil überzeugte –, fand die Hochzeit auf dem Anstetterhof statt, und die überglückliche Braut schenkte Sebastian zum Dank für seine Hilfe das Schloss.

Sie wollte keine Adlige sein, sondern nur noch die Frau eines Bauern.

Der gute Hirte von St. Johann aber konnte sich einen Lebens­traum erfüllen – aus Schloss ›Hubertusbrunn‹ wurde, nachdem es mit tatkräftiger Hilfe und großzügiger finanzieller Unterstützung wieder hergerichtet war, eine Begegnungsstätte für Jugendliche aus aller Welt, die in den Ainringer Wald kamen, um hier ihre Seminare und Ferienfreizeiten abzuhalten.

»Wirklich eine wunderschöne Geschichte«, sagte Steffi.

Carsten nickte.

»Und es sieht Pfarrer Trenker ähnlich, dass er das Schloss nicht für sich behalten oder mit Gewinn verkauft, sondern der Allgemeinheit zugänglich gemacht hat.«

»Er ist eben ein selbstloser Mensch«, bestätigte Ria Stubler. »Und die Jugend lag ihm schon immer ganz besonders am Herzen.«

Nachdem sie noch ein paar Minuten gewandert waren, sahen sie die weißen Mauern des Schlosses durch die Bäume schimmern. Wenig später traten sie aus dem Dunkel des Waldes und sahen ›Hubertusbrunn‹ vor sich stehen.

Steffi stieß einen Schrei des Entzückens aus.

»Ist das schön! Es schaut ja tatsächlich aus wie im Märchen!«

Tatsächlich erinnerte ›Hubertusbrunn‹ mit seinen Zinnen und Türm­chen an ein Märchenschloss. Die beiden Wanderer traten näher an das schmiedeeiserne Tor und schauten durch die Gitter. Sie konnten einen Spielplatz sehen, weiter hinten standen ein paar Sportgeräte.

»Scheint aber niemand da zu sein«, meinte Carsten und deutete auf die Klingel, die in die Mauer eingelassen war.

»Soll ich mal?«

*

Ohne eine Antwort abzuwarten, drückte er den Knopf. Kurze Zeit später wurde oben, am Portal über der Freitreppe, eine Gestalt sichtbar, und ein junger Mann kam leichtfüßig die Stufen heruntergelaufen.

»Grüß Gott«, sagte er mit einem freundlichen Lächeln, während er das kleinere Tor öffnete und sie hereinließ. »Sie sind sicher die Frau Wagner und der Herr Scheffler, net wahr?«

Steffi und Carsten sahen erst sich, dann den Mann verblüfft an.

»Das stimmt«, nickte der Ingenieur. »Aber woher wissen Sie das?«

»Pfarrer Trenker hat angerufen und Sie angekündigt. Aber entschuldigen Sie, ich hab’ mich noch gar net vorgestellt: Thomas Moser, ich bin der Vikar an St. Johann, aber meistens kümmre ich mich hier um die Jugendgruppen. Kommen S’ doch herein. Sie haben nämlich Glück, die Gruppe, die jetzt eigentlich hier sein sollte, musste ihre Fahrt verschieben, weil der Leiter plötzlich krank geworden ist. Hochwürden wusste es noch net und hat Ihnen deshalb auch nix gesagt.«

Sie folgten dem Vikar die Treppe hinauf und gelangten in eine Halle, von der mehrere Flure abzweigten. Thomas Moser führte sie zunächst in die oberen Stockwerke, wo die Zimmer und Duschen waren. Immer sechs Jugendliche teilten sich eines der Zimmer. Alles blitzte vor Sauberkeit, und man konnte sich richtig vorstellen, was für ein Trubel hier herrschte, wenn die Gruppen da waren.

Im Erdgeschoß waren die Aufenthalts- und Seminarräume, sowie Küche und Esssaal. Der Vikar stellte Steffi und Carsten das Verwalter­ehepaar vor und lud die Besucher zu einem kleinen Imbiss ein. Als die beiden sich nach gut zwei Stunden auf den Heimweg machten, hatten sie eine Geldspende in die dafür vorgesehene Dose getan.

Steffi und Carsten schritten kräftig aus. Im Schloss hatten sie noch einmal ihre Wasserflaschen aufgefüllt, und nach der Hälfte des Weges legten sie noch eine Rast ein. Sie setzten sich abseits des Pfades auf eine kleine Lichtung und verzehrten das restliche Obst, das Ria Stubler für sie zurechtgeschnitten und in Plastikdosen verpackt hatte. Der Ingenieur streckte alle Viere von sich.

»Ist das herrlich!«, rief er aus. »Man müsste immer Urlaub haben.«

»Ich weiß net«, schmunzelte Steffi, »so ganz ohne Arbeit – da wüsst’ ich ja net, was ich den ganzen Tag machen soll.«

Carsten drehte sich auf den Bauch und schaute zu ihr hoch.

»Ach, mir würd’ da schon was einfallen«, meinte er und griff nach ihr.

Ehe Steffi es richtig begriffen hatte, lag sie über ihm, ihre Gesichter waren sich ganz nahe.

»Ich muss dir einfach sagen, wie sehr ich dich liebe«, raunte Carsten in ihr Ohr, während seine Hand ihren Rücken streichelte.

Sie versteifte sich. Hier mit ihm auf dem Waldboden zu liegen, war gewiss nicht das, was sie sich erträumt hatte. Doch ihr Versuch, sich seinem Griff zu entziehen und sich aufzurichten, misslang ihr. Carsten drehte ihr Gesicht zu sich und spitzte die Lippen. Steffi wehrte sich nicht, als er sie küsste, aber sie erwiderte seinen Kuss auch nicht. Abrupt ließ er sie los und sah sie entschuldigend an.

»Es tut mir leid«, murmelte er gepresst. »Ich bin wohl ein bissel zu weit gegangen.«

»Schon gut«, erwiderte Steffi und setzte sich auf.

Sie ordnete ihr Haar, während Carsten sich aufrichtete und sie bittend ansah.

»Entschuldige«, bat er. »Es ist wirklich net meine Art, über eine Frau herzufallen. Es ist nur … seit ich dich kenn’, weiß ich gar net mehr, was mit mir los ist. Hals über Kopf hab’ ich mich in dich verliebt. So etwas ist mir in meinem ganzen Leben noch net passiert. Und eben – ich weiß wirklich net, wie das geschehen konnte, es hat mich einfach übermannt.«

Hastig, beinahe sprudelnd, kamen ihm die Worte über die Lippen. Steffi konnte deutlich sehen, wie peinlich es ihm war, was er da getan hatte, und irgendwie tat er ihr plötzlich leid.

»Wir wollen net mehr darüber sprechen«, sagte sie und wollte aufstehen.

Doch Carsten hielt sie zurück.

»Wart’«, murmelte er. »Auch wenn ich net das Recht hatte, dich zu küssen, so will ich dir doch sagen, dass du mir sehr viel bedeutest, Steffi. Könntest du dir vorstellen … ich mein’, wäre es möglich, dass … dass ich dir vielleicht auch net ganz gleichgültig bin?«

Er schaute sie durchdringend an, und für einen Moment schwankte sie.

»Ich mag dich wirklich sehr«, erwiderte Steffi, »aber ich kann dir jetzt keine Antwort geben. Es ist noch net so lang’ her, da gab es einen Mann in meinem Leben, der mir sehr viel bedeutet hat. Die Trennung von ihm war sehr schwer, und ich weiß net, ob ich sie wirklich schon ganz verarbeitet hab’. Ich hoff’, du kannst mich ein bissel verstehen?«

Es schien, als zeige sich Erleichterung auf seinem Gesicht.

»Aber ja, Steffi«, nickte Carsten Scheffler hastig, »ich versteh’ dich nur zu gut. Weißt du, ich hatte schon befürchtet, du könntest mich überhaupt net lieben, aber jetzt weiß ich, dass du nur etwas Zeit brauchst. Und die will ich dir geben.«

Während er sprach, hatte er ihre Hand genommen und hielt sie fest in der seinen. Steffi verzweifelte innerlich – er konnte oder er wollte sie nicht verstehen.

»Ich glaub’, wir sollten weitergehen«, sagte sie ausweichend und entzog sich ihm.

Während sie zu seinem Auto zurückgingen, sprachen sie kein Wort, und auch die Rückfahrt nach St. Johann verlief schweigend.

»Unternehmen wir nachher noch etwas?«, fragte Carsten hoffnungsvoll, als sie vor der Pension ausstiegen.

Steffi wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen, obwohl sie den Rest des Tages viel lieber alleine verbracht hätte.

»Später«, antwortete sie. »Ich bin müd’ und muss mich ein bissel ausruhen. Die Wanderung war doch ganz schön lang’.«

»Natürlich«, nickte er. »Und morgen wird’s auch anstrengend. Schlaf dich erstmal aus und melde dich dann.«

Sie nickte ihm lächelnd zu und ging vor ihm die Treppe hinauf. In ihrem Zimmer setzte sich Steffi erschöpft auf das Bett, indes rührte diese Erschöpfung nicht von der langen Wanderung her, sondern vielmehr fühlte sie sich immer noch von Carstens ›Attacke‹ erschlagen. Der plötzliche Ausbruch seiner Gefühle hatte sie doch mehr erschreckt, als die junge Frau zugeben wollte.

Vor allem die Tatsache, dass sie ganz alleine mit ihm im Wald gewesen war, ängstigte sie im Nachhinein, und sie schalt sich eine Närrin, so leichtsinnig gewesen zu sein.

Was hätte da nicht alles passieren können!

Steffi beruhigte sich schließlich mit dem Gedanken, dass Carsten ja doch noch zur Vernunft gekommen war. Sie streckte sich auf dem Bett aus und schlief auf der Stelle ein.

*

Es war später Abend, als sie wieder erwachte. Fast verwirrt richtete sich Steffi auf und stellte verblüfft fest, dass es draußen schon dunkel war. Dann klopfte es an der Zimmertür, und ihr wurde bewusst, dass es nicht das erste Klopfen war. Wer immer da draußen stand, er hatte sie durch seine Beharrlichkeit geweckt.

Die junge Frau stand auf, richtete das Haar und ging zur Tür. Ria Stubler stand draußen und lächelte sie an.

»Entschuldigen Sie, Steffi, wenn ich Sie geweckt haben sollte«, bat sie. »Aber ich hab’ mir ein bissel Sorgen um Sie gemacht, weil wir so lang’ nix von Ihnen gehört haben.«

»Schon gut«, antwortete die junge Frau, »ich bin ja ganz froh. Womöglich hätt’ ich noch bis morgen früh durchgeschlafen.«

»Ich hab’ noch net zu Abend gegessen«, meinte Ria, »hätten S’ vielleicht Lust?«

Der Gedanke, jetzt noch zum Essen in den Biergarten gehen zu müssen, behagte Steffi gar nicht. Da war es viel netter, Ria’s Einladung anzunehmen.

»Ich komm’ gern«, sagte sie. »Vielen Dank. Zwei Minuten.«

Sie erfrischte sich im Bad und ging dann nach unten. Ria Stubler erwartete sie in ihrer privaten Küche, einem relativ großen Raum, der gemütlich mit Eckbank, Tisch und Stühlen aus Kiefernholz eingerichtet war.

»Hm, was gibt’s denn?«, erkundigte sich Steffi. »Das riecht ja köstlich.«

»Ach, gar nix Besond’res«, winkte die Wirtin ab. »Bloß Spaghetti mit Tomatensauce. Wissen S’, ich hatte heut’ Nachmittag einen Termin beim Arzt und bin vorher net dazu gekommen, das Zimmer zu machen, das heut’ überraschend frei geworden ist.«

Einer der Gäste hatte am Morgen einen Anruf erhalten, in der Familie war jemand erkrankt, und der Gast wollte umgehend nach Hause zurückkehren.

»Na, hoffentlich können Sie’s bald wieder vermieten«, meinte Steffi.

»Ach, wissen Sie, jetzt in der Saison kommt es sehr oft vor, dass Gäs­te nach Zimmern fragen, auch wenn sie net vorher reserviert haben«, erklärte Ria. »Aber wenn’s nix wird, kann man’s eben auch net ändern. In so einem Fall wie bei dem Herrn Grieser, wo die Mutter plötzlich erkrankt, da muss man dafür Verständnis haben, wenn der Mann nach Hause will.«

Die Wirtin prüfte die Spaghetti und goss sie in ein Sieb, um sie abtropfen zu lassen.

»Auf gar keinen Fall darf man sie abspülen«, erklärte sie dabei. »Denn dann bleibt die Sauce net mehr haften.«

Sie stellte die Schüssel mit den Nudeln auf den Tisch und füllte die Tomatensauce um.

»Das ist geriebener Bergkäse«, sagte sie und deutete auf ein Schüsselchen.

»Zwölf Monate gereift. Der schmeckt genauso gut wie sein berühmter italienischer Verwandter.«

Zwar hatte Steffi am Vorabend schon reichlich Pasta genossen, aber es machte ihr nichts aus, heute schon wieder welche zu essen. Sie mochte Nudeln in jeglicher Form und Zubereitung, und die Tomatensauce versetzte sie in helles Entzücken.

»Das Rezept stammt von einem waschechten Grafen, der hier einmal gewohnt hat«, erzählte Ria. »Das Wichtigste ist, dass man frische, vollreife Tomaten nimmt. Zur Not tun’s auch welche aus der Dose. Auf keinen Fall aber darf man Tomatenmark benutzen.«

Sie hatte zum Essen einen kleinen Salat gemacht, der mit dem Dressing aus Balsamicoessig und Olivenöl wunderbar zu dem Gericht passte.

»Hat Carsten eigentlich nach mir gefragt?«, erkundigte sich Steffi zwischendurch.

»Mehrmals«, lächelte Ria. »Aber dann ist er doch allein in den Biergarten gegangen.«

Sie beobachtete Steffi einen Moment, konnte aber keine Reaktion feststellen.

»Ich glaub’, er mag Sie sehr«, meinte Ria schließlich.

Die junge Frau nickte.

»Ich weiß«, antwortete sie. »Er hat’s mir heut’ gesagt …«

Die Wirtin sah sie forschend an.

»Sie mögen ihn aber net so, wie er sie, was?«

Es war eher eine Feststellung, als eine Frage.

»Sieht man mir das an?«, fragte Steffi.

Ria zuckte die Schultern.

»So, wie Sie es sagen, ist es net schwer zu erraten«, entgegnete sie.

Stockend berichtete Steffi davon, was sich im Wald zugetragen hatte. Die Wirtin hörte aufmerksam zu.

»Ich kann versteh’n, dass Sie da erschrocken waren«, sagte sie dann. »Und ich denk’, Carsten muss es ganz einfach akzeptieren, dass Sie net mehr von ihm wollen.«

»Ich hoffe, dass es wirklich so ist«, seufzte die Bankangestellte. »Es ist ja net so, dass ich ihn überhaupt net mag. Nur lieben kann ich ihn net.«

Ria Stubler sprach ihr Mut zu und bestärkte Steffi in ihrer Haltung. Sie unterhielten sich noch eine ganze Weile, bis sie die Haustür gehen hörten, und kurz darauf Carsten Scheffler hereinkam.

»Da bist du ja«, lächelte er Steffi an. »Hast’ dich ein bissel ausgeruht?«

Sie nickte.

»Ja, aber ich bin eigentlich schon wieder müd’.«

»Wir sollten wirklich früh schlafen gehen«, sagte der Ingenieur. »Sonst haben wir morgen net ausgeschlafen.«

Steffi stand auf. Sie bedankte sich bei der Wirtin noch einmal für die Einladung und ging dann zusammen mit Carsten Scheffler die Treppe hinauf.

»Gute Nacht«, sagte sie und schloss ihre Tür auf.

»Schlaf gut«, antwortete er, machte aber keine Anstalten, zu seinem Zimmer weiterzugehen.

»Ist noch was?«, fragte Steffi.

»Äh … ja, wegen heut’ Mittag … im Wald …«, druckste er herum.

»Wir wollten net mehr darüber sprechen.«

»Natürlich«, nickte er und ging weiter.

Steffi sah ihm nach. Vor seiner Tür drehte er sich noch einmal zu ihr um und winkte kurz. Sie erwiderte den Gruß und schloss ihre Tür hinter sich.

*

Auch wenn sie relativ zeitig ins Bett gegangen war, so hatte Steffi sich doch den Wecker gestellt. Es war eben eine ungewohnte Uhrzeit, um aufzustehen. Als sie die Bettdecke beiseite schob und das Licht der kleinen Lampe auf dem Nachttisch einschaltete, war es draußen noch fast dunkle Nacht.

Die junge Frau ging ins Bad und zog sich anschließend an. Dann verließ sie ihr Zimmer. Als sie abschloss, trat auch Carsten auf den Flur und begrüßte sie nickend.

»Guten Morgen«, flüsterte er.

Steffi lächelte und erwiderte den Gruß.

»Bist du auch noch so müd’ wie ich?«, fragte sie genauso leise.

Der Ingenieur gab es schmunzelnd zu, und sie gingen leise die Treppe hinunter. Im Frühstücksraum hatte Ria ein paar belegte Brote und eine Kanne Kaffee für sie zurechtgestellt, damit sie nicht mit leerem Magen losgehen mussten. Sie aßen und tranken, Carsten schaute dabei immer wieder auf die Uhr.

»Wir sind doch noch in der Zeit?«, vergewisserte sich Steffi.

»Eigentlich schon«, antwortete er. »Aber natürlich wollen wir Pfarrer Trenker net warten lassen.«

Sie tranken ihre Tassen leer und gingen hinaus. Als sie vor die Tür traten, überquerte der Geistliche gerade die Straße und kam auf die Pension zu.

»Da seid ihr ja schon«, sagte er lächelnd. »Guten Morgen. Habt ihr gut geschlafen?«

»Eigentlich schon«, erwiderte Carsten Scheffler, »aber das frühe Aufstehen ist doch ungewohnt.«

»Dafür werdet ihr nachher entschädigt, wenn ihr den Sonnenaufgang in den Bergen erlebt«, versprach Sebastian.

Er reichte einen von zwei Rucksäcken an den Ingenieur weiter. Nachdem er noch einen Blick auf die Ausrüstung der beiden geworfen hatte, nickte er zufrieden.

»Dann können wir!«

Sie gingen durch das noch schlafende Dorf. In kaum einem der Häuser brannte schon Licht, und wenn doch, dann handelte es sich sicher um einen Arbeiter, der zur Frühschicht in die Stadt fahren und deshalb früh aufstehen musste.

Ihr erster Weg führte zum Höllenbruch.

»Der Name hört sich schauriger an, als es dort ist«, erklärte der Bergpfarrer seinen Begleitern. »Früher soll es tatsächlich mal gefährlich gewesen sein, sich dort alleine aufzuhalten. Heutzutag’ ist der Bergwald allerdings ein beliebter Treffpunkt für die jungen Leute, die mal ein bissel für sich sein wollen.«

Den letzten Satz hatte er mit einem Lächeln und einem Augenzwinkern gesagt. Als sie dann zur Hohen Riest weiterwanderten, zeigte sich am östlichen Horizont ein erster, zaghafter rötlicher Streifen.

Von der Hohen Riest zweigten die verschiedenen Pfade zu den einzelnen Almen ab. Hölzerne Wegweiser zeigten die Entfernungen an. Pfarrer Trenker hingegen brauchte sie nicht, denn er ging seit Jahrzehnten seinen eigenen Weg, und der führte nicht immer schnurgerade zum Ziel.

Steffi und Carsten hatten ihre Fotoapparate mitgenommen, aber noch war es zu dunkel, um zu fotografieren. Indes wurde es am Himmel langsam heller, und es würde nicht mehr lange dauern, bis die Sonne aufging.

Derweil kamen sie gut voran. Noch war es recht frisch, aber der Aufstieg brachte sie zum Schwitzen. Als sie die erste Etappe erreicht hatten, war es so weit. Pfarrer Trenker deutete nach oben, wo sich ein glutroter Ball am wolkenlosen Himmel zeigte.

»Na, hab’ ich zu viel versprochen?«

Steffi und Carsten schüttelten begeistert die Köpfe.

Nein, das war wahrlich ein Erlebnis!

Indes gönnten sie sich nur ein paar Minuten Pause und gingen dann weiter. Unterwegs machte Sebastian seine Begleiter immer wieder auf irgendwelche Besonderheiten aufmerksam. Sei es ein bizarr geformter Felsen, ein scheues Tier, das sich plötzlich zeigte und selbst überrascht war, oder eine unter Naturschutz stehende Blume. Jetzt wurden eifrig Fotos gemacht, und Steffi und Carsten überboten sich darin.

»Herzlichen Dank noch, dass Sie uns gestern schon im Schloss angemeldet hatten«, bemerkte die junge Frau, als sie neben dem Geistlichen ging.

»Hat es euch gefallen?«

»Aber ja! Es ist wunderschön, und was Sie da geschaffen haben, ich meine die Begegnungsstätte, ist einfach großartig. Ganz besonders aber hat mich die Geschichte berührt, die dahintersteckt, ich meine die Liebe zwischen der Baroness und dem Bauernsohn.«

»Ja, es war net einfach, die beiden zusammenzuführen«, lächelte Sebastian. »Erst ist der Vater dagegen, dann will der Sohn plötzlich net mehr. Aber gottlob ist dann ja doch noch alles gut ausgegangen.«

Sie hatten inzwischen die zweite Etappe erreicht und waren an dem Platz angekommen, an dem der gute Hirte von St. Johann immer eine Rast einlegte. Sie zogen ihre Jacken aus und benutzen sie als Unterlage beim Sitzen. Dann schnürte der Geistliche den Rucksack auf, den Carsten Scheffler getragen hatte. Er enthielt den Proviant.

»Lieber Himmel, wer soll denn das alles essen?«, entfuhr es Steffi, als sie die vielen Päckchen mit den belegten Broten sah.

In der Tat schien es unmöglich zu sein, das alles aufzuessen. Auch Carsten blickte eher skeptisch drein. Die beiden ahnten nicht, dass Sophie Tappert immer tausend Ängs­te ausstand, wenn Pfarrer Trenker in den Bergen unterwegs war. Sie fürchtete stets, er könne sich verirren, abstürzen oder noch Schlimmeres, dann sollte er wenigstens genug zu essen dabei haben.

Freilich war diese Angst unbegründet, denn es kannte sich in den Bergen wirklich niemand so gut aus wie der Geistliche.

Sie saßen auf einem Felsplateau, von dem aus sie einen herrlichen Blick hinunter ins Tal hatten. Das Dorf nahm sich aus wie in einer Spielzeuglandschaft, ebenso die Bauernhöfe, die weit verstreut auf der andern Seite des Tales zu sehen waren.

Während Sebastian die Brote verteilte, schenkte Steffi die Getränke ein, und schon bald dampften Kaffee und Tee verführerisch duftend in den Bechern, und die herzhaft mit Wurst, Schinken und Käse belegten Brotscheiben wurden schneller verzehrt, als man glauben konnte. Dazu schien die Sonne bereits kräftig vom Himmel herunter, und es hätte nicht schöner sein können.

*

Andreas Brunner lenkte seinen Wagen an den Straßenrand und stieg aus. Neugierig schaute er sich um. Dieses St. Johann war ja ein ganz entzückendes Dorf. Damit hatte er überhaupt nicht gerechnet. Auch die beiden anderen Dörfer, in denen er bis gestern gearbeitet hatte, waren sehr schön, aber dieses hier übertraf sie bei Weitem.

Die Arbeit der letzten Tage war sehr intensiv gewesen. Seine Auftraggeber hatten höchste Ansprüche an seine Kunst als Fotograf gestellt, und Andreas war in Fachkreisen dafür bekannt, dass er nur erstklassige Ergebnisse ablieferte. Dass das Ganze auch viel Mühe und vor allem Nerven kostete, wussten nur die wenigsten. Hier musste erst eine Genehmigung eingeholt werden, da um Erlaubnis gefragt werden; nicht jeder Hausbesitzer wollte später sein Eigentum in irgendeinem Prospekt wiederfinden. Doch inzwischen war das alles Schnee von ges­tern, und der junge Fotograf war voller gespannter Erwartung nach St. Johann gefahren. In all der Aufregung um die Arbeit hatte er allerdings versäumt, sich um eine Unterkunft zu kümmern. Die letzten zwei Nächte hatte er in einem Hotel in Garmisch Partenkirchen geschlafen und war von dort aus in das Dorf gefahren, in dem er gearbeitet hatte. In dem Hotel hatte man vergeblich versucht, für ihn in St. Johann ein Zimmer zu buchen. Überall hieß es, man sei ausgebucht.

»Egal«, hatte Andreas gemeint, »notfalls schlafe ich eben in meinem Auto.«

Das hatte er tatsächlich schon öfter getan, wenn es erforderlich war. Der schwedische Kombi hatte einen erstaunlich geräumigen Kofferraum, und wenn man die Rückbank umklappte, konnte man ihn tatsächlich als Notbett benutzen.

Indes wollte der Fotograf trotzdem noch einmal in der Pension nachfragen, in der Steffi Wagner wohnte.

Manchmal hatte man eben Glück, und nur wer wagt, der gewinnt auch!

Sollte es doch klappen, wollte Andreas es als gutes Omen nehmen.

Er stieg wieder ein, nachdem er auf den Ortsplan geschaut und festgestellt hatte, dass die Pension Stubler nur ein paar Straßen entfernt war. Als er vor dem Haus aus dem Auto stieg, klopfte sein Herz vor Aufregung …

Er ging die Stufen zur Tür hinauf und klingelte. Gespannt wartete er, und seine Gestalt straffte sich, als die Tür geöffnet wurde.

»Grüß Gott«, sagte er zu der freundlich dreinblickenden, älteren Frau, »mein Name ist Andreas Brunner. Ich weiß, dass es eigentlich aussichtslos ist, aber ich möcht’ dennoch fragen, ob Sie vielleicht noch ein Einzelzimmer frei haben?«

Zu seiner Überraschung nickte die Frau.

»Sie haben Glück, Herr Brunner«, antwortete sie. »Ist gestern Nachmittag frei geworden, ein anderer Gast musste überraschend abreisen. Möchten S’ sich das Zimmer erst einmal anschauen?«

Der Fotograf schüttelte den Kopf.

»Net nötig. Ich nehm’s.«

»Kommen S’ doch erstmal herein. Ich bin die Frau Stubler, aber Sie können ruhig Ria sagen. Das machen nämlich alle meine Gäste.«

»Schön, ich bin Andreas«, lächelte er.

Die patente Wirtin gefiel ihm auf Anhieb. Sie hatte eine fürsorgliche und mütterliche Art, die dabei aber nicht aufdringlich wirkte. Ria nahm den Zimmerschlüssel und ging voran.

»Wie lang’ möchten S’ denn bleiben?«, fragte sie, während sie aufschloss.

»Zwei Wochen etwa, wenn’s möglich ist?«, antwortete er.

»Das ist überhaupt kein Problem«, nickte die Wirtin. »Der Herr Grieser, der vor Ihnen hier gewohnt hat, wollte ursprünglich drei Wochen bleiben. So, ich hoff’, dass Sie sich hier wohlfühlen werden.«

Sie machte einen Schritt zur Seite und ließ ihn eintreten.

Andreas ging in das Zimmer und sah sich um.

»Wunderbar«, nickte er. »Das Zimmer gefällt mir ganz ausgezeichnet!«

»Das freut mich«, meinte die Wirtin erfreut, und erklärte ihm, zu welchen Zeiten es Frühstück gab und wies ihn auf noch etwas hin. »Ich weiß ja net, was Sie so vorhaben, aber sollten Sie einmal eine Bergtour machen wollen, dann müssten S’ mir am Abend vorher Bescheid geben, damit ich Ihnen dann was zurechtstellen kann.«

Andreas schaute eher skeptisch drein.

»Ich glaub’ net, dass das für mich infrage kommt«, meinte er. »Zum einen bin ich dafür gar net ausgerüstet, und zum andren hab’ ich gehört, dass man dazu einen Bergführer braucht, die aber meistens schon lang’ im Voraus ausgebucht sind.«

»Das ist schon richtig«, nickte Ria Stubler. »Aber manchmal klappt es doch noch. Die Steffi und der Carsten, das sind zwei junge Leute, die auch hier wohnen, sind jedenfalls heut’ Morgen zu einer Tour aufgebrochen, obgleich es zuerst auch net sicher war.«

Andreas schluckte unwillkürlich, als er den Namen des Madels hörte. Eine Verwechslung war ja wohl nicht möglich, es konnte sich nur um ›die‹ Steffi handeln.

Aber wer zum Teufel war Cars­ten?

Rasch unterdrückte er den Impuls, nachzufragen. Er würde schon noch früh genug erfahren, um wen es sich dabei handelte.

Andreas bedankte sich noch einmal bei der Wirtin und ging dann mit ihr hinunter, um sein Gepäck zu holen. Doch als er wieder oben war, packte er nicht gleich aus, sondern setzte sich nachdenklich auf einen der Stühle.

Steffi war also mit einem anderen Pensionsgast auf Bergtour gegangen – zumindest vermutete er, dass sie diesen Carsten erst hier kennen gelernt hatte, anderenfalls hätte Heike Burckhard ihm doch sicher etwas darüber gesagt.

Zufall? Hatte es sich so ergeben, oder waren die beiden näher befreundet? Eine Liebesgeschichte gar?

Wenn er daran dachte, was Heike ihm erzählt hatte, konnte Andreas sich eigentlich nicht vorstellen, dass Steffi sich so schnell mit einem anderen Mann abgab. Er hatte eigentlich vermutet, dass er es war, in den sie sich verguckt hatte – zumindest sprachen alle Anzeichen dafür – und er war deshalb mit großer Hoffnung hergekommen. Doch jetzt schienen sich diese Hoffnungen unvermittelt in Luft aufzulösen.

Nachdem er eine ganze Weile nur so dagesessen hatte, stand Andreas schließlich auf und packte die Reisetasche aus. Inzwischen war es kurz nach zwölf. Der Fotograf beschloss, einen Spaziergang durch das Dorf zu machen und dabei der Empfehlung Ria Stublers zu folgen und im Biergarten des Hotels zu Mittag zu essen. Er nahm eine seiner Kameras und steckte sie in die Hosentasche. Als Profi hatte er mehrere Fotoapparate, darunter auch kleine moderne Digitalkameras, aber für manche Aufträge waren die guten alten Kameras, mit richtigen Filmen, die richtigen.

Während er durch den Ort spazierte, verglich Andreas St. Johann mit den beiden anderen Dörfern, in denen er die letzten Tage gearbeitet hatte. Gewiss hatte jedes seinen eigenen Charme, aber dieses hier stellte dennoch etwas ganz Besonderes dar. Es schien, als sei in St. Johann die Zeit stehen geblieben. Das Dorf strahlte Ruhe und Behaglichkeit aus, Andreas hatte das Gefühl, sich hier vollkommen entspannen zu können. Es fehlte jegliche Hektik, wie sie sonst in den Orten, die von Urlaubern überlaufen waren, an der Tagesordnung war.

Er fotografierte einen alten Brunnen, der malerisch vor einem Haus in einer Seitenstraße stand, und machte Aufnahmen von den wunderschönen Lüftlmalereien an den Häusern. Schließlich ging er zur Kirche hinüber und schritt den Kiesweg hinauf.

Staunend betrat er das Gotteshaus und bewunderte es.

Ganz sicher würde er noch einmal herkommen, aber dann mit seiner Ausrüstung, um all diese Pracht im Bild festzuhalten!

Eine Stunde später saß er dann im Biergarten und las auf der Speisekarte all die verlockend klingenden Angebote. Andreas entschied sich für ein Wiener Schnitzel, das mit Kartoffelsalat serviert wurde. Auch wenn es wunderbar schmeckte, so richtig Hunger hatte er eigentlich nicht. Dafür musste er viel zu sehr an Stephanie Wagner denken, und es quälte ihn die bange Frage, was es mit diesem Carsten auf sich hatte.

*

»So, da wären wir.«

Pfarrer Trenker und seine beiden Begleiter standen auf einer Anhöhe und schauten auf eine alte, von Wind und Wetter grau und verwittert gewordene Almhütte, die in der Senke stand, umgeben von sanft ansteigenden Bergwiesen, auf denen Kühe und Ziegen sich an dem fetten Gras und den würzigen Kräutern labten.

Die Kandererhütte war im Laufe der Jahre immer wieder ausgebessert und renoviert worden. Auch die Nebengebäude, wie Stall, Scheune und Schuppen waren nach und nach errichtet worden. Auf der Terrasse saßen, unter bunten Sonnenschirmen, schon zahlreiche Wanderer, die auf anderen Wegen heraufgekommen waren, und genossen die herrliche Aussicht.

Der Bergpfarrer und seine Begleiter hatten während des Aufstiegs noch einige Male eine kurze Rast eingelegt und dabei die restlichen Brote verzehrt. An einem Gebirgsfluss füllten sie ihre Flaschen mit dem eiskalten und kristallklaren Wasser auf, nachdem sie ihren Durst gelöscht hatten.

Steffi und Sebastian unterhielten sich über die Eltern des Madels, und der Geistliche erzählte, dass er damals mit Liesl und Gustav Wagner genau dieselbe Tour gemacht hatte.

»Den Franz haben sie auch kennen gelernt«, sagte Sebastian. »Denn der war damals schon Senner auf der Kandereralm.«

Dabei deutete der gute Hirte von St. Johann auf einen bärtigen grauhaarigen Mann, der zwischen den Gästen auf der Sonnenterrasse und der Hütte hin und her eilte.

»Das ist er.«

Sebastian hob die Hand.

»Grüß dich, Franz!«, rief er.

Der Alte blickte auf und winkte zurück, als er den Besucher erkannte.

»Grüß Gott, Hochwürden. Schön, dass Sie mal wieder heraufschauen. Ist schon eine ganze Weile her.«

Sie waren hinabgestiegen, und der Senner kam ihnen entgegen. Der Geistliche schüttelte ihm die Hand und stellte Steffi und Carsten vor.

»Ja, es ist wirklich schon sehr lang’ her, dass ich hier oben war«, bestätigte der Bergpfarrer. »Und es ist einiges geschehen, in der Zeit. Wir haben nachher sicher noch Gelegenheit, uns zu unterhalten. Aber jetzt haben wir erst einmal Hunger. Was gibt’s denn heut’ Gutes?«

Franz Thurecker war schon weit über siebzig Jahre alt. Mit seinem grauen Bart, den Krachledernen und dem karierten Hemd entsprach er genau dem Bild, das man gemeinhin von einem Senner hatte, der in den Bergen wohnt. Franz war mit Leib und Seele dabei, für ihn gab es nichts Schöneres, als hier oben mit seinen Tieren und der Natur in Einklang zu leben, und der Käse, den er zu machen verstand, hatte einen schon beinahe legendären Ruf. Bis zum Herbst, wenn der Almabtrieb war, blieb er hier oben. Den Winter verbrachte er drunten im Tal bei seiner Schwester, aber mit der Schneeschmelze im Frühjahr, wenn die ersten Blütenknospen durchbrachen, zog es ihn wieder auf seine geliebte Alm hinauf. Indes war Franz Thurecker nicht nur Senner und Käser, sondern auch Gastwirt. Da er ganz alleine hier oben lebte, war es nur verständlich, dass er ein begrenztes Speisenangebot vorrätig hielt. Das wechselte zwar häufig, aber immer war es hervorragend. Heute offerierte er einen deftigen Eintopf aus weißen Bohnen, mit geräuchertem Schweinefleisch und frischem Gemüse gekocht, das Franz in dem kleinen Garten, hinter der Hütte, selber zog. Außerdem gab es seine unvergleichlichen Käsespätzle, ein leckeres Schwammerlragout mit Semmelknödeln, sowie eine Brettl­jause, die aus Wurst, Bergkäse und Brot bestand.

»Wir nehmen von allen warmen Speisen ein bissel was«, meinte der Bergpfarrer, »dann können wir alles probieren.«

»Ist recht« nickte der Senner. »Setzen S’ sich schon mal, die Milch kommt sofort.«

Franz Thurecker kannte natürlich die Vorliebe Pfarrer Trenkers für die frische eiskalte Milch der Kühe, die hier oben standen.

Sebastian führte Steffi und Cars­ten zur Terrasse und nickte grüßend in die Runde. Hier und da wechselte er ein paar Worte mit den Bergführern und setzte sich dann an einen der Tische. Der Senner brachte die Milch, die herrlich schmeckte und erfrischte.

Carsten Scheffler wandte sich an Steffi.

»Ist doch schön hier oben, oder?«, fragte er.

Es war das erste Mal, seit sie unterwegs waren, dass er sie direkt ansprach. Und auch jetzt blickte er sie eher unsicher dabei an. Steffi spürte diese Unsicherheit und ahnte, dass ihm sein gestriges Verhalten immer noch peinlich war. Sie lächelte ihn an.

»Es ist einmalig schön«, antwortete sie, »und ich bin glücklich, dass es überhaupt geklappt hat.«

Einen Moment sah es so aus, als wollte Carsten noch etwas sagen, doch da kam der Senner schon wieder an den Tisch und servierte die Suppe.

Es war eine riesige Terrine, die Franz Thurecker samt Teller und Löffeln auf den Tisch stellte. Dazu reichte er noch einen Korb, in dem etliche Brotscheiben lagen.

»Guten Appetit«, wünschte er.

Der Eintopf dampfte, als der Geistliche den Deckel abnahm; dicke Fleischbrocken schwammen darin. Es schmeckte so lecker, dass sie alles aufaßen und die Teller mit dem Brot auswischten.

Als zweiten Gang servierte Franz seine Käsespätzle. Selbstverständlich waren sie von ihm selbst geschabt worden. Der Senner hatte sie mit gerösteten Zwiebeln und geriebenem Bergkäse abwechselnd in eine irdene Form geschichtet, zuletzt noch einmal Käse darüber gestreut und die Form dann in den Backofen geschoben, wo die Spätzle eine appetitliche braune Kruste bekamen. Dazu gab es einen grünen Salat, der einfach mit Essig und Öl angemacht war.

»Es schmeckt einfach köstlich«, seufzte Carsten, »aber wenn ich noch mehr esse, dann platze ich!«

Indes war es noch nicht der letzte Gang, denn Franz tischte ihnen noch von dem Schwammerlgulasch auf, und die dazu gereichten Semmelknödel hatten in etwa den Umfang von Kanonenkugeln …

*

Nach dem Essen stand Carsten auf.

»Entschuldigt«, bat er, »aber ich muss mich ein bissel bewegen.«

Der Ingenieur nahm seinen Fotoapparat mit, als er die Terrasse verließ. Steffi blickte ihm nachdenklich hinterher.

»Wie ich bemerkt habe, duzt ihr euch inzwischen«, meinte Sebastian. »Neulich, in der Kirche, habt ihr euch noch gesiezt.«

»Es ist eben einfacher so«, zuckte die Bankangestellte die Schultern. »Wir haben uns hier kennen gelernt und unternehmen ja eine ganze Menge zusammen. Da ist es doch angenehmer, ein bissel vertrauter miteinander umzugehen.«

»Da hast’ natürlich Recht«, nickte der Geistliche und sah sie forschend an. »Und sonst?«

»Was meinen Sie?«

»Sonst gibt’s nix, was euch verbindet?«

Pfarrer Trenker hob die Hand.

»Du kannst natürlich sagen, dass es mich nix angeht«, fuhr er fort, »aber ich hab’ den Eindruck, dass der Carsten mehr für dich empfindet, als nur freundschaftliche Gefühle …«

»Das haben Sie bemerkt?«, fragte Steffi erstaunt.

Sie verzog leicht den Mund.

»Ja, es ist tatsächlich so«, bestätigte sie dann Sebastians Vermutung. »Gestern erst hat Carsten mir seine Liebe gestanden.«

Sie verschwieg indes, unter welchen Umständen dies geschehen war.

»Aber du empfindest net so für ihn.«

Wieder war sie erstaunt, was der Geistliches alles wusste.

»Nein«, schüttelte Stephanie Wagner den Kopf. »Ich mag Cars­ten, er ist ein netter Bursche, aber zu mehr reicht es einfach net.«

»Hast du es ihm gesagt?«

»So, wie jetzt zu Ihnen, net«, gab sie zu. »Ich hab’ ihn gebeten, mir noch ein bissel Zeit zu lassen. Wir kennen uns ja auch erst ein paar Tage.«

»Dann wollen wir mal hoffen, dass er deine Bitte auch akzeptiert …«

Die anderen Wandergruppen waren inzwischen längst wieder aufgebrochen. Franz Thurecker kam an den Tisch und räumte das Geschirr ab. Auch auf den anderen Tischen standen noch Flaschen und Gläser. Sebastian nahm sich kurzerhand ein Tablett und half dem Senner beim Aufräumen.

»Ich kann Gläser spülen«, bot Steffi an.

»Lass nur«, lächelte der Bergpfarrer, »das mach’ ich schon. Schau dich doch ein bissel um. Ich glaub’, der Carsten ist dort drüben bei den Tieren.«

Während er das Tablett in die Hütte brachte, spazierte Steffi zur Bergwiese hinüber. Zwei Hütehunde bewachten die Kühe und Ziegen. Im Moment hatten sie allerdings nicht viel zu tun, sie lagen friedvoll dösend in der Mittagssonne. Cars­ten Scheffler saß bei ihnen und streichelte sie abwechselnd, was sie sich mit sichtlichem Behagen gefallen ließen. Der Ingenieur nahm seinen Fotoapparat, als er Steffi herankommen sah, und drückte auf den Auslöser.

»Nicht!«, rief sie lachend und fuhr sich ordnend durch das Haar. »Ich seh’ doch bestimmt schrecklich aus!«

Carsten schüttelte den Kopf.

»Ich weiß net, was ihr Frauen immer mit eurem Aussehen habt«, meinte er. »Dabei ist so ein natürliches Foto doch viel schöner als ein gestelltes.«

»Na ja, schließlich wollen wir euch Männern ja gefallen«, sagte sie und biss sich im nächsten Moment auf die Zunge, kaum dass sie den Satz ausgesprochen hatte.

Himmel, das hätt’ ich besser net gesagt!, schoss es ihr durch den Kopf.

Carsten sah sie mit einem seltsamen Blick an, ganz bestimmt hatte er ihre Worte anders verstanden, als sie sie gemeint hatte.

»Du gefällst mir doch, Steffi«, sagte er leise. »Egal, ob deine Haare richtig sitzen oder net.«

Er klopfte auf den Boden neben sich.

»Setz’ dich doch.«

Sie nickte und hockte sich neben ihn, vermied es aber, ihm dabei allzu nahe zu kommen.

»Ist das net wunderbar hier oben!«, schwärmte Carsten Scheffler.

»Also net, dass ich so leben möcht’ wie der Franz, jedenfalls net das ganze Jahr über. Aber für ein paar Wochen könnt’ ich’s mir schon vorstellen.«

»Ich weiß net«, meinte Steffi und zuckte die Schultern. »Mir wär’s hier oben wohl zu einsam.«

»Na ja, es kommt immer drauf an, mit wem man hier lebt«, meinte er und sah sie durchdringend an.

Steffi verstand ganz genau, was er damit sagen wollte, und verzichtete auf eine Antwort. Sie atmete erleichtert auf, als Pfarrer Trenker aus der Hütte kam und ihnen zuwinkte.

»Der Franz hat Kaffee gekocht«, rief er.

Sie standen auf und kehrten auf die Terrasse zurück. Indes hatte der Senner nicht nur Becher mit Kaffee an den Tisch gebracht, sondern auch Teller mit riesigen Stücken Apfelkuchen, neben denen auch noch ein Berg Sahne thronte.

»Langt nur ordentlich zu«, forderte er sie augenzwinkernd auf. »Wenn’s net reicht – es ist noch mehr da. Und nachher zeig’ ich euch, wie der Käse gemacht wird.«

*

Andreas Brunner blieb noch recht lange im Biergarten sitzen. Irgendwie hatte er sich das alles anders vorgestellt.

Aber wie?

Freilich konnte er nicht annehmen, dass Steffi hier irgendwo saß und auf ihn wartete. Zumal sie ja gar nicht wusste, dass er überhaupt herkommen würde. Allerdings musste Andreas sich eingestehen, dass er es sich genauso vorgestellt hatte. In seiner Vorstellung hatte er sie in der Pension Stubler angetroffen und sie damit überrascht, dass er so plötzlich vor ihr stand.

Freilich würde er ihr erklären müssen, was es mit Cora auf sich hatte, die wirklich nie mehr als eine gute Freundin für ihn war, und ein beliebtes Modell für seine Arbeit als Fotograf. Für Andreas war es tatsächlich kein Unding, dass einen Mann und eine Frau nicht mehr verband, als eine handfeste Freundschaft, wie sie sonst nur unter Männern üblich war. Nicht einmal platonisch würde er seine Beziehung zu Cora nennen.

Aber dies Steffi klarzumachen, darin hatte er eigentlich die schwerste Hürde gesehen, und darin, sie davon zu überzeugen, dass er sich in sie rettungslos verliebt hatte. Ein ganz klein wenig Mut machte ihm dabei Steffis Verhalten auf seiner Einweihungsfeier und als sie sich an jenem Sonntag zufällig in dem Straßencafé getroffen hatten.

Sie musste ganz einfach etwas für ihn empfinden, denn sonst hätte sie doch sicher nicht so reagiert!

Doch jetzt war sie mit einem anderen Mann auf einer Bergtour …

Natürlich war Andreas nicht so weltfremd, dass er nicht wusste, dass man immer zu mehreren zu so einer Tour aufbrach. Aber ganz offensichtlich hatte Steffi diesen Cars­ten hier in St. Johann kennen gelernt, und zu allem Überfluss wohnte der auch noch in derselben Pension.

Grund genug also, seiner Eifersucht freien Lauf zu lassen!

Denn dass Steffi hier jemanden kennen lernen könnte, dieser Gedanke war ihm bisher nämlich überhaupt noch nicht gekommen.

Nachdem der Fotograf noch sehr lange darüber nachgedacht hatte, zahlte er, verließ den Biergarten und kehrte zur Pension zurück. Er fragte sich, wie lange so eine Bergtour wohl dauern mochte, und wann er mit Steffis Rückkehr rechnen konnte.

Von seinem Zimmer aus trat er auf den Balkon und schaute zu den Bergen hinüber. Irgendwo dort oben musste sie jetzt sein.

Ob er sie würde sehen können, wenn er ein Fernglas gehabt hätte?

Andreas setzte sich in einen der Korbstühle, die vor jedem Fenster standen und ließ die Berge nicht aus den Augen. Irgendwann ließ ihn ein Geräusch hochschrecken, und er stellte überrascht fest, dass er eingeschlafen war. Es war ihm noch nie passiert, dass er am helllichten Tag so müde wurde, dass ihn der Schlaf übermannte. Kopfschüttelnd stand er auf und nahm eine Dusche. Über eine halbe Stunde hatte er auf dem Stuhl gesessen und geschlafen.

Nach der Dusche fühlte er sich erfrischt und ausgeruht. Andreas zog sich um und überlegte dabei, wie er jetzt Steffi gegenübertreten sollte.

Auf keinen Fall durfte sie wissen, dass er ihretwegen hier war! Es musste eher wie ein Zufall aussehen!

Zwar hatte er von ihr ja erfahren, dass sie nach St. Johann fahren wollte, aber es konnte ja gut sein, dass er hier überraschend beruflich zu tun bekommen hatte …

Ja, so würde er es erklären, wenn es nötig sein sollte! Aber erst einmal wollte er herausfinden, in welchem Verhältnis Steffi zu diesem Carsten stand. Sollten sich die beiden näher stehen, als Andreas hoffte, dann würde er sich ganz diskret zurückziehen.

Der Fotograf verließ sein Zimmer und ging die Treppe hinunter. Schon als er noch auf dem oberen Absatz stand, schlug ihm Kaffeeduft entgegen. Ria Stubler kam gerade aus der Küche, als er unten ankam. In der Hand hatte sie einen Teller mit Kuchenstücken.

»Hallo Andreas, haben S’ Lust auf einen Kaffee?«, lud sie ihn ein.

Der Kuchen sah verlockend aus, auch wenn Andreas nur wenig Süßes aß. Aber der Kaffee duftete verführerisch.

»Gern«, nickte er und folgte der Wirtin nach draußen.

Auf einem Tisch standen Teller und Tassen, Kuchen und Kaffee zur Selbstbedienung auf einem anderen. Ein paar Hausgäste hatten sich ebenfalls eingefunden. Der Fotograf begrüßte sie und stellte sich als neuen Gast vor. Schnell fand man zu einem netten Gespräch zusammen, bei dem besonders Ria Stublers Marmorkuchen gelobt wurde.

»Na, jetzt werden unsre Bergwanderer wohl auch bald wieder eintreffen«, meinte Ria einmal nach einem Blick auf die Uhr.

Andreas überlegte rasch. Wenn er mit Steffi zusammentraf, dann sollte das unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Er bedankte sich für den Kaffee und Kuchen und verabschiedete sich.

Den anderen Gästen fiel nicht auf, dass dies sehr hastig geschah …

*

Nach dem Kaffeetrinken führte Franz Thurecker in den Raum hinter der Hütte. Steffi und Carsten staunten über die peinliche Sauberkeit, die hier drinnen herrschte. Der Raum war bis kurz unter die Decke gekachelt, der Boden gefliest. Zwei Kupferkessel standen darin, unter einem von ihnen brannte ein leises Holzfeuer. Der Senner erklärte, dass es sich bei dem Inhalt des Kessels um die Milch von gestern Abend und dem heutigen Morgen handelte. Er hatte sie am späten Vormittag mit Lab versetzt und langsam erhitzt. Das Ferment aus dem Kälbermagen sorgte dafür, dass die erwärmte Milch dick wurde. Franz hatte sich ordentlich die Hände, bis zu den Ellenbogen hinauf, gewaschen. Jetzt nahm er eine Käseharfe von der Wand. Indes handelte es sich dabei nicht um ein Musikinstrument. Die Harfe war aus gebogenem Metall und besaß eine Reihe von Drähten, sodass sie tatsächlich an ein Instrument erinnerte, doch diente sie dazu, die dick gewordene Milch zu zerteilen. Mit langsamen, sorgfältigen und routinierten Bewegungen fuhr Franz Thurecker damit durch den Kessel.

»Je feiner der Bruch ist, umso fester wird nachher der Käse«, erläuterte er dabei.

Nachdem er hineingefasst und den Grad der Körnung festgestellt hatte, nickte er zufrieden. Er stellte zwei Formen auf dem Tisch hinter sich zurecht und nahm dann ein großes, weißes Tuch aus einem Regal. Er faltete es auseinander und steckte zwei der Enden zwischen seine Zähne, die beiden anderen hielt er fest in den Händen und fuhr damit tief in den Kessel hinein. Nach einem kurzen Moment zog er das Tuch heraus, das jetzt prall mit Käsebruch gefüllt war.

Steffi und Carsten bekamen eine Ahnung davon, wie schwer diese Arbeit sein musste, denn der Senner hatte ein vor Anstrengung rot angelaufenes Gesicht. Er wartete, bis die Molke abgelaufen war, und wuchtete dann das Tuch in die eine Form. Franz drückte und zog zurecht und schlug die Enden des Tuches übereinander. Dann legte er einen Holzdeckel über die Form und beschwerte ihn mit einem Gewicht.

»Die Form hat unten Löcher, damit die restliche Molke abtropfen kann«, erklärte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Nachdem er sich noch einmal die Hände gesäubert hatte, führte er die Besucher an einen anderen Tisch, auf dem ebenfalls gefüllte Formen standen. Franz nahm einen der Käselaibe heraus und legte ihn in eine große Wanne.

»Das ist Salzlake«, erläuterte er weiter. »Darin muss der Käse jetzt vierundzwanzig Stunden bleiben, ehe er ins Reifelager kommt. Und dorthin geh’n wir jetzt.«

Im Lager, das sich hinter der Käserei befand, lagen die Käselaibe in Regalen, die bis an die Decke reichten. Der Senner zeigte ihnen, was zu seinen täglichen Arbeiten gehörte, nämlich jeden einzelnen Käse aus dem Regal zu holen und ihn ordentlich mit einer Bürste, die immer wieder in Lake getaucht wurde, abzuschrubben. Dabei erklärte er seinen interessiert zuhörenden Besuchern, wie wichtig das für die Rindenbildung sei, die den Käse ja während der langen Lagerzeit schützte.

Anschließend ging es an die Verkostung. Franz reichte ihnen Proben von Käsen in den verschiedensten Reifestadien, die alle hervorragend schmeckten. Die Palette reichte von ganz jungem, bis hin zu zwölf Monaten gereiftem Bergkäse.

Eine weitere Spezialität waren seine Ziegenkäse und die Frischkäsesorten, von denen einige fast grün waren, was von den vielen wilden Kräutern herrührte, die der Senner eigenhändig sammelte und hineinrührte. Auch diese Käse wurden verkostet, und zum Schluss ließ es sich der Senner nicht nehmen, seinen Gästen jeweils ein großes Stück ihrer Lieblingssorte einzupacken.

»Wenn ihr den Käse bei der Ria in den Kühlschrank legt, dann hält er sich, bis ihr wieder heim fahrt«, meinte er.

Steffi und Carsten bedankten sich für alles, und Pfarrer Trenker versprach dem Alten, bis zu seinem nächsten Besuch nicht wieder so viel Zeit verstreichen zu lassen.

Dann machten sie sich an den Abstieg. Erstaunlicherweise brauchten sie dafür viel weniger Zeit, als für den Aufstieg.

»Weil wir ein gutes Stück den Wirtschaftsweg hinuntergeh’n«, erklärte der Bergpfarrer schmunzelnd. »Freilich hätten wir den auch schon zum Aufstieg nehmen können, aber dann hätten wir längst net so viel geseh’n.«

»Nein, nein«, sagte Steffi, »das war schon ganz richtig so, Hochwürden. Es war ein einmaliges und unvergessliches Erlebnis. Herzlichen Dank dafür.«

Auch Carsten Scheffler bedankte sich.

»Keine Ursache«, antwortete Sebastian. »Ich freu’ mich doch immer, wenn ich jemandem die Schönheiten meiner Heimat zeigen kann. Jetzt ruht euch erstmal aus. Ich wünsch’ euch noch einen schönen Aufenthalt, und ganz sicher werden wir uns noch das eine oder andre Mal sehen, solang ihr noch hier seid. Also, einen schönen Abend und pfüat euch.«

Sie hatten sich an der Ecke verabschiedet. Während Pfarrer Trenker zur Kirche weiterging, überquerten Steffi und Carsten die Straßen und schritten zur Pension hinüber.

»Sehen wir uns noch?«, fragte der Ingenieur hoffnungsvoll.

Zu seinem Bedauern schüttelte Steffi den Kopf.

»Ich bin viel zu erschöpft«, erwiderte die Bankangestellte.

»Schade. Ich dachte, wir könnten zusammen zum Essen geh’n.«

»Das ist lieb gemeint, aber ich bekomme ganz sicher keinen Bissen mehr herunter. Wenn ich dran denke, was wir heut’ alles gegessen haben! Erst die vielen Brote, dann das Essen droben auf der Alm und der Kuchen und der Käse – vor morgen früh brauch’ ich nix mehr.«

»Eigentlich hast du Recht«, schmunzelte Carsten Scheffler. »Gott sei Dank schlemmen wir net jeden Tag so, sonst müssten wir uns neue Sachen zum Anziehen kaufen, wenn unser Urlaub zu Ende ist.«

Sie hatten die Pension erreicht. Carsten schloss auf und ließ Steffi den Vortritt. Im Flur kam ihnen Ria entgegen.

»Da sind Sie ja wieder«, begrüßte sie die beiden. »Hatten S’ einen schönen Tag?«

»Es war ganz herrlich«, rief Steffi und richtete die Grüße aus, die Franz Thurecker ihr für Ria aufgetragen hatte. »Er hat uns übrigens auch für Sie ein Stück Käse mitgegeben.«

Sie holte den Käse aus dem Beutel, in den der Senner ihn hineingesteckt hatte und gab der Wirtin auch die beiden Stücke, die Franz für sie und Carsten abgeschnitten hatte.

Ria bedankte sich.

»Das Haus ist übrigens wieder voll besetzt«, erzählte sie. »Stellen S’ sich vor, heut’ Morgen klingelt ein junger Mann an der Haustür und fragt, ob zufällig noch ein Zimmer frei ist. Na, stellen S’ sich vor, wie der geschaut hat, als ich genickt hab’. Eigentlich hat er nämlich gar net damit gerechnet, dass er so viel Glück haben könnt’.«

Der Kombi mit dem Münchner Kennzeichen vor dem Haus war ihnen schon aufgefallen, als sie die Straße heruntergekommen waren.

»Wie schön«, freute sich Steffi mit Ria, »da haben S’ ja gar keinen Verlust.«

»Ich sagte ja, dass in der Saison öfter mal nachgefragt wird«, nickte die Wirtin. »Und der Herr Brunner, so heißt der junge Mann, macht einen wirklich netten Eindruck.«

Steffi gähnte verhalten.

»Ich glaub’, ich geh’ nur noch schnell unter die Dusche,« erklärte sie, »und anschließend gleich schlafen.«

Carsten nickte.

»Vielleicht schau ich später noch auf einen Schluck in den Biergarten«, sagte er und ging neben ihr die Treppe hinauf, »aber spät wird’s bei mir gewiss auch net.«

Sie verabschiedeten sich, und Steffi schloss müde und erschöpft die Tür hinter sich.

Als Ria Stubler den Namen Brunner erwähnte, dachte sie einen Moment, dass es sich bei dem neuen Gast um Andreas handeln könne.

Aber das wäre wohl doch ein zu großer Zufall gewesen!

Und Brunner war, hier in Bayern zumindest, ein so geläufiger Name, dass es kaum möglich war, dass es tatsächlich Andreas war.

Und warum auch sollte er ausgerechnet hierher fahren?

Rasch ging sie unter die Dusche und kroch dann unter die Bettdecke. Es war noch nicht einmal achtzehn Uhr, als Steffi Wagner schon sanft und selig schlief.

*

Andreas saß auf seinem Zimmer und hörte Schritte und Stimmen auf dem Flur. Zwar konnte er nicht genau verstehen, was gesprochen wurde, aber er war sicher, dass es Steffi und ihr Begleiter waren.

Dann gingen Türen, und es herrschte wieder Stille.

Der Fotograf stand auf, ging unschlüssig ein paar Schritte auf und ab und nahm schließlich seine braune Wildlederjacke vom Haken und schlüpfte hinein. Leise zog er die Zimmertür hinter sich zu und schloss ab. Ohne jemandem zu begegnen, verließ er das Haus und überquerte die Straße. Nach wenigen Minuten hatte er das Hotel erreicht und betrat den Biergarten. Die meisten Tische waren schon besetzt. An ihnen saßen zumeist Urlauber beim Abendessen. Andreas selbst hatte keinen Hunger. Er freute sich, einen kleinen Einzeltisch zu finden, der gerade frei geworden war, und bestellte ein Bier. Dann saß er gedankenverloren da und schaute sich das Treiben an.

Hier saß eine junge Familie mit zwei kleineren Kindern, dort ein älteres Ehepaar, das jetzt grüßend herübernickte.

Der Fotograf erinnerte sich, dass die beiden ebenfalls in der Pension Stubler wohnten, und grüßte zurück. Weiter hinten sah er ein junges Paar, Händchen haltend, mit zwei Gabeln von einem Salatteller essend. Andreas schmunzelte vor sich hin und bedauerte, seinen Fotoapparat nicht mitgenommen zu haben. Gerade solche Situationen lohnten, im Bild festgehalten zu werden. Derartige Momentaufnahmen spiegelten das wahre Leben wieder.

Nach einer Weile kam ein junger Mann an seinen Tisch und fragte höflich, ob er sich dazusetzen dürfe. Inzwischen waren nämlich weitere Gäste hereingekommen, und es schien nirgendwo mehr ein Platz frei zu sein.

Andreas gestattete es ihm, und war beinahe enttäuscht, als sich der Bursch vorstellte.

Er hieß nämlich Florian. Insgeheim hatte Andreas gehofft – oder gefürchtet – dass es dieser Carsten sein könne …

Sie unterhielten sich, und der Fotograf erfuhr, dass Florian Leitner der Sohn eines Bauern war. Er wollte sich eigentlich mit seinem Madel treffen, doch das hatte ihn offensichtlich versetzt.

Als die Burgl nach einer Stunde immer noch nicht in den Biergarten gekommen war, und Florian sie auch telefonisch nicht erreichten konnte, trank er sein Bier aus und verabschiedete sich.

»So sind s’ halt, die Madeln«, meinte er achselzuckend. »Sie dürfen einen warten lassen, bis zum St. Nimmerleinstag, aber wehe, wir Männer verspäten uns mal fünf Minuten!«

»Vielleicht gibt’s ja eine Erklärung«, sagte Andreas. »Oder sie läuft dir gleich in die Arme, deine Burgl.«

Eigentlich hoffte er das auch von Steffi. Aber als er dann in seinem Zimmer angekommen war, wusste er nicht, ob er nicht besser erleichtert sein sollte, dass es nicht geschehen war.

Aber spätestens morgen war eine Begegnung unausweichlich!

Der Fotograf machte es sich vor dem Fernseher bequem und schaltete durch die Programme. Allerdings gab es nichts zu sehen, was ihn wirklich interessiert hätte, und er beschloss daher, früh schlafen zu gehen.

Es war schon ein seltsames Gefühl, als er im Bett lag und daran dachte, dass Steffi im Nebenzimmer schlief …

Andreas wachte früh wieder auf. Es war kurz nach sieben, als er hinunterging. Ria Stubler war indes schon fleißig.

»Guten Morgen«, begrüßte sie ihn. »Haben S’ gut geschlafen?«

»Ja, ganz wunderbar. Das muss an der herrlichen Luft hier liegen.«

»Das will ich meinen«, lächelte die Wirtin. »Was hätten S’ denn gern zu trinken? Und wie möchten S’ das Ei gekocht haben?«

Andreas bestellte Kaffee und ein weich gekochtes Ei.

Ria erklärte ihm, an welchem Tisch auf der Terrasse sie für ihn gedeckt hatte. Noch war es recht frisch, als er nach draußen trat, doch die Vorhersage hatte wieder einen heißen Sommertag angekündigt.

Andreas war der erste Gast, der zum Frühstück erschienen war, und noch ahnte er nicht, was ihn erwartete. Aber er schlug die Hände zusammen, als Ria ihm auftischte.

»Das ist doch aber net alles für mich, oder?«, fragte er.

»Langen S’ nur tüchtig zu«, lächelte sie. »Der Appetit kommt beim Essen. Das macht auch unsre gute Luft.«

Kopfschüttelnd betrachtete er die Mengen an Wurst, Käse und Marmelade. Die Semmeln waren noch warm, als er eine aufschnitt, und der Kaffee war der beste, den er je getrunken hatte.

»Ria, es ist unglaublich!«, sagte er, als sie ihm das Ei servierte, das selbstverständlich auf den Punkt genau gegart war.

Aber er genoss das Frühstück auf der Terrasse, mit Blick auf den gepflegten Garten, in dem es grünte und blühte. Andreas ließ sich Zeit und staunte darüber, als er später feststellte, dass er sage und schreibe drei Semmeln gegessen hatte.

Nach und nach kamen die anderen Gäste zum Frühstück herunter, aber Steffi war nicht unter ihnen. Am übernächsten Tisch war für zwei Personen gedeckt. Andreas blickte auf den jungen Mann, der daran Platz nahm, und wusste instinktiv, dass dies jener Carsten war, mit dem Steffi gestern eine Bergtour gemacht hatte.

Offenbar saßen sie auch zusammen an einem Tisch!

Und dann stand sie plötzlich in der Tür. Andreas’ Herz schlug bis zum Hals hinauf, als er sie sah. Noch hatte sie ihn nicht bemerkt, erst als sie den Kopf wandte, um zu seinem Tisch hinüber zu grüßen, sah Steffi ihn.

Urplötzlich erstarrte sie zu der sprichwörtlichen Salzsäule, ihre Augen weiteten sich vor Erstaunen, und sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen.

In diesem Moment hatte Andreas seine Serviette zusammengefaltet und auf den Tisch gelegt. Er erhob sich und ging Richtung Tür, wo Steffi immer noch stand und ihn anstarrte.

Indes war ihr Blick jetzt doch recht unsicher geworden.

War er es wirklich, oder hatte dieser Mann nur eine verblüffende Ähnlichkeit mit jemandem, den sie kannte?

Aber nein, er musste es sein. Ria Stubler hatte doch gestern Abend erzählt, dass der neue Gast Brunner heiße.

Aber wieso reagierte er denn nicht?

Er musste sie doch erkennen!

Steffi lächelte ihn an, wollte ihn ansprechen, doch er schob sich wortlos an ihr vorbei und schenkte ihr keinerlei Beachtung.

*

Die junge Bankangestellte war völlig konsterniert. Mit unsicheren Schritten ging sie an den Tisch und spürte erst jetzt, dass sie vor Aufregung ganz weiche Knie bekommen hatte.

Carsten blieb ihre Nervosität natürlich nicht verborgen.

»Was hast du denn?«, fragte er. »Du schaust, als hättest’ grad ein Gespenst geseh’n.«

Sie schluckte.

»So ähnlich kommt’s mir auch vor«, antwortete sie.

»Was ist denn los?«, hakte Cars­ten nach.

Sie schüttelte den Kopf.

»Es ist nix«, behauptete sie.

Der Ingenieur betrachtete sie misstrauisch. So genau hatte er es nicht mitbekommen, aber er war sicher, dass Steffis sonderbares Verhalten mit dem Typen zu tun haben musste, der eben noch an dem Tisch dort drüben gesessen hatte, den Ria Stubler gerade abräumte.

Carsten schwieg und schenkte ihr Kaffee ein. Steffi bedankte sich mit einem Kopfnicken und hielt ihm den Korb mit den Semmeln hin.

»Jetzt, wo wir geseh’n haben, wie’s gemacht wird, schmeckt der Käse noch mal so gut«, meinte sie. »Findest’ net auch?«

Er nickte. Ihm war sofort klar, dass Steffi mit diesem Satz nur von dem ablenken wollte, was sie eigentlich beschäftigte. Aber mehr sagte sie dann auch nicht, sondern hing schweigend ihren Gedanken nach.

»Was machen wir denn heut’?«, fragte Carsten schließlich, als ihm das Schweigen zu viel wurde. »Wollen wir vielleicht noch mal zum Schwimmen fahren?«

Eigentlich ein verlockender Gedanke.

Aber Steffi wusste, dass sie am Achsteinsee keine ruhige Minute haben würde, bevor sie nicht wusste, was das alles bedeutete.

Warum war Andreas hier? Und warum verhielt er sich so, als würde er sie nicht kennen?

Das waren die zwei zentralen Fragen, um die ihre Gedanken kreis­ten.

»Heut’ net«, schüttelte sie den Kopf.

Beinahe entschuldigend sah sie Carsten Scheffler an.

»Wenn’s dir nix ausmacht, dann würd’ ich den Tag heut’ gern für mich haben«, setzte sie hinzu.

»Natürlich net«, erwiderte er. »Wir sind ja net verpflichtet, etwas miteinander zu unternehmen.«

Abrupt stand er auf und ging, ohne ein weiteres Wort, und ihr war klar, dass er durch ihre Absage zutiefst verletzt war.

Das Frühstück schmeckte ihr plötzlich nicht mehr. Steffi stand auf und ging nach oben. Hans Grieser hatte das Zimmer neben dem ihren bewohnt, als musste es jetzt das von Andreas sein.

Sie klopfte an die Tür. Erst zaghaft, dann fester, als sich dahinter nichts rührte. Als er nicht öffnete, ging sie in ihr eigenes Zimmer und überlegte, was sie tun sollte. Wahrscheinlich hatte Andreas die Pension verlassen. Steffi fragte sich, wohin er wohl gegangen sein mochte. Die Kirche fiel ihr dabei ein. Schließlich war er Fotograf, und als solcher musste ihn das Gotteshaus doch interessieren.

Sie lief die Treppe hinunter. Ria sah sie tadelnd an.

»Was ist denn mit Ihnen los?«, fragte sie. »Weder Sie noch Carsten haben richtig gefrühstückt.«

»Heut’ net«, schüttelte Steffi den Kopf. »Sagen Sie, Ria, haben Sie eine Ahnung, wohin der Herr Brunner gegangen sein könnte?«

»Herr Brunner?«, fragte die Wirtin verwundert. »Kennen S’ den etwa?«

»Ja. Aber das zu erklären wäre jetzt ein bissel zu viel.«

Ria ahnte, was dahinterstecken mochte, zumindest hatte die junge Frau einen Grund, nach dem Mann zu fragen.

»Ich nehme an, dass er zur Kirche hinüber ist«, sagte sie. »Gestern erzählte er, dass er dort Fotos machen wollte.«

»Danke«, rief Steffi und eilte hinaus.

Die Wirtin sah ihr lächelnd hinterher.

Die Bankangestellte lief den Kiesweg hinauf und griff nach der Klinke der Kirchentür. Doch im letzten Moment zuckte ihre Hand zurück.

Was hatte sie eigentlich vor?

Einen Moment lang überlegte sie, ob es wirklich eine so gute Idee war, hineinzugehen und Andreas anzusprechen. Nur zu gut erinnerte sie sich an seine abweisende Miene, als er vorhin an ihr vorbeiging. Doch dann nahm sie all ihren Mut zusammen, griff erneut nach der Klinke und drückte sie hinunter.

Andreas Brunner hatte ein Stativ aufgestellt und seinen Fotoapparat darauf geschraubt. Im Sucher sah er das mächtige Altarkreuz. Er regelte den Weitwinkel und drückte den Auslöser. Hinter sich hörte er Schritte, kümmerte sich aber nicht weiter darum. Erst als er ein Räuspern vernahm, drehte er den Kopf.

»Hallo, Andreas«, sagte Steffi mit belegter Stimme, »ich konnt’s gar net glauben, als ich dich heut’ Morgen da plötzlich vor mir seh’.«

Er lächelte und zuckte die Schultern.

»Solche Zufälle gibt’s eben.«

Sie schaute ihn forschend an.

»Wie kommt es denn, dass du ausgerechnet nach St. Johann gekommen bist?«

»Ich sagte ja schon, ein Zufall.«

Enttäuscht wollte sie sich abwenden.

Hatte sie sich wirklich eingebildet, er wäre ihretwegen hier?

Wie hatte sie das nur glauben können!

»Tja, es war jedenfalls schön, dich zu sehen«, sagte sie. »Vielleicht können wir ja mal wieder einen Kaffee zusammen trinken.«

»Ich weiß net, ob das so eine gute Idee ist«, entgegnete Andreas. »Ganz sicher würd’s deinem Freund net gefallen.«

»Carsten Scheffler ist net mein Freund!«, rief sie rasch.

»Jedenfalls net so, wie du glaubst. Ich hab’ ihn hier kennen gelernt, und wir haben zusammen was unternommen. Aber das war ganz harmlos.«

»Na ja, das geht mich ja auch nix an.«

Steffi musterte ihn.

War da was in seinem Ton, das seine Aussage Lügen strafte?

»Wie geht’s eigentlich deiner Freundin?«, fragte sie.

Er erwiderte ihren Blick.

»Corinna ist net meine Freundin«, widersprach er.

»Und all die Fotos in deiner Wohnung? Bedeuten die nix?«

»Doch, natürlich. Ich hab’ sie nämlich gemacht. Cora ist net nur eine gute Freundin von mir – aber net so, wie du glaubst – sondern auch noch ein gefragtes Fotomodell, und ich bin sehr froh darüber, dass sie mit mir zusammenarbeitet.«

»Ach so …«

»Klingt grad so, als würdest’ mir doch net glauben. Frag’ doch Heike.«

»Heike Burckhard? Was hat die damit zu tun?«

Jetzt schaute der Fotograf verlegen vor sich hin.

»Ich hab’ mit ihr gesprochen«, gestand er. »Über dich. Dabei hat sie mich auch wegen Cora gefragt …«

»Was habt ihr denn über mich geredet?«

Andreas hob die Arme und ließ sie wieder fallen.

»Was haben wir geredet? Mein Gott, ich wollte wissen, wo genau du hier in St. Johann wohnst und ob du einen Freund hast und … und überhaupt, ob ich vielleicht eine Chance bei dir hätt’. So, jetzt weißt du’s.«

Steffi starrte ihn an und schluckte.

»Aber warum wolltest’ das denn alles wissen?«

»Ja, Himmelherrgottnocheinmal! Warum wohl? Weil ich dich liebe, meine Güte! Schon auf der Feier in meiner Wohnung hab’ ich mich in dich verliebt, doch da bist du so schnell verschwunden, noch ehe ich dich richtig kennen lernen konnte. Und als wir uns dann zufällig getroffen haben, bist’ auch gleich wieder fortgelaufen.«

Er lächelte.

»Jetzt weiß ich ja, warum. Du warst eifersüchtig auf Cora. Aber ich schwöre dir, dazu gibt es überhaupt keinen Grund!«

Steffi sah ihn an, Tränen standen in ihren Augen, und ihr Herz klopfte wie rasend. Ein Schwindelgefühl hatte sie gepackt, und sie dachte, dass sie sich unbedingt setzen müsse. Doch da griff Andreas nach ihr und hielt sie mit starken Händen fest. Er sah sie liebevoll an, als er sie an sich zog und seinen Kopf zu ihr beugte. Steffi wurde von einer Welle von Glücksgefühlen durchflutet, als sie seinen Mund auf ihren Lippen spürte.

*

Es gab ja so viel, was sie sich zu sagen hatten!

Steffi und Andreas blieben den ganzen Tag zusammen. Die Fotoausrüstung wurde in den Kombi gelegt, dann spazierten sie Hand in Hand durch das Dorf, verließen St. Johann und wanderten über Wiesen und Felder.

»Es traf mich wie ein Schlag«, hatte Steffi gestanden, »als ich dich auf deiner Feier zum ersten Mal sah.«

Andreas drückte ihre Hand, die in seiner lag, fester.

»Mir ging’s net anders.«

»Das hast du aber ganz gut zu verbergen gewusst.«

»Na ja, ich konnt’ ja schlecht mit der Tür ins Haus fallen. Bis zu dem Abend kannten wir uns ja gar net. Aber wenn es so was wie Liebe auf den ersten Blick wirklich gibt, dann haben wir sie wohl erlebt.«

Ja, sie hatten sich wirklich viel zu erzählen. Steffi sprach von zu Hause, ihren Eltern und anderen Dingen aus ihrem bisherigen Leben, und sie verschwieg auch nicht das, was sie mit Thomas Berger erlebt hatte.

»Das wusste ich schon«, sagte Andreas. »Heike hat es mir erzählt. Ich hoff’, du bist ihr deswegen net bös’.«

Steffi schüttelte den Kopf.

»Nein. Sie ist meine beste Freundin, und ganz sicher hat sie es nur gut gemeint.«

Es dämmerte schon, als sie nach St. Johann zurückkehrten. Vor der Pension angekommen, beschlich Steffi plötzlich ein schlechtes Gewissen. Den ganzen Tag hatte sie nicht einmal an Carsten Scheffler gedacht, so glücklich war sie gewesen. Aber jetzt fragte sie sich, wie sie ihm unter die Augen treten sollte.

Musste sie eigentlich dieses schlechte Gewissen haben?

Eigentlich nicht, schließlich hatte sie ihm mit keiner Silbe irgendwelche Hoffnungen gemacht.

»Wollen wir nachher zum Essen in den Biergarten gehen?«, unterbrach Andreas ihre Gedanken.

»Gern«, nickte sie.

»Gut, dann erfrischen wir uns rasch und treffen uns dann unten im Flur.«

Steffi fragte Ria Stubler nach Cars­ten. Sie hatte sich überlegt, das es das Beste wäre, wenn sie die beiden Männer miteinander bekannt machte. Dann würde der Ingenieur sie wohl besser verstehen, hoffte sie. Doch die Wirtin antwortete, dass sie Carsten den ganzen Tag nicht gesehen und angenommen habe, er sei mit ihr, Steffi, unterwegs gewesen.

Der Biergarten war wie immer gut besucht, aber sie fanden einen Tisch, an dem noch zwei Plätze frei waren. Steffi schaute sich suchend um, aber der Ingenieur war nirgendwo zu sehen.

»Suchst du jemanden?«, fragte Andreas.

»Ja, ich schau’, ob Carsten vielleicht hier ist, aber ich seh’ ihn net.«

Der Fotograf zog die Stirn kraus.

»Muss ich mir seinetwegen vielleicht doch Gedanken machen?«

»Wieso?«

»Na ja, ich könnt’ mir vorstellen, dass er sich schon eine Chance bei dir ausgerechnet hat …«

Sie biss sich auf die Lippe.

»Ich hab’ ihm gesagt, dass ich net mehr als Freundschaft für ihn empfinde.«

Andreas lächelte.

»Lass uns net mehr davon sprechen.«

Sie aßen und unterhielten sich dabei. Als sie später bezahlten, wies die Bedienung auf das Tanzvergnügen hin, das am nächsten Tag stattfand, und empfahl, zwei Plätze zu reservieren, falls sie daran teilnehmen wollten.

Andreas nickte und nannte der jungen Frau seinen Namen, auf den sie die Reservierung eintragen sollte.

»Ich bin richtig müd’ jetzt«, sagte Steffi, als sie zur Pension gingen.

Aber es dauerte dann doch noch eine Weile, bis sie sich eine gute Nacht gewünscht hatten …

In seinem Zimmer hörte Carsten Scheffler das Flüstern auf dem Flur. Auch wenn er nichts verstehen konnte, so war ihm doch klar, dass es sich bei den Leuten um Steffi und den Mann handelte. Jenen Mann, den er aus tiefstem Herzen hasste …

Seit er am Morgen so abrupt vom Tisch aufgestanden war, lief der Ingenieur innerlich Amok. Tausendmal hatte er den Rivalen in Gedanken schon umgebracht. Blind vor Wut und Eifersucht war er aus der Pension gestürmt und ziellos durch die Gegend gelaufen. Keinen klaren Gedanken konnte er mehr fassen. Nachdem er sich endlich ein wenig beruhigt hatte, setzte er sich in seinen Wagen und fuhr einfach los. Carsten konnte nachher nicht mehr sagen, warum er ausgerechnet zu dem kleinen Parkplatz an der Waldschneise gefahren war, von wo aus er mit Steffi zum Jagdschloss gewandert war.

Vielleicht war er der ebenso verzweifelte wie aussichtslose Versuch, die Zeit noch einmal zurückzudrehen.

Jetzt stand er hinter der Tür seines Zimmers und lauschte auf das Gewisper draußen, und je weniger er verstand, um so hasserfüllter wurde er.

Er durfte nicht zulassen, dass die beiden glücklich wurden! Steffi gehörte zu ihm! Sie musste es erst nur erkennen!

Leise klappten draußen Türen, dann war es still.

*

»Hochwürden, ich möcht’ Ihnen gern Andreas Brunner vorstellen«, sagte Steffi und strahlte den Bergpfarrer glücklich an. »Andreas, das ist Pfarrer Trenker, von dem ich dir so viel erzählt hab’.«

Sebastian musterte den jungen Mann und drückte ihm die Hand.

»Freut mich, Sie kennen zu lernen«, lächelte er.

»Ganz meinerseits«, antwortete der Fotograf.

Es war schon zwei Stunden her, dass sie auf den Saal gekommen waren, aber erst jetzt hatte Steffi den guten Hirten von St. Johann in dem Gedränge entdeckt.

»Viel Spaß noch«, wünschte Sebastian nach einer kurzen Unterhaltung.

Die war bei dem Lärm ohnehin kaum möglich.

Steffi und Andreas kehrten an ihren Tisch zurück.

Gerade hatten sie ihren fünften oder sechsten Tanz hinter sich. Der Fotograf hatte schon aufgehört, zu zählen …

Aber es war eine echte Mordsgaudi, die hier stattfand. So etwas gab es vielleicht nur noch im Münchener Hofbräuhaus, aber da war’s sicher nicht so gemütlich wie hier.

Steffi sah sich nach Carsten um, den sie an einem der anderen Tische gesehen hatte. Gern hätte sie ein paar Worte mit ihm gewechselt. Am Morgen hatte er die Pension schon verlassen, als sie zum Frühstück kam, und war den ganzen Tag nicht mehr aufgetaucht.

Aber vielleicht war es besser so …

Plötzlich stand er vor ihr. Steffi hatte gerade mit Andreas gesprochen und deshalb nicht so auf ihre Umgebung geachtet, deshalb sah sie erstaunt auf, als jemand gegen den Tisch stieß und ihn beinahe umwarf.

»He, kannst’ net aufpassen?«, rief Andreas ärgerlich.

Die anderen Gäste, die bei ihnen saßen, nickten zustimmend. Cars­ten Scheffler starrte sie aus glasigen Augen an.

»Ich möcht’ dich sprechen«, lallte er.

Steffi schaute unbehaglich zur Seite.

»Lass sie in Ruhe«, antwortete der Fotograf an ihrer Stelle.

Der Ingenieur hieb mit der Faust auf den Tisch, dass Gläser und Flaschen klirrten.

»Mit dir hab’ ich net geredet«, raunzte er Andreas an.

»Aber ich mit dir«, entgegnete der gelassen.

Carsten schien einen Moment zu überlegen, dann brüllte er auf und warf sich über den Tisch auf Andreas, der von dem Angriff vollkommen überrascht wurde und mitsamt dem Stuhl rücklings hinfiel.

Die Frauen am Tisch kreischten auf, die Männer sprangen hoch, unschlüssig, ob sie eingreifen sollten.

Im selben Moment brach die Musik ab.

Carsten lag über seinem Rivalen und zwang ihn zu Boden.

Den rechten Unterarm drückte er dabei gegen Andreas’ Kehle, sodass der Fotograf keine Luft mehr bekam.

Steffi schrie um Hilfe, als Carsten Andreas’ Kopf packte und ihn mit aller Wucht auf das Parkett schlug.

»Hilfe! So tut doch endlich was! Er bringt ihn ja um!«, rief die junge Frau verzweifelt.

Carsten Scheffler war nicht mehr Herr seiner Sinne. Sein ganzer aufgestauter Hass auf den Nebenbuhler entlud sich in diesem Augenblick.

Noch einmal wollte er den Kopf des Fotografen anheben und zu Boden schleudern, als er von harter Hand zurückgerissen wurde.

»Schluss! Aus und vorbei!«, brüllte jemand.

Wie durch einen Schleier sah der Ingenieur das Gesicht eines Mannes, den er nicht kannte. Neben ihm knieten zwei weitere Männer, die sich um Andreas Brunner kümmerten. Einer von ihnen war Pfarrer Trenker.

»Wie steht’s?«, fragte Sebastian.

Er und Max waren erst auf den Tumult aufmerksam geworden, als die Musiker aufgehört hatten, zu spielen.

Dr. Wiesinger machte ein ernstes Gesicht.

»Wir sollten einen Rettungswagen rufen«, sagte er. »Der Mann muss schleunigst ins Krankenhaus.«

Steffi hatte sich zu ihnen gehockt.

»So schlimm?«, fragte sie unter Tränen.

»Das kann man jetzt noch net sagen«, antwortete der Bergpfarrer und nahm sie tröstend in den Arm. »Wir wollen das Beste hoffen.«

Max Trenker hatte unterdessen Carsten Scheffler hochgerissen und mit festem Griff gepackt.

»So, Bürschchen, für dich ist erstmal Feierabend!«, sagte der Bruder des Bergpfarrers und führte den Ingenieur ab.

Der Krankenwagen kam schnell. Sebastian und Steffi fuhren mit ins Krankenhaus, Max versprach nachzukommen, sobald er Carsten Scheffler in die Arrestzelle gesperrt hatte.

Andreas war noch nicht aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht. Steffi saß neben ihm und hielt seine Hand, während ihr die Tränen über das Gesicht strömten.

Im Krankenhaus angekommen, übernahmen sogleich die diensthabenden Ärzte und Schwestern den Verletzten und brachte ihn in die Ambulanz.

Steffi und Pfarrer Trenker blieben vor der Tür. Eine Schwester kam und brachte eine Tablette und Wasser.

»Nehmen Sie das«, sagte sie zu Steffi. »Dr. Winter sagt, das Mittel wirkt rasch und beruhigt Sie.«

Die junge Frau nickte dankbar und schluckte die Pille. Sebastian lächelte ihr aufmunternd zu.

Bald darauf kam Max herein.

»Der Bursche schläft erstmal seinen Rausch aus«, meinte er. »Was war denn überhaupt los?«

Die Frage war an die Bankangestellte gerichtet. Steffi schilderte, was geschehen war. Aber es gelang ihr nur bruchstückhaft, so sehr stand sie noch unter Schock.

»Net so schlimm«, winkte der Polizist ab. »Wir müssen morgen alle Aussagen zu Protokoll nehmen.«

Dann saßen sie auf der Bank vor der Stationstür und warteten.

Es war schon nach Mitternacht, als der Arzt erschien. Steffi sprang sofort auf und sah ihn besorgt an.

»Was ist mit Andreas?«, fragte sie angstvoll.

»Wir haben ihn geröntgt. Er hat eine Platzwunde am Hinterkopf, eine Gehirnerschütterung, aber keine weiteren inneren Verletzungen. Ich muss sagen, der Herr Brunner hat noch einmal mächtig Glück gehabt.«

»Darf ich zu ihm?«

»Aber ja«, lächelte Dr. Winter. »Er ist bei Bewusstsein und hat schon nach Ihnen gefragt. Schwester Ingrid wird Sie zu ihm bringen.«

Mit klopfendem Herzen folgte Steffi der Schwester. Als sie dann Andreas in seinem Bett sah, mit einen Verband, der wie ein Turban um seinen Kopf gewickelt war, weinte sie hemmungslos.

»Net weinen«, sagte Andreas lächelnd. »Es wird ja wieder alles gut.«

»Es … ist doch nur, weil ich so … so erleichtert bin«, schluchzte sie und setzte sich neben sein Bett.

Andreas zog sie an sich und streichelte sie.

»Wenn ich wieder hier raus bin, dann machen wir zwei erst einmal richtig Urlaub«, sagte er. »Du

musst mir alles zeigen, was du schon gesehen hast.«

Sie nickte und lächelte tapfer.

»Und dann, wenn wir wieder zu Hause sind«, fuhr er fort, »dann heiraten wir, ja?«

Steffi hob den Kopf und sah ihn überrascht an.

»Denkst du, dass du an meiner Seite glücklich wirst?«, fragte er.

»Ja, Liebster«, antwortete sie selig.

»Aber ich möcht’ doch bitten, dass die Hochzeit in St. Johann stattfindet«, hörten sie den Bergpfarrer von der Tür her sagen.

Der Bergpfarrer Staffel 21 – Heimatroman

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