Читать книгу Der Bergpfarrer Staffel 22 – Heimatroman - Toni Waidacher - Страница 6

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»Ich glaube, wir müssen los«, drängte Sophie Tappert.

Sebastian Trenker nickte seiner Haushälterin beruhigend zu.

»Keine Sorge, wir werden schon rechtzeitig da sein«, meinte er und schlüpfte in sein Jackett.

Eine große Pflanze im Arm, ging der gute Hirte von St. Johann, begleitet von der Pfarrköchin, wenig später den Kiesweg hinunter. Unten an der Straße warteten schon Claudia und Max. Der Bruder des Bergpfarrers trug heute einmal nicht Uniform, sondern seinen guten Anzug. Seine Frau sah in ihrem geblümten Kleid einfach hinreißend aus.

»Elena und Toni sind schon losgefahren«, erklärte der Polizeibeamte.

»Und wo ist der Kleine?«, wollte Sebastian wissen.

»Daheim«, antwortete seine Schwägerin. »Die Kathi Brandner passt auf ihn auf.«

Der »Kleine« war Claudias und Max’ Sohn, der wie sein Onkel ebenfalls Sebastian hieß. Wollten die Eltern mal einen Abend woanders verbringen, war sonst immer die Haushälterin des Geistlichen erste Wahl als Babysitterin. Aber heute Abend war Sophie Tappert selbst zur feierlichen Eröffnung des umgebauten Wirtshauses eingeladen, und so fuhren sie zu viert ins Nachbardorf, wo Maxi Herlander und Thorsten Horn den »Waldecker Hof«, nach erfolgreicher Renovierung, an diesem Abend mit geladenen Gästen und Freunden eröffnen wollten.

»Ich bin schon ganz gespannt«, sagte Claudia erwartungsvoll.

»Das dürfen wir wohl alle sein«, bemerkte Sebastian und dachte an den Kampf, den Thorsten Horn gegen die Behörden geführt und mit seiner, des Bergpfarrers, Unterstützung schließlich doch noch gewonnen hatte.

Sie erreichten ihr Ziel nach knapp fünfzehn Minuten. Das Wirtshaus lag an der Hauptstraße von Waldeck. Es war hell erleuchtet und strahlte schon von weitem. Etliche Autos standen auf dem Parkplatz, die Gäste versammelten sich zu einem Empfangstrunk im Biergarten, der mit bunten Lampions und Windlichtern festlich geschmückt war.

Die Wirtsleute, Maxi und Thors­ten, standen am Eingang und begrüßten die Gäste.

Die beiden noch recht jungen Leute waren ursprünglich nur auf Stippvisite ins Wachnertal gekommen. Sie stammten beide aus der Gastronomie und hatten sich in einem Hotel kennen gelernt, in dem Thorsten als Koch und Maxi als Hotelfachfrau gearbeitet hatten. Schnell war aus Sympathie Liebe geworden, und wie es häufig in diesen Berufen der Fall ist, zogen sie um die Welt, um neue Betriebe kennen zu lernen und weitere Erfahrungen zu sammeln.

Allerdings taten sie es gemeinsam, denn trennen wollten sie sich nie wieder.

In Irland machten sie dann die Bekanntschaft von Florian Brandner, der dort auf einer Farm arbeitete. Sie freundeten sich schnell an, und als sich ihre Wege wieder trennten, versprachen die beiden Weltenbummler, den Bauernsohn eines Tages in dessen Heimat zu besuchen, wenn er zurückgekehrt war.

Und dieses Versprechen hielten sie tatsächlich.

Bei diesem Besuch machten sie auch die Bekanntschaft Pfarrer Trenkers, mit dem sie eine Bergtour unternahmen. Vor allem Maxi blühte dabei auf. Während Thorsten aus dem Norden Deutschlands stammte, war die junge Frau im Allgäu geboren und aufgewachsen. Und jetzt stellte sich langsam heraus, dass Maxi Herlander im Grunde immer noch an der Heimat und vor allem an den Bergen hing. Gerne wäre sie sesshaft geworden und wenn es möglich wäre, hier im Wachnertal, wo sie sich auf Anhieb wohl fühlte.

Ihr Freund hatte während des Aufenthalts Gelegenheit, sein Können unter Beweis zu stellen, als Irma Reisinger, die Chefin und Köchin des Hotels »Zum Löwen«, in St. Johann, in ihrer Küche verunglückte und für eine Woche ausfiel.

Eine Katastrophe für das Hotel!

Sepp Reisinger war dem jungen Koch im Nachhinein noch dankbar, dass dieser schnurstracks in die Küche marschiert war und dort das Zepter übernommen hatte.

Es verstand sich von selbst, dass die Reisingers auch an diesem Abend zur Eröffnung eingeladen waren.

»Hochwürden, herzlich willkommen«, sagte Maxi und lächelte strahlend.

Ihr kurzes feuerrotes Haar schien heute noch mehr zu leuchten, als ohnehin schon.

»Ich wünsch euch beiden alles Gute«, erwiderte Sebastian. »Vor allem immer ein volles Haus und zahlungskräftige Gäste.«

»Die wünsche ich mir auch«, seufzte der sympathische Thorsten Horn. »Wenn ich daran denke, wie viel Geld das hier alles bisher gekostet hat, ohne dass wir auch nur einen Cent verdient haben, dann wird mir ganz anders!«

Selbstverständlich trug der Koch eine blütenweiße Jacke mit schwarzen Kugelknöpfen sowie ein geschickt geknüpftes Halstuch; dazu eine weiße, halblange Halbschürze, auf einem Tisch stand eine frisch gestärkte Kochhaube.

»So geht’s erst einmal jedem Unternehmer«, tröstete der Bergpfarrer ihn.

Maxi hatte die Grünpflanze entgegengenommen und abgestellt. Sie hakte sich bei Thorsten ein.

»Wir schaffen es!«, sagte sie zuversichtlich und gab ihm einen Kuss.

»Davon bin ich auch fest überzeugt«, sagte Sebastian und nickte ihnen zuversichtlich zu. »Der ›Waldecker Hof‹ wird hier genauso eine Institution werden, wie bei uns der ›Löwe‹.«

Er nahm das Glas Sekt entgegen, das eine junge Frau ihm reichte.

»Da kann ich gleich mal unsre neue Servicekraft vorstellen«, ergriff Maxi die Gelegenheit beim Schopf. »Das ist Andrea Wengler, frisch von der Hotelfachschule in Garmisch. Und hier, Andrea, lernst du Pfarrer Trenker aus St. Johann kennen.«

Sebastian drückte die Hand der jungen Frau. Andrea Wengler war nicht älter als einundzwanzig Jahre. Sie hatte blondes Haar und ein niedliches Gesicht, in dem zwei helle Augen strahlten. Sie trug ein Dirndl, das ihre schlanke Figur vorteilhaft betonte. »Das ist also Ihre erste Arbeitsstelle nach der Ausbildung?«, sagte der Geistliche.

»Ja«, antwortete sie. »Und ich bin richtig froh, zwei so nette Chefs zu haben. Ich denk’, ich hab’s gut getroffen.«

»Davon bin ich überzeugt«, lächelte Sebastian.

Andrea Wengler machte auf den ersten Blick einen sympathischen Eindruck. Gewiss würde sie auch bei den Gästen gut ankommen.

Außer der jungen Absolventin der Hotelfachschule, hatten Maxi und Thorsten, zusammen mit dem Wirtshaus, auch Hanna Burgländer übernommen. Die kompetente Servicekraft hatte schon bei den vorigen Eigentümern gearbeitet. Sie strahlte ebenfalls an diesem Abend. Lange Zeit hatte der »Waldecker Hof« unter schrumpfenden Gästezahlen gelitten. Der Betrieb war veraltet, und Adele und Friedrich Brunnengräber, die Wirtsleute, suchten schon lange nach einem Nachfolger, damit sie sich endlich zur Ruhe setzen konnten. Für Hanna Burgländer zeichnete sich eine ungewisse Zukunft ab, von der sie nicht wusste, wie es weitergehen würde. Um so glücklicher war sie, als Thorsten und Maxi ihr anboten, weiterhin im »Waldecker Hof« zu arbeiten.

Sebastian Trenker mischte sich unter die Gäste und begrüßte hier und dort einen Bekannten, sprach ein paar Worte mit dem Waldecker Bürgermeister und hörte gespannt der Begrüßungsrede zu, die Maxi und Thorsten abwechselnd hielten.

»Natürlich bedanken wir uns bei allen, die mitgeholfen haben, dass der ›Waldecker Hof‹ nun in diesem neuen Kleid dasteht«, beendete der frischgebackene Wirt die kleine Ansprache. »Vor allem aber gilt unser Dank Pfarrer Trenker, ohne den alles von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen wäre.«

Thorsten Horn hob sein Glas und prostete in Sebastians Richtung.

»So, nun aber genug der Worte«, fügte er dann hinzu. »Gewiss sind Sie alle hungrig. Drinnen wartet ein Büfett, und ich … nein, wir wünschen einen guten Appetit und uns allen einen vergnüglichen Abend.«

*

Das Büfett war, wie nicht anders zu erwarten, erstklassig. Dabei hatte der Koch aber nicht die teuers­ten Delikatessen verarbeitet, sondern aus vielen regionalen Spezialitäten schmackhafte Gerichte gezaubert, die bei den Gästen hervorragend ankamen. Thorsten Horn wurde mit Lorbeeren nur so überhäuft.

Es waren an die fünfzig Personen, die zur Einweihung eingeladen waren. Neben Pfarrer Trenker, dessen Familie und Haushälterin, gehörten auch Dr. Wiesinger und seine Frau Elena dazu. Der junge Arzt hatte ein besonderes Auge auf die hübsche Tierärztin, Elena war nämlich schwanger, und Toni als werdender Vater hatte mehr Angst um sie, als sie selbst.

Dabei hätte er als Mediziner natürlich wissen müssen, dass es Elena blendend ging, und er sich absolut keine Sorgen machen muss­te.

Der »Waldecker Hof« war innerhalb kurzer Zeit umgebaut worden und verfügte jetzt neben einem Saal, den es schon früher gegeben hatte, der aber in den letzten Jahren nicht mehr genutzt worden war, auch über sieben zusätzliche Fremdenzimmer, die sich in dem neu errichteten Anbau befanden, so dass das Haus jetzt insgesamt zwanzig Betten anbieten konnte.

Allerdings gab es noch ein weiteres Wirtshaus im Ort. Das Hotel »Zum Hirschen« war, was die Zimmerkapazität anging, weitaus größer, hatte aber keinen besonders guten Ruf, hinsichtlich der Küche.

Im ›Hirschen‹ würden nur die Touristen abgezockt, hieß es allgemein. Außerdem war das Lokal lange Jahre der einzige Ort, an dem man Feierlichkeiten ausrichten konnte – sofern man nicht auf den »Löwen« in St. Johann ausweichen wollte.

In dieser Hinsicht hoffte nun Thorsten Horn zu punkten. Der Koch hatte bei international erfahrenen Meistern gelernt und zahlreiche Stationen im In- und Ausland durchlaufen, um dort weitere Feinheiten zu lernen.

Bei der Renovierung war man behutsam vorgegangen und hatte das alte Mobiliar erhalten. Es »lebte« doch viel mehr, als jedes moderne Möbelstück, und erzählte gleichsam die Geschichte des Hauses.

Sebastian Trenker hatte sich, wie alle anderen auch, am Büfett bedient. Jetzt saß der gute Hirte von St. Johann am Tisch und unterhielt sich mit Claudia und Max. Sebastians Schwägerin, die in Garmisch bei der Zeitung arbeitete, wollte einen Artikel über die Eröffnung schreiben.

»Das junge Madel«, wandte sich Claudia an den Geistlichen, »ich hab’s leider vergessen. Weißt du noch, wie es heißt? Es wär’ ja dumm, wenn ich den Namen net erwähnen würd’.«

»Andrea Wengler«, antwortete der Bergpfarrer.

Claudia notierte sich den Namen sofort.

»Irgendwie muss sie mitbekommen haben, dass ich Polizist bin«, bemerkte Max. »Sie hat mich nämlich gefragt, ob ich einen Wolfgang Hochleitner kenn’.«

Der Geistliche beugte sich interessiert vor.

»Den Sohn vom Franz Hochleitner?«

»Ich glaub’ net«, schüttelte Max den Kopf. »Jedenfalls hat sie mir einen andren beschrieben. Auch die andren Leut’ meinen, sie würden niemanden kennen, auf den ihre Beschreibung passt.«

Gerade in diesem Moment ging Andrea Wengler am Tisch vorbei. Sebastian sah ihr hinterher. Die junge Frau schien in ihrem Beruf sehr engagiert zu sein. Im Laufe des Abends hatte der Geistliche von Maxi Herlander noch ein wenig mehr über die Angestellte erfahren.

Andrea stammte aus München, wo sie eine Lehre gemacht hatte, und war vor zwei Jahren nach Garmisch Partenkirchen gekommen, um dort die Hotelfachschule zu besuchen und ihre Fähigkeiten zu vervollkommnen.

Der Geistliche beobachtete sie eine Weile. Andrea arbeitete rasch und geschickt. Sie servierte Getränke und schenkte Gläser ein, und trotz allen Stresses hatte sie immer noch ein Lächeln für die Gäste übrig, und wechselte mit ihnen ein freundliches Wort.

Nur ab und an stand sie am Tresen gelehnt und schaute in eine imaginäre Ferne. Dabei war ihr Blick so verklärt, dass Sebastian sich unwillkürlich fragte, mit was für Gedanken die hübsche, junge Frau wohl gerade beschäftigt sei.

Der Abend wurde ein voller Erfolg, und Thorsten und Maxi verabschiedeten in glücklicher Stimmung ihre Gäste.

»So, mein Schatz«, sagte der junge Gastwirt und nahm das Madel in den Arm, »heute, das war nur der Probelauf, morgen beginnt der Ernst!«

Maxi Herlander drückte sich an ihn und küsste ihn zärtlich.

»Mit dir zusammen hab’ ich vor nix Angst«, erwiderte sie.

Lächelnd gingen sie hinein. Drinnen waren Andrea Wengler und Hanna Burgländer noch mit dem Aufräumen beschäftigt, unterstützt wurden sie dabei von Chris­tel Brunner, der Spülfrau, die die Küche bereits wieder auf Hochglanz gebracht hatte. Maxi und Thorsten packten den Rest mit an, und als sie schließlich fertig waren, wurde eine letzte Flasche Sekt geköpft und noch einmal angestoßen.

»Auf uns alle!«, sagte Thorsten, und die anderen stimmten ein.

*

»Wir wollen uns verabschieden, Hochwürden«, sagte Thomas Wilde.

»Und uns vor allem bei Ihnen bedanken«, fügte Jennifer Brinkmann hinzu.

»Kommt erstmal herein«, lächelte Sebastian und ließ die Besucher eintreten. »Dann ist’s also soweit, ihr reist ab?«

»Ja«, nickte der junge Astronomieprofessor. »Lange genug habe ich ja hier für Aufregung gesorgt.«

»Ehrlich gesagt, bin ich auch froh, dass der Spuk vorüber ist«, bemerkte der Bergpfarrer.

Sie waren durch das Wohnzimmer auf die Terrasse gegangen. Sebastian bat Jenny und Thomas Platz zu nehmen. Sophie Tappert brachte Kaffee und Gebäck nach draußen und setzte sich zu ihnen.

»Ich bitte noch mal aufrichtig um Entschuldigung«, sagte Thomas Wilde. »Hätte ich vorher geahnt, um was es dem Herrn Bruckner wirklich geht, hätte ich niemals sein Angebot angenommen.«

»Ja, unser Bürgermeister ist schon mit ein bissel Vorsicht zu genießen«, meinte Sebastian.

Dass der junge Professor und die Studentin hier so gemütlich saßen und mit dem guten Hirten Kaffee tranken, war vor geraumer Zeit noch nicht so selbstverständlich gewesen wie heute.

Vor einigen Wochen war über dem Wachnertal ein Meteor niedergegangen. Bei seinem Eintritt in die Erdatmosphäre brach der Himmelskörper in viele Einzelteile; manche Stückchen waren so klein, dass man sie wohl niemals finden würde.

Markus Bruckner, der rührige Bürgermeister von St. Johann, der immer auf der Suche nach etwas war, wodurch das Dorf für den Tourismus noch attraktiver wurde, entwickelte sofort die Idee, die Geschichte um den »Stern vom Wachnertal« auszuschlachten und damit das große Geld zu verdienen. Innerhalb kürzester Zeit organisierte Bruckner eine Ausstellung zu diesem Thema und übertrug die Leitung dem in Fachkreisen, wegen seinen unkonventionellen Ansichten über Außerirdische, nicht unumstrittenen Astronom Thomas Wilde.

Und anscheinend hatte Bruckner richtig spekuliert, denn die Ausstellung zog in den ersten Tagen unzählige Besucher an – sehr zur Freude des Bürgermeisters, und zum Entsetzen Pfarrer Trenkers.

Sebastian hatte schon vorausgesehen, was für eine Unruhe und Aufregung die »Invasion« der Sternengläubigen mit sich bringen würde. Bis auf ein paar Geschäftsleute, die sich angesichts der vollen Ladenkassen die Hände rieben, hatten die Wachnertaler schon bald die Nase davon voll, dass im Supermarkt die Regale leer gekauft und die Lebensmittel knapp wurden. Dafür fanden die braven Bürger nicht selten am Morgen wildfremde Leute, die einfach in ihren Vorgärten genächtigt hatten.

Jennifer Brinkmann, die eigentlich einen ruhigen Urlaub in dem Bergdorf verbringen wollte, geriet unversehens in den ganzen Trubel. Die hübsche Studentin wohnte bei Ria Stubler. In deren Pension war auch Thomas Wilde untergebracht, und so lernten die beiden sich kennen.

War es Liebe auf den ersten Blick?

Sicher nicht bei dem Professor, den Jenny zu allem Überfluss auch noch als Astrologe bezeichnete …

Mehr als einmal gerieten sie sich in die Haare und mussten am Ende doch feststellen, dass einer nicht ohne den anderen auskommen konnte. Doch bevor sie sich ihre Liebe gestehen konnten, mussten noch einige andere Hindernisse aus dem Weg geräumt werden – was natürlich mit Pfarrer Trenkers Hilfe auch gelang.

Thomas überwarf sich zudem mit Markus Bruckner und kündigte mit sofortiger Wirkung. Und er gab bekannt, dass es sich bei den ausgestellten angeblichen Originalstücken des Meteors um Fälschungen handelte.

Binnen eines Tages brach alles in sich zusammen, und die Ausstellung gehörte der Vergangenheit an.

»Und was habt ihr jetzt vor?«, erkundigte sich der Geistliche.

Thomas nahm lächelnd Jennifers Hand.

»Jetzt lerne ich erst einmal meine zukünftigen Schwiegereltern kennen«, antwortete er. »Und dann kommen wir ganz bestimmt wieder zurück, um hier unsere Flitterwochen zu verbringen.«

»Dann bleibt mir nur, euch eine gute Fahrt zu wünschen, und mich auf ein Wiedersehen mit euch zu freuen«, sagte der Bergpfarrer.

Sie unterhielten sich noch ein Weilchen, ehe der Bergpfarrer die Besucher zur Tür brachte. Er winkte ihnen gerade hinterher, als das Telefon klingelte.

»Lassen S’ nur«, rief er seiner Haushälterin zu, »ich geh’ schon ran.«

Sebastian nahm das Gespräch in seinem Arbeitszimmer entgegen.

»Sprech’ ich mit Pfarrer Trenker?«, hörte er die Stimme einer Frau, die er nicht sofort zuordnen konnte.

»Ja, ich bin selbst am Apparat«, bestätigte er.

»Hier ist Andrea Wengler …«

Natürlich! Jetzt hatte Sebastian auch das Gesicht dazu vor Augen.

»Frau Wengler, was kann ich für Sie tun?«

Die Bedienung aus dem »Waldecker Hof« räusperte sich, bevor sie antwortete.

»Ja … äh …, also, ich hätt’ Sie gern’ mal gesprochen, Hochwürden«, sagte sie schließlich, mit einem unüberhörbaren Zögern in der Stimme.

Es schien, als falle ihr der Anruf nicht leicht.

»Aber selbstverständlich«, erwiderte Sebastian. »Um was geht es denn?«

»Also, das ist am Telefon schlecht zu erklären. Es ist privat.«

»Kein Problem. Können Sie herkommen? Oder soll ich Sie aufsuchen?«

»Nein, nein, ich komm’ nach St. Johann«, antwortete Andrea Wengler hastig, als habe sie Angst, irgendwer könne mitbekommen, wie der Geistliche sie besuchte. »Übermorgen, wenn’s passt? Da hab’ ich meinen freien Tag.«

»Ja, das passt«, entgegnete Sebas­tian nach einem schnellen Blick auf seinen Terminkalender. »Sagen wir vierzehn Uhr?«

»Wunderbar! Ja, danke, Hochwürden. Ich werd’ pünktlich sein.«

»Gut, dann bis zum Montag. Sie werden das Pfarrhaus leicht finden.«

Nachdenklich legte der Geistliche auf. Er ahnte schon den Grund, warum Andrea Wengler ihn sprechen wollte. Es musste etwas mit Wolfgang Hochleitner zu tun haben, nach dem sie sich am Eröffnungsabend des Gasthauses bei den Leuten erkundigt hatte.

Allerdings schien es sich ja nicht um den Burschen zu handeln, den der Bergpfarrer und auch Max kannten. Aber es war kein ungewöhnlicher Name. Hochleitners gab es viele im Wachnertal – allerdings nicht nur hier, sondern im gesamten bayerischen Raum.

Vielleicht stammte der Gesuchte ja gar nicht von hier …

*

Caspar Brenner schaute missmutig in den Gastraum. Für einen Sonntagmittag war es im Wirtshaus »Zum Hirschen« ziemlich leer. Gerade mal zwei Tische waren besetzt, wo sonst bis an die sechzig Gäste auf ihr Essen warteten.

»Ist heut’ denn gar kein Bus angemeldet?«, fragte der Wirt die blonde Frau, die eher gelangweilt am Tresen stand und so tat, als poliere sie den Zapfhahn.

Iris Burgholzer schüttelte den Kopf.

»Das Reiseunternehmen hat vor drei Tagen storniert. Hat Ihre Frau Ihnen das net gesagt?«

»Kein Wort!«

Caspar Brenner schaute irritiert.

»Aber wieso haben die abgesagt?«, schimpfte er. »Das geht doch gar net, so kurzfristig. Na wart’, dem Herrn Lukas werd’ ich was erzählen!«

Das Münchener Reiseunternehmen Lukas war eines von vielen, mit denen der Gastwirt Verträge abgeschlossen hatte. In unregelmäßigen Abständen fuhren die Busse das Wachnertal an. In St. Johann wurde die Kirche besichtigt, in Engelsbach eine Käserei und hier in Waldeck wurden die Fahrgäste zum Essen im »Hirschen« ausgeladen. Nachmittags ging es dann wieder heim.

Diese Fahrten waren besonders bei älteren Leuten sehr beliebt. Zumal sie günstig und nicht so eine berüchtigte Kaffeefahrt waren, bei denen den Gästen das Geld aus der Tasche gezogen wurde.

Der Gastwirt verließ den Schankraum und ging in das Büro, wo seine Frau hinter dem Schreibtisch saß.

»Warum hast’ mir net gesagt, dass der Lukas abgesagt hat?«, wollte er wissen.

Helene Brenner sah kurz auf. Sie war gerade damit beschäftigt, ein Angebot für eine größere Gruppenreise zu schreiben. Der Veranstalter wollte nicht nur Speisen und Getränke serviert haben, im Hirschen sollte ein folkloristischer Nachmittag organisiert werden, mit Kaffee und Kuchen, sowie einer Blasmusikkapelle. Die Wirtin überlegte schon eine ganze Weile, welche Gruppe sie verpflichten konnte. Die »Wachnertaler Bu’am« schieden aus; was die an Gage verlangten, war in Helene Brenners Augen geradezu unverschämt.

Bei aller Liebe musste sie doch dafür sorgen, dass die Kosten so niedrig wie möglich gehalten wurden. Doch das war nicht so einfach.

Dabei sparten sie ja schon an allen Ecken und Kanten – vor allem am Essen …

»Ich hab’ halt net dran gedacht«, erwiderte die Wirtin auf die Frage ihres Mannes. »Ist ja auch egal. Die Küche wusste Bescheid, und so haben wir heut’ nur mit den üblichen Mittagsgästen gerechnet.«

Caspar Brenner schnaubte ärgerlich.

»Hast’ mal in den Gastraum geschaut?«, fragte er. »Dort herrscht gähnende Leere!«

Seine Frau verdrehte die Augen.

»Ich weiß«, nickte sie. »Und ich fürcht’, das ist erst der Anfang. Außer dem Lukas hat noch ein andrer abgesagt.«

Ihr Mann wurde blass.

»Was? Wer denn?«

»Der Fischer aus Rosenheim.«

»Ogottogott!«, stöhnte der Gastwirt. »Der net auch noch! Das haben wir diesem vermaledeiten ›Waldecker Hof‹ zu verdanken. Seit die neuen Wirtsleute da drin sind, geht’s hier den Berg hinunter.«

Seit das renovierte Gasthaus vor zwei Wochen wieder eröffnet worden war, blieben im »Hirschen« tatsächlich die Gäste aus. Waren in der Woche vor allem die Reisebusse in Zweierreihe vor dem Haus gestanden, so kam jetzt höchstens noch einer pro Tag, von den Wochenendgästen ganz zu schweigen, wie sich heute erst wieder gezeigt hatte.

Zugegeben, die Waldecker waren nicht das Publikum, das das große Geld brachte. Aber immerhin gab es auch unter ihnen ein paar, die zumindest am Sonntagmittag zum Essen kamen, wenn die Frau daheim einmal nicht selbst kochen sollte.

Dass dieser Niedergang aber auch andere Gründe haben sollte als den neuen Mitbewerber, wollten Helene und Caspar Brenner nicht einsehen. Freilich wussten sie, dass das Essen, das in ihrem Lokal serviert wurde, nicht besonders toll war, nicht einmal durchschnittlicher Standard. Doch legten sie auch keinen Wert darauf, ein Sternerestaurant zu führen, sondern wollten rasch viel Geld verdienen. Indes war es nicht zu bestreiten, dass die Konkurrenz im »Waldecker Hof« von Anfang an regen Zulauf hatte, und auch von Reisebussen, die dort auf dem Parkplatz standen, hatten Angestellte des »Hirschen« schon berichtet.

Der Gastwirt war an einen Schrank getreten und hatte eine Tür geöffnet. Im Fach dahinter standen eine Flasche und mehrere Gläser.

»Ich brauch’ erstmal einen Schnaps!«, bemerkte er. »Das will verdaut sein.«

»Hör’ auf zu trinken!«, ermahnte ihn seine Frau, als er sich das zweite Glas einschenken wollte. »Überleg’ lieber, wie wir den Neuen das Wasser wieder abgraben können. Lass dir diesmal aber was Bess’res einfallen als das letzte Mal!«

Ungeachtet der mahnenden Worte seiner Frau, goss Caspar Brenner sich das Glas noch einmal voll. Den Inhalt stürzte er mit einem Ruck die Kehle hinunter.

Ja, das letzte Mal, das war gründlich in die Hose gegangen!

Und das hatten sie nur diesem vermaledeiten Pfarrer Trenker zu verdanken …

*

Thorsten Horn hatte sich ziemlich verzweifelt an den guten Hirten von St. Johann gewandt. Gerade noch im Begriff, das neu erworbene Wirtshaus zu renovieren und wieder zu eröffnen, sah sich der junge Koch jetzt schon am Rande des Ruins. Sozusagen, noch bevor überhaupt eine Hand gerührt worden war.

Was war geschehen?

Voraussetzung für eine solide Finanzierung war, dass neben gutem Essen im »Waldecker Hof« auch Zimmer vermietet wurden. Ein Anbau war bereits vorhanden, jedoch musste hier noch einiges getan werden, bevor an Gästebetten überhaupt nur zu denken war.

Der beauftragte Architekt riet zum Umbau und stellte den entsprechenden Antrag beim Landrats­amt. Eigentlich war das mehr oder weniger eine formlose Angelegenheit. Gewiss könne niemand etwas gegen einen Umbau einzuwenden haben, hatte der Architekt gemeint. Um so niederschmetternder war das Schreiben, das Maxi Herlander und Thorsten Horn nach vierzehn Tagen von der Behörde erhielten.

Der »Waldecker Hof« stand plötzlich unter Denkmalschutz, und ein Umbau war verboten!

Die beiden jungen Leute waren am Boden zerstört, als sie bei Sebastian Trenker auf der Terrasse saßen und ihm berichteten, was geschehen war.

Ihre schönsten Träume schienen mit einem Schlag zu zerplatzen!

Es verstand sich von selbst, dass der gute Hirte von St. Johann sich dieses Problems annahm. Indes hatte er genug mit der Angelegenheit um den »Stern vom Wachnertal« zu tun, als dass er sofort hätte tätig werden können. Er riet Maxi und Thorsten, gegen den Bescheid Widerspruch einzulegen. Und nachdem Thomas Wilde dem Bürgermeister die Zusammenarbeit aufkündigte, hatte auch Sebastian Zeit, sich etwas einfallen zu lassen, um den jungen Wirtsleuten aus der Patsche zu helfen.

Zuerst erkundigte er sich bei den Vorbesitzern. Das Ehepaar Brunnengräber fiel aus allen Wolken, als es hörte, dass ihr ehemaliges Gasthaus plötzlich unter Denkmalschutz stand.

»Also, das war mal so ein Gedanke von mir, das Haus unter Denkmalschutz stellen zu lassen«, erzählte Friedrich Brunnengräber. »Nämlich, als ich umbauen wollte, aber net genug Geld hatte. Damals hat es geheißen, dass man vom Denkmalschutz Fördermittel bekommen kann. Aber dann stellte sich heraus, dass der ›Waldecker Hof‹ net alt genug ist. Das Haus ist nämlich in den Jahren um neunzehnhundertdreißig erbaut. Genaueres geht aus dem Kaufvertrag hervor, den der Herr Horn hat.«

Sebastian hatte interessiert aufgehorcht.

»Wann war das, als Sie den Antrag stellen wollten?«, erkundigte er sich.

»Vor ziemlich genau zehn Jahren. Aber da hat man mir gesagt, dass das Gebäude mindestens hundertfünfzig Jahr’ auf dem Buckel haben müsst, um als schützenswertes Denkmal anerkannt zu werden.«

»Dann frage ich mich, warum es jetzt darunter fällt?«, sagte der Bergpfarrer kopfschüttelnd. »Soviel Jahre sind’s ja net, von Ihrem Antrag bis heut’.«

Er bedankte sich für die Auskünfte und verabschiedete sich von den älteren Leuten, die jetzt nach einem anstrengenden Arbeitsleben ihren Ruhestand genossen.

Der nächste Weg führte den Geistlichen nach Waldeck ins Wirtshaus »Zum Hirschen«. Er kam selten hierher und kannte das Ehepaar Brenner nur flüchtig. Zwar hielt er sich einmal die Woche in dem Dorf auf, doch dann besuchte er das Altenheim und ging nicht ins Wirtshaus.

Sebastian nahm an einem Tisch Platz und bestellte eine Tasse Kaffee. Die Bedienung, eine ihm unbekannte, junge Frau, brachte das Gewünschte sofort. Aus einem Nebenraum drang Stimmengewirr. Der Bergpfarrer hatte draußen zwei Reisebusse stehen sehen. Offenbar hatte man gut zu tun.

Er hatte gerade ausgetrunken, als Caspar Brenner in Begleitung eines Mannes in den Gastraum kam. Der Wirt erkannte Sebastian und trat auf den Tisch zu.

»Grüß Gott, Hochwürden, das ist aber ein seltener Besuch«, begrüßte er ihn und deutete auf den Mann neben ihm. »Darf ich bekanntmachen – Ludwig Thurau, mein Schwager; der Bruder meiner Frau. Ludwig, das ist Pfarrer Trenker aus St. Johann.«

Die beiden Männer nickten sich zu.

»Ist ja allerhand los«, bemerkte der Geistliche.

Caspar Brenner rieb sich die Hände.

»Freilich, der Rubel muss rollen! Aber jetzt entschuldigen S’ mich. Der Ludwig und ich haben noch was zu besprechen.«

Nachdem der Wirt und sein Schwager gegangen waren, rief Sebastian nach der Bedienung und bezahlte.

»Demnächst wird ja wohl der ›Waldecker Hof‹ wieder eröffnet«, bemerkte er.

Die junge Frau setzte ein spöttisches Lächeln auf.

»Das steht eher noch in den Sternen«, antwortete sie.

»Wie kommen S’ denn darauf?«

Die Bedienung bedankte sich für das Trinkgeld und steckte die Kell­nerbörse wieder in die Schürzentasche.

»Ach, man hört so einiges«, meinte sie und nahm das Tablett mit dem Kaffeegeschirr.

»So? Was denn?«, versuchte Sebastian das Gespräch in Gang zu halten.

»Na ja, die Neuen haben sich wohl finanziell übernommen, wird gemunkelt. Es heißt, dass ihnen schon das Geld ausgeht, bevor sie überhaupt angefangen haben. Und was die da vorhaben, von wegen umbauen, das können s’ gleich vergessen. Die Genehmigung bekommen s’ nie. Dafür ist gesorgt …«

Pfarrer Trenker wurde zum zweiten Mal an diesem Tag hellhörig.

»Wieso?«, meinte er leichthin. »Das ist doch wohl kein Problem, eine Genehmigung zu bekommen.«

Die Bedienung stand an seinen Tisch gelehnt. In der einen Hand hielt sie das Tablett, mit der anderen stützte sie sich auf die Lehne eines Stuhls. Sie lachte hellauf.

»Wenn das Haus plötzlich unter Denkmalschutz gestellt wird, kann es schon problematisch werden«, entgegnete die junge Frau.

»Na, ganz so einfach ist so eine Maßnahme ja wohl net«, zweifelte der Geistliche ihre Worte an.

Wieder schürzte die Frau die Lippen.

»Da kennen S’ aber den Herrn Thurau schlecht«, raunte sie und beugte sich verschwörerisch zu dem guten Hirten von St. Johann. »Das ist der oberste Chef vom Denkmalsamt, und außerdem ist er der Bruder von der Frau Brenner. Da wird er seine Schwester und den Schwager net im Stich lassen, was?«

Sebastian war wie elektrisiert. Ihm war ein anderer Name in Erinnerung, mit dem der Ablehnungsbescheid unterschrieben war. Doch wenn Ludwig Thurau der Leiter der Behörde war, konnte dieser Wolfgang Völler nur ein untergeordneter Sachbearbeiter sein.

Mit einem Mal war alles klar!

Kein Wunder, dass der Umbauantrag abgeschmettert worden war, wenn hier jemand im Verborgenen seine Fäden zog.

»Tja, da kann man den Leuten nur wünschen, dass sich doch noch alles zum Guten fügt«, sagte Sebas­tian und verabschiedete sich.

*

Tags darauf fuhr er zum Landratsamt in die Kreisstadt und suchte die Behörde für Denkmalpflege auf. Das Landratsamt war in einem alten, schlossähnlichen Gebäude untergebracht und machte den Eindruck, als müsse es selbst unter Denkmalschutz gestellt werden.

Unzählige Gänge und Flure zweigten von der großen Halle ab, die jeden Besucher empfing, und glücklicherweise gab es eine Loge mit einem Pförtner darin; man hätte sich sonst unweigerlich verlaufen.

Der Pförtner wies Sebastian den richtigen Weg. Das Dienstzimmer von Wolfgang Völler befand sich im dritten Stock. Einen Aufzug gab es nicht, so dass man gezwungen war, die breite Treppe zu nehmen. Indes war das für den sportlichen Pfarrer kein Problem. Sebastian war kein bisschen außer Atem, als er die letzte Stufe erreicht hatte und den langen Flur entlangschritt und das Zimmer Dreihundertelf suchte.

Er fand es am Ende des Flures und betrat es, nachdem er angeklopft hatte.

In dem großen Raum standen Aktenschränke an den beiden Seitenwänden, am Fenster saß ein Mann hinter seinem Schreibtisch, der dem Eintretenden neugierig entgegensah. Es roch, wie in den meisten Büros und Amtsstuben, muffig und nach Papierstaub.

»Grüß Gott«, sagte Sebastian. »Mein Name ist Trenker. Ich bin Pfarrer in St. Johann und hätt’ gern’ eine Auskunft von Ihnen.«

Bei der Nennung des Titels war Wolfgang Völler aufgestanden. Er war nicht sehr groß, hatte einen kleinen Bauch und schütteres Haar. Die graue Weste, die er über einem karierten Hemd trug, passte zu seiner fahlen Gesichtshaut, die typisch für Leute war, die den ganzen Tag in ungelüfteten Räumen saßen und kaum einen Schritt nach draußen traten.

»Grüß Gott, Hochwürden«, erwiderte er und verbeugte sich beinahe unterwürfig. »Wolfgang Völler, zu Diensten. Was kann ich für Sie tun?«

Er deutete auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch.

»Bitt’ schön, nehmen S’ doch Platz, Herr Pfarrer.«

»Es geht da um einen Bauantrag, den Bekannte von mir gestellt haben«, erklärte der Geistliche den Grund seines Besuches, während er sich setzte.

Wolfgang Völler hörte sich die Geschichte an.

»Jaaa«, sagte er dann langgezogen, »der Vorgang ist hier bei mir gelandet. Wissen S’, Hochwürden, wenn so ein Antrag beim Bauamt eingereicht wird, dann prüfen die Kollegen dort automatisch, ob eventuell die Richtlinien zum Denkmalschutz greifen. Ist das der Fall, bekommen wir den entsprechenden Antrag zur weiteren Bearbeitung.«

Wolfgang Völler sprach ganz munter, ohne zu hinterfragen, ob Sebastian überhaupt das Recht habe, in dieser Angelegenheit Fragen zu stellen.

Offenbar genügte alleine die Tatsache, dass es sich bei ihm um einen Geistlichen handelte, eine gewisse Autorität ausstrahlen zu lassen.

»In der Sache, die Sie ansprechen«, fuhr der Sachbearbeiter fort, »kam die Direktive indes von ganz oben. Den ›Waldecker Hof‹ mit sofortiger Wirkung unter Denkmalschutz zu stellen, wurde angeordnet.«

Völler breitete die Arme aus.

»Ich hab’ selbstverständlich im Sinne der Behörde entschieden«, fügte er hinzu.

»Aber angeordnet hat es letztendlich Ihr Chef?«, vergewisserte sich Sebastian.

»Jawohl«, antwortete Wolfgang Völler sofort. »Herr Thurau, mein Vorgesetzter.«

Er hob die Hände.

»Es tut mir wirklich leid für Ihre Bekannten, Hochwürden.«

»Und da kann man gar nix machen?«

»Leider net.«

»Aber warum wurde denn der ›Waldecker Hof‹ so plötzlich unter Denkmalschutz gestellt?«, wollte der Bergpfarrer wissen. »Vor zehn Jahren hat genau das der frühere Besitzer beantragt, doch der Antrag wurde abgelehnt mit der Begründung, das Haus wäre noch net alt genug.«

Wolfgang Völler sah ihn stumm an, während der Kehlkopf des Mannes aufgeregt auf und nieder hüpfte.

»Das … das kann ich Ihnen auch net sagen«, stotterte er.

Sebastian stand auf und verabschiedete sich.

»Ach, wo find’ ich denn den Herrn Thurau?«, fragte er, als er schon in der Tür stand.

»Gleich nebenan.«

Armer Bursche, dachte der Geistliche, während er die Tür hinter sich schloss.

Wolfgang Völler gehörte ganz offensichtlich zu der Sorte Menschen, die es gewohnt waren, Befehle entgegenzunehmen und auszuführen, ohne Fragen zu stellen. Es musste ihm doch aufgefallen sein, dass es sich bei der Entscheidung seines Vorgesetzten ganz eindeutig um einen Gefallen für dessen Schwester und Schwager handelte.

Oder hatte er tatsächlich keine Ahnung von dem verwandtschaftlichen Verhältnis seines Chefs mit den Inhabern des zweiten Wirtshauses in Waldeck?

Ein Schild neben der Tür wies das Nebenzimmer als Büro des Leiters Denkmalspflege, Ludwig Thurau, aus. Sebastian klopfte an und trat ein, als er dazu aufgefordert wurde.

Drinnen war alles anders, als im Büro nebenan. Zwar standen auch hier Aktenschränke, aber nur ein paar wenige. Dafür hingen Bilder an den Wänden, Blumen standen auf dem Schreibtisch, und das geöffnete Fenster ließ frische Luft herein.

Ludwig Thurau blickte den Besucher fragend an.

»Kennen wir uns net?«, sagte er. »Helfen S’ mir doch mal auf die Sprünge.«

»Pfarrer Trenker, aus St. Johann.«

Thurau schlug sich vor die Stirn.

»Richtig! Entschuldigen S’, Hochwürden, dass ich Sie net gleich erkannt hab’. Setzen S’ sich. Was führt Sie zu mir?«

Der Stuhl hinter seinem Schreibtisch war bestimmt bequemer, als der, auf dem Wolfgang Völler saß. Und der Stuhl, der Sebastian angeboten worden war, sicher auch.

»Ich bin gebeten worden, in einer bestimmten Angelegenheit bei Ihnen vorzusprechen, Herr Thurau«, antwortete Sebastian, nachdem er sich gesetzt hatte. »Und zwar handelt es sich um den Bauantrag, den Herr Horn, Thorsten Horn aus Waldeck, vor einigen Wochen gestellt hat. Es geht da um den Umbau eines Anbaues in Hotelzimmer. Ihre Behörde hat dem Vorhaben einen abschlägigen Bescheid erteilt.«

Ludwig Thurau lächelte nicht mehr so jovial wie zu Beginn der Unterhaltung.

Im Gegenteil, sein Gesicht, aus dem jegliche Farbe gewichen war, schien zu einer Maske erstarrt. Ihm war schlagartig bewusst geworden, dass dies hier kein freundschaftlicher Besuch war.

»Äh … ja, nun … und was wollen Sie jetzt von mir?«, stotterte der Leiter der Denkmalpflege dennoch, obwohl er die Antwort bereits ahnte.

Der Geistliche beugte sich vor.

»Ich bin sicher, dass Sie die Sache noch einmal prüfen werden«, sagte er bestimmt. »Nur um den Vorwurf der Vetternwirtschaft zu entkräften, der diesen Vorgang bereits umweht. Net wahr, Herr Thurau?«

Der Mann sah ihn mit offenem Mund an, nickte aber automatisch.

Er hatte doch keine andere Wahl, das mussten Helene und Caspar doch einsehen! Verwandtschaft hin und her, jetzt ging es um seinen Kopf!

Wenn es ruchbar werden sollte, dass er seiner Schwester und ihrem Mann einen Gefallen getan hatte, dann aber gute Nacht.

»Ja, selbstverständlich, Hochwürden«, antwortete er. »Ich werd’ mich höchstpersönlich darum kümmern.«

Der Bergpfarrer stand auf.

»Sehen S’, Herr Thurau, ich wuss­te doch, dass man mit Ihnen ein klares Wort reden kann«, sagte er und reichte Ludwig Thurau die Hand zum Abschied. »Was sagten Sie, wann kann Herr Horn mit einem geänderten Bescheid rechnen?«

»Der geht noch heut’ in die Post«, versicherte der Leiter der Denkmalpflege.

»Prima«, freute sich der gute Hirte von St. Johann, »dann kann ich ihm ja schon mal die gute Nachricht überbringen.«

Am nächsten Tag war das Schreiben mit der Genehmigung für den Umbau da, und dann ging alles ganz schnell. Inzwischen waren vierzehn Tage seit der Neueröffnung des »Waldecker Hofes« vergangen, und »der Laden brummte«, wie es Thorsten Horn in seiner Begeisterung ausdrückte.

Allerdings sehr zum Leidwesen seines Mitbewerbers im Ort …

*

Sebastian Trenker öffnete, als es an der Tür des Pfarrhauses klingelte. Draußen stand Andrea Wengler und schaute ihn unsicher an. Fast schien es, als bereue sie, hergekommen zu sein.

»Grüß Gott«, sagte der Geistliche und reichte ihr die Hand. »Schön, dass Sie da sind. Kommen S’ herein.«

Die junge Frau folgte ihm durch den Flur und das Wohnzimmer auf die Terrasse.

»Das ist aber schön hier!«, sagte Andrea, mit Blick auf den Pfarrgarten, in dem es üppig grünte und blühte. »Da steckt sicher eine Menge Arbeit drin.«

»Freilich, von allein macht’s sich net«, lächelte der Geistliche. »Aber mit der Hilfe von meiner Haushälterin und dem Herrn Kammeier, unsrem Mesner, ist’s schon zu schaffen.«

Sie setzten sich in die bequemen Korbsessel, und Sebastian machte die Besucherin mit Sophie Tappert bekannt, die Kaffee und Gebäck servierte.

»Apropos Arbeit – wie läuft’s denn im ›Waldecker Hof‹?«

»Ausgezeichnet. Wir sind sogar in der Woche fast jeden Abend ausgebucht«, erzählte Andrea, die auf Sebastian einen noch sympathischeren Eindruck machte, als schon am Abend der Eröffnung.

Ihre anfängliche Unsicherheit hatte sich gelegt. Sie strahlte und sprach frei von der Leber weg.

»Maxi und Thorsten sind zwei wirklich tolle Chefs«, fuhr sie fort. »Ich hätt’s net besser treffen können.«

Sebastian hatte Kaffee eingeschenkt und bot Zucker und Milch an.

»Die beiden haben mir erzählt, wie sehr Sie ihnen geholfen haben«, sagte die hübsche, junge Frau. »Und das hat mich bewogen, mich an Sie zu wenden …«

»Nur zu, erzählen Sie«, nickte der Bergpfarrer. »Wenn ich kann, helf’ ich auch Ihnen. Ich vermute, es geht um den Wolfgang Hochleitner, nach dem Sie sich schon erkundigt haben …«

Andrea nickte.

»Ja, genau um ihn geht es«, antwortete sie. »Ich muss ihn unbedingt finden und ich hoff’, dass Sie mir bei der Suche nach ihm behilflich sein können.«

Sebastian reichte den Teller mit Gebäck herüber. Sophie Tappert hatte darauf Stücke ihres berühmten Eierlikörkuchens und einige Schokoladentaler, die sie natürlich auch selbst gebacken hatte, arrangiert. Andrea Wengler bediente sich.

»Warum müssen oder wollen S’ diesen Wolfgang Hochleitner denn unbedingt wiedersehen?«, wollte der gute Hirte von St. Johann wissen.

Die junge Frau trank einen Schluck und räusperte sich.

»Weil … weil ich mich unsterblich in ihn verliebt hab’«, gestand sie schließlich.

Sebastian nickte verstehend.

»Wollen Sie mir mehr darüber erzählen? Woher kennen Sie ihn, wie und wo …«

»Aber ja«, sagte sie rasch. »Es war letztes Jahr, auf dem Oktoberfest. Ich hatte damals Ferien in der Schule und bin heimgefahren. Meine Eltern wohnen ja noch in München. Die Wies’n hatten grad angefangen, und meine Freundin und ich wollten uns einen vergnügten Abend machen. Im Festzelt saßen wir nebeneinander, der Wolfgang und ich. Ich … ich glaub’, es war Liebe auf den ersten Blick. Bei ihm? Das weiß ich net, aber gewiss bei mir. Wolfgang war ein ganz andrer Typ, als die meisten Burschen, die vor lauter Gaudi sich kaum mehr beherrschen konnten und eine Maß nach der andren getrunken haben. Er war zuvorkommend und lustig. Wir haben getanzt und hatten viel Spaß miteinander. Die Franzi, meine Freundin, hat sich dann verabschiedet. Ich wollt’ mit ihr, schließlich waren wir zusammen auf die Wies’n gegangen. Aber sie hat natürlich sofort gemerkt, was mit mir los war, und gemeint, ich soll noch bleiben.

Wolfgang hat mich dann spät in der Nacht heimgebracht, und am nächsten Tag haben wir uns wieder gesehen.

Am Montag drauf dann konnt’ er net. Wissen S’, er war nämlich in München bei der Bundeswehr stationiert und hatte Dienst. Aber vom Donnerstag bis zum nächsten Montag waren wir dann wieder zusammen.«

Andrea schloss die Augen und strahlte in der Erinnerung.

»Es waren die schönsten Tage meines Lebens!«, fügte sie hinzu.

»Und was geschah dann?«

Die junge Frau öffnete die Augen wieder.

»Dann waren meine Ferien vorüber, und ich musste wieder nach Garmisch zurück«, antwortete sie traurig.

»Haben S’ denn keine Adressen ausgetauscht? Telefonnummern?«

»Doch. Wolfgang hat mir seine Handynummer gegeben«, erwiderte Andrea. »Aber die stimmte wohl net, denn jedes Mal wenn ich ihn anrufen wollte, sagte eine automatische Stimme, die Nummer sei net bekannt.«

»Hm, das ist ja sehr seltsam. Und was haben S’ dann unternommen?«

»Erst einmal war ich ziemlich geknickt. Eine Adresse hatte ich leider net, ich wusste nur, dass Wolfgang hier irgendwo im Wachnertal zuhause war. Ich bin oft hier gewesen, hab’ mich umgeschaut, auch auf dem Tanzabend im ›Löwen‹. Aber ich hab’ ihn nie finden können.«

»Haben S’ vielleicht mal bei der Standortverwaltung der Bundeswehr versucht, mehr über ihn herauszufinden?«, fragte Sebastian.

»Freilich. Allerdings wollt’ man mir da keine Auskunft geben, wegen Datenschutz.«

»Verstehe«, nickte der Geistliche.

Er schenkte Kaffee nach und schaute dann einen Moment nachdenklich vor sich hin.

»Alle die Leute, die Sie auf dem Eröffnungsabend gefragt haben, konnten Ihnen keine Auskunft geben, net wahr?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Leider nein. Einen Wolfgang Hochleitner kannten schon einige der Gäste. Aber meine Beschreibung passte net so recht dazu.«

»Mir geht’s net anders«, sagte Pfarrer Trenker. »Hochleitner ist hier in der Gegend ein geläufiger Name, der Ihnen an allen Ecken begegnen kann. Der Wolfgang Hochleitner, an den ich denk’, ist der Sohn eines Bauern.«

»Das ist er!«, rief Andrea Wengler sofort. »Er hat erzählt, dass seine Eltern einen Bauernhof im Wachnertal haben.«

Sebastian runzelte die Stirn. Die Angelegenheit wurde ja immer sus­pekter.

War es am Ende doch der Bauernsohn?

Schon bei der Erwähnung der Bundeswehr hatte der Bergpfarrer aufgehorcht. Er wusste nämlich, dass Wolfgang Hochleitner im letzten Jahr seinen Wehrdienst ab­geleis­tet hatte.

Und zwar bei einer Panzereinheit in München …

»Ich wollt’ Ihnen vorschlagen, gemeinsam zum Hof zu fahren«, sagte Sebastian. »Aber haben S’ auch schon mal in Betracht gezogen, dass er Ihnen bewusst eine falsche Handynummer gegeben und bewusst seine Adresse verschwiegen hat?«

Andrea Wengler erwiderte seinen Blick. Der Geistliche sah, dass sie mit den Tränen kämpfte.

»Vielleicht«, fügte er dennoch hinzu, »waren S’ ja nur ein Zeitvertreib für ihn …«

»Ja«, antwortete die junge Frau leise, »daran hab’ ich schon sehr oft gedacht.«

Sie hob den Kopf, und ihr Blick wurde jetzt beinahe trotzig.

»Aber dann soll er mir das ins Gesicht sagen!«, erklärte sie mit fester Stimme. »Ich will’s von ihm selbst hören, auch wenn’s noch so weh tut!«

*

Andreas Herz klopfte immer wilder, je näher sie ihrem Ziel kamen.

»Da vorn’, das ist der Hochleitnerhof«, deutete Pfarrer Trenker auf das Anwesen.

Er fuhr durch die Einfahrt und parkte neben der lang gestreckten Scheune, aus der ein Hofhund gelaufen kam und die Ankömmlinge Schwanz wedelnd begrüßte. Ein älterer Mann schaute durch das offene Tor.

»Grüß dich, Vinzenz«, rief Sebas­tian. »Ist der Wolfgang auch daheim?«

Der Bauer trat ins Freie und kam näher.

»Grüß Gott, Hochwürden«, sagte er. »Ja, der Bub ist da. Was wollen S’ denn von ihm?«

Die Frage klang ein wenig miss­trauisch.

»Ach, nix Besond’res«, beruhigte der Geistliche Vinzenz Hochleitner. »Ich wollt’ ihn bloß was fragen.«

Er deutete auf seine Begleiterin.

»Das ist übrigens die Andrea Wengler.«

»Grüß Gott«, nickte der Bauer und rief dann nach seinem Sohn.

Wolfgang Hochleitner kam aus der Scheune. Er war inzwischen zweiundzwanzig Jahre alt, ein großer, schlanker Bursche, mit kur­zem dunklem Haar und einem sympathischen Gesicht. Andrea sah ihn an und hatte Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen.

Das war nicht der Wolfgang, den sie meinte!

»Hochwürden, grüß Gott«, sagte der Bursche und schüttelte Sebastians Hand. »Was gibt’s denn?«

Der Bergpfarrer schmunzelte. Er sah Vater und Sohn an und nahm dann Andreas Arm.

»Diese junge Dame hier ist auf der Suche nach einem jungen Burschen, den sie im letzten Jahr auf dem Oktoberfest in München kennen gelernt hat«, erklärte er und sah den Bauernsohn besonders an. »Der Name des Burschen ist – Wolfgang Hochleitner …«

Der Bauer sah seinen Sohn mit großen Augen an.

»Was soll das heißen?«, fragte er mit scharfer Stimme. »Hast’ was angestellt, als du in München bei der Bundeswehr warst?«

Der Bursche schüttelte vehement den Kopf.

»Nein, Vater«, beteuerte er, »ich kenn’ die Frau Wengler überhaupt net!«

Er schaute Andrea an und dann Pfarrer Trenker.

»Was soll das denn überhaupt?«, fragte er, mit einer Mischung aus Verärgerung und Verwunderung. »Ich hab’ sie nie im Leben geseh’n.«

»Nur keine Aufregung«, beruhigte Sebastian ihn. »Niemand will dir ans Leder, und dass du die Andrea net kennst, glaub’ ich dir. Sie wird’s auch bestätigen, dass du net der bist, den sie sucht.«

Die junge Frau nickte.

»Ich kenn’ den Herrn Hochleitner … also diesen Herrn Hochleitner net«, sagte sie, und die Enttäuschung war unüberhörbar.

Aus dem Haus kam ein junges Madel. Beim Anblick des Geistlichen lief ein Lächeln über das hübsche Gesicht. »Na, das ist aber eine Überraschung«, rief Resl Hochleitner und reichte Sebastian die Hand. »Grüß Gott.«

Sie nickte Andrea freundlich zu und sah Vater und Bruder an.

»Warum steht ihr denn hier herum? Warum hat unser Besuch nix zu trinken bekommen?«

Der Vorwurf war deutlich.

»Entschuldigen S’, Hochwürden«, gab sich der Bauer zerknirscht. »Resl hat natürlich Recht. Setzen wir uns doch. Das Madel sorgt für Getränke.«

Sie gingen zu der Sitzgruppe, die um die Ecke stand, da, wo der Garten war, und hohe Obstbäume Schatten spendeten.

»Du hast den Garten aber gut in Schuss«, lobte Sebastian, als Resl zurückkam und Gläser und Saft auf den Tisch stellte.

Die Bauerntochter lächelte.

»Mutter würd’s net anders erwartet haben«, antwortete sie.

Burgl Hochleitner, die Frau des Bauern und Mutter der beiden Kinder war vor zwei Jahren überraschend verstorben.

Wolfgang hatte sich Andrea gegenüber gesetzt. Er schaute sie an, und immer wenn sich ihre Blicke begegneten, glitt ein Lächeln über sein Gesicht.

»Das ist schon sehr seltsam«, meinte er, nachdem er noch einmal darüber nachgedacht hatte. »Ich kann mir gar net vorstellen, dass ein Namensvetter von mir zur selben Zeit in München beim Bund gedient hat, wie ich.«

»Ja, das wäre schon ein merkwürdiger Zufall«, nickte Sebastian.

Je länger er darüber nachdachte, um so weniger wollte ihm eine Lösung einfallen.

Resl, die neben der jungen Frau saß, schien sich aber mehr für Andreas Beruf zu interessieren. Als sie erfuhr, dass sie Restaurantfachfrau war, wollte sie alles darüber wissen. »Das muss schön sein, immer mit andren Menschen zu tun zu haben«, meinte die Achtzehnjährige.

»Das ist es«, erwiderte Andrea. »Aber es ist kein leichter Beruf. Besonders die Arbeitszeiten schrecken doch viele ab. Es ist nun mal so, wenn andre feiern, dann müssen wir, in der Gastronomie, arbeiten.«

»Na ja, das Problem wirst’ ja net haben«, meinte Vinzenz Hochleitner. »Als Magd auf dem Hof

musst’ zwar auch immer früh raus. Aber wenigstens die Wochenenden und Feiertage sind frei.«

Resl sah ihren Vater an.

»Ja, wenn das Vieh versorgt und das Essen gekocht ist«, erwiderte sie aufgebracht. »Und wenn der Wolfgang eines Tags mal heiratet, dann kann ich mich auch noch mit meiner Schwägerin herumärgern.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich will net Magd bleiben«, rief sie. »Ich hab’s schon hundertmal gesagt!«

Der Bauer legte den Kopf schief und sah sie fast spöttisch an.

»So, und was willst stattdessen machen?«, fragte er. »Vielleicht als Bedienung im ›Löwen‹ arbeiten? Hast’ doch grad gehört, dass dieser Beruf kein Zuckerschlecken ist.«

»Das ist er gewiss net«, mischte sich Sebastian ein. »Aber wenn er einen Menschen ausfüllt und glücklich macht, dann spricht nix dagegen, ihn zu ergreifen.«

»Hochwürden hat Recht«, sprang auch Wolfgang seiner Schwester bei.

Der Bauernsohn wusste schon lange von Resls Wunsch. Er verzichtete zwar nur ungern auf ihre Mitarbeit auf dem Hof, aber wenn es sie glücklich machte, fort zu gehen und etwas ganz anderes zu arbeiten, würde er ihr gewiss keinen Stein in den Weg legen.

»Außerdem wollen wir doch mal hoffen, dass du dich noch lang’ net aufs Altenteil zurückziehst«, grins­te er seinen Vater an.

Die beiden jungen Frauen lächelten.

»Warst schon mal auf einem Bauernhof?«, fragte Resl.

Andrea schüttelte den Kopf.

»Hast vielleicht Lust, dir mal alles anzuschau’n?«

»Ja, gern’.«

Die Bauerntochter und Andrea Wengler standen auf und gingen über den Hof.

»Jetzt quetscht sie die Andrea aus«, meinte Wolfgang lachend.

Sein Vater schien nicht so amüsiert.

»Das ist aber schon eine seltsame Geschichte«, meinte der Bauer schließlich. »Was da wohl dahinter steckt? Und vor allem, was will dieses Madel von dem Wolfgang Hochleitner, nach dem es sucht?«

Sebastian beugte sich vor.

»Im Vertrauen«, sagte er, »ihr werdet es net weitertratschen. Andrea hat sich in jenen Wolfgang verliebt und kann ihn bis heut’ net vergessen. Jetzt, wo sie mit der Hotelfachschule fertig ist und in Waldeck angefangen hat, hofft sie, ihn vielleicht doch noch zu finden, nachdem er ihr erzählt hat, dass er hier im Wachnertal zuhaus’ ist.«

»Was ist das bloß für ein Bursche!« Vinzenz schüttelte den Kopf.

»Das kann ich dir sagen«, meinte sein Sohn. »Ein Idiot ist der Kerl, wenn er so ein Madel laufen lässt!«

Sebastian sah ihn an und schmunzelte. Wenn ihn nicht alles täuschte, dann hatte Wolfgang Feuer gefangen …

Oder brannte er gar schon lichterloh?

*

Für Andrea fing die Arbeitswoche am nächsten Tag wieder an, und sie hatte kaum Gelegenheit, an das zu denken, was sie schon so lange beschäftigte.

Natürlich war der Besuch auf dem Bauernhof eine herbe Enttäuschung gewesen. Sie war mit so viel Hoffnung dorthin gefahren. Aber Pfarrer Trenker hatte ihr ja gleich gesagt, dass jener Wolfgang Hochleitner nicht mit ihrem identisch war.

Erfreulich war indes für sie die Bekanntschaft mit Resl gewesen. Die Tochter des Bauern hatte sie überall herumgeführt und ihr alles gezeigt. Dabei zielte ihre Unterhaltung aber in eine ganz andere Richtung.

Resl Hochleitner wollte alles über den Beruf einer Restaurantfachfrau wissen. Sie war erstaunt, als sie erfuhr, dass dazu viel mehr gehörte, als nur den Gästen Essen und Trinken an den Tisch zu bringen.

»Nach drei Jahren Ausbildung steht dann die Gehilfenprüfung an«, hatte Andrea erklärt. »Da muss man dann nachweisen, welche Kenntnisse man sich erworben hat. Dazu gehören auch solche Dinge wie Warenkunde, Kalkulation und vielleicht sogar Fremdsprachen. Die sind in unsrem Beruf immer von Vorteil.«

Resl war beeindruckt. Sie selbst ging auf die Hauswirtschaftsschule. Wenn sie am Wochenende schulfrei hatte, half sie Maria Lechner, der Magd, die schon seit etlichen Jahren auf dem Hochleitnerhof arbeitete. Allerdings war der ihr vorgegebene Lebensweg nicht der, den sie beschreiten wollte. Sie träumte davon, den Hof zu verlassen und eine Lehre zu machen. Am liebsten in der Gastronomie, weil sie gehört hatte, dass man in dieser Branche herumkam, sogar im Ausland arbeiten konnte. Deshalb war ihr der Besuch von Andrea Wengler wie ein Geschenk des Himmels vorgekommen, das sie noch einmal in ihrer Absicht bestärkte, auf keinen Fall als Magd des Bruders auf dem Hof zu bleiben.

In einem halben Jahr, wenn sie mit der Hauswirtschaftsschule fertig war, wollte sie sich in einem Hotel oder Restaurant um einen Ausbildungsplatz bewerben.

»Dann versuch’s doch bei uns«, hatte Andrea sie ermuntert. »Die Maxi und der Thorsten, meine beiden Chefs, sind prima. Und das Arbeitsklima ist einfach nur toll.«

Sie erzählte ein wenig darüber, wie es im »Waldecker Hof« zuging, und dass es sicher nicht unmöglich war, dort eine Lehrstelle zu bekommen.

Die beiden Madeln verabredeten, in Verbindung zu bleiben, und bei Gelegenheit sollte Resl mal nach Waldeck kommen und Andrea auf ihrer Arbeitsstelle besuchen.

Die Woche verging wie im Flug. Der nächste freie Tag fiel auf einen Mittwoch. Andrea saß in ihrem Zimmer, das sie im »Waldecker Hof« bewohnte, und überlegte, was sie mit ihrer freien Zeit anfangen sollte. Das Wirtshaus selbst hatte keinen Ruhetag, um nicht jeden Tag in der Küche stehen zu müssen, hatte Thorsten Horn einen fähigen Jungkoch eingestellt, der die Anforderungen auch schon mal alleine meistern konnte. Thomas Bichler hieß er und hatte in einem renommierten Hotel im Allgäu seine Lehre gemacht.

Andrea war ganz in Gedanken versunken, als es an die Tür klopfte. Sie öffnete, draußen stand Thomas.

»Telefon für dich.«

Sie bedankte sich und folgte ihm die Treppe hinunter.

Die neuen Besitzer hatten die Wohnung der früheren Eigentümer umgebaut, und zwei Zimmer davon für Angestellte reserviert, die sie vielleicht unterbringen muss­ten. Schon bei Andrea Wengler war das der Fall gewesen. Thomas Bichler war in das andere Zimmer gezogen. Für das Personal stand ein eigenes Bad zur Verfügung. Gegessen wurde in der kleinen Küche, die ausschließlich privaten Zwecken diente und von der großen Restaurantküche getrennt war.

Das Telefon stand am Tresen, der Hörer lag daneben. Andrea nahm ihn auf und nannte ihren Namen.

»Hallo, ich bin’s«, hörte sie Resl Hochleitner sagen.

»Grüß dich. Schön, dass du anrufst. Wie geht’s dir?«

»Gut. Wir hatten heut’ zwei Stunden eher Schluss, und ich bin schon daheim. Du, ich wollt’ dich was fragen. Du hast doch heut’ frei, und da wollt’ ich einfach mal hören, ob du net Lust hast, mit an den Achsteinsee zu fahren? Es ist doch so herrliches Wetter heut’, und man kann da ganz wunderbar schwimmen. Oder auch nur faul in der Sonne liegen.«

»Klingt gut«, antwortete Andrea. »Mir fällt ohnehin die Decke auf den Kopf. Und Schwimmen ist super.«

Waldeck war zwar ein ganz hübsches Dorf, aber viel unternehmen konnte man hier nicht. Am Morgen, noch vor dem Frühstück, hatte Andrea eine halbe Stunde gejoggt, später war sie in die Stadt gefahren und hatte einen Einkaufsbummel gemacht. Inzwischen war es früher Nachmittag, und sie hatte schon die ganze Zeit überlegt, wie sie den restlichen Tag über die Runden bringen sollte, ohne vor lauter Langeweile zu sterben.

»Prima!«, rief Resl. »Soll ich dich abholen? Oder kommst du her?«

Andrea schmunzelte. Sicher steckte hinter dieser Frage die Absicht, den ›Waldecker Hof‹ etwas näher in Augenschein zu nehmen.

»Wenn du Lust hast, kannst’ mich gern’ abholen«, antwortete sie.

»Gut, dann bin ich in einer halben Stunde da.«

Thomas stand in der Tür zur Küche. Offenbar hatte er mitgehört.

»Du gehst schwimmen?«, erkundigte er sich, nicht ohne Neid in der Stimme. »Du hast es gut.«

Andrea zuckte die Schultern.

»Du hast doch gleich Freistunde«, meinte sie. »Komm doch mit.«

Sie mochte ihn. Thomas Bichler war ein lustiger Typ, und mit seinen zwanzig Jahren hatte er als Koch schon »einiges auf dem Kasten«, wie Thorsten Horn es einmal formuliert hatte.

»Geht leider net«, schüttelte er den Kopf. »Morgen Mittag haben wir zwei Busse. Ich muss noch die Braten vorbereiten und die Karte für heut’ Abend.«

»Tja, da kann man nix machen«, bedauerte sie ihn. »Dann ein anderes Mal.«

*

Hanna Burgländer hatte nicht mehr viel zu tun. Die Mittagsgäste waren schon gegangen, und den Nachmittagsdienst übernahm Maxi Herlander.

»Bis heut’ Abend«, verabschiedete die junge Chefin ihre Bedienung und ging in die Küche, um Kuchen und Torten für das fahrbare Büfett, das im Kaffeegarten aufgestellt werden sollte, zu bestücken.

»Wart’, ich helf’ dir«, sagte Andrea, die mit ihrer Badetasche am Tresen stand und auf die Bauerntochter wartete.

Zusammen brachten sie Blechkuchen und Sahnetorten aus der Küche. Alles sah verlockend aus und war von bester Qualität. Thors­ten Horn hatte vor seiner Ausbildung zum Koch den Beruf des Konditors erlernt, dem entsprechend attraktiv und vielfältig war das Angebot für den Kaffeegarten, der von Anfang an von den Waldeckern gut angenommen worden war.

Die beiden Frauen waren gerade fertig, als Resl Hochleitner vorfuhr. Die Bauerntochter und Andrea begrüßten sich, als wären sie alte Freundinnen, und tatsächlich waren die beiden sich auf Anhieb sympathisch gewesen.

»Komm«, sagte Andrea Wengler und legte ihren Arm um Resl, »jetzt führe ich dich mal ein bissel herum.«

Das Madel strahlte.

»Wirklich?«

»Klar. Als erstes mach’ ich dich mit der Chefin bekannt.«

Sie gingen in das Restaurant. Maxi Herlander notierte etwas in den großen Terminkalender, der auf dem Tresen lag.

»Noch eine Reservierung für Samstagabend«, strahlte sie.

»Dann sind wir ja wieder mal ausgebucht.«

»Ja, und ich bin froh darüber.«

»Maxi, das ist Resl Hochleitner«, sagte Andrea.

Die rothaarige Mitinhaberin des Lokals reichte der Bauerntochter die Hand.

»Freut mich. Grüß dich.«

»Resl möcht’ sich mal ein bissel umschau’n«, erklärte Andrea. »Sie will nämlich ins Gastronomiefach wechseln.«

»Tatsächlich?«

Resl nickte.

»Das ist schon lang’ mein Wunsch«, erzählte sie. »Aber der Vater hat’s net zugelassen. Ich soll auf dem Hof bleiben, als Magd meines Bruders. Aber inzwischen bin ich achtzehn und kann selbst bestimmen. Ich mach’ jetzt noch die Schule zu Ende und bewerb’ mich dann um einen Ausbildungsplatz.«

Maxi schmunzelte.

»Na, du weißt ja sehr genau, was du willst«, meinte sie. »Solche Leute können wir immer gebrauchen.«

Resls Augen leuchteten auf.

»Sie meinen … ich könnt’ vielleicht hier …?«

»Freilich«, lächelte Maxi. »Aber das ›Sie‹ lassen wir mal fort. Wir duzen uns hier nämlich alle, weil wir so was wie eine große Familie sind. Also, mach’ dich ran und schreib’ deine Bewerbung.«

»Vorher zeig’ ich dir aber noch alles«, sagte Andrea und zog Resl mit sich.

Die Fremdenzimmer waren alle belegt, so dass sie dort nicht hinein konnten, aber das Restaurant, der Saal und der Kaffeegarten gaben der Bauerntochter schon eine Vorstellung davon, wie es sein konnte, wenn sie eines Tages tatsächlich hier arbeitete.

»So, bevor wir fahren, stell’ ich dir noch eben den Thomas vor«, sagte Andrea und ging mit Resl in die Küche.

Dort stand der Jungkoch und bearbeitete gerade riesige Bratenstücke. Sie wurden gesalzen und gepfeffert und anschließend mit Rosmarin und Knoblauchzehen gespickt. In dem großen Bräter wurde schon das Fett heiß.

Thomas Bichler sah von seiner Arbeit auf, als die beiden eintraten.

»Hallo, wen haben wir denn da?«, fragte er und schaute Resl aus großen Augen an. »Etwa eine neue Kollegin?«

»Noch net«, erwiderte Andrea. »Aber vielleicht bald.«

Sie machte sie miteinander bekannt und registrierte lächelnd, dass die Bauerntochter fast verlegen dem Koch die Hand reichte.

Thomas ließ Resl gar nicht mehr los.

»Jetzt beneide ich dich ja noch mehr«, sagte er an Andrea gewandt.

»Gib ihr nur die Hand zurück!«, meinte sie.

Resl war ein wenig rot geworden.

»Ja, das ist also die Küche, sozusagen das Herz vom ›Waldecker Hof‹«, erklärte Andrea Wengler und sah Thomas an. »Du wirst schon noch Gelegenheit haben, mit zum Baden zu kommen. Aber wahrscheinlich willst’ dann gar net, dass ich dabei bin …«

Der Jungkoch grinste.

»Da könntest’ ausnahmsweise mal Recht haben«, gab er zurück.

Sie deutete auf den Bräter, aus dem sich leichter Rauch kräuselte.

»Pass lieber auf, dass das Fett net verbrennt!«

Thomas fuhr herum.

»Du lieber Gott!«, rief er und gab einen Schuss kaltes Öl in die Pfanne. »Da sieht man mal wieder, was Frauen so alles anrichten können!«

»Oder wie leicht Männer abzulenken sind«, grinste Andrea und zog Resl mit sich. »Komm, wir geh’n lieber.«

»Bis bald mal«, rief Thomas ihnen nach – und es war ganz eindeutig, wen er damit meinte …

*

Wolfgang Hochleitner fuhr mit dem Traktor über die kurvige Bergstraße zum Hof hinauf. Gerade hatte er den Anhänger zum Angererbauern gebracht, der ihn sich ausleihen musste, weil der eigene Hänger hinüber war. Aber solche Nachbarschaftshilfe war bei den Bergbauern nichts Besonderes, sondern eine Selbstverständlichkeit.

Während der Bauernsohn gemächlich heimwärts fuhr, musste er wieder an das denken, was ihn schon die ganze Woche über beschäftigte.

Der Besuch von Pfarrer Trenker und Andrea Wengler, und was damit verbunden war, ließ ihm einfach keine Ruhe. Die ganzen Tage dachte er schon darüber nach und war zu dem Schluss gekommen, dass es nur eine vernünftige Erklärung dafür gab.

Einer seiner damaligen Kameraden bei der Bundeswehr musste sich bei dem Madel für ihn ausgegeben haben!

Und je mehr er darüber nachdachte, um so sicherer war Wolfgang, dass es nur so und nicht anders sein konnte.

Aber welcher Bursche kam dafür in Frage?

Der Bauernsohn erinnerte sich, mit niemandem so richtig befreundet gewesen zu sein. Freilich – man schätzte sich gegenseitig als Kamerad, der für eine gewisse Zeit das selbe Schicksal teilte. Man ging zusammen auf ein Bier aus, wenn man frei hatte, oder in die Disko. Das allerdings weniger, weil dort an den Wochenenden das Leben tobte, man selbst aber lieber heimfuhr, weil dort die Liebste wartete, oder, wie in Wolfgangs Fall, die Arbeit auf dem Hof. Nur selten war er mal in München geblieben, es zog ihn doch immer wieder nach Hause.

Indes, wenn er mal dageblieben war, dann war es auch immer hoch hergegangen.

Himmel, was waren das manchmal für Gelage gewesen!

Den Bauernsohn schüttelte es noch heute, wenn er daran dachte.

Und freilich hatten sie auch den Madeln nachgeschaut und hier und da auch was mit einem angefangen. Aber alles in allem waren das ganz normale Dinge für die jungen Soldaten gewesen. Wolfgang glaubte, sicher sein zu können, dass unter den alten Spezies keiner war, der sich unter falschem Namen mit Andrea Wengler angefreundet und ihr die schönsten Liebesversprechen gemacht hatte.

Obwohl, einer fiel ihm schon

ein ... Ein echter Hallodri, der es nicht so genau nahm, wem er das Herz brach. Dabei war Tobias Raitmayr in festen Händen, wenn er sich recht erinnerte. Jedenfalls hatte er immer von seiner Frau gesprochen, die daheim in Aschau auf ihn wartete. Indes war nicht ganz sicher, ob er sie nur so nannte oder tatsächlich verheiratet war. Geredet hatte er jedenfalls nie näher darüber.

Allerdings war Wolfgang über das viele Nachdenken ganz von dem abgekommen, was ihn noch beschäftigte, seit er die hübsche Andrea kennen gelernt hatte. Er dachte nämlich jede Minute an sie und gab sich dabei den schönsten Träumen hin …

Ja, Wolfgang Hochleitner hatte sich verliebt. Jedoch rechnete er sich keine großen Chancen aus. Andrea war auf das Bitterste von einem Mann enttäuscht worden, der, wie er, Wolfgang hieß. Da würde sie sich wohl kaum mit ihm einlassen.

Es sei denn, sie vergaß diesen Filou mit der Zeit doch noch und sah ein, dass nicht alle Männer solche Schufte waren.

Als der Bauernsohn in die Küche kam, duftete es nach Kaffee.

»Hmm, bekomm’ ich auch eine Tasse?«, fragte er die Magd.

»Freilich«, lächelte Maria Lechner, die gerade Wäsche zusammenlegte. »Bedien’ dich nur.«

»Und was ist mit Kuchen?«

Wolfgang hatte gesehen, dass seine Schwester am Morgen einen gebacken hatte.

»Steht in der Speisekammer. Wart’ ich hol’ ihn.«

»Da fehlt ja schon die Hälfte!«, rief der Bauernsohn, beinahe empört, als die Magd zurückkam, und er die halbleere Kuchenplatte sah. »Wer hat den denn aufgefuttert?«

»Resl hat welchen mitgenommen«, erklärte Maria.

»Mitgenommen? Wohin denn?«

»Sie ist zum Baden an den Achsteinsee gefahren.«

»Und da nimmt sie den halben Kuchen mit? Soviel isst sie doch gar net. Will sie den am See verkaufen, oder was?«

Die Magd schnitt ihm zwei Stücke von dem Rührkuchen ab und legte sie auf einen Teller.

»Natürlich hat sie ihn net für sich allein mitgenommen«, sagte sie, während sie ihm den Teller reichte. »Resl ist mit dieser Andrea Wengler zum Baden gefahren.«

Wolfgang war wie elektrisiert.

»Mit … mit der Andrea?«, fragte er atemlos.

»Sag’ ich doch.«

Die Magd sah ihn forschend an und schüttelte den Kopf. Maria war einundfünfzig Jahre und damit genauso alt, wie Wolfgangs Mutter gewesen war, als sie starb. Sie hatte eine schlanke Figur und sah immer noch attraktiv aus. Geheiratet hatte Maria nie, obgleich es ihr nie an Verehrern gemangelt hatte. Und auch heute noch standen die Männer Schlange, wenn die Magd den Tanzabend in St. Johann besuchte. Was allerdings nicht mehr so oft der Fall war wie früher mal.

»Sag’ mal, warum bist’ denn so aufgeregt?«, wollte sie wissen.

Der Bauernsohn hatte gerade abgebissen und hätte sich um ein Haar an einem Kuchenkrümel verschluckt.

»Ich?«, erwiderte er, nachdem er sich ausgehustet und einen Schluck getrunken hatte. »Ich bin doch net aufgeregt.«

Die Magd lächelte. Acht Jahre war er gewesen, als sie auf den Hof gekommen war, und Resl vier Jahre jünger als ihr Bruder. Sie kannte die beiden, als wären sie ihre eigenen Kinder.

»Mach’ mir doch nix vor«, sagte sie nur.

Wolfgang aß den Kuchen auf.

»Und Vater?«, fragte er dann, um das Thema zu wechseln.

»Ist noch drunten im Dorf. Du weißt doch, mittwochs bringt er immer Blumen zum Friedhof.«

Seit dem Tod seiner Frau fuhr Vinzenz Hochleitner jede Woche einmal, und zwar immer mitt­wochs, nach St. Johann und brachte frische Blumen auf das Grab. Sie mussten unbedingt aus dem eigenen Garten sein, weil Hilde, die Bäuerin, ihren Garten so geliebt hatte.

Besonders die Blumen hatten es ihr angetan, und es konnte gar nicht bunt genug sein.

Wolfgang schaute auf die Uhr. Es war gerade mal kurz nach drei. Bis zum Melken am Abend waren es noch ein paar Stunden. Er fasste einen spontanen Beschluss.

*

»Mensch, das ist ja toll hier!«, sagte Andrea Wengler begeistert.

Sie waren zum wiederholten Male im Wasser gewesen und gerade wieder zu ihrer Decke auf der Liegewiese zurückgekehrt.

Die junge Frau war erstaunt gewesen. Auf der Hotelfachschule in Garmisch Partenkirchen hatte sie schon oft etwas über den Achsteinsee gehört. Allerdings war sie nie hergefahren, weil der Weg für ein paar Stunden Badespaß dann doch zu weit war. Doch so schön hatte sie es sich hier nicht vorgestellt.

Resl hatte nicht nur eine Decke mitgebracht, sondern auch reichlich Essen und Trinken. Andrea selbst hatte darauf verzichtet und nur eine Flasche Mineralwasser eingepackt.

»Greif’ doch zu«, ermunterte Resl sie.

Die Bauerntochter hatte eine Plastikdose aus der Tasche geholt und den Deckel geöffnet. In der Dose lagen, appetitlich anzusehen, Scheiben von einem Rührkuchen.

»Hab’ ich selbst gebacken.«

»Danke schön. Da sag’ ich doch net nein.«

Andrea nahm ein Stück und biss ab.

Der Kuchen war ganz saftig und erfrischte mit seinem Zitronenaroma ganz besonders.

»Lecker!«, sagte die junge Hotelfachfrau. »Und wo kriegen wir jetzt einen Kaffee her?«

»Kommt schon«, antwortete Resl und griff erneut in die große Tasche.

Mit einem Griff zauberte sie eine Thermoskanne hervor.

»Milch? Zucker?«, fragte sie und förderte beides zutage.

Außerdem zwei bunte Porzellanbecher.

»Du hast wirklich an alles gedacht«, staunte Andrea.

Während sie genüsslich Kaffee tranken und Kuchen aßen, wollte die Bauerntochter noch mehr über den Beruf ihrer neuen Freundin wissen. Andrea beantwortete gerne alle Fragen. Doch zwischendurch erschien immer wieder ein trauriger Zug in ihrem hübschen Gesicht.

Besonders dann, wenn ihr Blick auf die vielen jungen Paare fiel, die manchmal tobend, meistens aber Arm in Arm über die Wiesen gingen oder eng umschlungen auf ihren Decken lagen.

»Du kannst ihn wohl net vergessen, was?«, fragte Resl, als Andrea wieder einmal still vor sich hin schaute.

»Den Wolfgang?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich wollt’, ich könnt’s«, antwortete sie. »Weißt’, er war der erste Mann, bei dem ich wirklich glücklich war. Er hat mir versprochen, dass wir für immer zusammenbleiben, und ich hab’ ihm geglaubt.«

»Ich versteh’ das einfach net«, sagte die Bauerntochter. »Wie kann er so was versprechen und sich dann net daran halten?«

»Ich versteh’s auch net. Manchmal denk’ ich, Wolfgang ist wie ein böser Dämon, den ich net mehr los werde.«

Andrea wusste nicht mehr, wie oft sie ihn in Gedanken schon beschimpft und verdammt hatte. Tief in ihrem Innersten wusste sie, dass sie von ihm loskommen musste, wollte sie jemals wieder glücklich werden.

Aber es gelang ihr einfach nicht!

Manche Menschen drängten sich in ein Leben, aus dem sie nie wieder fort gingen, selbst wenn sie gar nicht mehr körperlich da waren. Man konnte sie einfach nicht vergessen, und manchmal verzweifelte man daran.

Resl sah sie betroffen an.

Andrea tat ihr unendlich leid. Sie war eine hübsche, sympathische Frau, die es einfach nicht verdient hatte, von so einem Dämon besessen zu sein.

»Wollen wir noch mal schwimmen«, fragte sie.

Andrea Wengler zuckte die Schultern.

»Ich weiß net.«

Sie schaute sich um. Entlang des Sees zog sich eine Uferpromenade, dort standen zahlreiche kleine Geschäfte, Cafés und Eisdielen.

»Wir könnten auch ein bissel bummeln«, schlug Resl vor.

»Ach, irgendwie hab’ ich zu gar nix Lust.«

»Vielleicht kann ich die Damen zu einem Eis einladen?«, vernahmen sie eine Stimme.

Die Bauerntochter sah auf.

»Wolfgang!«, rief sie überrascht.

Unbemerkt von ihr und Andrea war ihr Bruder herangekommen und hatte sich nicht sofort bemerkbar gemacht.

Andrea, hinter deren Rücken er stand, drehte den Kopf.

»Hallo«, lächelte sie.

Der Bauernsohn spürte sein Herz unwillkürlich schneller klopfen, als er zurücklächelte. Aufgeregt war er ohnehin die ganze Zeit schon. Auf der Fahrt zum See hatte er überlegt, was Andrea wohl sagen würde, wenn er dort einfach so auftauchte. Jetzt war er erleichtert, als sie ihn freundlich ansah.

»Was ist? Nehmt ihr meine Einladung an?«, fragte er noch einmal.

»Was glaubst du denn!«

Resl sprang auf.

»Den größten Eisbecher bestell’ ich mir, wenn mein Bruder schon mal die Spendierhosen anhat!«

Andrea stimmte in das Lachen der Geschwister ein. Sie war dankbar für die Ablenkung von ihren trüben Gedanken, die schon wieder die Oberhand zu gewinnen drohten.

Es gab mehrere Eisdielen, sodass die Aussicht, einen freien Tisch zu finden, nicht so schlecht war. Trotzdem mussten sie einen Moment suchen und ziemlich weit laufen, bis sie endlich Glück hatten.

Resl bestellte nicht wirklich das größte Eis aus der Karte, sondern begnügte sich mit einem Früchtebecher, der aber immer noch riesig war. Andrea nahm ein kleines gemischtes Eis und verzichtete auf die Sahne.

Wolfgang hatte für sich einen Eiscafé bestellt und zahlte gleich, als die Bedienung die Eisbecher brachte.

»Wie ist denn das Wasser?«, erkundigte er sich.

»Gut«, antwortete seine Schwes­ter zwischen zwei Bissen. »Halt wie immer.«

Andrea sah auf.

»Nur gut?«, rief sie. »Es ist einfach herrlich! Ich hab’s mir viel kälter vorgestellt.«

»Das wird’s erst gegen Abend, wenn die Sonne fort ist«, erklärte Wolfgang und lehnte sich zurück. »Kommt ihr noch mal mit rein?«

»Auf jeden Fall!«, nickte Resl und sah Andrea an. »Du auch?«

»Ja. Allerdings net jetzt gleich ...«

»Ich weiß«, schmunzelte die Bauerntochter, »unsre Mutter hat immer gepredigt, dass wir nach dem Essen mindestens eine Viertelstunde warten müssen, ehe wir wieder ins Wasser geh’n.«

»Meine auch«, lachte Andrea und fing Wolfgangs Blick ein, der wohlgefällig auf ihr ruhte.

Sie reagierte verlegen und fuhr sich durch das Haar. Der Bauernsohn bemerkte ihre Verlegenheit natürlich, und sein Herz tat einen Hüpfer.

»Wie gefällt’s dir denn überhaupt bei uns im Wachnertal«, erkundigte er sich, um ihr ein wenig aus der Situation zu helfen.

Seine Schwester schien überhaupt nichts mitbekommen zu haben.

»Prima«, sagte Andrea. »Mit meinen Chefs hab’ ich’s wirklich gut getroffen, die Arbeit macht viel Freude.«

»Das hört sich gut an. Man erzählt sich übrigens schon, dass der ›Hirsch‹ eine mächtige Konkurrenz bekommen hat.«

»Na ja, die Leut’ reden schon viel. Aber das kann stimmen«, meinte Andrea. »Wir haben schon fast jeden Mittag mindestens einen Reisebus, morgen sind’s gar zwei Stück. Und abends sind wir meist ausgebucht. Besonders am Wochenend’.«

»Dann hast’ an diesen Abenden wohl gar net frei, was?«, fragte Resl.

Andrea schüttelte den Kopf.

»Net am Freitag, Samstag oder Sonntag«, erwiderte sie. »Das sind ›Kampftage‹.«

Die Bauerntochter schaute betrübt. »Schad’«, meinte sie. »Und ich hab’ gedacht, wir könnten mal

zusammen auf den Tanzabend geh’n …«

Die junge Hotelfachfrau lächelte.

»Das ist keine schlechte Idee«, sagte sie. »Dann komm’ ich eben nach Feierabend. Meistens ist um elf Schluss, wenn ich dann umgezogen bin, kann ich halb zwölf in St. Johann sein. Dann geht’s da im ›Löwen‹ ja erst richtig los.«

»Genau!«, nickte Wolfgang sofort und sah die beiden Madeln begeistert an.

Andrea registrierte die Begeisterung genau. Resls Bruder war wirklich ein netter Bursche. Zwar war er nicht der Wolfgang Hochleitner, den sie kannte und in den sie sich unsterblich, wie es schien, verliebt hatte, aber bestimmt konnte man mit ihm auch eine Menge Spaß haben.

»Warst’ schon mal auf dem Tanzabend?«, fragte Resl. »Oder woher weißt du so gut darüber Bescheid?«

»Ja, einige Male war ich dort«, nickte sie, verschwieg aber, dass sie da vergeblich nach dem Mann Ausschau gehalten hatte, den sie nicht vergessen konnte.

»Ich durfte früher nur hin, wenn unsre Eltern dabei waren«, erzählte Resl. »Aber nachdem Mutter gestorben war, hatte Vater keine rechte Lust mehr. Ich glaub’, er ist seither nur einmal auf dem Vergnügen gewesen.«

Wolfgang nickte.

»Ja, aber auch nur, weil ich ihn regelrecht dazu gezwungen hab’«, bemerkte er.

Nach dem Tod seiner Frau hatte der Bauer sich in ein Schneckenhaus verkrochen, aus dem er nicht wieder herauswollte. Erst als Wolfgang mehrmals auf ihn eingeredet und ihn darauf hingewiesen hatte, dass das ganz gewiss nicht das war, was die Mutter gewollt hätte, löste sich Vinzenz aus seiner Starre und wurde wieder zugänglicher.

»Allein’ darf ich erst auf den Tanzabend, seit ich achtzehn bin«, sagte Resl. »Vorher hatte Vater wohl Bedenken wegen der Burschen.«

»Kein Wunder«, grinste ihr Bruder, »ich hab’ ja geseh’n, wie die sich um dich gerissen haben.«

Resl sah ihn in gespielter Verärgerung an.

»Was du da redest!«

»Wieso? Stimmt doch.«

Er berührte Andrea am Arm.

»Also glaub’ mir, jedes Mal, wenn ich nach ihr geschaut hab’, war meine Schwester von einer Horde junger Burschen umringt, die sich dabei überboten, ihr den Hof zu machen.«

Resl wurde etwas dunkler im Gesicht.

»Das glaub’ ich gern’«, meinte Andrea augenzwinkernd. »Ich kenn’ da nämlich jemanden, der sich ganz schnell in diese Riege einreihen würd’ …«

Und Resl wurde noch dunkler.

*

»Du, ich dank’ dir für den wunderschönen Nachmittag«, sagte Andrea Wengler, als Resl sie vor dem Wirtshaus in Waldeck absetzte.

»Bis Samstag. Versprochen? Auch wenn’s spät wird.«

»Ich komm’ bestimmt«, rief die junge Hotelfachfrau und winkte der Bauerntochter hinterher.

Gut gelaunt ging sie hinein und begrüßte Hanna Burgländer, die inzwischen ihre Abendschicht begonnen hatte.

»Wie war’s denn?«, erkundigte sich die ältere Frau.

»Herrlich!«, versicherte Andrea. »Und wie schaut’s hier aus?«

»Noch ist’s ruhig. Die ersten Tische sind für halb sieben reserviert.«

»Na, dann frohes Schaffen.«

Andrea ging in die Personalküche und holte sich einen Becher Tee. Essen mochte sie nicht; Kuchen und Eis genügten ihr vollauf. Mit dem Tee in der Hand ging sie nach oben. Auf halber Treppe kam Thomas Bichler ihr entgegen.

»Hallo. Wieder zurück?«, grüßte der Koch sie. »War’s schön?«

»Sehr schön. Schad’, dass du net mitkommen konntest …«

Thomas bekam leuchtende Augen.

»Hat sie mich vermisst?«, wollte er wissen.

»Sie gefällt dir wohl, die Resl, was?«, schmunzelte Andrea.

»Kann ich net bestreiten«, erwiderte er frei heraus.

»Dann komm doch Samstag nach Feierabend mit nach St. Johann. Da kannst’ sie wiederseh’n.«

»Wirklich? Das mach’ ich. Geht ihr auf den Tanzabend im ›Löwen‹, von dem alle Welt erzählt?«

»Genau.«

»Mensch, ich freu’ mich schon.«

Thomas sah auf die Uhr.

»So, ich muss mich sputen. Tschüß, Andrea.«

»Bis morgen«, nickte sie. »Und einen erfolgreichen Abend.«

In ihrem Zimmer angekommen, öffnete sie das Fenster weit, das sie bis jetzt gekippt hatte. Es war immer noch wunderbar warm draußen, und Andrea war froh, dass der Biergarten auf der anderen Seite lag. Dort würde es sicher wieder hoch hergehen. Die Waldecker waren froh gewesen, dass sie jetzt einen anderen Platz für die Feierabendmaß hatten und nicht mehr auf das andere Wirtshaus angewiesen waren, wo die Gläser schlechter eingeschenkt waren, dafür das Bier aber deutlich teurer verkauft wurde. Außerdem gab es im »Waldecker Hof« viele kleine Schmankerln, die wunderbar zum Abend passten. Einen gescheiten, selbst angemachten Obatzter, zum Beispiel, oder ofenwarmes Wachnertaler Bauernbrot mit Butter und Radi, oder ein paar Schweinsbratwürstl mit Kraut und süßem Senf. Im »Hirschen« beschränkte sich das Angebot auf ein Käsebrot und einen Salatteller. Ansonsten mussten die Gäste von der großen Karte essen, deren Preise denen eines bayerischen Biergartens Hohn sprachen.

Andrea setzte sich auf das Bett und schaltete den kleinen Fernseher ein, den sie erst vor kurzem gekauft hatte. Doch recht ablenken konnte das Programm sie nicht. Immer wieder dachte sie an die vergangenen Stunden, in denen sie sich wohl gefühlt hatte, wie lange nicht mehr in Gesellschaft eines jungen Burschen.

Name hin oder her – Resls Bruder war ihr jedenfalls sympathisch, und wie es schien, sie ihm auch.

Oder wie anders sollte sie die Blicke deuten, mit denen er sie immer wieder angesehen hatte?

Nach dem Eisessen waren sie zur Liegewiese zurückgegangen und hatten noch ein wenig Zeit verstreichen lassen, ehe sie noch einmal schwimmen gingen.

»Los, wer zuerst an der Insel ist, hat gewonnen!«, hatte Wolfgang Hochleitner gerufen und war gleich ins Wasser gesprungen.

»Na, das wollen wir doch mal sehen«, rief Resl hinterher und zog Andrea mit sich.

Tatsächlich kamen die beiden Madeln zuerst bei der Schwimminsel an, die in der Mitte des Sees verankert war. Aber Andrea war nicht sicher, ob Wolfgang nicht absichtlich verloren hatte …

Sie saßen in der Sonne und unterhielten sich über dieses und jenes, sparten aber das Thema um den gesuchten Wolfgang Hochleitner aus. Andrea war auch ganz dankbar dafür. Es war ihr schon peinlich genug, dass Resl und deren Bruder mehr über die Angelegenheit wussten, als ihr eigentlich lieb war.

Als es dann an der Zeit war, zurückzufahren, verabschiedete sich Wolfgang, der mit seinem Auto gekommen war, mit einem langen Händedruck.

So lange, dass Resl schmunzelte, als sie bemerkte, dass ihr Bruder Andrea am liebsten wohl gar nicht mehr losgelassen hätte.

»Wie findest du ihn denn?«, hatte die Bauerntochter gefragt, als sie im Auto saßen.

»Wolfgang?«

Andrea hatte beinahe mit dieser Frage gerechnet.

»Ein netter Kerl.«

»Der bis über beide Ohren in dich verliebt ist.«

Andrea Wengler drehte überrascht den Kopf in Resls Richtung.

»Du träumst!«, sagte sie. »Wie kommst’ denn auf so was?«

»Na hör’ mal«, lachte die Bauerntochter, »ich kenn’ doch meinen Bruder. Wenn der solche Augen macht bei einem Madel, dann brauch ich net lang’ zu rätseln, um zu wissen, was mit ihm los ist.«

Die Hotelfachfrau schluckte und sagte gar nichts mehr.

»Samstag wirst’ es selbst merken«, fuhr Resl Hochleitner fort.

»Samstag?«

»Der Tanzabend! Schon vergessen?«

Das hatte sie tatsächlich, aber offenbar war es für Resl schon fest verabredet.

Als Andrea Wengler jetzt darüber nachdachte, musste sie zugeben, dass der Gedanke an Resls Bruder sie leicht nervös machte. Das war ihr lange nicht passiert. Und sie stellte einen Vergleich zwischen dem echten Wolfgang Hochleitner und jenem, der diesen Namen benutzt hatte, an.

Dabei fragte sie sich, wie sie wohl reagieren würde, wenn der andere jetzt plötzlich vor ihr stünde?

Andrea war überrascht, als sie merkte, dass sie keine Antwort darauf wusste …

*

Am darauf folgenden Samstag brummte der Laden, die Gäste standen Schlange, wer nicht reserviert hatte, musste warten oder wieder gehen. Etliche zogen es jedoch vor, an der Bar einen Drink zu nehmen, in der Hoffnung, dass bald ein Tisch frei würde.

Erst gegen neun Uhr ließ der Ansturm der Gäste nach, und gegen halb elf war dann auch das letzte Essen serviert.

»Thomas hat erzählt, dass ihr nachher noch nach St. Johann wollt?«, meinte Maxi Herlander. »Ich hätt’ auch mal wieder Lust zu tanzen.«

»Dann kommt doch mit«, schlug Andrea vor. »Machen wir einen Betriebsausflug.«

Thorsten Horn hatte seine Runde durch das Restaurant gemacht und sich bei den Gästen erkundigt, ob alles zu ihrer Zufriedenheit war.

Wie nicht anders zu erwarten, hatte er nur Zustimmung geerntet und kam entsprechend gut gelaunt an den Tresen zurück.

»Wann machen wir einen Betriebsausflug?«, wollte er wissen.

»Heut’, nach Feierabend«, antwortete Maxi.

»Heut’ noch?«

Die Frage kam beinahe erschrocken über seine Lippen.

»Och, Schatz, bitte, ja?«, sagte seine Freundin. »Ich hab’ solche Lust, mal wieder auszugeh’n und das Tanzbein zu schwingen.«

»Von mir aus …« Er zuckte die Schultern. »Aber ihr wisst schon, dass wir morgen wieder ein volles Haus haben, ja?«

»Kein Problem«, meinte Andrea. »Das schaffen wir schon.«

»Genau«, nickte Maxi und gab Thorsten einen liebevollen Kuss.

Während noch einige Gäste an den Tischen saßen, wurde in der Küche schon geputzt. Thomas Bichler und Christel Brunner brachten alles wieder auf Hochglanz. Bis auf die Spülfrau, deren Mann zu Hause wartete, und Hanna Burgländer, fuhren die anderen dann kurz nach Mitternacht nach St. Johann. Als sie vor dem Hotel ankamen, hörten sie schon auf dem Parkplatz die Musik der »Wachnertaler Bu’am«, die so etwas wie die Hausmusiker des »Löwen« waren.

Um diese Zeit verzichtete Sepp Reisinger darauf, noch Eintritt zu nehmen. Wie jeden Samstagabend, so waren auch heute wieder die Leute von nah und fern gekommen, um für ein paar Stunden die Sorgen des Alltags zu vergessen. Die Kasse des Wirts hatte gut geklingelt, und er konnte es sich leis­ten, großzügig zu sein.

Auch Sitzplätze gab es inzwischen wieder, denn einige Gäste waren bereits wieder gegangen. Meistens waren es Bauern und deren Mägde und Knechte, die am nächsten Morgen wieder früh raus mussten und das Vieh füttern. Den Tieren war es nämlich ziemlich egal, ob es Wochenend oder Feiertag war.

Sepp, der in der Nähe des Eingangs am Tresen stand, sah die Neuankömmlinge und begrüßte sie strahlend.

»Na, Herr Kollege, wie geh’n denn die Geschäfte?«, erkundigte er sich.

Er hatte nicht vergessen, wie Thorsten ihm seinerzeit aus der Patsche geholfen hatte, als Irma, seine Frau, in der Küche verunglückt war, und freute sich aufrichtig, als er hörte, dass das Wirtshaus jeden Tag gut besucht wurde.

»Los, sucht euch einen Tisch«, sagte er. »Die erste Runde geht aufs Haus.«

Hinten in der Ecke waren noch freie Plätze. Dort saßen auch Resl und ihr Bruder, der allerdings gerade an der Bar stand und mit Maria Lechner ein Glas Sekt trank.

Die Bauerntochter freute sich und umarmte Andrea.

»Schön, dass ihr da seid«, rief sie durch die Musik, die gerade wieder eingesetzt hatte. »Dann kann die Gaudi ja beginnen.«

Thomas Bichler schob sich vor.

»Darf ich bitten?«, fragte er und machte vor der verblüfften Resl Hochleitner eine formvollendete Verbeugung.

Indes – zweimal ließ sie sich nicht bitten und entschwand mit dem Koch auf die Tanzfläche.

»Grüß Gott«, rief jemand, als sie sich gerade setzen wollten. »Je später der Abend, um so schöner die Gäste!«

Es war Wolfgang Hochleitner, der zusammen mit der Magd wieder an den Tisch gekommen war.

Andrea fühlte, wie ihr Herz schneller schlug. Rasch machte sie ihre beiden Chefs mit dem Bauernsohn bekannt, und Wolfgang stellte seinerseits die Magd vor.

»Wo ist denn die Resl?«, fragte er.

»Die tanzt«, antwortete Andrea lächelnd.

»Na, dann wollen wir doch net nachsteh’n, oder?«, meinte er und griff nach ihrer Hand.

Sie ließ es geschehen, dass Wolfgang sie auf die Tanzfläche zog, wo sie einen langsamen Walzer tanzten.

Thorsten Horn und Maxi Herlander waren plötzlich alleine.

»Mensch, was macht ihr denn hier?«, rief plötzlich jemand vom Nebentisch.

Es war Florian Brandner, eben jener Bauernsohn, den sie damals in Irland kennen gelernt hatten und wegen dem sie überhaupt ins Wachnertal gekommen waren.

Die Freunde umarmten und begrüßten sich. Natürlich war auch Kathi Hofbauer dabei, Florians zukünftige Frau.

»Wann ist es denn soweit?«, erkundigte sich Thorsten. »Habt ihr schon einen Termin?«

»In vier Wochen«, verkündete Florian Brandner freudestrahlend. »Und wir hoffen, dass ihr zwei dabei sein werdet.«

»Hm, das kann problematisch werden«, meinte Thorsten. »Unser Haus ist jeden Tag rappelvoll. Sicher wollt’ ihr an einem Wochenende feiern, was?«

Florian und Kathi nickten.

»Das habe ich mir gedacht. Aber gerade da ist es immer ausgebucht. Na ja, mal sehen, vielleicht kann ich den Thomas ja mal für einen Tag alleine lassen. Kochen kann er ja prima.«

»Wenn er dann noch unter uns weilt«, bemerkte Maxi.

Thorsten sah sie überrascht an.

»Wie meinst du denn das?«

Sie deutete mit dem Kinn zur Tanzfläche.

»Schau ihn dir doch mal an, den Burschen«, lachte sie. »Der schwebt ja schon im siebten Himmel.«

*

Resl wusste vor lauter Aufregung gar nicht, wie ihr geschah. Seit dem vergangenen Mittwoch dachte sie nur noch an Thomas Bichler und wie es wohl sein würde, wenn er am Samstag tatsächlich mitkäme.

Und nun tanzten sie zusammen!

Natürlich hatte die Bauerntochter Maxi Herlanders Bemerkung nicht hören können, aber sie selbst schwebte auch im siebten Himmel. Es schien als wüsste der Kapellmeister, dass gerade ein romantischer Moment angebrochen war, denn auch der zweite Tanz war ein langsamer Walzer.

Thomas sah Resl verliebt an und suchte nach den richtigen Worten.

Konnte er schon gleich nach der zweiten Begegnung mit der Tür ins Haus fallen?

Das Madel hatte hingebungsvoll die Augen geschlossen und ließ sich von ihm führen.

»Ich könnt’ stundenlang so mit dir tanzen«, raunte er in Resls Ohr.

Sie spürte, wie sie eine Gänse­haut bekam und wohlige Schauer über ihren Rücken rannen.

Resl Hochleitner hatte noch nicht viel Erfahrung mit den Männern. Freilich, auf dem Tanzabend standen die Burschen schon Schlange, da hatte ihr Bruder nicht übertrieben. Aber so richtig verliebt hatte sie sich noch nicht – jedenfalls nicht bis zu diesem Abend.

Resl öffnete die Augen und sah Thomas prüfend an.

»Wie vielen Madeln hast’ das schon gesagt?«, wollte sie wissen.

»Noch keinem!«, beteuerte er und zog sie noch enger an sich. »Du bist die erste, der ich es sage.«

Konnte das wirklich sein? Hatte dieser gut aussehende Bursche wirklich noch nie sein Herz verloren?

»Doch schon«, gab er zu, als sie ihn direkt fragte. »Aber das war eher eine einseitige Liebe.«

»Wieso?«

»Na ja, ich hatte mich unsterblich in Lena verliebt«, erzählte er. »Aber sie hat meinen besten Freund vorgezogen.«

Resl empfand Mitleid mit ihm und bereute ihre neugierige Frage.

»Das tut mir leid«, sagte sie mitfühlend. »Wie lang’ ist das denn jetzt her?«

Thomas sah sie an und grinste.

»So ungefähr sechzehn Jahre«, lachte er. »Ich war damals vier, und wir gingen alle zusammen in den Kindergarten.«

»Du …!«

Er hielt ihre Hand fest, mit der sie ihm auf die Schulter geboxt hatte.

»Und jetzt bin ich wieder unsterblich verliebt«, sagte er. »In dich, Resl, und diesmal funkt mir kein bester Freund dazwischen.«

Mitten im Tanz waren sie stehen geblieben und schauten sich in die Augen. Thomas beugte seinen Kopf, während Resl ihm ihre Lippen darbot. Ihnen war es egal, dass alle Leute auf der Tanzfläche sie sehen konnten.

»Ich werd’ verrückt!«, sagte Wolfgang Hochleitner, als er die Szene sah. »Meine kleine Schwes­ter!«

»Deine kleine Schwester ist längst eine erwachsene Frau«, entgegnete Andrea Wengler. »Und eine hübsche noch dazu.«

»Aber bisher hat sie jeden abblitzen lassen«, schüttelte er den Kopf, während sie versuchten, wieder in den richtigen Rhythmus zu kommen.

»Dann ist’s wohl diesmal der Richtige.«

»Ja«, nickte er, »so wird’s wohl sein.«

Beinahe neidvoll schaute er zu Resl und ihrem Tanzpartner, die sich verliebt ansahen, während sie weiter tanzten.

Er war so glücklich gewesen, als er Andrea an den Tisch hatte kommen sehen. Und schon seit Tagen hatte er sich die richtigen Worte zurechtgelegt, mit denen er ihr sagen wollte, was er für sie fühlte.

Doch jetzt wollten sie ihm nicht über die Lippen kommen.

»Es war sehr schön, neulich am Achsteinsee«, bemerkte sie, als er stumm blieb.

»Fand ich auch«, stimmte Wolfgang zu. »Wenn du Lust hast … ich mein’, wenn’s passt, können wir’s gern’ mal wiederholen.«

»Ja, da hätt’ ich schon Lust zu«, versicherte sie.

Andrea musste zugeben, dass sie Wolfgang Hochleitner heute Abend mit ganz anderen Augen betrachtete, als noch am Mittwoch­nachmittag. Da war er der Bruder ihrer neuen Freundin, der sich augenscheinlich für sie interessierte. Jetzt war sie es, die ein gewisses Interesse für ihn bei sich entdeckte.

Aber warum war er mit einem Mal so einsilbig?

Das konnte doch unmöglich daran liegen, dass er eben seine Schwester gesehen hatte, die ganz offenbar frisch verliebt war.

Nachdem die Musik geendet hatte, gingen sie an den Tisch zurück. Dort stand inzwischen eine Flasche Sekt in einem Eiskübel.

»Mit den besten Empfehlungen vom Chef«, sagte die Saaltochter, die die Flasche gekonnt entkorkte.

»Für mich aber nur ein Glas«, erklärte Thorsten Horn. »Ich muss noch fahren.«

Er und Maxi hatten ebenfalls getanzt. Jetzt standen sie am Tisch und hoben die Gläser.

»Prost, Leute«, rief Sepp Reisinger, der sich dazugesellt hatte.

Es verstand sich von selbst, dass Kathi Hofbauer und Florian Brandner ebenfalls eingeladen waren, und so war die Flasche schnell geleert. Anschließend wurde noch weiter getanzt, bis Thorsten zum Aufbruch mahnte.

»Es ist halb drei in der Frühe«, sagte er. »Um zwölf kommen die ersten Mittagsgäste. Von Hotelgäs­ten ganz zu schweigen, die nachher ihr Frühstück haben wollen.«

»Keine Sorge, Chef, das Frühstück übernehme ich«, sagte Thomas. »Ein paar Stunden Schlaf reichen mir. Aber du hast natürlich Recht.«

Bedauernd sah er Resl an.

»Es war ein langer Tag, und wir sollten jetzt besser fahren. Auch wenn ich für mein Leben gern’ noch bleiben würd’.«

»Für uns ist jetzt auch Schluss«, meinte Wolfgang und deutete auf die Magd des Hochleitnerhofes. »Maria schläft sonst noch am Tisch ein.«

Sie hob drohend die Hand.

»Ich geb’s dir gleich, Grünschnabel!«, rief sie. »Ich hab’ schon mehr Nächte durchgemacht, als du dir vorstellen kannst.«

Thorsten klatschte in die Hände.

»Also, allgemeiner Aufbruch«, sagte er. »Alles, was zum ›Waldecker Hof‹ gehört, folgt mir!«

Thomas und Resl gingen Hand in Hand vom Saal. Während Thorsten und Maxi noch kurz mit Sepp Reisinger sprachen, hatten sie Gelegenheit, auf dem Parkplatz Abschied zu nehmen.

»Wann seh’n wir uns denn wieder?«, fragte die Bauerntochter.

»Von drei bis sechs hab’ ich Freistunde«, antwortete der Koch.

»Gut, dann komm’ ich nach Waldeck.«

»Ich freu’ mich«, sagte er und zog sie an sich.

Während sie sich liebevoll küss­ten, standen Andrea und Wolfgang etwas abseits und bemühten sich, nicht hinzuschauen.

»Ja, es war noch ein sehr schöner Abend«, bemerkte die junge Frau.

»Ja, wirklich«, nickte der Bauernsohn. »Es hat wirklich Spaß gemacht, mit dir zu tanzen.«

»Das Kompliment kann ich nur zurückgeben.«

Stumm sahen sie sich an. Keiner wusste so recht, was er noch sagen sollte, obgleich Wolfgang genau in diesem Moment all die Worte wieder einfielen, die er sich schon zurecht gelegt hatte.

Doch jetzt war es dafür zu spät.

*

Am Montagmorgen geschah etwas, das wie eine körperliche Bedrohung über die Leute im »Waldecker Hof« gekommen war. Noch ehe die ersten Gäste erschienen, standen zwei wichtig aussehende Männer vor der Tür und forderten, eingelassen zu werden. Einer von ihnen trug eine Aktenmappe aus braunem Leder, der andere eine Art Pilotenkoffer.

Hanna Burgländer, die Frühschicht hatte, wollte die beiden mit dem Hinweis, dass noch nicht geöffnet sei, erst wieder fortschicken, doch einer der Männer zog einen in Plastikfolie eingeschweißten Ausweis aus der Tasche und hielt ihn der Bedienung unter die Nase.

»Hoffmann, Gewerbeaufsicht«, schnarrte er. »Wir müssen den Inhaber sprechen.«

»Genau«, nickte der andere. »Mein Name ist Weißlach. Uns liegt eine Anzeige vor.«

»Eine Anzeige?«, hauchte Hanna ungläubig. »Aber warum denn um alles in der Welt?«

Der Herr Hoffmann hatte ein amtlich aussehendes Schreiben hervorgeholt und schaute darauf.

»Das werden wir dem Herrn Horn schon selbst mitteilen«, schnarrte er wieder. »Holen S’ ihn bitt’ schön her, Frau … äh …«

»Burgländer. Ich bin die Serviceleiterin.«

»Schön, Frau Burgländer«, nickte der Mann, der sich Weißlach nannte, »dann seien S’ jetzt bitte so freundlich und sagen S’ dem Herrn Horn, dass wir ihn sprechen müssen.«

Er war eindeutig der nettere von den beiden.

»Jawohl, sofort«, antwortete Hanna.

»Wir schau’n uns schon mal ein bissel um«, erklärte Helmut Weißlach und zeigte auf die Tür, vor der sie standen. »Da geht’s wohl zur Küche?«

Die völlig aus der Fassung gebrachte Serviererin nickte automatisch und eilte die Treppe hinauf.

Maxi und Thorsten saßen in ihrer kleinen Küche beim Frühstück. Der junge Gastwirt fiel aus allen Wolken, als er hörte, wer ihn da zu sprechen wünschte.

Seine rothaarige Freundin legte die Semmel auf den Teller. Gerade hatte sie abbeißen wollen.

»Gewerbeaufsicht?«, murmelte Maxi Herlander. »Was hat das zu bedeuten?«

»Auf jeden Fall nichts Gutes«, erwiderte Thorsten.

Indes hatte er kein schlechtes Gewissen. In seinem Betrieb wurde auf peinliche Sauberkeit geachtet. Nichts lag herum, alles wurde frisch verarbeitet.

Kontrollen der Lebensmittel­überwachung gehörten zum Alltag eines Gastronomen. Sie waren sozusagen Routine. Doch so kurz nach einer Neueröffnung hatte Thorsten sie auch noch nicht erlebt.

»Sie sagen, es liege eine Anzeige vor«, raunte Hanna, während sie nach unten gingen.

Thorsten runzelte die Stirn.

Eine Anzeige?

Das bedeutete nun wirklich nichts Gutes!

Dann war dies auch kein gewöhnlicher Kontrollbesuch.

Das Ganze roch massiv nach einer Menge Ärger.

»Sag’ Thomas bitte auch Bescheid«, bat er Hanna und wappnete sich innerlich, den beiden Männern entgegenzutreten.

»Hoffmann, Gewerbeaufsicht«, schnarrte der Mann mit der Aktenmappe.

»Grüß Gott, Herr Horn, mein Name ist Weißlach«, stellte der andere sich vor. »Lebensmittelkontrolle.«

Sie standen sich in der tiptop aufgeräumten Küche gegenüber.

»Ja, guten Morgen, meine Herren«, begrüßte Thorsten sie. »Wo­rum geht es denn eigentlich?«

»Uns liegt eine Anzeige vor, Herr Horn«, sagte Hoffmann, mit einem drohenden Unterton. »In Ihrem Lokal ist verdorbener Fisch serviert worden.«

»Wie bitte?«

Thorsten glaubte, nicht richtig zu hören.

In seinem Lokal?

»Hören Sie«, lachte er, »das muss eine Verwechslung sein. Wir verarbeiten nur fangfrische Ware!«

»Ihnen wird das Lachen schon vergeh’n«, erwiderte der Mann von der Gewerbeaufsicht. »Wir werden hier das Unterste nach oben kehren, und glauben S’ mir, wenn hier mit Lebensmitteln net sorgsam umgegangen ist, dann finden wir das heraus!«

»Also, hören Sie mal!«, brauste der junge Gastwirt auf. »Das ist eine bösartige Unterstellung. Ich protestiere ganz energisch …«

Maxi, die wortlos neben Thors­ten stand, nickte.

»Protestieren können S’, solang’ Sie wollen«, antwortete Helmut Hoffmann, mit einem hochmütigen Augenaufschlag, »das ändert nix daran, dass Ihr Lokal bis auf weiteres geschlossen bleibt!«

»Was heißt ›bis auf weiteres‹?« hauchte Maxi tonlos.

»Das heißt, dass eine amtliche Verfügung erlassen worden ist«, erklärte der Beamte, »die ich Ihnen hiermit überreiche.«

Er gab Thorsten das amtliche Schreiben.

»Der Herr Weißlach wird jetzt von sämtlichen Lebensmitteln, die sich hier befinden, Proben nehmen, die dann im Labor der Behörde für Lebensmittelkontrolle untersucht werden.«

»Aber warum schließen Sie das Lokal und nehmen uns gleich jegliche Existenzgrundlage?«

Maxi war den Tränen nahe und brachte die Worte nur schluchzend heraus. Thomas Bichler war inzwischen nach unten gekommen, gefolgt von Andrea Wengler, der Hanna ebenfalls Bescheid gesagt hatte. Gleich darauf kam auch noch Chris­tel Brunner hinzu. Jetzt umringten die vier Angestellten ihre zwei Chefs und waren genauso ratlos wie sie.

»Wir schließen, weil ein massiver Verstoß gegen das Lebensmittelgesetz vorliegt«, beantwortete der Mann Maxis Frage. »Der Anzeigenerstatter hat einen großen, körperlichen Schaden davongetragen. Er musste mehrere Tage im Krankenhaus verbringen und schwebte, seinen Angaben zufolge, zwischen Leben und Tod. Die Behörde sieht sich daher gezwungen, hart durchzugreifen.«

*

Während der Mann von der Lebensmittelkontrolle seine Arbeit machte und von allem und jedem, was er in den Kühlschränken und dem Kühlhaus fand, Proben nahm, die er in Reagenzgläser steckte, die er sorgfältig verschloss und beschriftete und in seinem Koffer verstaute, blieb Maxi, Thorsten und den Angestellten nichts anderes übrig, als ohnmächtig zuzuschauen.

»Das kann sich doch nur um einen Irrtum handeln«, sagte Maxi und schüttelte immer wieder ihren feuerroten Haarschopf.

»Um nix andres«, nickte Thomas. »Wir und verdorbene Lebensmittel – dass ich net lache!«

Wäre die Angelegenheit nicht so ernst, hätten sie tatsächlich allen Grund zur Heiterkeit, so abwegig war dieser Vorwurf. Sämtliche Rohstoffe stammten aus der Gegend, hatten also nur kurze Transportwege. Gemüse und Kartoffeln lieferten mehrere Bauern aus Waldeck. Das Fleisch kam von einem hiesigen Metzger, der noch selber das Vieh schlachtete, das er persönlich bei den Bauern aussuchte und kaufte. Der Fisch stammte aus dem Achsteinsee und wurde dreimal in der Woche frisch geliefert. Meistens noch vor sieben Uhr in der Frühe, wenn die Fischer von ihrem Fangzug zurückgekehrt waren.

Doch leider war das, was hier geschah, alles andere als eine lächerliche Angelegenheit, es war, wie Maxi schon ganz richtig gesagt hatte, Existenz bedrohend!

»Wie lang’ mag das wohl dauern, bis sich das alles aufgeklärt hat?«, fragte Andrea.

»Unter Umständen sehr lange«, antwortete Thorsten Horn düster. »Ich mag gar nicht daran denken, was für einen Schwanz das alles noch hinter sich herzieht! Von dem Imageverlust ganz zu schweigen. Wenn das erstmal publik wird, dann ist das ein nicht wieder gutzumachender Schaden!«

Er wusste, wie schnell ein guter Ruf dahin war, selbst wenn der Betroffene sich nichts vorzuwerfen hatte.

Maxi brach endgültig in Tränen aus. Bis jetzt hatte sie sich noch ganz tapfer gehalten, aber nun überstieg es ihre Kraft.

Andrea saß neben ihr und strich ihr tröstend über das Haar.

»Wir müssen die Leute anrufen, die reserviert haben«, bemerkte Hanna Burgländer. »Die steh’n hier sonst vor verschlossener Tür.«

Maxi hob den Kopf.

»Was … was soll ich denen denn sagen?«, schluchzte sie.

Hanna winkte ab.

»Lass nur, ich mach’ das schon. Irgendwas wird mir schon einfallen.«

Thorsten sah sie dankbar an. Er hatte inzwischen das Schreiben mit dem amtlichen Beschluss der Schließung seines Lokals gelesen.

In der vorletzten Woche wollte ein gewisser Richard Mahler im »Waldecker Hof« gebratenen Saibling gegessen haben. In der Nacht war er mit Magenschmerzen, Übelkeit und Erbrechen aufgewacht und hatte sich ins Krankenhaus in der Kreisstadt begeben, wo die Ärzte eine Lebensmittelvergiftung diagnostizierten. Mehrere Tage schwebte der Mann zwischen Leben und Tod und erstattete, gleich nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus, Anzeige wegen fahrlässiger Körperverletzung.

»Da kommt auch noch was auf mich zu«, sagte Thorsten. »Körperverletzung ist kein Kavaliersdelikt, womöglich klagt der Mann auch noch auf Schmerzensgeld, und wenn ich dann verurteilt und vorbestraft bin, dann wird mir das Land Bayern wegen Unzuverlässigkeit die Konzession entziehen!«

In einem Anfall von unbändiger Wut schlug er auf den Tisch.

»Hätte ich mich bloß nie darauf eingelassen!«, rief er verzweifelt.

Maxi schrie entsetzt auf und klammerte sich an ihn.

»Es ist meine Schuld«, weinte sie. »Ganz allein’ meine Schuld. Ich wollt’ doch unbedingt sesshaft werden und ein eignes Lokal haben. Warum nur? Warum?«

Sie hielten sich eng umschlungen.

Thomas und Andrea lasen das Schreiben durch.

»Stimmt«, sagte der Koch, »vor vierzehn Tagen hatten wir gebratenes Saiblingfilet, mit Tomatenvinaigrette auf Blattsalaten auf der Karte stehen. Erinnerst du dich?«

Die Hotelfachfrau nickte.

»Sehr gut sogar. Das Gericht war ein Renner an dem Abend. Es muss­te sich herumgesprochen haben, denn am nächsten Abend kamen Gäste und fragten danach.«

Da die Abendkarte des »Waldecker Hofes« aber jeden Tag wechselte und je nach dem Angebot, was eingekauft werden konnte, geschrieben wurde, waren Saiblinge nicht mehr zur Verfügung gewesen.

»Ist doch komisch«, meinte Andrea Wengler nachdenklich.

»Was meinst du?« fragte Thomas.

»Na, überleg’ doch mal. Wir haben an diesem Abend viele, ich weiß net mehr wie viele Portionen davon verkauft. Aber das lässt sich ja im Kassenjournal nachlesen. Ja und wenn man nur mal so zwanzig Leute nimmt, die das gegessen haben – sicher waren es viel mehr – dann ist es doch merkwürdig, dass von all denen nur einer erkrankt sein soll. Meint ihr net auch?«

Thorsten hob den Kopf und sah sie an.

»Du hast Recht«, nickte er. »Das ist mehr als nur merkwürdig …«

Maxi hatte sich die Tränen abgetrocknet.

»Aber was können wir denn jetzt machen?«, fragte sie in die Runde.

»Mir fällt nur einer ein, der uns vielleicht helfen könnt’«, antwortete Andrea.

»Und wer soll das sein?«

»Pfarrer Trenker. Oder kennt ihr sonst noch jemanden?«

*

Sebastian kam umgehend nach Waldeck. Die Männer von der Gewerbeaufsicht und der Lebensmittelkontrolle waren inzwischen wieder gegangen, ein Schild an der Eingangstür wies darauf hin, dass das Wirtshaus vorübergehend geschlossen war.

»Das ist ja eine schöne Bescherung!«, sagte der gute Hirte von St. Johann, nachdem er sich noch einmal alles hatte schildern lassen.

Thorsten Horn sah bleich aus. Nicht anders erging es Maxi Herlander. Die Angestellten saßen ziemlich ratlos am Tisch in der Personalküche. Alle schauten den Bergpfarrer erwartungsvoll an.

»Was könnten wir denn bloß unternehmen?«, fragte Maxi verzweifelt. »Unsre Existenz steht doch auf dem Spiel!«

»Ich fürcht’, erst einmal kann man da gar nix machen«, antwortete Sebastian. »Einzig – ich kenn’ den Herrn Burkhard vom Ordnungsamt sehr gut. Ich könnt’ ihn bitten, die Sache so schnell wie möglich zu bearbeiten, damit wir Klarheit bekommen, wann das Wirtshaus wieder aufgemacht werden kann.«

»Wenn das überhaupt jemals wieder der Fall sein wird«, sagte Thorsten bitter. »Vergessen Sie nicht, dass mir eine Anzeige droht.«

»Das ist das zweite, um was ich mich gleich kümmere«, erklärte Sebastian.

»Andrea hat mit ihrer Vermutung Recht. Es ist doch sehr merkwürdig, dass nur eine einzige Person an dem Essen erkrankt sein soll, wo doch so viele Portionen verkauft worden sind. Wisst ihr inzwischen die genaue Zahl?«

Maxi hatte die Tagesjournale der vergangenen zwei Wochen durchgesehen. Sie nickte.

»Es waren genau fünfundsechzig Portionen Saiblingsfilet«, sagte sie.

»Na bitte. Und vierundsechzig Gäste hatten keine Beschwerden?«

Pfarrer Trenker schüttelte den Kopf.

»Da stinkt doch gewaltig was zum Himmel«, setzte er hinzu. »Und das ist ganz gewiss net der Fisch!«

Die sechs Leute sahen ihn fragend an. Hoffnung glomm in ihren Augen auf.

»Haben S’ einen bestimmten Verdacht?«, fragte Andrea Wengler.

Der Geistliche machte eine Handbewegung.

»Sagen wir, einen vagen Verdacht«, erwiderte er. »Aber den möcht’ ich noch net äußern …«

Er verabschiedete sich vorerst und fuhr in die Kreisstadt, um dort beim Ordnungsamt vorzusprechen. Hans Burkhard, der Leiter, empfing ihn sofort.

»Hochwürden, welch eine Freude!«, rief er überschwänglich und breitete die Arme aus. »Wie geht’s Ihnen?«

»Dank’ schön, gut. Und selbst? Zuhaus’ alles in Ordnung?«

»In bester Ordnung«, versicherte Burkhard. »Dank’ Ihrer Hilfe …«

Vor gar nicht all zu langer Zeit hatte es in der Familie des Amtsleiters einen gehörigen Krach gegeben. Frauke, seine Frau, war überraschend ausgezogen. Es wäre langweilig geworden in ihrer Ehe, klagte sie. Hans würde sich nur um seinen Beruf und sein Hobby, er war in seiner Freizeit Trainer der Jugendmannschaft des örtlichen Fußballvereins, kümmern, und sie käme zu kurz. Nach einem heftigen Streit hatte Frauke ihre Sachen gepackt und war bei der Schwester untergeschlüpft, die in St. Johann wohnte.

In seiner Not wandte sich Hans Burkhard an Pfarrer Trenker, den er seinerzeit auf der Taufe seines Neffen Moritz kennen gelernt hatte. Das war inzwischen auch schon wieder fünf Jahre her, doch Sebas­tian erinnerte sich noch recht gut an den Patenonkel des kleinen Täuflings. Es dauerte seine Zeit, aber in etlichen Gesprächen, zu dritt und unter vier Augen, gelang es dem Bergpfarrer, das Ehepaar wieder zu versöhnen. Den Ausschlag gab das Versprechen, das Hans seiner Frau gab, sich in Zukunft mehr um sie zu kümmern.

»Das ist ja sehr schön«, freute sich Sebastian zu hören, dass seine damaligen Bemühungen nicht umsonst gewesen waren.

»Aber was führt Sie denn zu mir, Hochwürden?«, erkundigte sich der Amtsleiter. »Sie sind doch sicher net hergekommen, um sich nach dem Zustand meiner Ehe zu erkundigen.«

Der gute Hirte von St. Johann lächelte.

»Nein, obgleich es mich schon interessiert«, erwiderte er. »Nein, es geht um etwas andres, und ich hoff’, dass Sie mir da behilflich sein können …«

»Ja, das ist eine böse Sache«, nickte Hans Burkhard, nachdem er erfahren hatte, worum es sich handelte. »Ehrlich gesagt, der Herr Horn tut mir wirklich leid, aber ich hab’ da auch meine Vorschriften und musste umgehend handeln.«

»Selbstverständlich«, pflichtete Sebastian ihm bei. »Worum ich Sie bitten wollt’ ist, die Angelegenheit so schnell wie möglich zu bearbeiten. Jeder Tag, den die jungen Leute verlieren, kostet sie bares Geld.«

Der Leiter des Ordnungsamtes beugte sich vor.

»Verstehe«, sagte er. »Aber, Hochwürden, wie sehen Sie die Angelegenheit? Wäre dem Herrn Horn wirklich Fahrlässigkeit vorzuwerfen?«

»Nein, da muss ich entschieden widersprechen«, antwortete der Geistliche ohne Zögern. »Der Thorsten ist ein erstklassiger Koch! Ein Fachmann, der ganz in seinem Beruf aufgeht. Er würde niemals fahrlässig mit seinen Lebensmitteln umgehen und schon gar net mit dem Leben seiner Gäste. Das dürfen S’ mir glauben. Sicher kann man net ausschließen, dass mal etwas vergessen wird und verdirbt, aber dann würde es dem Herrn Horn niemals einfallen, so etwas noch zu verkaufen!«

»Wenn Sie das sagen, dann steht das außer Zweifel«, erklärte Hans Burkhard. »Wissen Sie, ich hab’ mir natürlich auch so meine Gedanken gemacht. Man hört ja viel über die Betriebe, die wir überwachen, und Restaurants und Wirtshäuser gehören nun mal dazu. Der ›Waldecker Hof‹ hat ja sofort eingeschlagen wie eine Bombe. Ich frage mich, seit ich die Anzeige auf dem Tisch habe, was wohl dahinterstecken mag …«

Sebastian sah den Mann aufmerksam an. Hans Burkhard war gewiss eine Autorität in seinem Beruf. Aber bei aller Bürokratie, der er nun einmal unterworfen war, machte er doch einen sympathischen Eindruck und zeigte auch eine menschliche Seite.

»Wie meinen Sie das?«, fragte der Geistliche.

»Nun, es ist doch merkwürdig, dass in so einem Lokal, in dem Tag für Tag wer weiß wie viele Essen verkauft werden, es ein einziger Gast sein soll, der ein verdorbenes Gericht bekommen haben soll …«

»Sie ziehen das in Zweifel?«

Burkhard breitete die Hände aus und ließ sie wieder fallen.

»Mir steht es net zu, ein Urteil zu fällen. Meine Arbeit ist die Untersuchung des Sachverhalts. Privat jedoch darf ich mir gewisse Fragen stellen«, sagte er.

Sebastian lächelte.

»Ich bin froh, dass Sie das sagen. Uns sind da nämlich ähnliche Überlegungen gekommen. Über sechzig Portionen Fisch sind an jenem Abend verzehrt worden. Genau gesagt, waren es fünfundsechzig. Und eine einzige davon soll verdorben gewesen sein.«

Hans Burkhard stand auf.

»Hochwürden, ich versprech’ Ihnen, dass die Angelegenheit bei uns hier so schnell wie möglich bearbeitet wird«, versprach er. »Mehr können wir leider net tun.«

Der Bergpfarrer reichte ihm die Hand.

»Damit ist uns schon sehr geholfen«, bedankte er sich und ging.

Sein nächster Weg würde ihn ins Krankenhaus führen …

*

Während Resl fortan die Welt durch eine rosa Brille sah, versank ihr Bruder in einem seelischen Tief. Den ganzen schönen Sonntag lief er wie ein geprügelter Hund umher, und neidvoll sah er zu, wie seine Schwester am Nachmittag nach Waldeck fuhr, um ihren Liebsten zu treffen.

Wolfgang hatte sich mehr von dem Tanzabend erhofft. Aber mehr, als dass er Andrea gesehen und

gesprochen, ja, sogar mit ihr getanzt hatte, war nicht geschehen. Dabei meinte er immer noch das Knistern zu spüren, wie er es auf dem Saal des »Löwen« empfunden hatte.

Am frühen Montagmorgen hatte Resl dann eine überraschende Nachricht für ihn. Gestern war sie so spät heimgekommen, dass sie sich nicht mehr gesehen hatten.

»Wir kriegen heut’ Nachmittag Besuch«, sagte sie, als die Geschwister den Stall ausmisteten.

Wolfgang schaufelte eine Ladung Mist auf den Berg, der schon in der Karre lag.

»So? Wen denn?«

Resl lächelte.

»Thomas kommt. Ich muss nachher gleich einen Kuchen backen. O Gott, hoffentlich schmeckt er ihm!«

»Ich denk’, er ist Koch und net Bäcker«, gab Wolfgang zurück.

»Das ist doch egal«, meinte sie. »Andrea hat meinen Zitronenkuchen jedenfalls gemocht. Vielleicht ist’s bei Thomas genauso.«

Ihr Bruder runzelte die Stirn.

»Andrea? Was hat die denn damit zu tun? Ich denk, du backst für deinen Thomas?«

Resl stach die Mistgabel in den Haufen und schmunzelte in sich hinein. Sie hatte extra so umständlich erzählt, um endlich auf den Punkt zu kommen.

»Na, Mensch, Andrea kommt doch mit!«, sagte sie triumphierend.

Ihr Bruder machte große Augen.

»Sie kommt mit? Warum hast denn das net gleich gesagt?«

Die Begeisterung in seiner Stimme war unüberhörbar.

»Weil du dann gar net mehr zum Arbeiten fähig wärst«, entgegnete sie lachend. »Ich kenn’ dich doch.«

Der Bauernsohn holte tief Luft.

»Hast’ gestern mit ihr gesprochen?«, wollte er wissen. »Hat sie was gesagt?«

»Was soll sie denn gesagt haben?«

»Jetzt tu’ net so. Irgendwas habt ihr doch geredet.«

»Ich soll dich grüßen«, sagte Resl schließlich, um ihren Bruder zu erlösen. »Und sie freut sich auf heut’ Nachmittag. Allerdings können s’ nur bis um fünf bleiben, weil sie dann wieder Dienst haben.«

»Blöder Beruf!«, kommentierte Wolfgang.

»Du, sieh’ dich vor! Nächstes Jahr arbeite ich auch im ›Waldecker Hof‹.«

»Warten wir’s ab«, meinte er und packte die Schubkarre, um sie nach draußen zu bringen und ihren Inhalt auf den Mistberg hinter dem Stall zu kippen.

Als Andrea Wengler und Thomas Bichler dann am Nachmittag auf den Hof fuhren, wusste dort noch niemand etwas von den dramatischen Ereignissen in Waldeck.

»Aber, das ist doch völlig unmöglich!«, sagte Resl, nachdem sie die Neuigkeit erfahren hatten.

Auch ihr Bruder schaute ungläubig.

»Und das Wirtshaus ist tatsächlich geschlossen?«, fragte er.

Andrea nickte.

»Von Amts wegen.«

»Und wir wissen alle net, wie’s weitergeh’n soll«, bemerkte Thomas düster.

Der Koch und die Bauerntochter hatten sich liebevoll mit einem Kuss begrüßt, während Wolfgang und Andrea daneben standen und sich verlegen angeschaut hatten. Jetzt saßen sie in der gemütlichen Gartenecke. Der Tisch war gedeckt, und in der Mitte prangte der Zitronenkuchen. Marie Lechner kam mit der Kaffeekanne, und dann gesellte sich auch der Hochleitnerbauer dazu.

»Du hast den Kuchen gebacken?«, fragte Thomas, nach dem ersten Bissen.

Resl nickte und sah ihn erwartungsvoll an.

»Schmeckt er dir?«

»Und wie! Dafür bekommst’ zehn Punkte«, lächelte der Koch. »Nein, wirklich – Respekt! Schmeckt wie von meiner Mama.«

»Ich hab’ doch schon von dem Kuchen erzählt, den Resl letzten Mittwoch zum Baden mitgebracht hatte«, sagte Andrea.

»Ja, stimmt«, erinnerte sich Thomas.

»Zum Schwimmen werden wir in den nächsten Wochen wohl viel Zeit haben …«

Der letzte Satz klang sehr, sehr düster.

»Mensch, ich kann’s immer noch net glauben!« Wolfgang schüttelte den Kopf.

Andrea erzählte von ihren Überlegungen und dem Verdacht, irgendwas könne da nicht mit rechten Dingen zugegangen sein.

»Thorsten hat erzählt, dass es schon mal Schwierigkeiten mit einer Behörde gab«, sagte sie. »Damals, als das Haus umgebaut wurde.«

»Genau«, nickte Thomas Bichler. »Pfarrer Trenker hatte dann herausgefunden, dass der Brenner, der Betreiber vom ›Hirschen‹, da gemauschelt hatte. Mit seinem Schwager, der der Leiter vom Amt für Denkmalspflege ist. Würd’ mich net wundern, wenn da jetzt eine ähnliche Schweinerei dahintersteckte …«

»Dann können wir nur beten, dass Hochwürden wieder genauso fündig wird«, sagte Andrea hoffnungsvoll.

*

Nach dem Kaffeetrinken verschwanden Resl und Thomas. Hand in Hand spazierten sie zum nahen Bergwald. Wolfgang und Andrea blieben am Tisch sitzen. Erst als Maria abräumte, sprang die junge Frau auf und wollte helfen.

»Ach was«, winkte die Magd ab. »Bleib’ ruhig sitzen. Schließlich bist’ ja Gast hier.«

Vinzenz Hochleitner verabschiedete sich auch schon bald, so dass der Bauernsohn und Andrea alleine zurückblieben.

»Habt ihr jetzt viel zu tun auf dem Hof?«, erkundigte sie sich.

Wolfgang lächelte.

»Schaut’s etwa so aus?«

Er richtete sich auf.

»Nein, im Ernst, im Moment

gibt’s weniger zu tun«, erklärte er dann.

»Das Heu ist gemäht und eingebracht, und das Getreide braucht noch ein paar Wochen, bis es reif ist. Solang’ geht’s hier eher gemütlich zu. Vater sucht zwar immer Arbeit, im Moment bessert er grad was an der Scheune aus, aber das ist mehr zum Zeitvertreib. Na ja, wenn die Ernte dann vorüber ist, muss der Boden für die Wintersaat vorbereitet werden. Und so geht’s dann immer weiter. Ein ewiger Kreislauf.«

»Wie lang’ gehört euch der Hof schon?«, fragte Andrea Wengler interessiert.

Wolfgang freute sich über dieses Interesse.

»Ach du liebe Zeit«, antwortete er, »da müsst’ ich erst mal nachschauen, wenn du’s so genau wissen willst. Jedenfalls hat der Urgroßvater meines Vaters den Hof seinerzeit gekauft. Du siehst, es sind schon mehrere Generationen.«

»Wirklich beeindruckend«, mein­­­te sie.

Wolfgang sah sie an. Er betrachtete das fein gezeichnete Gesicht, blickte in ihre Augen und fühlte einen dicken Kloß im Hals. Eine Handbreit nur saß sie von ihm entfernt und schien doch unerreichbar für ihn.

Sie erwiderte seinen Blick, und er meinte, so etwas wie Zuneigung darin zu sehen. Gerade wollte er allen Mut zusammennehmen und nach ihrer Hand greifen, als lautes Motorengeräusch die Idylle jäh zerriss.

»Mein Gott, wer ist denn das?«, rief Wolfgang und sprang auf.

Das Dröhnen eines Motorrades wurde immer lauter. Der Bauernsohn ging um die Hausecke und sah vor der Scheune einen Mann in schwarzer Ledermontur von einer schweren Maschine steigen. Er trug einen dunklen Helm, dessen Visier heruntergeklappt war, so dass man nicht sehen konnte, wer sich darunter verbarg.

»Was bist du denn für ein komischer Vogel?«, sagte Wolfgang Hochleitner verärgert. »Bist ganz und gar narrisch geworden, so einen Höllenlärm zu veranstalten?«

Inzwischen schaute der Bauer verdutzt um die Scheunenecke, und aus dem Küchenfenster blickte neugierig die Magd.

Der Motorradfahrer hatte seine Maschine aufgebockt und stakste nun breitbeinig auf den Bauernsohn zu. Drei Meter vor ihm blieb er stehen und schob das Visier hoch.

Wolfgang glaubte, nicht richtig zu sehen, als ihm Tobias Raitmayr entgegengrinste.

»Du bekloppter Hirsch, du damischer!«, lachte er. »Wo kommst denn so plötzlich her?«

Tobias nahm den Helm und legte ihn auf die Maschine.

»Direkt von Aschau«, antwortete er. »Ich wollt’ doch schon immer mal herkommen und schau’n, was mein alter Spezi aus der Bundeswehrzeit so treibt. Na, und heut’ hat’s grad gepasst. Also hab’ ich mich auf mein Zweiradl geschwungen und bin hergefahren.«

Das »Motorradl« war eine japanische Maschine, die ganz sicher nicht billig gewesen war. Während sie sich umarmten und auf die Schultern klopften, versuchte Wolfgang sich zu erinnern, was Tobias eigentlich von Beruf war.

Kfz-Schlosser, meinte er zu wissen, aber ob man sich von dem Gehalt so ein Motorrad leisten konnte?

»Komm doch mit nach hinten«, sagte der Bauernsohn. »Es ist grad Besuch da.«

»Ich will aber auf keinen Fall stören.«

»Unsinn, du störst net. Magst was trinken? Kaffee oder was Kaltes?«

Tobias glättete sich noch einmal das Haar. Er war ein gut aussehender Bursche. Wolfgang konnte verstehen, dass er Schlag bei den Frauen hatte. Indes hatte er nie ganz verstanden, wieso der frühere Kamerad sich mit immer wieder neuen Madeln abgab, während er doch offenbar in festen Händen war …

Siedend heiß fiel ihm plötzlich Andrea Wengler ein, und sein Verdacht, Tobias könne jener Mann sein, der seinen Namen benutzt hatte.

»Vielleicht sollten wir besser ins Haus geh’n«, sagte er rasch und wollte noch im letzten Moment wieder abbiegen.

Doch da war es schon zu spät, denn gerade kam Andrea um die Ecke. Sie sah Tobias Raitmayr und blieb abrupt stehen, als wäre sie gegen eine unsichtbare Wand geprallt.

*

»Du?«, sagte er verdutzt. »Was machst du denn hier?«

Natürlich hatte Tobias sie sofort wiedererkannt.

»Ja, sag’ mal, Andrea, das ist aber ein Zufall.«

Tobias trat zu ihr und umarmte sie, bevor Andrea überhaupt reagieren konnte. Sie wurde regelrecht überrumpelt.

»Mensch, das gibt’s doch gar net«, lachte er und zeigte keine Spur von Verlegenheit. »Dass wir uns ausgerechnet hier wiedersehen, bei meinem alten Kumpel vom Bund!«

Wolfgang wusste gar nicht, was er sagen sollte. Genauso überrascht wie Andrea, starrte er die beiden an.

»Äh, ja … ich hol’ dann mal was zu trinken«, stotterte er und drehte sich um.

»Wie geht’s dir?«, fragte Tobias.

Er hatte immer noch seinen Arm um Andrea gelegt und presste sie an sich.

Erst langsam löste sich ihr Erstaunen auf, und sie fand ihre Sprache wieder.

»Ich … also, mir geht’s gut …«

»Und sonst? Was machst du hier?«

»Ich hab’ die Resl besucht. Die Schwester vom Wolfgang.«

Da war er endlich, der Name, der ihre Starre löste.

»Wie kommst du eigentlich hierher?«, wollte sie wissen. »Weißt’ eigentlich, dass ich dich die ganze Zeit suche, seit … seit damals?«

Tobias grinste. Es war eine Mischung aus Schuldbewusstsein und Überheblichkeit. Er wusste, dass dieses Grinsen noch nie seine Wirkung verfehlt hatte.

»Du hast mich gesucht, Spatzl? Aber warum denn?«

»Warum?«

Andrea war fassungslos.

»Weil ich dich liebe«, rief sie erregt. »Weil ich nie aufgehört hab’, dich zu lieben!«

Der Blick, mit dem er sie ansah, versprach alles – und doch gar nichts. Es war sein Gewinnerblick, der sagte:

Du entkommst mir net! Du gehörst mir!

Und tatsächlich schmolz Andrea Wengler dahin wie Wachs in der Sonne.

»Du hast mir doch gesagt, dass du mich liebst«, flüsterte sie, während ihr Tränen über das Gesicht rannen.

Tränen des Kummers, aber auch der Freude über das unerwartete Wiedersehen.

All ihre Wünsche und Träume, ihre Sehnsüchte hatten sich endlich erfüllt!

Tobias zog sie wieder an sich. Ganz nahe waren ihre Gesichter jetzt beieinander.

»Du, ich mag dich immer noch«, raunte er mit derselben verführerischen Stimme, die ihr schon früher den Verstand geraubt hatte. »Und wenn du willst, dann kann’s wieder so schön mit uns werden, wie’s früher war.«

»Warum hast’ dich denn so still und heimlich davongemacht?«, wollte sie wissen. »Warum hast’ denn nie was von dir hören lassen?«

»Ach, Spatzl, du weißt doch, wie das so ist«, lächelte er gewinnend. »Aus den Augen, aus dem Sinn. Nach der Bundeswehrzeit hatte ich tausend Dinge zu tun, um erstmal wieder in meinen zivilen Beruf zurückkehren zu können. Du, ich bereu’s ja auch. Kannst’ mir noch einmal verzeih’n?«

Ohne ihre Antwort abzuwarten, schlang er seine Arme um sie und küsste sie.

Wild und leidenschaftlich, so wie früher …

Ein Räuspern riss sie auseinander. Wolfgang Hochleitner stand an der Hausecke und starrte herüber.

»Hier ist Wasser«, sagte er und hob die Hand mit der Flasche.

»Ah, prima, danke, Kumpel.«

Tobias nahm die Flasche. Er ignorierte das Glas und setzte sie gleich an.

Wolfgang sah Andrea fragend an, doch sie wich seinem Blick aus. Nur zu gut erinnerte sie den Moment, bevor das Motorengeräusch die Stimmung zwischen ihnen zerstört hatte.

Es hätte nicht mehr viel gefehlt, und sie hätten sich in den Armen gelegen und geküsst.

Doch jetzt war alles anders. Da stand der Mann ihrer Träume, und nichts und niemand würde sie wieder trennen können.

»Hast’ du mal einen Moment?«, fragte Wolfgang Tobias und ging, ohne eine Antwort abzuwarten.

Tatsächlich kam der andere ihm nach.

»Was ist denn?«

Erst als sie außer Hörweite waren, blieb der Bauernsohn stehen.

»Weiß du eigentlich, dass die Andrea dich seit dem letzten Herbst sucht?«, fragte er verärgert. »Wie zum Teufel kommst du dazu, dich für mich auszugeben?«

Tobias grinste breit.

»Ah, deshalb ist sie hier. Sie dachte, du wärest ich.«

Er kratzte sich am Ohr.

»Mensch, jetzt reg’ dich doch net auf«, fuhr er fort. »Du kennst das doch. Reicht man den Madeln den kleinen Finger, wollen s’ gleich die ganze Hand.«

Wolfgang sah ihn kopfschüttelnd an.

»Was bist’ bloß für ein gewissenloser Hund!«, schrie er den anderen an. »Mach’ bloß, dass du vom Hof kommst, sonst prügle ich dich windelweich!«

Tobias hob abwehrend die Hände.

»Hey, hey, ist ja schon gut«, sagte er beschwichtigend. »Ich geh’ ja schon. Okay? Ich verschwind’, und du siehst mich nimmer wieder.«

Er drehte sich um und stapfte davon. Noch ehe er sein Motorrad erreichte, lief Andrea ihm hinterher. Sie hatte argwöhnisch nachgeschaut, was die beiden Männer zu bereden hatten. Auch wenn sie nichts verstehen konnte, so hatte sie doch aus den Gesten gesehen, dass sie stritten. Als »ihr Wolfgang« jetzt zu seiner Maschine ging, rannte sie zu ihm.

»Was ist? Willst du schon wieder fort?«, fragte sie atemlos.

»Tja, Spatzl, mein alter Kumpel hat mir grad die Freundschaft aufgekündigt«, antwortete er.

Sie warf dem Bauernsohn einen bösen Blick zu.

»Dann komme ich mit dir«, erklärte sie mit Bestimmtheit.

Tobias grinste wieder breit.

»Okay, Baby«, sagte er, »dann schwing dich mal in den Sattel.«

Er reichte ihr den Reservehelm, der hinten auf dem Gepäckträger festgemacht war, und saß auf. Andrea kletterte auf den Sozius. Ohne Wolfgang Hochleitner weiter zu beachten, fuhren sie vom Hof.

*

Im »Waldecker Hof« warteten Maxi und Thorsten ungeduldig auf Nachricht von Pfarrer Trenker. Es war gegen Abend, als der Geistliche sich meldete.

»Ich bin in zehn Minuten bei euch«, sagte er am Telefon und legte auf, noch bevor Maxi, die das Gespräch entgegengenommen hatte, eine Frage stellen konnte.

Sie saßen wieder alle zusammen. Vor einer halben Stunde war Thomas Bichler zurückgekommen, während Andrea Wengler schon vorher heimgekehrt war. Erwartungsvoll sahen sie dem guten Hirten von St. Johann entgegen. Sebastian lächelte, als er die Runde um den Tisch im Restaurant sitzen sah.

»Ich hoffe, Sie bringen gute Nachrichten«, sagte Thorsten Horn gespannt.

Der Geistliche setzte sich erst einmal. Maxi brachte ihm eine Tasse Kaffee, die er dankend entgegennahm.

»Es war ein interessanter Tag ...«, begann der Bergpfarrer zu erzählen.

Nach dem Besuch auf dem Ordnungsamt und dem Gespräch mit dem dortigen Leiter, war Sebastian zum Krankenhaus gefahren und hatte den ärztlichen Direktor um eine Unterredung gebeten.

Professor Dr. Klinger kannte den Geistlichen von unzähligen Besuchen, die Sebastian schon im Krankenhaus gemacht hatte, besonders schätzte der Mediziner die seelsorgerische Tätigkeit des guten Hirten von St. Johann.

Nicht wenigen Menschen hatte er in ihren letzten Minuten beigestanden und den letzten Weg der Sterbenden begleitet, und nicht selten waren die Todgeweihten mit einem friedlichen Lächeln sanft entschlafen.

»Hochwürden, schön, Sie einmal aus einem anderen Anlass zu sehen«, hatte der Professor ihn begrüßt. »Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches?«

»Es ist eine etwas diffizile Angelegenheit, die mich zu Ihnen führt, Herr Professor«, antwortete Sebas­tian. »Es handelt sich genau gesagt um einen Patienten, der vor kurzem hier behandelt worden ist.«

Der Arzt zog die Stirn kraus.

»Sie wissen, dass ich Ihnen da keine Auskunft geben darf«, sagte er. »Wie Sie dem Beichtgeheimnis, so unterliege auch ich der Schweigepflicht.«

»Ich weiß«, nickte der Bergpfarrer. »Aber ich möcht’ Sie dennoch bitten, mich anzuhören. Es geht zwar nicht um das Leben zweier Menschen, aber um deren nackte Existenz, von der auch noch andre abhängig sind. Hören S’ mich an und entscheiden S’ dann, ob Sie in diesem Fall eine Ausnahme machen können.«

»Eine Ausnahme von der Regel ist immer möglich«, sagte der Krankenhauschef, nachdem er zugehört hatte, was Sebastian ihm zu sagen hatte.

»Besonders dann, wenn sie dazu beiträgt, ein Verbrechen oder Unrecht wieder gutzumachen. Warten S’ bitte einen Moment, ich schau’ mir mal eben die Krankenunterlagen an. Mahler, sagten Sie, war der Name?«

»Ja, Richard Mahler«, nickte Pfarrer Trenker.

Professor Klinger betätigte ein paar Tasten auf dem Computer vor ihm und hatte Sekunden später den Vorgang auf dem Bildschirm.

»Ah ja«, sagte er und richtete den Blick wieder auf den Besucher. »Lebensmittelvergiftung?«

Er schüttelte den Kopf.

»Keine Spur«, fuhr er dann fort. »Der Mann hatte sich lediglich übergegessen, wenn ich das mal so salopp formulieren darf. Er kam mit Übelkeit und Erbrechen zu uns und klagte über Magenschmerzen. Die Ultraschalluntersuchung und die Laboruntersuchungen ergaben allerdings keinen Hinweis auf eine Lebensmittelvergiftung, wie der Herr Mahler vermutete. Er konnte das Krankenhaus gleich am nächs­ten Tag wieder verlassen.«

Der Geistliche hatte sich überrascht aufgerichtet.

»Am nächsten Tag konnt’ er schon wieder heim? Beim Ordnungsamt hat er angegeben, auf Leben und Tod im Krankenhaus gelegen zu haben.«

Der Professor brach in Gelächter aus.

»Unsinn! Der Mann war keinen Augenblick in Lebensgefahr!«, erklärte er.

Im Grunde hatte Sebastian so etwas schon vermutet, indes fehlte ihm der Beweis.

»Sagen Sie, Herr Professor«, bat er, »wie kann es denn zu diesen Symptomen kommen, mit denen der Herr Mahler ins Krankenhaus kam?«

Der Klinikchef rückte seine Brille zurecht.

»Nun, wie ich schon sagte, der Mann hat einfach zuviel gegessen. Ganz sicher war es ja nicht nur

dieses eine Fischgericht. Hinzu kommt, dass ja gewiss auch Alkohol konsumiert wurde, Wein, Bier oder was auch immer.«

»Verstehe«, nickte Sebastian.

Er bedankte und verabschiedete sich, nachdem Professor Klinger ihm ein Gutachten ausgestellt hatte, dass der Herr Richard Mahler in den vergangenen Tagen nie eine Lebensmittelvergiftung gehabt hatte.

Der Geistliche musste nicht lange überlegen, um seinen nächsten Schritt zu machen. Er fuhr zu der angegebenen Adresse, unter der der angeblich so kranke Mann wohnte. Es war ein hübsches Einfamilienhaus, in einem netten Wohnviertel in der Stadt. Gepflegte Gärten, schmucke Häuser und saubere Straßen kennzeichneten die Bewohner.

Hier lebte und repräsentierte man.

Der Bergpfarrer ging über die peinlich sauberen Gehwegplatten zur Haustür und klingelte. Eine Frau mittleren Alters öffnete und sah ihn fragend an.

»Grüß Gott, Pfarrer Trenker aus St. Johann«, stellte er sich vor. »Frau Mahler?«

»Ja. Was gibt’s denn?«

Es war um die Mittagszeit. Entweder aßen die Leute gerade oder sie hatten sich schon für ein Viertelstündchen hingelegt.

»Entschuldigen S’ bitte die Störung. Ich hätt’ gern’ Ihren Mann gesprochen, wenn das möglich ist«, erklärte Sebastian den Grund seines Besuches.

»Freilich«, nickte die Frau. »Kommen S’ nur herein.«

Sie führte den Geistlichen in

ein aufgeräumtes Wohnzimmer. Schrankwand, Polstergarnitur, das Fernsehgerät in der Ecke am Fens­ter – alles solide und sehr ordentlich.

»Warten S’ bitte einen Moment«, bat sie. »Mein Mann hat sich ein bissel hingelegt. Ich hol’ ihn gleich.«

»Wie geht’s ihm denn?«, fragte Sebastian, bevor die Frau hinausgehen konnte. »Hat er die schwere Lebensmittelvergiftung denn gut überstanden.«

Frau Mahler sah ihn ungläubig an. »Lebensmittelvergiftung?«, rief sie. »Richard?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Das muss ein Irrtum sein«, erwiderte sie dann, »Richard hatte wohl nur das Falsche gegessen. Ich hab’ ja gleich gesagt, dass es auch eine Magen-Darmgrippe sein könnt’. Aber Ludwig hat gemeint, er solle besser ins Krankenhaus geh’n. Sicher ist sicher. Aber schon am nächsten Tag konnt’ Richard ja schon wieder heim.«

»Da hat der Ludwig aber schon Recht, wenn er sagt, sicher ist sicher«, schmunzelte Sebastian, dem ganz plötzlich ein Gedanken durch den Kopf schoss. »Sagen Sie, Frau Mahler, dieser Ludwig, das ist net zufällig Ludwig Thurau, der Leiter vom Amt für Denkmalschutz?«

»Doch, doch«, nickte sie, und ein breites Lachen überzog ihr Gesicht. »Kennen Sie ihn etwa? Da sieht man wieder, wie klein die Welt ist.«

»Was ist denn hier los?«, war plötzlich eine Stimme von der Tür her zu vernehmen.

Richard Mahler war offenbar aufgewacht und hatte die Stimmen in der Stube gehört. Er trat ein und sah den Geistlichen fragend an.

»Ich grüße Sie, Herr Mahler«, sagte Sebastian freundlich. »Eigentlich ist es gar net mehr nötig, dass ich mit Ihnen red’, Ihre Frau hat mir schon alles gesagt, was ich wissen wollte.«

Der Hausherr war nicht sehr groß und etwas rundlich. Offenbar aß er sehr gerne sehr gut … Er trug eine graue Hose und ein dunkelblaues Hemd. Das Haar war vom Schlafen noch ganz wirr. Das Gesicht, das er machte, war nicht gerade freundlich.

»So? Hat sie das?«, fragte er. »Und was genau hat sie gesagt?«

»Dass Sie sich schuldig gemacht haben. Ich weiß net genau, welche Paragraphen es sind, aber gewiss steht auf falsche Anschuldigung, Vortäuschung einer Straftat und die anderen Vergehen mindestens eine Geldstrafe. Oder wollen Sie leugnen, dass Sie im Auftrag von Herrn Ludwig Thurau ins Krankenhaus gegangen sind und dort behauptet haben, dass man Ihnen im ›Waldecker Hof‹ verdorbenen Fisch vorgesetzt habe?«

Er hatte ganz ruhig und im freundlichen Tonfall gesprochen. Richard Mahler klappte indes die Kinnlade herunter, und er starrte den Bergpfarrer an, als wäre der ein Racheengel, der ihn gleich mit seinem Feuerschwert vernichten wollte.

*

»Na ja, dann ging eigentlich alles ganz schnell«, erzählte Sebastian Trenker weiter.

Richard Mahler hatte schnell eingestanden, dass er seinem alten Bekannten, Ludwig Thurau, einen Gefallen hatte tun wollen. Dessen Schwager nämlich wiederum hatte geklagt, dass die Umsätze im »Hirschen« drastisch zurückgegangen wären, was nur an dem vermaledeiten neuen Besitzer des »Waldecker Hofes« liege.

»Nachdem ich ihn noch einmal auf die Konsequenzen hingewiesen habe, die die Angelegenheit für ihn haben könnt’, war der Herr Mahler sofort bereit, mit mir zum Ordnungsamt zu fahren und dort den wahren Sachverhalt zu Protokoll zu geben.«

Sebastian überreichte Thorsten ein Schreiben.

»Das ist der offizielle Bescheid, dass die Schließungsanordnung aufgehoben ist. Du darfst das Wirtshaus ab sofort wieder öffnen.«

Der junge Koch konnte sein Glück kaum fassen. Maxi sprang auf und umarmte den Geistlichen.

»Tausend Dank«, sagte sie unter Tränen. »Das werden wir Ihnen nie vergessen!«

Die Angestellten waren nicht weniger erleichtert. Bis vor wenigen Minuten hatte ihnen noch eine ungewisse Zukunft gedroht.

Sebastian freute sich mit ihnen. Es fiel ihm aber auf, dass Andrea Wengler nicht ganz so euphorisch schien. Mit verklärtem Blick saß sie am Tisch und schien zu träumen.

Der Geistliche setzte sich neben sie.

»Na, denkst’ immer noch an ihn?«, fragte er.

Ihre Miene erhellte sich, und sie lächelte.

»Ja, Hochwürden«, nickte Andrea.

»Sie wissen’s ja noch gar net. Das Unglaubliche ist eingetreten – ich hab’ mit Wolfgang gesprochen!«

Sebastian runzelte die Stirn.

»Wolfgang Hochleitner?«

»Ja, und stellen S’ sich vor, er liebt mich!«

Wolfgang Hochleitner liebte sie also – aber welcher? Der Richtige, oder der Falsche? Von wem genau sprach das Madel eigentlich?

»Also, als ich heut’ Nachmittag auf dem Hof bei der Resl war, da kam er plötzlich angefahren, auf seinem Motorrad. Ich hab’s erst gar net glauben können, aber er war’s.«

Allmählich dämmerte es dem Bergpfarrer.

Aber gab es tatsächlich zwei Männer gleichen Namens, die auch noch in derselben Bundeswehreinheit gedient hatten?

»Du meinst aber net Resls Bruder?«, hakte Sebastian nach.

»Der?«, schüttelte Andrea den Kopf. »Nein, der ist ja sehr nett, aber er ist net ›mein‹ Wolfgang.«

Für einen Moment schoss es ihr durch den Kopf, dass sie mit dem Bruder ihrer Freundin doch beinahe etwas begonnen hätte. Andrea fand den Bauernsohn mehr als nur nett. Doch nachdem ihr Traummann so plötzlich und unerwartet aufgetaucht war, hatte der andere keine Chance mehr bei ihr.

Sebastian Trenker war neugierig geworden. Gerne hätte er mehr über den Burschen erfahren, dem es offensichtlich auch nach so langer Zeit noch gelang, Andrea Wengler in seinen Bann zu ziehen. Aber aus dem Madel war sicher kein gescheites Wort herauszubekommen. Andrea schwebte auf rosaroten Wolken und wollte an nichts anderes denken, als daran, dass sie ihre große Liebe endlich wiedergefunden hatte.

»Ich muss dann mal los«, verabschiedete sich der gute Hirte von St. Johann.

Indes fuhr er nicht nach Hause, sondern auf direktem Weg zum Hochleitnerhof. Dort traf er zunächst nur die Magd an.

»Grüß dich, Maria«, nickte er ihr zu und setzte sich zu ihr auf die Bank vor dem Haus. »Ist der Wolfgang auch daheim?«

Die Magd nickte, und ihr Blick wurde ernst und besorgt.

»Seit Stunden hockt er drüben in der Scheune«, erzählte sie, »und kommt net wieder raus. Ich weiß net, was los ist. Vorher war alles noch ganz normal, aber als dann dieser Bursche auf seinem Motorrad ankam, da ging plötzlich alles durcheinander.«

Maria Lechner berichtete von dem Streit zwischen dem Bauernsohn und dem Motorradfahrer, wie Wolfgang den anderen vom Hof gejagt habe, und dass Andrea Wengler mitgefahren sei.

»Dabei hab’ ich gedacht, zwischen Wolfgang und dem Madel bahnt sich was an …«

Betrübt wischte sie sich über das Gesicht und erzählte weiter, dass Resl und der Thomas Bichler auch ganz bestürzt gewesen wären, als sie von ihrem Spaziergang zurückgekehrt waren und hörten, was sich auf dem Hof abgespielt hatte.

»Wo ist Resl jetzt?«

»Beim Wolfgang.«

Sebastian nickte und erhob sich. Er ging zur Scheune hinüber und trat durch die halboffene Tür.

Drinnen war es schummrig, aber er sah die Geschwister auf einem Stapel Heuballen sitzen. Wolfgang machte ein trauriges Gesicht, während Resl auf ihn einredete.

»Na, was ist denn das nun für eine Geschichte?«, fragte der Bergpfarrer und trat näher. »Gibt’s jetzt doch zwei Burschen, die Wolfgang Hochleitner heißen?«

Der Bauernsohn fuhr hoch.

»Von wegen! Dieser Haderlump! Wenn ich den in die Finger krieg’!«, schimpfte er.

Sebastian drückte ihn auf das Stroh zurück.

»Beruhig’ dich. Es hat keinen Sinn, zu wüten und zu toben«, sagte er. »Damit löst man keine Probleme.«

Wolfgangs Hände, die er zu Fäus­ten geballt hatte, lösten sich wieder. Er holte tief Luft und stieß sie wieder aus.

»Tobias heißt der Kerl«, sagte er, nachdem er sich tatsächlich etwas beruhigt hatte. »Tobias Raitmayr.«

»Dann kennst du ihn also?«

»Ja, von der Bundeswehr her. Es ist genauso, wie ich’s mir gedacht hab’ – der Windhund hat sich für mich ausgegeben.«

Der Geistliche nickte. Die ganze Zeit, seit er über die Geschichte nachdachte, hatte er denselben Gedanken gehabt.

»Und wieso kam er heut’ hierher?«

»Was weiß ich?« Wolfgang zuckte die Schultern. »Zufall! Wahrscheinlich hat er Langeweile gehabt und ist durch die Gegend gefahren. Dann hat er sich wohl an mich erinnert und ist hergekommen. Dass die Andrea hier ist, konnte er ja net ahnen. Er hatte sie ja längst vergessen.«

»Moment mal. Mir hat Andrea erzählt, dass er sie immer noch liebt …«, bemerkte Pfarrer Trenker.

Der Bauernsohn lachte höhnisch auf.

»Weis gemacht hat er’s ihr«, sagte er mit bitterem Unterton. »Tobias ist doch längst verheiratet!«

»Bist du sicher?«

»Na ja, ich erinnre mich, dass er damals immer von seiner Frau gesprochen hat, die zu Hause auf ihn warte. Ob sie aber tatsächlich verheiratet sind, weiß ich net genau.«

Sebastian rieb sich nachdenklich das Kinn.

»Nun, das könnt’ sich doch sicher herausfinden lassen«, meinte er. »Weißt’ denn, wo dieser Tobias wohnt?«

»In Aschau. Hat er jedenfalls gesagt.«

Der Geistliche überlegte kurz. Der Ort lag gut drei Autostunden entfernt. Es würde sicher spät werden, aber er konnte es schaffen.

Von unterwegs rief er im Pfarrhaus an und teilte seiner Haushälterin mit, dass er sehr spät heimkommen werde, und sie nicht auf ihn warten solle. Dann lenkte er seinen Wagen in Richtung Waldeck.

*

Andrea Wengler war in Sebastians Augen völlig verblendet und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Was er nun tat, tat er nicht gerne, aber er war der Meinung, dass es sein müsse.

Im »Waldecker Hof« sprach er mit der jungen Frau und klärte sie über Tobias Raitmayr auf. Andrea wollte es nicht glauben. Immer wieder schüttelte sie vehement den Kopf und versicherte, dass der Mann, den sie immer noch Wolfgang nannte, sie liebe und heiraten wollte.

»Bitte, tu’ mir einen Gefallen und begleite mich«, sagte der Geistliche schließlich.

»Als wir damals zum Hochleitnerhof gefahren sind, da hast du gesagt, wenn es der richtige Wolfgang ist und er nix mehr von dir wissen will, dann soll er’s dir ins Gesicht sagen. Stehst du jetzt immer noch dazu?«

Andrea schluckte. Sie wusste nicht, was sie von der ganzen Sache halten sollte.

Was wollte Hochwürden von ihr?

Sie war doch so glücklich, Wolfgang endlich gefunden zu haben. Die heißen Küsse, seine zärtlichen Worte heute Nachmittag – sie waren unvergessen.

Und doch war da etwas in Pfarrer Trenkers Blick, das sie unsicher werden ließ.

Was, wenn es tatsächlich stimmte, was er sagte?

Tobias oder Wolfgang, der Name war egal, Hauptsache, dass sie wieder zusammen waren.

Aber waren sie das wirklich? War es nicht doch ein unwahrscheinlicher Zufall, dass sie sich wieder begegnet waren?

»Also gut«, stimmte sie zu, »ich komme mit.«

Sebastian atmete erleichtert auf. Ihm war klar, was er der jungen Frau da zumutete. Aber manchmal war so eine »Holzhammertherapie« doch das wirksamste Mittel.

Die Fahrt nach Aschau verlief schweigend. Der Geistliche ahnte indes, wie es in dem jungen Madel neben ihm arbeitete. Es dämmerte bereits, als sie in dem Ort ankamen. Neben einer Tankstelle war eine Telefonzelle. Im Übrigen kannte Sebastian sich von früheren Besuchen einigermaßen aus. Er stieg aus und schaute in dem Telefonbuch nach. Es gab nur zweimal den Eintrag Raitmayr – einmal Oskar, einmal Tobias. Vermutlich war das eine der Vater. Beide wohnten in derselben Straße, hatten aber verschiedene Hausnummern.

Die Straße war schnell gefunden. Als Sebastian vor dem betreffenden Haus hielt, sahen sie in der Einfahrt das Motorrad stehen.

Sie waren also richtig!

Der Bergpfarrer ließ dem Madel noch einen Moment Zeit. Andrea schaute unentwegt auf das Haus.

Gut, Tobias oder Wolfgang wohnte hier, aber bedeutete das auch, dass alles andere auch stimmte? War er wirklich verheiratet?

»Wollen wir?«, fragte Sebastian nach ein paar Minuten.

Andrea gab sich einen Ruck und nickte. Sie öffnete die Tür und stieg aus. Ihre Knie zitterten, als sie neben dem Pfarrer zur Tür gingen. Sebastian klingelte.

Es dauerte einen Moment, bis hinter der Glastür ein Schatten sichtbar wurde, dann drehte sich ein Schlüssel im Schloss, und die Tür ging auf.

»Wir kaufen nix!«

Ein etwa sechsjähriger Bub strahlte sie an.

»Florian, du sollst doch net einfach die Tür aufmachen!«, rief von irgendwo eine Frauenstimme. »Tobias, jetzt sag’ du doch auch mal was!«

Schlurfende Schritte erklangen, und eine Männerstimme.

»Los, Florian, Zähneputzen und ab ins …«

Die Stimme brach ab. Tobias Raitmayr war in den Flur getreten und starrte auf die offene Haustür. Genau gesagt, schaute er Andrea und den ihm fremden Mann an und warf dann einen raschen, unsicheren Blick hinter sich.

»Papa, wer ist das?«, wollte der kleine Florian wissen.

Andrea Wengler unterdrückte einen Aufschrei. Sie presste eine Hand vor den Mund, drehte sich um und lief zum Wagen des Bergpfarrers zurück.

Sie hatte genug gesehen!

Tobias Raitmayr sah Sebastian stumm an. Dann zog er den Bub am Ärmel.

»Tu’, was ich dir gesagt hab’«, schickte er seinen Sohn fort.

»Was ist denn los?«, rief die Frau von hinten.

»Nix. Ist für mich.«

»Im Grunde ist ja alles geklärt«, sagte Sebastian. »Hätten S’ trotzdem ein paar Minuten für mich?«

Tobias nickte stumm. Er trat vor die Tür und zog sie hinter sich ins Schloss.

»Ich bin Pfarrer Trenker aus St. Johann«, stellte der Geistliche sich vor. »Warum wir da sind, können S’ sich ja bestimmt denken. Ich musste Andrea herbringen, damit sie sich mit eignen Augen davon überzeugt, dass sie net mehr als ein Spielzeug für Sie ist.«

Der Bursche schluckte.

»Werden Sie auch … mit … mit meiner Frau …?«

»Ihre Ehe geht mich nix an«, unterbrach Sebastian ihn.

»Was Sie da angerichtet haben, das müssen S’ mit sich selbst abmachen. Aber wenn Sie einen Rat von mir annehmen wollen, dann sprechen S’ mit Ihrer Frau. Ich kenne sie net, aber Sie beide haben so einen prächtigen Sohn. Überlegen S’ sich sehr genau, ob’s sich wirklich lohnt, das alles wegen eines Abenteuers aufs Spiel zu setzen. Ein Spiel, das letzen Endes nur Verlierer haben kann. Sie, Ihre Frau und vor allem Ihr Bub.«

Der gute Hirte von St. Johann wusste nicht, ob seine Worte tatsächlich auf fruchtbaren Boden fallen würden. Aber mehr gab es nicht zu sagen. Er nickte kurz und ging zu seinem Wagen.

Dort saß Andrea. Sie hatte verweinte Augen, aber der Tränenstrom war längst versiegt.

*

In den nächsten Tagen und Wochen gelang es Andrea nur langsam, die ganze Angelegenheit zu verarbeiten. Maxi Herlander, die inzwischen alles erfahren hatte, half ihr dabei. Auch Thomas Bichler und Resl Hochleitner bemühten sich um sie und versuchten sie, so gut es eben ging, von ihren trüben Gedanken abzulenken.

Indes vermied es die Bauerntochter, ihren Bruder zu erwähnen. Auch Wolfgang sprach nicht über Andrea. Es schien, als habe er diesen Namen noch nie in seinem Leben gehört.

Doch Resl sah genau, dass ihr Bruder sich heimlich quälte. Wenn Thomas auf den Hof kam, wusste Wolfgang doch ganz genau, wer die Kollegin ihres Freundes war, oder wenn sie wegfuhr, brauchte ihm niemand sagen, dass sie zum »Waldecker Hof« wollte, wo Andrea Wengler arbeitete.

Einmal sprach Pfarrer Trenker die Resl darauf an und erkundigte sich, ob sich zwischen deren Bruder und Andrea Wengler etwas tue.

Resl schüttelte bedauernd den Kopf.

»Und ich weiß net, was ich machen könnt’, um den beiden zu helfen«, sagte sie betrübt.

»Es ist net leicht«, stimmte Sebastian zu. »Sowohl Andreas Gefühle, wie auch die vom Wolfgang sind enttäuscht worden. Es braucht Zeit, bis sie wieder vertrauen können.«

»Ich hab’ nur Angst, dass mit der Zeit auch das, was sie füreinander empfinden, dahinschwinden wird«, befürchtete Resl.

»Das könnt’ freilich passieren.«

Der Bergpfarrer sah das Problem genauso. Andrea würde sich nicht trauen, Wolfgang zu zeigen, dass sie ihn mochte. Er hingegen würde nicht ewig auf ein Zeichen von ihr warten wollen.

»Aber es wird nix mit den beiden, wenn wir da net ein bissel nachhelfen«, meinte der Geistliche nachdenklich.

»Aber wie?«

Sebastian lächelte. Ihm war gerade eine Idee gekommen.

»Wie wär’s, wenn wir deinen Bruder und Andrea überrumpeln?«, fragte er. »Allerdings brauchen wir da die Hilfe von Thorsten und Maxi …«

Resl sah ihn fragend an.

Der gute Hirte von St. Johann erklärte es ihr, und die Augen des Madels strahlten.

»Ob Thomas einverstanden wär’, sich mit mir zu verloben, fragen Sie?«

Resl zog ein Kettchen unter der Bluse hervor.

»Das sind wir doch längst«, rief sie und zeigte ihm den Ring, der an der Kette hing. »Allerdings heimlich, weil wir Andrea und Wolfgang net kränken wollten, weil wir doch so glücklich sind.«

»Na, dann kann’s doch losgeh’n!«, Sebastian rieb sich die Hände.

*

»Verlobung?«, fragte Wolfgang, als Resl ihm von der bevorstehenden Feier erzählte. »Geht das net ein bissel schnell mit euch beiden?«

»Wieso, wenn man sich liebt!«, gab sie zurück.

Die Feier sollte am Freitagabend stattfinden. Auf Sebastians Bitte hin hatte Thorsten Horn es so eingerichtet, dass Thomas Bichler und Andrea Wengler frei hatten.

»Aber wieso im ›Waldecker Hof‹ und net hier bei uns?«, wollte Wolfgang wissen.

»Weil’s einfach praktischer ist«, antwortete seine Schwester.

Selbstverständlich waren auch Pfarrer Trenker und seine Haushälterin zu der Feier eingeladen.

Dem Wirtshaus hatte der kleine Skandal um den angeblich verdorbenen Fisch nicht geschadet. Wesentlich beigetragen hatte dazu auch ein Artikel, den Claudia Trenker geschrieben hatte, und in dem der wahre Sachverhalt dargestellt wurde. Was den Urheber anging, so wollte Thorsten sich noch rechtliche Schritte vorbehalten. Doch dieses Thema war an diesem Abend nur kurz Gegenstand der Unterhaltung.

Die Feier fand in dem kleinen Klubzimmer statt.

Thorsten und Thomas hatten ein Vier-Gänge-Menü vorbereitet, das großen Beifall fand.

Andrea war mit sehr gemischten Gefühlen zu der Verlobung ihres Kollegen gegangen, wusste sie doch, dass sie dort auf Wolfgang Hochleitner treffen würde. Seit jenem unglückseligen Nachmittag hatte sie ihn nicht wieder gesehen – und ein wenig bedauerte sie es …

Tobias Raitmayr hatte sie aus ihren Gedanken gestrichen, und das war Gott sei Dank viel schneller gegangen, als sie geglaubt hatte. Trotzdem dachte sie gerade flüchtig an die Episode, als Maxi sie bat, eben in den Weinkeller zu gehen und die Flaschen mit dem Dessertwein zu holen, die dort noch lagerten. Andrea nickte und machte sich auf den Weg.

Auf der anderen Seite der Tafel saß Wolfgang Hochleitner, neben seinem Vater und Maria Lechner. Die ganze Zeit hatte er es vermieden, Andrea anzusehen, wie er es auch vermieden hatte, ihr bei der Begrüßung die Hand zu reichen. Der Bauernsohn schaute überrascht auf, als Thorsten Horn ihn fragte, ob er einen Moment Zeit habe. Der Koch ging durch den Flur zwischen Küche und Gastraum.

»Himmel, das Essen brennt mir an!«, rief er und lief zur Küchentür. »Wolfgang, da geht’s in den Keller. Gleich an der Treppe steht eine Kis­te. Sei so gut und hol’ sie rauf.«

Der Bauernsohn nickte, öffnete die Kellertür und stieg die Treppe hinunter.

Als er unten angekommen war, klappte oben die Tür zu, und das Licht verlosch.

Verdutzt blieb er stehen. Von hinten hörte er Geräusche.

»Hallo, ist da jemand?«, rief er. »Wo ist denn das Licht?

Schritte näherten sich, begleitet von einem Lichtschein.

»Hallo?«

Das war doch … Ja, eindeutig Andrea …

»Das Licht ist plötzlich ausgegangen«, sagte er überflüssigerweise.

»Ja, da hab’ ich die Kerze angemacht«, nickte sie.

Der Lichtschimmer zeichnete einen eigenartigen Glanz in ihr Gesicht.

Wie schön sie ist!

Wolfgang konnte sich von dem Anblick nicht losreißen.

»Andrea …«, sagte er mit belegter Stimme.

»Ja …?«

»Ich … ich wollt’ dir sagen, wie leid es mir tut, das mit Tobias …«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ist schon gut. Es ist ja vorbei«, erwiderte sie und trat noch einen Schritt näher.

Ganz dicht standen sie jetzt beieinander, die Kerze zwischen sich. Wolfgang nahm sie ihr aus der Hand und stellte sie auf eine Treppenstufe.

Dann griff er ihre Hand und zog sie an sich.

Andrea zögerte einen Moment, dann beugte sie den Kopf nach hinten und bot ihm ihre Lippen dar.

»Ich liebe dich«, flüsterte er mit rauer Stimme und küsste sie zärtlich und leidenschaftlich zugleich.

Sie waren so in sich versunken, dass sie nicht merkten, was ge­schah. Erst als das Licht aufflammte, sahen sie auf.

»Herzlichen Glückwunsch zur Verlobung!«, ertönte es vielstimmig von oben.

»Licht aus!«, rief Wolfgang und küsste Andrea erneut.

Der Bergpfarrer Staffel 22 – Heimatroman

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