Читать книгу Der Bergpfarrer Staffel 22 – Heimatroman - Toni Waidacher - Страница 9

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»Guten Morgen, Burgl. Gut geschlafen?«

Sepp Leitner warf seiner langjährigen Haushälterin, die, in der Zeitung blätternd, am Frühstückstisch saß, einen prüfenden Blick zu. Dann ließ er sich, ohne weiter auf Burgls Antwort zu warten, neben einem Korb mit munter durcheinander wuselnden Hundewelpen auf der Eckbank nieder und begann, mit seinem Kaffeehaferl zu klappern.

Ächzend erhob sich Burgl Anthuber und schenkte Sepp seinen Milchkaffee ein.

Der Leitner-Bauer ergriff sofort die günstige Gelegenheit, um die Zeitung an sich zu bringen. Gerade wollte er anfangen zu lesen, als eine schwarze Katze mit weißem Brustfleck in einem Satz über den Welpenkorb hinweg auf seinen Schoß sprang und schnurrend ihren Kopf an seinem Arm rieb.

Burgl nutzte die Gunst des Augenblicks, um sich die Zeitung wieder zu schnappen und sie erneut neben ihren Teller zu legen.

»Danke der Nachfrage«, sagte sie. »Schlecht hab’ ich geschlafen. Furchtbar schlecht. Obwohl ich hundemüde war von der vielen Arbeit hier auf dem Gnadenhof, bin ich mitten in der Nacht aufgewacht und hab’ stundenlang kein Auge mehr zugetan vor Herzklopfen. Und das nur, weil ich von der Christine geträumt hab.«

Sie machte eine kleine Pause, doch Sepp schwieg beharrlich. Nur Muschi, die Katze, schnurrte noch ein wenig lauter, während er sie mit seinen schwieligen, verarbeiteten Fingern zwischen den Ohren kraulte.

»Ein kleines Madl ist sie auf einmal wieder gewesen, die Christine«, fuhr Burgl schließlich fort. »Und hier auf dem Leitner-Hof war sie. Bei allen unseren Viecherln. Eine richtige Freud’ hat sie gehabt.«

Sepp brummte etwas Unverständliches und nahm einen Schluck von seinem Milchkaffee.

»So einen Blödsinn kannst auch bloß du träumen, Burgl«, sagte er schließlich. »Erstens hat meine Tochter net die geringste Ahnung, dass der Leitner-Hof mittlerweile ein Gnadenhof ist. Zweitens ist sie mit ihren achtundzwanzig Jahren längst kein kleines Madl mehr und wird, solang die Zeit net rückwärts läuft, auch keines mehr werden. Und drittens begreif ich net, warum dich dein Traum daran gehindert hat, wieder einzuschlafen. Immerhin träumst du am helllichten Tag dutzend Mal das Gleiche, ohne dich derart aufzuregen, dass du gleich einen Herzkasperl kriegst.«

Burgl Anthuber brummte etwas Unverständliches und schlurfte wortlos zum Fenster.

Mit zusammengekniffenen Augen schaute sie auf den kalkweiß getünchten Zwiebelturm von St. Johann.

»Ich hab’ es ja nur deshalb mit der Angst gekriegt, weil die Christine so ein komisches schwarzes Kleid angehabt hat«, rechtfertigte sich Burgl. »Und … und weil die Standuhr in meinem Schlafzimmer genau in dem Augenblick, in dem ich aufgewacht bin, stehen geblieben ist. Mitten im Schlag. So etwas kann nix Gutes bedeuten. Wenn Uhren während des Schlagens stehen bleiben, kommt ein Unglück. Das hat schon meine Großmutter immer gesagt.«

Sepp Leitners Gesicht verfärbte sich einen Moment lang aschfahl. Gleichzeitig zuckte er zusammen, sodass Muschi erschrocken von seinem Schoß sprang, hatte sich allerdings sofort wieder in der Gewalt.

»Jede Uhr bleibt irgendwann einmal stehen. Das ist ganz normal. Vor allem für eine Standuhr«, erklärte er. »Mit deiner Großmutter hat das jedenfalls net das Geringste zu tun, Burgl. Und mit der Christine erst recht net.«

Die alte Haushälterin zuckte mit beleidigter Miene die Schultern.

»Ich hab’ mir halt gedacht, es hätte sich vielleicht etwas angemeldet«, rechtfertigte sie sich, nahm dann entschlossen den Korb mit den Welpen von der Eckbank und stellte ihn auf den Fenstersims. »Ein bissel Sonne kann euch armen Hascherln nur gut tun«, sagte sie und streichelte liebevoll über das weiche Fell der Hundebabys. »Auch ihr braucht Wärme und Licht.«

»Da hast du endlich einmal etwas Wahres gesagt«, pflichtete Sepp ihr bei und bedachte die noch winzigen jungen Hunde mit einem fast zärtlichen Blick. »Das hört sich schon entschieden besser an als deine Unkenrufe. Die kann ich nämlich net ausstehen.«

Burgl zog die Augenbrauen hoch.

»Sie stimmen aber trotzdem. Jedenfalls manchmal«, beharrte sie dickköpfig. »Oder kannst du vielleicht leugnen, dass das Glück ein immer seltenerer Gast auf dem Leitner-Hof geworden ist, seit die Schwalben nimmer unter unserem Dach nisten?«

»Ein Schmarrn ist das«, fuhr Sepp seine Haushälterin rauer an, als er es beabsichtigt hatte. »Oder glaubst du allen Ernstes, dass die Schwalben uns das Geld beschaffen könnten, das wir so dringend brauchen?«

»Geld, Geld und wieder Geld. Seit Wochen hör ich schon nix anderes mehr«, moserte Burgl. »Als ob Geld das Einzige wäre, was zählt. Geld macht net glücklich. Hast du diesen Spruch noch nie gehört?«

Sepp Leitner winkte ab.

»Doch. Schon oft. Bloß kann ich mir net vorstellen, dass unsere Tiere, wenn wir ihnen kein Futter mehr kaufen können, von abgedroschenen Redensarten satt werden.«

Burgl schüttelte ärgerlich den Kopf.

»Jetzt übertreib doch net gar so arg«, hielt sie dagegen. »Vor einem Jahr erst, hast du ein weiteres Stück von deinem Wald verkauft. Der Erlös davon kann doch net schon wieder aufgebraucht sein.«

»Du redest leicht, Burgl«, brummte Sepp. »Du tust nur deine Arbeit und schaust dabei weder nach links noch nach rechts. Aber ich …, ich muss mich um alles kümmern. An mir hängt der ganze Laden hier. Ich trag die Verantwortung.«

Burgl verdrehte stumm die Augen.

Schließlich kehrte sie wieder zum Tisch zurück und beschloss, sich noch ein Haferl Milchkaffee und ein Brötchen mit Honig zu gönnen.

»Glück ist viel mehr als nur keine materiellen Sorgen zu haben«, philosophierte sie kauend. »Glück wäre zum Beispiel, wenn die Christine zurückkäme und mich tatkräftig unterstützen würde. Und wenn sie dann noch einen Mann finden würde, der zu ihr und auch hierher zu uns auf den Leitner-Hof passt …«

»Die Christine hat schon einen Mann. Vergiss das net, Burgl«, fiel Sepp Leitner seiner Haushälterin ins Wort. »Er betreibt, solltest du dich im Moment nimmer so recht erinnern können, ein exklusives Modegeschäft in München und hält net viel von der Landluft. Und für die Bauernarbeit oder erst recht die Arbeit hier auf unserem Gnadenhof wäre er sich sowieso viel zu fein.«

»Als ob ich das net wüsste«, wehrte Burgl ab. »So alt und vergess­lich wie du denkst, bin ich noch lang net.« Sie räusperte sich und warf Sepp einen beredten Blick zu. »Ich hab’ ausdrücklich gesagt, dass der Mann auch zu uns passen müsste. Was dieser …, dieser Klamottentandler Helmuth Heller bestimmt net tut.« Erneut machte Burgl eine kleine Pause. »Aber Ehen werden in unserer modernen Zeit zuhauf geschieden. Warum also net auch die von der Christine? Zumal ich mein letztes Hemd verwetten würde, dass das Madl den blasierten Modemenschen net aus Liebe geheiratet hat.«

»Was du net sagst, Burgl. Und warum hätte sie ihm dann ihr Jawort gegeben, wenn man fragen darf? Sogar gegen meinen Willen und ohne meinen Segen?«, raunzte Sepp ungnädig.

Burgl runzelte die Stirn. Einen Moment lang schien sie nach den geeigneten Worten für eine Erwiderung zu suchen, ließ es dann aber sein.

Was sollte sie Sepp sagen?

Dass ein junges Madel auch einmal andere Wünsche hatte als jeden Tag von morgens bis abends in der Landwirtschaft zu arbeiten? Dass Sepp im Unrecht gewesen war, wenn er Christine nicht einmal das Tanzvergnügen am Samstagabend im »Löwen« gegönnt hatte? Und dass es falsch gewesen war, Christine bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit daran zu erinnern, dass sie auf keinen Fall werden dürfe wie ihre Mutter?

Sepp hatte es damals nicht begriffen und würde es jetzt noch weniger verstehen.

Dann wurde Burgl jedoch durch ein Motorengeräusch draußen auf dem Hof abgelenkt.

Auch Sepp Leitner wandte seinen Kopf spontan dem Fenster zu und runzelte unwillkürlich die Stirn, als er einen gepflegten grauen Geländewagen auf seinen Hof fahren sah.

»Hast du eine Ahnung, wer da zu uns kommt, Burgl?«, wandte er sich an seine Haushälterin.

Burgl schüttelte den Kopf.

»Nein. Aber könnte es net sein, dass uns vielleicht jemand eine Futterspende bringt?«, meinte sie schließlich hoffnungsvoll.

»Das wär ja …, das wär ja großartig«, ereiferte sich Sepp, stellte sofort sein rotes Kaffeehaferl mit dem schwarzen Katzenkopf beiseite und lief zur Tür.

»Grüß Gott. Willkommen auf dem Leitner-Hof. Was führt Sie denn zu uns?«, erkundigte er sich erwartungsvoll, als er dem Ehepaar mittleren Alters gegenüberstand.

Die Frau, eine gut gekleidete Blondine, warf ihrem Mann einen auffordernden Blick zu. Der Gatte im dunkelgrünen Trachtenanzug zögerte noch einen Moment, dann meinte er: »Es geht um unseren Arno. Wie können ihn nimmer behalten. Er ist alt und die Tierarztkosten …«

Ein Fußtritt der Blondine brachte ihn zum Schweigen.

»Die Tierarztkosten sind net das Problem«, fuhr sie ihrem Mann in die Parade. »Wir hätten den Arno sowieso nimmer operieren lassen, damit er net leiden muss. Aber wir müssen umziehen. Das ist der springende Punkt. Und in unserer neuen Wohnung ist Hundhaltung net erlaubt. So ist es doch, Alfred. Sag doch endlich, dass es so ist.«

Der Mann im Trachtenanzug nickte ergeben.

»So ist es, Schatz. Wir sind untröstlich, dass wir den Arno net behalten können, aber da kann man nix machen. Im Tierheim in der Kreisstadt haben wir auch schon versucht, ihn unterzubringen, aber die haben keinen Zwinger mehr frei. Wir haben tagelang hin und her überlegt, was wir tun könnten. Und da ist uns gerade noch rechtzeitig Ihr Gnadenhof hier in St. Johann eingefallen, Herr Leitner.«

Sepp Leitner warf Burgl, die nachgekommen war und den Schluss des Gesprächs mitgehört hatte, einen fragenden Blick zu.

»Eigentlich sind unsere Zwinger auch schon überbelegt«, meinte er mit einem Stoßseufzer. »Wir müssten dringend neue bauen, bloß das liebe Geld …«

»Wo ist er denn, der Arno?«, fiel Burgl, an das Ehepaar gewandt, dem Leitner-Bauern ins Wort.

Sie hatte ihre Frage noch nicht beendet, als der Mann im Trachtenanzug mit Siebenmeilenschritten zu seinem Geländewagen lief, die Heckklappe öffnete und einen Schäferhund mit grauer Schnauze und gutmütigen, aber traurigen dunklen Augen an der Leine herbeizerrte.

Bei Burgl und Sepp angekommen, setzte das Tier sich hin, winselte leise und leckte den beiden alten Leuten die Hände.

Ein Blick stummen Einverständnisses zwischen Bauer und Haushälterin wendete Arnos Schicksal zum Guten.

»Wenn kein Zwinger mehr frei ist, kommt der Arno ins Haus«, entschied Burgl spontan. »Er wird sich mit dem anderen Viehzeug schon vertragen. Und was die fällige Operation betrifft, lässt sich bestimmt mit Frau Dr. Wiesinger reden. Die nimmt für ihre Arbeit bei uns auf dem Gnadenhof sowieso meistens kein Geld.«

»Uns fällt ein Stein vom Herzen«, atmete der Mann im Trachtenanzug auf.

»Nein, kein Stein. Ein Felsbrocken. Oder eher schon ein ganzer Berg«, suchte seine Frau ihn zu übertreffen, ehe die beiden zu ihrem Fahrzeug eilten und mit einem Kavaliersstart den Leitner-Hof wieder verließen.

Sie schienen es mit einem Mal ungeheuer eilig zu haben. Und hatten deshalb nicht einmal mehr die Zeit gefunden, ihrem Hund Lebewohl zu sagen.

»Wieder ein Fresser mehr«, seufzte Sepp Leitner, als sie verschwunden waren. Aber die liebevolle Art, wie er Arnos Kopf tätschelte, strafte seine geringschätzigen Worte Lügen.

»Schickt der Herr ein Häslein, schickt er auch ein Gräslein. Das ist ein alter Spruch, der sich immer wieder bewahrheitet«, bemerkte Burgl, während sie und Sepp, Arno an ihrer Seite, ins Haus gingen, als wäre es nie anders gewesen.

Sepp schüttelte trotzdem missbilligend den Kopf.

»Du immer mit deinen Sprüchen«, murrte er und fügte dann, an den Hund gewandt, hinzu: »Aber dich können wir leicht noch durchfüttern, Arno. Und wenn ich meine Ration mit dir teilen müsste. Im Grunde bin ich doch recht froh über dich und all die anderen Tiere. Ich hab’ mir immer so sehr eine große Familie gewünscht. Eine ganze Schar Kinder und noch mehr Enkelkinder. Und jetzt …« Sepp seufzte schwer. »Jetzt hab’ ich stattdessen bloß euch. Kinderlachen auf meinem Hof könnt ihr zwar net ersetzen, aber wenigstens weiß ich, dass ihr mich mögt und braucht.«

*

»Es tut mir leid, Sebastian, ich kann auch nur kurz zum Abendessen vorbeischauen«, meinte Max Trenker mit einem bedauernden Schulterzucken. Seine Frau war ohnehin auf Freundinnenbesuch unterwegs. Längst noch nicht alle hatten den kleinen Sebastian zu sehen bekommen. »Eben ist für halb neun Uhr ein außerplanmäßiges Treffen mit den Kollegen anberaumt worden. Wegen einer Fahndungsmeldung, die auch unsere Gegend hier im Wachnertal betrifft. Zwar nur im weitesten Sinn, aber du weißt schon … Sicher ist sicher. Dafür sind wir Polizisten schließlich da.«

Sebastian Trenker runzelte die Stirn.

»Was für eine Fahndungsmeldung denn? Ist es etwas …«

Er kam nicht dazu, seinen Satz zu vollenden, denn im selben Augenblick erschien Sophie Tappert im Türrahmen, um den Bruder des Bergpfarrers aufs Herzlichste willkommen zu heißen.

Auch Max freute sich sichtlich, Sophie Tappert zu sehen, die er nicht nur ihrer Kochkünste wegen schätzen gelernt hatte.

Kurze Zeit später saßen die drei bereits um den Tisch im Esszimmer und ließen sich, weil es Freitag war, ein Rotbarschfilet mit Senfsoße und Dillkartoffeln schmecken, zu dem die Pfarrersköchin einen Endiviensalat mit Meerrettichdressing reichte.

»Köstlich«, meinte Max und langte wie immer kräftig zu.

Er war gespannt, was Sophie Tappert wohl als Nachspeise gezaubert hatte, als Pfarrer Trenker die kulinarischen Überlegungen seines Bruders abrupt unterbrach.

»Gibt es eigentlich etwas Neues vom Leitner-Hof?«, erkundigte er sich. »Schon beim letzten Mal wollte ich dich fragen, ob da oben endlich Ruhe eingekehrt ist. Nach mehr als fünf Jahren dürften die Nachbarn sich schließlich mit der Nutzung des Anwesens als Gnadenhof abgefunden haben. Zumal ich ihnen immer wieder gut zugeredet habe.«

Max legte sein Besteck auf seinem Teller ab und wandte sich seinem Bruder zu.

»Na ja«, meinte er. »Eine Zeit lang haben deine Schlichtungsversuche auch geholfen, die Wogen zu glätten, Sebastian. Aber inzwischen ist doch tatsächlich wieder eine neue Anzeige eingegangen. Natürlich vom Randl, dessen Haus zwar ein gutes Stück weiter hinten liegt, aber …«

Sebastian Trenker seufzte.

»Was hatte der Randl denn diesmal schon wieder auszusetzen am Leitner-Sepp und seinem Hof?«, wollte er wissen.

Max winkte ab.

»Was wohl? Dasselbe wie beim vorigen und beim vor-vorigen Mal«, erklärte er. »Ruhestörung. Irgendeines der Pferde soll am Sonntag in aller Frühe das Wiehern nimmer aufgehört haben. Und einer der Hunde hat angeblich länger als zehn Minuten am Stück gebellt. Siebzehn und eine halbe Minute, so steht’s im Protokoll. Frau Randl und deren Cousine, die gerade zu Besuch war, haben als Zeuginnen unterschrieben.«

Der Bergpfarrer zog unwillig die Augenbrauen hoch.

»Es ist kaum zu fassen, wie kleinlich die Leute manchmal sein können«, meinte er kopfschüttelnd. »Und das Traurige dabei ist, dass es in den meisten Fällen gar net wirklich um den Nachbarn geht. Sondern darum, dass die Menschen mit ihren eigenen Problemen net zurechtkommen. Sie sind gereizt und suchen eine Möglichkeit sich abzureagieren und so ihren Frust zu vergessen. Nur würden sie das nie und nimmer zugeben. Deshalb kann man auch so schwer mit ihnen reden.«

Max Trenker nickte zerstreut und schielte unauffällig zur Küchentür, hinter der Sophie Tappert verschwunden war, um den Nachtisch zu holen.

»Die Geschichte mit den siebzehneinhalb Minuten ist ein echter Witz. Das hat der Randl nach längerem Hin und Her selber zugeben müssen«, berichtete er weiter. »Ich bin jedenfalls froh, dass ich ihn dazu bewegen hab’ können, seine Anzeige zurückzunehmen. Ich hätte es wirklich fast net übers Herz gebracht, den Leitner-Sepp eine Strafe zahlen zu lassen. Schon weil das Geld auf seinem Gnadenhof sowieso weder hinten noch vorne ausreicht. Ich hab’ mich schon oft gefragt, wie der gute Mann nach der Heirat seiner Tochter eigentlich auf die Idee gekommen ist, seinen Hof zu einem Asyl für abgeschobene Tiere zu machen. Anstatt die Landwirtschaft zu verpachten und das Leben noch ein bissel zu genießen. Schließlich ist er nimmer der Jüngste. Und seine Haushälterin, die Anthuber-Burgl, geht auch schon stramm auf die siebzig zu.«

»Das stimmt, Max. Allerdings hat mir der Leitner-Sepp einmal erzählt, er wäre als junger Mann gerne Tierarzt geworden. Er hat dann aber, weil er seinen Vater nicht enttäuschen wollte, doch den Hof übernommen. Vielleicht wollte er sich, nachdem seine Tochter in die Stadt geheiratet hat, auf seine alten Tage ein Stück von seinem Jugendtraum erfüllen«, erwiderte Sebastian Trenker nachdenklich.

Sophie Tapperts Auftritt mit ihrem Küchentablett, lenkte die beiden Brüder von diesem Problem ab.

»Apfelkücherl mit Zimt und Zucker. Und Vanillesoße«, stellte Max sofort mit Kennerblick fest. Unwillkürlich fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen.

Die Pfarrersköchin platzierte die Süßspeise mit flinken geschickten Bewegungen auf die Dessertteller.

»Ich hoffe, die Kücherln schmecken«, meinte sie.

Sebastian Trenker nickte zustimmend und wandte sich dann wieder an seinen Bruder, der soeben mit einigen großen Bissen das erste der Apfelkücherln verspeist hatte und sich nun genüsslich die Finger leckte.

Unter dem Blick des Bergpfarrers zuckte er zusammen wie ein bei schlechten Tischmanieren ertappter kleiner Junge.

»Vielleicht sollte ich in den nächsten Tagen wieder einmal hinauf zum Gnadenhof Leitner gehen«, schlug Pfarrer Trenker, die Verlegenheit seines Bruders geflissentlich übersehend, vor. »Und den Leitner-Sepp und seine Haushälterin besuchen.«

Max Trenker nickte.

»Darüber würde die beiden sich bestimmt freuen. Sie suchen übrigens, soviel ich gehört hab, wieder einmal händeringend nach einem Knecht, der ihnen beim Versorgen ihrer vielen Schützlinge hilft. Allerdings wird der Sepp so leicht niemanden auftreiben«, unkte er. »Was mich, ehrlich gesagt, net wundert. Schließlich kann der Leitner-Sepp net viel zahlen, und der Helfer

müsste streng genommen nur für Kost und Logis arbeiten. Aus reinem Idealismus. So etwas macht heutzutage kein Mensch mehr.«

»Idealisten sind tatsächlich eine vom Aussterben bedrohte Gattung«, beteiligte sich nun auch Sophie Tappert am Gespräch. »Aber noch sind sie trotzdem net ganz aus unserer Welt verschwunden. Ich bin mir sicher, dass der Leitner-Sepp schon fündig werden wird. Er muss nur ein bissel Geduld mitbringen.«

»Wahrscheinlich haben Sie Recht, Frau Tappert«, erwiderte der Bergpfarrer und schaute seiner Perle lächelnd zu, wie sie Max noch ein paar Apfelkücherln kredenzte, die dieser, ohne sich lange zu zieren, gerne annahm. »Und für mich noch einen Kaffee, wenn es keine Umstände macht«, bat Sebastian Trenker schließlich, als der Teller seines Bruders gefüllt war.

»Für mich diesmal ausnahmsweise nimmer«, erklärte Max auf Sophie Tapperts fragende Miene hin mit einem raschen Blick auf seine Armbanduhr. »Ich muss jetzt weiter. Sonst komme ich noch zu spät zu unserer Besprechung.«

Flink verzehrte er seine Nachspeise bis auf den letzten Bissen und verabschiedete sich dann in aller Eile.

Sebastian Trenker blieb allein am Tisch zurück.

Seine Gedanken kreisten um Sepp Leitner und dessen Tochter Christine. Die Beziehung der beiden war immer schon ein wenig problematisch gewesen, aber dass sie in einem völligen Zerwürfnis hatte enden müssen, lastete dem Bergpfarrer nach wie vor schwer auf der Seele. Schon wiederholt hatte er versucht, den Leitner-Bauern dazu zu bewegen, den ersten Schritt zu tun und wieder Kontakt mit seiner Tochter aufzunehmen, doch der alte Mann hatte dieses Ansinnen jedes Mal entrüstet von sich gewiesen.

»Sind Sie net auch der Ansicht, dass es allerhöchste Zeit wäre, zwischen dem Leitner-Sepp und seiner Christine endlich eine Versöhnung herbeizuführen, Frau Tappert?«, wandte der Bergpfarrer sich schließlich an seine Köchin, die soeben wieder hereinkam. Er forderte sie mit einer einladenden Geste auf, sich auf eine Tasse Kaffee zu ihm zu setzen. »Eine derart tiefe und lang dauernde Feindschaft zwischen Vater und Tochter darf doch einfach nicht sein.«

»Bestimmt nicht«, pflichtete Sophie Tappert Pfarrer Trenker bei. »Auch die Anthuber-Burgl wünscht sich nichts sehnlicher, als dass der unselige Streit zwischen den beiden endlich beigelegt würde. Aber je mehr man den Leitner-Sepp in dieser Hinsicht bedrängt, desto halsstarriger wird er.«

»So ist es«, bestätigte Pfarrer Trenker. »Und deshalb hab’ ich mir überlegt, ob ich mir, wenn ich das nächste Mal nach München komme, net ein bissel Zeit nehme und die Leitner-Christine aufsuche. Oder halt die Frau Heller, wie das Madel seit der Heirat mit diesem Mode­hausbesitzer heißt.« Der Bergpfarrer seufzte. »Vielleicht ist die Tochter ja net so halsstarrig wie der Vater und eher zu einer Wiederannäherung bereit.«

Sophie Tappert zeichnete mit dem Zeigefinger das Muster der Tischdecke nach und nahm dann nachdenklich einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse.

»Sie sagen ja gar nichts, Frau Tappert«, meinte der Bergpfarrer. »Soll ich das nun als Zustimmung oder als Ablehnung deuten?«

Sophie Tappert wurde sichtlich verlegen.

»Ich glaube, mir steht in dieser Sache kein Urteil zu«, stellte sie bescheiden fest. »Aber wenn Sie mich schon um meine Meinung fragen … Ich denke, dass …, dass Sie bei der Christine bestimmt offene Türen einrennen.«

Sebastian Trenker stutzte.

»Und was macht Sie da so sicher, Frau Tappert?«, fragte er verblüfft.

Sophie Tappert senkte die Lider.

»Ich war zwar nie verheiratet, Herr Pfarrer, aber ich bin doch eine Frau«, meinte sie. »Und wenn mich net alles täuscht, ist Christines Ehe net annähernd so glücklich wie das Madel sich das beim Weggang aus St. Johann erträumt hat.«

»Christines Ehe soll net glücklich sein?«, wunderte sich der Bergpfarrer. »Meinen Sie wirklich, Frau Tappert?«

Die Pfarrersköchin zuckte die Schultern.

»Ich kann mir net so recht vorstellen, dass man von heute auf morgen in einer ganz anderen Welt leben und alle seine Gewohnheiten und Vorlieben ändern kann. Ohne dass man sich früher oder später nach dem zurücksehnt, was einem zuvor gar net so sonderlich wertvoll erschienen ist. Ein Edelweiß kann doch auch net plötzlich in der Wüste wachsen. Und eine Palme net so ohne weiteres bei uns.«

In Gedanken versunken drehte Sebastian Trenker seine Kaffeetasse in seinen Händen.

Christine hatte, so weit er zurückdenken konnte, immer einen gewaltigen Drang in sich verspürt, aus der dörflichen Enge von St. Johann auszubrechen. Und aus dem bäuerlichen Leben, in das sie hineingeboren worden war. Immer hatte sie Ausschau nach neuen Ufern gehalten. Immer war sie auf der Suche gewesen nach ihrem eigenen Weg.

Ob sie ihn gefunden hatte? Oder ob Sophie Tappert mit ihrer Vermutung doch Recht hatte?

Je länger Pfarrer Trenker nachdachte, desto mehr neigte er dazu, sich Sophie Tapperts Meinung anzuschließen.

Er würde sich um Christine kümmern. Vielleicht konnte er ihr helfen. Auch ihr neues Leben in der Stadt, wäre bestimmt leichter, wenn sie ihre Wurzeln wiederfand.

*

»Weißt du eigentlich, wie viel Uhr es ist, Andreas?«, donnerte der Münchener Bauunternehmer Severin Umgelter und musterte seinen Sohn mit zornigen Blicken.

Andreas zeigte sich vom Unmut seines Vaters nicht sonderlich beeindruckt.

»Natürlich weiß ich das«, entgegnete er, leicht spöttisch, und deutete, auf die große Wanduhr zur Linken neben dem ausladenden Schreibtisch seines Vaters. »Es ist jetzt genau 9 Uhr 23 Minuten und 44, nein 45 Sekunden. Wenn ich mich recht entsinne, kannte ich das Zifferblatt übrigens schon im zarten Alter von sechs Jahren.«

Severin Umgelter brachte der spaßhafte Ton, den sein Sohn wieder einmal anschlug, nur noch mehr in Rage. Krachend ließ er seine Faust auf die Schreibtischplatte niedersausen.

»Was glaubst du eigentlich, wer du bist, Andreas?«, brüllte er wie ein wild gewordener Löwe. »Denkst du, nur weil du das Privileg hast, mein Sohn zu sein, kannst du dir alles erlauben? Würde irgendeiner meiner Angestellten sich auch nur einen Bruchteil der Freiheiten herausnehmen, die du dir genehmigst, hätte ich ihn längst fristlos gefeuert!«

Andreas blieb ungerührt. Scheinbar gelangweilt ließ er seine Blicke in dem teuer eingerichteten Büro Severin Umgelters umherwandern, als ginge ihn das, was sein Vater sagte, nicht das Geringste an.

»In deinem Alter habe ich meinen Teil zum Aufstieg unserer Baufirma beigetragen, indem ich jeden Tag um 6 Uhr morgens aufgestanden und spätestens um 7 Uhr hart arbeitend an meinem Schreibtisch gesessen bin«, ereiferte sich Severin, den die offen zur Schau getragene Gleichgültigkeit seines Sohnes beinahe zur Weißglut trieb. »Und du? Was tust du? Binnen kurzem wirst du es dank deiner beispiellosen Faulheit geschafft haben, mein Lebenswerk zu ruinieren.«

Severin Umgelters Kopf war inzwischen hochrot angelaufen und die Adern an seinen Schläfen traten bedenklich hervor.

Andreas spürte zu seinem Ärger Gewissensbisse, bemühte sich aber nach Kräften, sie zu ignorieren.

»Bist du jetzt fertig, Vater?«, fragte er so ruhig wie möglich. Und fügte, als der schwer nach Atem ringende Severin keine Antwort gab, hinzu: »Ich verstehe sowieso nicht, weshalb du dich wegen jeder Lappalie derart aufregst. Du schadest damit nur deiner Gesundheit. Das weißt du doch. Dein Arzt hat es dir schon mindestens hundert Mal gesagt. Aber was deine Wutanfälle betrifft, ist bei dir natürlich jedes mahnende Wort von vornherein in den Wind gesprochen.«

Severin Umgelter lockerte den Knoten seiner Krawatte und öffnete, als das nichts half, auch noch den obersten Knopf seines Hemds, um besser Luft zu bekommen.

»Wo bist du überhaupt den halben Vormittag lang gewesen?«, stieß er schließlich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Wo ich war? Aber Papa, kannst du dir das nicht denken?« Andreas schüttelte verständnislos den Kopf. »Ich bin ausgeritten, was sonst. Kreuz und quer durch den Englischen Garten. Vorbei am Hesseloher See und am Chinesischen Turm, dann den Schwabinger Bach entlang Richtung Hofgarten …«

»Halt deinen Mund!« Severins Stimme unterbrach Andreas’ Aufzählung wie ein Donnerschlag. »Ich kann es nicht mehr hören. Und vor allem will ich es nicht mehr hören. Mein Sohn durchstreift müßig zu Pferde den Englischen Garten, während ich …« Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Willst du dir deinen Lebensunterhalt in Zukunft mit Reiten verdienen und unsere Firma fremden Nachfolgern überlassen, du Nichtsnutz …, du … Ach, mir fehlen einfach die Worte.«

Andreas presste die Lippen aufeinander. Er wusste, dass er, wenn sein Vater erst einmal derart in Fahrt war, besser daran tat zu schweigen. Doch den Nichtsnutz so einfach zu schlucken, brachte er nicht über sich.

»Und wenn schon? Was spricht dagegen?«, trotzte er. »Reichtümer kann ich mir damit wahrscheinlich nicht erwerben, aber wozu auch? Was hast du von all deinem Geld, Papa, wenn du nur Stunde um Stunde hier in deinem muffigen Büro verbringst? Du kannst dir mit Sicherheit nicht annähernd vorstellen, wie wunderbar der heutige Morgen war. Das herrliche Licht, die erwachende Natur. Du hast wirklich keine Ahnung, Papa, wie viel du, hinter deinem Schreibtisch sitzend, versäumst.«

Severin Umgelter wischte die Begeisterung seines Sohnes mit einer geringschätzigen Handbewegung vom Tisch.

»Du lebst nicht schlecht von dem Geld, das ich hier für dich in meinem muffigen Büro verdiene«, wies er Andreas zurecht. »Wer zahlt für dein Pferd? Ich. Wer ermöglicht dir ein sorgenfreies Leben? Ich natürlich. Und du? Du weißt es nicht einmal zu schätzen. Du bist undankbar. Grenzenlos undankbar. Ich frage mich, was ich bei deiner Erziehung falsch gemacht habe, dass du alles mit Füßen trittst, wofür Generationen von Umgelters …«

Weiter kam Severin nicht, denn im selben Moment drückte er keuchend seine Hand auf seine Herzgegend. Sein Mund öffnete sich zu einem erstickten Schrei, während er sich, auf das Fenster blickend, mühsam erhob, wankte und dann lautlos in sich zusammensank.

Andreas’ Gesicht wurde von einer Sekunde auf die andere weiß wie die Wand.

Einen Augenblick lang glaubte er, starr vor Entsetzen, sein Vater würde sterben.

Er hatte jedoch seinen ersten Schrecken schnell überwunden und war gerade im Begriff, an die Seite seines Vaters zu eilen, als Severin sich bereits aus eigener Kraft wieder aufrappelte.

»Umbringen wirst du mich noch, du missratener Sohn. Das sage ich dir voraus«, zischte Severin Umgelter. Er wankte immer noch bedenklich und ließ sich schließlich schwer auf den Stuhl hinter seinem Schreibtisch zurückfallen.

Andreas sagte nichts.

Sein Mund fühlte sich so trocken an, dass er beim besten Willen kein Wort hätte hervorbringen können.

»Es …, es tut mir leid, wenn ich dich aufgeregt habe, Papa«, brachte er nach einer Weile mühsam hervor. »Geht …, geht es dir wieder besser? Soll ich das Fenster für dich öffnen? Oder den Arzt …«

»Das Fenster kannst du aufmachen, aber Arzt brauche ich keinen«, gab Severin Umgelter mit leiser Stimme zurück. »Alles was mir nottut, ist ein Sohn, der mit beinahe dreißig Jahren endlich Vernunft annimmt.«

Andreas öffnete den Mund, um etwas zu sagen, entschloss sich dann aber zu schweigen.

Mit flinken Schritten eilte er zum Fenster, machte beide Flügel weit auf und ließ die milde Frühlingsluft hereinströmen.

»Wenn …, wenn ich sonst noch irgendetwas für dich tun kann, Papa, brauchst du es nur zu sagen«, stammelte er zerknirscht, als ein paar Minuten vergangen waren. »Ich werde mir alle erdenkliche Mühe geben, es gut und richtig zu machen. Das verspreche ich dir.«

Ein durchdringender Blick seines Vaters brachte Andreas zum Schweigen.

»Du könntest sehr wohl etwas für mich tun, mein Sohn«, presste er schließlich hervor.

»Ja? Und das wäre?«, erkundigte Andreas Umgelter sich schnell.

Mit einem kaum sichtbaren Winken seiner Hand gab Severin seinem Sohn zu verstehen, er solle auf die andere Seite des Schreibtisches kommen. Dann schaltete er wortlos den Computer ein. Nach ein paar Mausklicks erschien ein grünes Alpental auf dem Bildschirm, an dessen Hänge sich kleinere und größere Ortschaften schmiegten.

Andreas stutzte.

Was hatte das zu bedeuten? Wollte sein Vater ihn auf Urlaub in die Berge schicken oder …

Verblüfft wandte er seine Blicke Severin zu.

Und stellte überrascht fest, dass dieser sich zusehends erholte. Der plötzliche Schwächeanfall schien der Vergangenheit anzugehören. Und ohne jegliche Nachwirkung und ohne Folgen geblieben zu sein.

Unwillkürlich atmete Andreas auf.

Er deutete auf den Computerbildschirm.

»Was ist das?«, erkundigte er sich. »Ein alpenländisches Ferienparadies? In unberührter Natur?«

»Sehr richtig«, erwiderte Severin und klickte weiter.

Das nächste Bild zeigte ein malerisches Bergdorf mit einer zwiebelturmgekrönten Kirche. »Das hier ist St. Johann im Wachnertal«, erläuterte er. »Einer der Orte, die du vorhin auf der Luftaufnahme gesehen hast. Der schönste von ihnen.«

»Ja, ich verstehe«, gab Andreas zurück.

Obwohl er immer weniger begriff, was sein Vater im Sinn hatte.

»Nein, gar nichts verstehst du«, entgegnete Severin Umgelter, dessen Stimme nun wieder fest klang und die alte Kraft zurückgewonnen hatte, prompt. »In diesem St. Johann im Wachnertal werde ich ein großes Projekt verwirklichen. Ein Projekt, das uns Millionen einbringen wird. Und dieses Projekt wird deine Bewährungsprobe werden, Andreas.«

Andreas Umgelter fühlte, wie sein Magen sich senkte, als hätte er einen Ziegelstein verschluckt.

»Ich plane«, redete Severin Umgelter mit wachsender Begeisterung weiter, »in diesem St. Johann eine großzügige und moderne Ferienwohnanlage. Mit Sauna, Whirlpool, Diskothek, Erlebnisbad, Bar, Wellnessbereich …, kurz und gut mit allem, was das Herz des modernen Urlaubers begehrt. Und bei der Realisierung dieses Plans sollst du mir behilflich sein.«

Andreas fühlte seine schlimmsten Ahnungen bestätigt, wagte aber nach allem, was in der vergangenen halben Stunde geschehen war, keinen Einwand. Er hatte seinem Vater versprochen, zu tun, was er verlangte. Und musste nun zu diesem Versprechen stehen.

»Behilflich sein«, wiederholte er. »Und wie …, wie soll ich das anstellen?«

Severin Umgelter zog die Augenbrauen hoch.

»Was für eine Frage. Um die Ferienwohnanlage bauen zu können, brauche ich erst einmal geeignete Grundstücke. Mit etlichen Bauern bin ich schon ins Geschäft gekommen, andere machen mir Schwierigkeiten. Obwohl gerade deren Grund und Boden besonders wichtig für mich ist.«

Andreas nickte unangenehm berührt.

»Zu den hartnäckigsten Verweigerern gehört zum Beispiel ein gewisser Sepp Leitner«, fuhr Severin fort. »Er hat vor einiger Zeit seine Landwirtschaft aufgegeben und seinen Hof in einen Gnadenhof umgewandelt. Der inzwischen allerdings bis unters Dach verschuldet ist. An mich verkaufen will er aber trotzdem nicht. Das verstehe, wer mag.«

Andreas nickte wieder, obwohl er das Gefühl hatte, seine Haare müssten sich sträuben.

»Und ich soll diesen Sepp Leitner dazu bringen, dass er an dich verkauft«, stellte er mit mühsam verborgenem Abscheu fest.

»An uns«, verbesserte Severin Umgelter mit einem beschwörenden Blick auf seinen Sohn.

»An uns«, korrigierte sich Andreas folgsam.

Resigniert und schicksalsergeben ließ er sich auch noch die Namen der anderen Grundstückseigner nennen.

»Du wirst während deines Aufenthalts in St. Johann im Hotel ›Zum Löwen‹ wohnen«, bestimmte Severin. »Es bietet gehobene Gastronomie, und ich bin mir sicher, du wirst dich dort wohl fühlen. Es gibt im ›Löwen‹, soviel ich weiß, sogar jeden Samstag einen Tanzabend. Wenn es also in dein Konzept passen sollte, mit einer Dorfschönen anzubandeln, steht dem nichts im Wege.«

»Und wann soll es losgehen?«, erkundigte Andreas sich.

Die Frage sollte forsch klingen, hatte aber in Wirklichkeit einen ziemlich kläglichen Unterton.

»So bald wie möglich«, entgegnete sein Vater ungerührt. »Oder gibt es etwas, das dich hier in München hält? Hast du vielleicht endlich eine geeignete Frau kennen gelernt, mit der du die Familiendynastie Umgelter fortführen willst? An der Zeit wäre es längst, aber …«

Andreas schüttelte den Kopf.

»Nicht dass ich wüsste«, fiel er seinem Vater ins Wort. »Mit den Madln ist das so eine Sache. Die ich bisher kennen gelernt habe, sind leider alle gleich. Sie sehen mich nur als den Erben unserer Firma. Ich könnte dagegen nur eine Frau gern haben, die sich ausschließlich um meinetwillen in mich verliebt.«

Severin Umgelter bedachte seinen Sohn mit einem halb spöttischen, halb ärgerlichen Blick.

»Romantischer Unsinn. Wenn das Projekt in St. Johann unter Dach und Fach ist, werde ich eine passende Frau für dich suchen und finden. Da du allein offenbar nicht dazu in der Lage bist. Eine Frau, die vorzeigbar ist, die unser Vermögen mehrt und sich in unsere Familie einfügt. Bis es so weit ist, musst du dich allerdings mit der Gesellschaft halsstarriger Bauern begnügen. Von denen du dich hoffentlich nicht mit der Mitleidstour einfangen und übers Ohr hauen lässt.«

*

»Herzlich willkommen in St. Johann, Herr Kienberger«, sagte die junge Frau an der Rezeption des Hotels »Zum Löwen«. »Ich wünsche Ihnen einen erholsamen Aufenthalt hier bei uns in den Bergen.«

Sie trug ein weißblau kariertes, tief dekolletiertes Dirndlkleid und schenkte Andreas ihr strahlendstes Lächeln, während sie ihm den Zimmerschlüssel hinhielt.

Andreas stutzte.

Verwirrt schüttelte er, anstatt den Schlüssel entgegenzunehmen, den Kopf.

»Danke. Aber wieso …, ich heiße …, ich meine …, ich …«, stammelte er, um im nächsten Augenblick abrupt zu verstummen.

Vor Schreck über seine Gedankenlosigkeit, brach bei ihm der Schweiß aus. Hatte sein Vater ihm nicht vor seiner Abfahrt noch einmal ausdrücklich eingeschärft, dass er in St. Johann keinesfalls als Andreas Umgelter auftreten sollte? Deshalb wäre sein Zimmer im Hotel »Zum Löwen« auf den Namen Andreas Kienberger gebucht worden? Und nun hätte nicht viel gefehlt, und er hätte sich schon in der ersten Minute seines Aufenthalts verraten!

Andreas senkte für einen Moment die Lider und warf dann einen scheuen Seitenblick auf die Angestellte an der Rezeption, doch sie schien nichts bemerkt zu haben. Zumindest war ihr Lächeln unverändert.

»Das Enzianzimmer«, sagte sie, den Schlüssel noch immer in der Hand haltend. »Wir haben das Enzianzimmer im ersten Stock für Sie reserviert, Herr Kienberger. Ich bin sicher, es wird Ihnen gefallen.«

»Natürlich. Davon bin ich überzeugt«, antwortete Andreas hastig und griff nach dem Schlüssel.

Er hatte nur noch den einen Wunsch, so schnell wie möglich von dem Ort seiner Beinahe-Blamage fort zu kommen. Eilig griff er nach seinem Koffer und seiner Reisetasche und stürmte davon in Richtung Treppe.

»Herr Kienberger, bitte warten Sie!«, rief ihm die junge Dame vom Empfang nach. »Sie brauchen doch Ihr Gepäck nicht eigenhändig zu tragen. Ich rufe sofort unseren Hausdiener. Er wird selbstverständlich …«

Weiter kam sie nicht.

Noch ehe sie ihren Satz hätte zu Ende führen können, war Andreas, zwei Treppenstufen auf einmal nehmend, bereits aus ihrem Gesichtsfeld verschwunden.

Als befände er sich auf der Flucht, hastete er über den Flur im ersten Stock des »Löwen«, bis er zu der Tür mit der Aufschrift »Enzianzimmer« kam. Mit fliegenden Fingern sperrte er sie auf und verriegelte sie von innen wieder.

Geschafft!

Aufatmend ließ er die beiden Gepäckstücke auf den Boden gleiten und trat als Erstes auf den hölzernen Balkon hinaus, in dessen Blumenkästen bunte Blumen um die Wette blühten. Tief atmete er die würzig-frische Luft ein. Und genoss den herrlichen Blick auf die Berge, an dem er sich kaum satt sehen konnte.

Wie durch einen Zauber fiel dabei seine Aufregung mehr und mehr von ihm ab. Er fühlte sich zunehmend wohl, und es kam ihm fast so vor, als lägen München und vor allem das Bauunternehmen Umgelter Lichtjahre entfernt am anderen Ende der Welt.

Andreas Kienberger!

Plötzlich fand er sogar Gefallen an seinem neuen Namen.

Hatte es nicht einen ganz eigenen Reiz, mal in eine andere Rolle zu schlüpfen? Und plötzlich jemand zu sein, als den man sich noch nicht einmal selber kannte?

Eine flotte Melodie vor sich hin pfeifend, packte Andreas seinen Koffer aus. Er duschte und schlüpfte in Jeans, Pulli und Lederjacke. Und als er das Enzianzimmer wieder verließ und nach unten ging, tat er es mit hoch erhobenem Kopf und einem unternehmungslustigen Ausdruck im Gesicht. Im Vorbeigehen winkte er der jungen Dame an der Rezeption zu und trat dann in den hellen klaren Frühlingstag hinaus, um die Gegend zu erkunden.

Soeben wollte er die Liste seines Vaters mit den in Frage kommenden Grundstücken und Höfen und den Ortsplan von St. Johann aus seiner Tasche ziehen, als er feststellte, dass beides in dem Jackett steckte, das er im Hotelzimmer abgelegt hatte.

War das nun Zufall oder Fügung?

Andreas dachte nicht länger darüber nach. Im Grunde, so fand er, konnte seine eigentliche Aufgabe ruhig noch ein bisschen warten. Er würde sich St. Johann und das Wachnertal erst einmal als Tourist ansehen. Sozusagen mit den Augen der Menschen, die später die von seinem Vater geplante Ferienwohnanlage nutzen würden.

Die Hände in den Taschen seiner Lederjacke vergraben, schlenderte Andreas müßig durch die Straßen.

Er betrachtete die schmucken Häuser, an deren weiß getünchten Wänden sich fantasievolle Lüftlmalereien befanden, und bewunderte die sorgfältig gepflegten, bereits blühenden und grünenden Vorgärten. Bis sein Blick in der Nähe der Dorflinde auf ein eng umschlungenes Liebespaar fiel, das sich dort selbstvergessen küsste.

Immer wieder schaute Andreas wie magisch angezogen auf die beiden. Sie hatten das Glück, nach dem er noch suchte, bereits gefunden. Aber irgendwann würde bestimmt auch ihm die Richtige begegnen. In die er sich auf den ersten Blick verliebte. Und die in ihm nicht Andreas Umgelter, den reichen Bauunternehmerssohn sah.

Vielleicht passierte es sogar hier in St. Johann, vielleicht …

Mit beschwingten Schritten spazierte Andreas weiter.

Und gelangte schließlich an die Kirche mit dem Zwiebelturm, die ihm von dem ersten Bild, das er von St. Johann gesehen hatte, noch lebhaft in Erinnerung war.

Neugierig trat er ein.

Seit seiner Schulzeit hatte er sich von Gotteshäusern eher ferngehalten und staunte nun, dass ihn die Ruhe, der Duft von Weihrauch und das gedämpfte weiche Licht immer noch wie in seiner Kinderzeit mit einem Zauberbann belegten und gefangen nahmen. Ebenso wie die leisen Orgelklänge des für den Sonntagsgottesdienst übenden Organisten.

Aufmerksam betrachtete er die Bibelszenen der Fensterbilder und das Deckenfresko, das, wie unschwer zu erkennen war, die Erschaffung der Welt zum Gegenstand hatte. Mit den in seitlichen Nischen angebrachten, großenteils mit Blattgold überzogenen Heiligenstatuen hatte Andreas schon mehr Schwierigkeiten. War es die heilige Barbara, die mit einem Rad dargestellt wurde? Oder doch die heilige Katharina? Und wie hieß eigentlich der Heilige, der einen Esel neben sich liegen hatte? War das ein Evangelist? Oder hatte der einen Löwen? Erst bei dem Gemälde »Gethsemane« neben der Tür zur Sakristei und der Muttergottes auf dem Holzsockel befand Andreas sich wieder auf vertrauterem Gelände.

Nachdenklich trat er schließlich wieder ins Freie hinaus und blinzelte gegen das grelle Sonnenlicht an.

Ob es wohl auch einen Heiligen gab, der die richtigen Ehepartner zusammenführte?

Andreas war sich nicht sicher, ob Heilige sich auf solche Dinge verstanden. Aber dass von seinem Vater, wenn er erst einmal damit anfangen würde, ihn zu verkuppeln, nichts Gutes zu erwarten war, wusste er jetzt schon …

Immer noch hing Andreas seinen verträumten Gedanken nach, als er einen Mann in schwarzer Soutane mit einem goldenen Kreuz auf der Brust auf sich zukommen sah.

Unwillkürlich prallte er zurück.

War das etwa der Pfarrer dieses Orts? Was die Kleidung anging, war jeder Zweifel ausgeschlossen, aber trotzdem stellte Andreas sich, seinen bisherigen Erfahrungen gemäß, einen Priester anders vor. Sahen die Geistlichen hier in den Bergen etwa alle so schlank, durchtrainiert und braungebrannt aus? Oder war der Pfarrer von St. Johann eine Ausnahme?

Unsicher grüßte Andreas. Und wechselte schließlich sogar ein paar Worte mit Sebastian Trenker, der ihn für einen ganz normalen Touristen hielt, ihm einen schönen Aufenthalt in den Bergen wünschte und ihn freundlich zum Sonntagsgottesdienst einlud.

Beinahe kam es Andreas so vor, als ob es hier in St. Johann nur nette Menschen gäbe.

Gut gelaunt wanderte er weiter. Ohne auf den Weg zu achten, den er nahm, ließ er sich, seiner Gewohnheit entsprechend, ziellos treiben. Und staunte nicht schlecht, als er nach einiger Zeit am anderen Ende von St. Johann angekommen war und plötzlich vor einem hölzernen Wegweiser mit der Aufschrift »Zum Gnadenhof Leitner« stand. Einen Moment blieb Andreas stehen und überlegte, dann schlug er die Richtung ein, in die der Pfeil wies. Und prompt dauerte es nicht mehr lange, bis das Wiehern von Pferden und das Bellen von Hunden ihm ankündigten, dass sein Ziel nicht mehr weit war.

Nach einer kleinen Kurve tauchte ganz plötzlich das Leitnersche Anwesen auf. Es musste früher einmal ein stolzer Hof gewesen sein, wirkte jetzt allerdings ziemlich heruntergekommen. Einige Läden hingen schief in den Angeln, an der Haustür blätterte die Farbe ab, und der ehemals gepflegte Bauerngarten wurde von Büscheln verblühter Blumenstängel überwildert, zwischen denen sich neue Blätter und Blüten aus dem Erdreich schoben.

Nur die Fenster des Wohnhauses waren blitzsauber geputzt, und auch die Vorhänge leuchteten in strahlendem Weiß.

Eine Zeitlang stand Andreas da und sah sich weiter um. Schließlich entdeckte er einen ältlichen Mann mit schlohweißen Haaren, der in klobigen Gummistiefeln auf die Zwinger und Stallungen zuging. Das musste dieser halsstarrige Sepp Leitner sein, von dem sein Vater ihm berichtete hatte!

Unwillkürlich schüttelte Andreas beim Anblick des schon reichlich gebückt daherkommenden Bauern den Kopf. Wie konnte man sich in einem Alter, in dem andere sich längst zur Ruhe setzten, noch die Bürde eines Gnadenhofs auf die Schultern laden! Der Mann musste verrückt sein. Mit Sicherheit konnte man ihm keinen größeren Dienst erweisen, als ihn zur Aufgabe seines Hofs zu überreden. Manche Leute mussten wirklich zu ihrem Glück gezwungen werden.

Andreas fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Sollte er am besten gleich loslegen und dem alten Bauern zurufen, dass er ihn sprechen wollte? Oder war das ungeschickt?

Andreas überlegte hin und her und kam schließlich zu dem launigen Entschluss, die Antwort auf seine Frage dem Zufall in die Hände zu geben. Wenn Sepp Leitner den offenbar schweren Eimer, den er in seiner Linken trug, vor dem Erreichen der Stallungen absetzte, würde er den Bauern anreden. Ansonsten würde er das Gespräch erst einmal verschieben.

Andreas wartete gespannt. Und atmete erleichtert auf, als Sepp Leitner den Eimer nicht absetzte. Nicht einmal beim Öffnen des hohen hölzernen Tors, das in den Stall führte, der dem Wohnhaus am nächsten lag.

Zufrieden wandte Andreas sich ab. Der Zufall hatte, so fand er, gute Arbeit geleistet. Mit der Tür ins Haus zu fallen, war noch nie eine günstige Strategie gewesen. Eile mit Weile war nicht umsonst ein häufig zitiertes Sprichwort.

Er hatte seinen Gedanken noch nicht zu Ende geführt, als von der St. Johanner Kirche her das Mittagsläuten erklang. Voller Wohllaut schwang der Ton der Glocken durch die Frühlingsluft und erinnerte Andreas daran, dass er seit einem kleinen Frühstück vor seiner Abreise ganz zeitig am Morgen noch nichts zu sich genommen hatte.

Sofort begann sein Magen zu knurren wie ein bösartiger Wolf.

Hatte er sich nach all dem Umherlaufen im Auftrag der Firma Umgelter eine Verschnaufpause nicht redlich verdient? Ebenso wie sein Lieblingsessen, Rehragout mit Preiselbeeren, das, soweit er sich erinnerte, ganz oben auf der Speisekarte des »Löwen« gestanden hatte? Schon beim bloßen Gedanken an das Wildgericht lief Andreas das Wasser im Mund zusammen.

Sein Vater würde zwar wieder einmal sagen …

Andreas stutzte einen Moment, dann fegte er seine Gewissensbisse beiseite wie ein Sturmwind den Straßenstaub. Er hatte sich nichts vorzuwerfen. Er ergriff schließlich nicht die Flucht, sondern war fest entschlossen wiederzukehren, nachdem er sich eine geeignete Strategie zurechtgelegt und sein Vorgehen bis ins Detail geplant hatte.

So viel Zeit musste sein. Selbst der liebe Gott hatte für die Erschaffung der Welt eine ganz Woche gebraucht. Und endete nicht sogar ein weltberühmter Roman mit der Feststellung, dass morgen auch noch ein Tag war?

*

Burgl Anthuber öffnete die Kühlschranktür und schaute nach, was von den Mahlzeiten der vergangenen Woche übrig geblieben war.

Die gekochten Kartoffeln mussten baldmöglichst Verwendung finden. Für die Nudeln von gestern galt dasselbe. Und dann war da noch der geräucherte Speck, den sie letztens von der Huberbäuerin geschenkt bekommen hatte. Von dem hatte sie, um zu sparen, immer nur winzige Stücke abgezwackt. So lange, bis das verbleibende Ende vor Trockenheit und Härte beinahe ungenießbar geworden war.

Seufzend schüttelte Burgl den Kopf.

Sie schnitt den Speck so dünn sie irgend konnte und mischte ihn unter die Nudeln. Dann zerrührte sie, weil ihr das Ganze für Sepps Hunger nicht hinzureichen schien, noch vier rohe Eier in einer Schüssel und schmeckte sie mit Salz und Pfeffer ab.

Sie zögerte, ob vielleicht eine der schon ein wenig ausgewachsenen Zwiebeln noch etwas zusätzliche Würze …

Burgl seufzte ein weiteres Mal und machte schließlich das Radio an.

Sagte man nicht, mit Musik ginge alles besser? Und wenn es dann noch ausgerechnet die Wachnertaler Buam waren …

»Dort in den Bergen, wo meine Heimat ist«, sangen sie, und die alte Haushälterin des Leitner-Hofs konnte gar nicht anders als ein wenig mitzusummen, bis das Lied urplötzlich unterbrochen wurde.

»Gerade erreicht uns eine Meldung aus Österreich«, sagte die Stimme des Rundfunksprechers. »In den Salzburger Alpen ist in den frühen Morgenstunden ein Privatflugzeug abgestürzt. Bei den Insassen der Cessna handelt es sich, wie inzwischen bekannt wurde, um den Münchener Geschäftsmann Hellmuth Heller und seinen Freund, Klaus Altenberg. Die beiden Männer waren in Richtung Wien unterwegs, als die Cessna, die von Hellmuth Heller geflogen wurde, aus bisher noch ungeklärter Ursache gegen einen Felsen prallte. Pilot und Fahrgast kamen bei dem Absturz ums Leben. Die Leichen der beiden Männer werden zur Stunde noch geborgen. Der Unglückspilot hinterlässt eine Frau und zwei Kinder im Alter von fünf und sieben Jahren.«

Burgl Anthuber stand wie vom Donner gerührt.

»Der Münchener Geschäftsmann Hellmuth Heller …, der Münchener Geschäftsmann …«, stammelte sie kopfschüttelnd. In der nächsten Sekunde stürzte sie auf den Flur hinaus. »Sepp, ein Unglück ist passiert«, rief sie. »Ich hab’ es doch gewusst! Die Standuhr hat Recht behalten. Stell dir vor …, Christines Mann … Er ist …, er ist tot.«

Sie verstummte, als sie feststellte, dass von Sepp Leitner weit und breit nichts zu sehen war. Nur der Korb mit den am Vortag neu angekommenen jungen Katzen, um die der Leitner-Bauer sich hatte kümmern wollen, stand da. Burgl nahm die durcheinander krabbelnden Kätzchen nacheinander heraus und streichelte sie.

»Ihr dummen Viecherln habt ja keine Ahnung, was im Leben alles geschehen kann«, sagte sie mit leicht zittriger Stimme, in der noch der Schrecken mitklang. »Von einer Sekunde auf die andere kann man verunglücken und tot sein. Schneller als man überhaupt mitdenken kann. Aber das versteht ihr sowieso net. Ihr könnt mir ja net einmal sagen, wo der Sepp ist.«

Ein mehrstimmiges Maunzen war die unverständliche Antwort.

Burgl seufzte und überließ die Katzen wieder sich selbst, setzte sich in der Küche auf einen der Stühle neben dem Tisch und stützte ihren Kopf in ihre Hände. In dieser Stellung hatte sie immer schon am besten nachdenken können. Und nun musste sie überlegen, was die Radiomeldung zu bedeuten hatte: für Christine, für Sepp Leitner, für sie selbst und für die beiden Kinder, von denen weder sie noch der Leitner-Bauer gewusst hatten.

War Hellmuth Hellers Tod nun wirklich ein Unglück, oder …

Erst als die Küchentür aufgestoßen wurde und schwere Stiefel ins Zimmer stampften, erwachte Burgl aus ihrer Starre.

»Was ist denn mit dir los, Burgl? Schläfst du jetzt schon am helllichten Tag?«, belferte der Leitner-Bauer. »Mitten in einem Durcheinander, das zum Himmel schreit?«

Stirnrunzelnd schaute er auf das im Stadium der Zubereitung steckengebliebene Mittagessen. Schon holte er Luft, um weiterzuschimpfen, als Burgl ihm zuvorkam und ihm von dem Flugzeugabsturz berichtete.

Sepp Leitner hörte ihr schweigend zu. Selbst als sie geendet hatte, stand er noch eine Weile unbeweglich und sagte kein einziges Wort, dann kratzte er sich langsam und bedächtig am Kopf.

Immer wieder hatte er Burgl gegenüber steif und fest behauptet, er habe Christine aus seinem Herzen verbannt, doch nun spürte er mit einem Mal ganz deutlich, dass er nicht nur seine Haushälterin sondern auch sich selbst belogen hatte. Und stellte gleichzeitig beschämt fest, dass der plötzliche Tod Hellmuth Hellers nach einem kurzen Anflug von Betroffenheit keinerlei Trauer, sondern im Gegenteil einen neuen Hoffnungsschimmer in ihm weckte.

»Warum hast du mir eigentlich von dem Unglück erzählt, Burgl?«, fragte er umso barscher zurück. »Du weißt genau, dass mich das nix angeht. Gar nix. Mit der Christine bin ich fertig. Hundert Mal hab’ ich dir das schon gesagt.«

»Sicherlich. Aber ich hab’ es dir hundertundein Mal net geglaubt«, gab Burgl Anthuber zurück und fügte nach einer kleinen Pause wie beiläufig hinzu: »Dass du Großvater bist, haben sie im Radio übrigens auch gesagt.«

Sepp Leitner schnappte nach Luft. »Was? Im Radio? Wieso?« Im nächsten Moment verstummte der Leitner-Bauer und riss Mund und Augen auf. »Großvater sagst du? Großvater?«, stieß er schließlich hervor. Er rieb sich heftig die Stirn. »Nie hat die Christine etwas von Enkelkindern verlauten lassen. Sie kann mir doch net einfach meinen Nachwuchs verschweigen. Und mir vorenthalten, dass ich Großvater bin. Was …, was ist es denn überhaupt? Ein Bub oder ein Madl?«

»Das haben sie im Radio net gesagt«, antwortete Burgl. »Und außerdem sind es zwei. Das eine ist, wenn ich mich net verhört habe, fünf und das andere sieben Jahre alt.«

Sepp Leitner keuchte, als hätte er einen Dauerlauf rund um St. Johann hinter sich. Seine Tochter war jetzt Witwe. Wenn sie jetzt zurückkäme …, mit den beiden Enkelkindern …

Nein, an diesen Gedanken durfte er sich nicht verlieren, sonst würde er möglicherweise eine bodenlose Enttäuschung erleben.

»Was würdest du jetzt machen, wenn die Christine plötzlich vor dir stünde, an jeder Hand ein Enkelkind?«, fragte Burgl in diesem Moment, als wäre sie fähig, hinter Sepps Stirn zu sehen.

»Die Christine kommt nimmer. Was mir wenigstens die Mühe erspart, sie wieder fortzuschicken«, entgegnete er patzig. »Und jetzt ist Schluss mit dem Gerede, Burgl! Mach lieber das Essen fertig. Ich hab’ Hunger.«

Burgl erhob sich ohne Widerrede, zündete eine Flamme des Gasherds an und setzte eine Pfanne auf, die sie, um Fett zu sparen, mit einer Zwiebel ausrieb.

*

»Er steht also noch, der Leitner-Hof. Und sieht noch fast genauso aus wie früher«, murmelte Christine versonnen vor sich hin, als die Silhouette ihres Elternhauses in einiger Entfernung vor ihr auftauchte.

Die junge Frau hielt ihr silbergraues Mercedes-Coupé am Straßenrand an, drückte auf den Knopf, der die Seitenfenster herunterfuhr, und ließ sich die würzige Luft um die Nase wehen. Sie war frisch und klar und roch nach feuchter Erde und jungem Grün, nach neuer Hoffnung und unverbrauchtem Leben. Fast begierig tranken Christines Augen den lang entbehrten Anblick der heimatlichen Berglandschaft.

Und trotzdem schoben sich immer wieder andere Bilder davor. Bilder der jüngsten Vergangenheit. Und Bilder aus einer weiter zurückliegenden Zeit, in der sie von St. Johann Abschied genommen hatte und mit fliegenden Fahnen in ein neues, ganz anderes Leben hinausgestürmt war. Voller hoch gespannter Erwartungen an die Liebe und an das Glück. Voller Erwartungen, die sich nicht erfüllt hatten.

Plötzlich sah Christine sich wieder im eleganten schwarzen Hosenanzug inmitten der Trauergemeinde am Grab ihres Mannes stehen. Sie hörte das wilde Aufschluchzen Aenne Hellers, ihrer Schwiegermutter. Und erblickte wie in einem Spiegel ihr eigenes versteinertes Gesicht.

Im Gegensatz zu Aenne hatte sie selber keine Tränen gehabt. Keine Tränen und kein wirkliches Gefühl der Trauer. Nur das quälende Wissen, mit ihrem Mann im Streit auseinander gegangen zu sein. Und das Bewusstsein, dass die Worte, mit denen sie Hellmuth kurz vor seinem Abflug ihre ganze Eifersucht, den ganzen Frust und die ganze Enttäuschung einer gleichgültigen Ehe ohne wirkliche Liebe ins Gesicht geschleudert hatte, zu Abschiedsworten geworden waren; durch seinen Tod für immer festgeschrieben.

Ob die Auseinandersetzung zwischen ihr und Hellmuth das Flugzeugunglück wirklich mit heraufbeschworen hatte, würde sie wohl nie erfahren.

Beklommen strich Christine sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und blickte wieder konzentrierter auf das elterliche Anwesen.

Auch mit ihrem Vater war sie damals im Streit auseinander gegangen. Hellmuths wegen, den Sepp Leitner als Schwiegersohn rundweg abgelehnt hatte. Bei Nacht und Nebel hatte sie vor acht Jahren ihr Elternhaus verlassen.

Am Grab ihres Mannes jedoch hatte sie sich geschworen, zurückzukehren und nicht zu stolz zu sein für ein Wort der Versöhnung. Und an diesen Vorsatz würde sie sich halten. Komme, was da wolle.

Rasch setzte Christine, ehe sie schwach werden und es sich hätte anders überlegen können, den Motor ihres Wagens wieder in Gang und wollte gerade losfahren, als sie hörte, wie jemand ihren Namen rief.

Die Stimme klang vertraut in ihren Ohren, aber zu wem sie gehörte …

Christine versuchte, sich zu erinnern, und wandte sich, als es ihr nicht gelingen wollte, zögernd um. Zu ihrer Verblüffung schaute sie in das braungebrannte, lachende Gesicht eines jungen Mannes mit Schnauzbart und lockig in die Stirn fallenden dunklen Haaren.

Das war doch …

»Sag bloß, du kennst mich nimmer, Christel«, fragte der junge Mann vorwurfsvoll, noch ehe Christine hätte den Mund öffnen können. »Das glaub ich einfach net. Bloß weil du nach München gegangen bist, kannst du net mir nix, dir nix alles, was zu St. Johann gehört, aus deinem Gedächtnis gestrichen haben.«

Christine schluckte.

»Hab’ ich auch net, Toni«, sagte sie mit ein wenig belegter Stimme. »Ich hab’ zwar zuerst ein bissel überlegen müssen, wo ich dich hintun soll. Aber dann ist mir sofort klar geworden, dass du nur der Hirmer-Toni sein kannst. Du hast dich wirklich kaum verändert.«

Der Bauernsohn grinste.

»Ich nehm’s als Kompliment«, meinte er launig. »Wenn ich die Blumen auch net in der gleichen Form zurückgeben kann.« Er blinzelte Christine zu. »Du hast dich nämlich im Gegensatz zu mir sehr wohl verändert. Und zwar ausschließlich zu deinem Vorteil. Noch viel schöner bist du geworden. Obwohl das fast nimmer geht, weil du schon als Backfisch ausgesehen hast wie ein Filmstar. Und eine feine Dame bist du natürlich auch geworden. Eine richtige Großstädterin halt. Wenn ich da an die Bauernmadln denke, die beim samstäglichen Tanzabend im ›Löwen‹ herumhopsen …. Von denen kann dir keine das Wasser reichen.«

Christine fühlte, wie ihr eine heiße Röte in die Wangen stieg. Der Hirmer-Toni verstand das Süßholzraspeln also noch immer genauso gut wie früher. In diesem Punkt hatte er offenbar nicht das Geringste verlernt. Und wenn Christine auch aus Erfahrung wusste, dass nicht viel dahinter steckte, so flossen ihr seine Worte doch wie Balsam in die Seele.

Hatte Hellmuth ihr in den letzten Jahren je ein Kompliment gemacht? Oder sie auch nur ein einziges Mal gelobt?

Christine seufzte, spontan erinnerte sie sich an keine einzige Situation, in der er ihr Anerkennung gezollt hätte.

Unsicher spielten Christines Hände mit dem Lenkrad.

»Bist ein lieber Kerl, Toni«, sagte sie nach einer Weile so gleichmütig wie möglich. »Und meinst es gut. Aber …, aber es ist dir doch bestimmt net entgangen, dass mein Mann verunglückt ist. Vor noch net einmal drei Wochen. Wahrscheinlich hast du in der Zeitung über den schlimmen Unfall gelesen. Und deshalb … Sei mir net bös, aber ich …, ich finde es einfach net schicklich, wenn du mir so schön tust. Ich bin jetzt eine Witwe. Und nimmer das junge Madel, als das du mich noch immer sehen willst.«

Toni Hirmer stutzte einen Moment.

Sein Blick glitt über die schwarze Jeans und die gleichfarbige Jacke, die Christine trug und die er jetzt erst als Trauerkleidung erkannte.

»Freilich weiß ich Bescheid«, beeilte er sich zu sagen. »Und möchte dir selbstverständlich mein allerherzlichstes Beileid aussprechen. Es tut mir ehrlich leid, dass ich net gleich daran gedacht hab. Aber ich war, als ich dich gesehen hab, wie verzaubert. Und hab’ an gar nix anderes mehr denken können als daran, welch wunderbare Frau du bist. Es …, es war, als hätte ich ein Brettl vor meinem Kopf.«

Christine wusste im ersten Impuls nicht, ob sie lachen oder sich ärgern sollte. Toni Hirmer war einfach der geborene Schwerenöter!

»Hast du jetzt als Witwe eigentlich vor, wieder öfter nach St. Johann zu kommen? Ich meine, wenn dich jetzt in München weiter nix mehr hält«, erkundigte er sich im nächsten Moment unverblümt und schaute Christine dabei tief in die Augen.

Sie wich seinem Blick aus.

»Das weiß ich noch net«, erwiderte sie. »Ich bin unterwegs zum Leitner-Hof, um meinem Vater und der Anthuber-Burgl wieder einmal einen Besuch abzustatten. Nach langer, langer Zeit.«

Toni Hirmer nickte.

»Verstehe«, meinte er schließlich gedehnt. Und fügte, sich räuspernd, hinzu: »Du weißt aber schon, dass euer Hof bereits seit gut sieben Jahren kein Bauernhof mehr ist.«

Christine stellte den Motor ihres Wagens wieder ab. »Kein Bauernhof mehr?«, fragte sie verwundert zurück. »Ist meinem Vater die Landwirtschaft am Ende doch zu viel geworden? Ist er krank?«

Toni schüttelte den Kopf.

»Körperlich krank ist der Sepp net«, stellte er klar. »Ein bissel verrückt im Kopf stimmt schon eher. Kurz nach deiner Heirat hat er nämlich aus seinem Anwesen einen Gnadenhof gemacht. Ein Auffangbecken und ein Zuhause für Hunde, Katzen und Pferde, die keiner mehr haben will. Viecherl, die in den meisten Fällen, weil sie alt und krank sind, Pflege und tierärztliche Versorgung brauchen und eine Menge Geld kosten. Aber solche Lappalien kümmern deinen Vater net. Er verkauft munter Grundstücke und verschuldet den Leitner-Hof bis unters Dach, damit er immer noch mehr Tiere retten kann. Wenn ihm die Leute irgendwann einen abgetakelten Zirkuselefanten, eine rheumatische Giraffe oder ein altersschwaches Rhinozeros anschleppen, wird er alle mit offenen Armen aufnehmen. Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Dessen bin ich mir ganz sicher.«

Christine wusste erst gar nicht, was sie sagen sollte, so verwirrt war sie von dem, was sie soeben erfahren hatte.

»Warum macht mein Vater das denn? Und wie …, wie schafft er überhaupt die ganze Arbeit«, wollte sie, als sie sich wieder einigermaßen gefasst hatte, wissen. »Die Knechte und Mägde von früher werden wohl kaum als Tierpfleger geblieben sein.«

»Nein. Kein einziger von ihnen«, wusste Toni Hirmer. »Eigentlich werkeln auf dem Hof nur mehr der Sepp selbst und die Burgl, die treue Seele, vor sich hin. Seit kurzem hilft ihnen hin und wieder noch ein Bub aus dem Ort, den ihnen der Bergpfarrer zugebracht hat. Der Bub ist recht fleißig, aber halt bloß ein Bub. Und keine vollwertige Arbeitskraft.«

Toni beugte sich zu Christines offenem Wagenfenster hinunter und brachte sein Gesicht gefährlich nah an ihres, während Christine so gut es ging zur Seite rutschte, um etwas mehr Abstand zwischen sich und Toni Hirmer zu halten.

Toni zeigte sich von Christines nicht eben einladenden Gesten unbeeindruckt.

»Ich rede net viel mit deinem Vater, Christel. Du weißt, dass ich noch nie einen guten Draht zu ihm gehabt hab. Deshalb hab’ ich natürlich auch keine Ahnung, wie er dich aufnehmen wird«, meinte er. »Aber wenn es dir auf eurem Hof net gefallen sollte«, fuhr er mit dem aufdringlichen Charme eines eingefleischten Dorfcasanovas fort, »brauchst du deshalb net gleich wieder aus St. Johann zu verschwinden. Dann kommst du einfach auf den Hirmer-Hof. Der gehört zwar mittlerweile meinem Bruder, aber ich hab’ mir meine Zimmer im Dachgeschoß zu einer schnuckeligen Junggesellenwohnung umgebaut. Die ich niemandem lieber zeigen würde als dir.«

Christine verzog ihren Mund.

»Das kann ich mir denken«, entgegnete sie. »Aber das wäre so ziemlich das Letzte …«

Sie verstummte mitten im Satz, weil Toni Hirmer mit einem Mal einen so todtraurigen Dackelblick aufsetzte, dass er ihr beinahe Leid tat.

»Ich hab’ es net bös gemeint. Aber man soll nix überstürzen, Toni«, lenkte sie ein. »Jetzt kommt zuerst einmal der Leitner-Hof an die Reihe. Und mein altes Zimmer dort, falls es das noch gibt.«

»Wie du meinst«, antwortete Toni, dessen Miene sich trotz der Abfuhr bereits wieder aufheiterte. »Aber vergiss net, wenn du irgendetwas brauchst, bin ich, zu jeder Tages- und Nachtzeit, mit dem allergrößten Vergnügen für dich da. Frei nach dem Motto: Net verzagen, Toni fragen. Versprichst du mir das, Christel?«

»Versprochen«, erwiderte Christine, um Toni endlich loszuwerden.

Schon spielte sie mehr als auffällig mit dem Zündschlüssel ihres Wagens, als Toni, immer noch mit den Ellbogen auf das heruntergedrehte Autofenster gelehnt, einen weiteren Vorstoß unternahm.

»Ich weiß natürlich net, wie lange du bleiben willst, Christel«, begann er. »Aber wenn du Lust und ein bissel Zeit hast, könnten wir einmal miteinander eine Bergtour unternehmen. Zumal ich dich zum Tanzabend in den ›Löwen‹ ja leider erst einladen kann, wenn dein Trauerjahr vorbei ist.«

»Mal schauen, Toni«, erwiderte Christine halbherzig.

Sie nickte ihm mit einem unverbindlichen Lächeln zu und ließ schließlich demonstrativ den Motor ihres Wagens wieder an.

Toni Hirmer wich notgedrungen zurück.

»Ciao, bella«, rief er ihr dessen ungeachtet mit einem schwärmerischen Augenaufschlag nach.

Im Rückspiegel konnte Christine erkennen, dass er mit beiden Armen winkte, was das Zeug hielt, und ihr sogar eine Kusshand zuwarf.

»Unverbesserlich«, murmelte sie in sich hinein und musste doch grinsen.

*

»Wie einem nur das Kreuz so wehtun kann«, jammerte Burgl Anthuber mit schmerzverzerrtem Gesicht, als sie sich, die linke Hand auf den Rücken gepresst, vorsichtig aufrichtete. Skeptisch blickte sie auf das Sträußchen Bärlauch, das sie in der Rechten hielt. »Ich fürchte fast, das reicht immer noch net für eine Suppe«, bemerkte sie mit einem Seufzer und schaute dann auf den Boden zu den wild wuchernden grünen Blättern, die sich flächendeckend im ganzen ehemaligen Bauerngärtchen breit machten. »Wachsen würde da noch mehr als genug. Wenn mir nur das Pflücken net so schwer fallen würde!«

Nach einer kleinen Verschnaufpause versuchte sie es erneut. Sie hatte allerdings noch nicht mehr als vier oder fünf Blätter geschafft, als der alte Schäferhund Arno, der bisher ruhig und zufrieden neben ihr gelegen hatte, mit einem Satz hochfuhr. Flink, wie sie es ihm nicht zugetraut hätte, stürmte er an ihr vorbei, wobei er sie um Haaresbreite umgerissen hätte.

»Kannst du net aufpassen?«, begann sie zu schimpfen. »Immer tust du, als wärst du genauso kreuzlahm wie ich, und dann rennst du auf einmal herum wie ein geölter Blitz.«

Ächzend hob sie den Kopf, um herauszufinden, was die plötzliche Aufregung des Hundes verursacht hatte.

Das erste, was ihr ins Auge fiel, war das silbergraue Mercedes-Coupé mit Münchener Kennzeichen.

Sie hatte es noch nie zuvor gesehen. Trotzdem war sie sich, ohne zu ahnen, woher ihr die Gewissheit kam, von einer Sekunde auf die andere sicher: Er konnte niemand anderem gehören als Christine. Christine war heimgekommen. Sie war wieder da.

Auf Burgls Züge trat ein Lächeln, das eine Unzahl von Fältchen in ihre Mundwinkel und Wangen grub und gleichzeitig ihre Augen strahlen machte, als wäre sie noch ein junges Mädchen mit achtzehn oder zwanzig Jahren.

»Jetzt wird alles wieder gut. Von jetzt an geht es wieder aufwärts«, sagte sie halblaut vor sich hin, während sie, ihre Rückenschmerzen völlig vergessend, so schnell auf das Auto zustapfte, als ihre schweren Gummistiefel es erlaubten.

»Christine, mein Madl! Herzlich willkommen daheim!«, rief sie glückselig, als Christine endlich ausstieg und sich zögernd umsah. Achtlos ließ sie das Bärlauchbüschel auf den Boden fallen und breitete beide Arme aus.

»Burgl! Mein Gott, wie ich mich freue, dich wieder zu sehen«, stieß schließlich auch Christine hervor und war mit ein paar Riesenschritten bei Burgl.

Die beiden Frauen herzten und küssten sich und konnten gar nicht mehr damit aufhören.

»Lass dich anschauen, Madl«, sagte Burgl endlich und schob Christine wieder ein wenig von sich. Sie musterte sie von oben bis unten und machte ein immer besorgteres Gesicht: »Blass schaust du aus. Und dünn bist du geworden. Viel zu dünn. Dich weht ja der nächste Sturmwind fort. Hast du denn bei deinem Mann nix zu essen bekommen?«

Christine schüttelte lächelnd den Kopf, während sie Arno, der sich dicht an sie drückte, zart hinter den Ohren kraulte.

»Aber nein, Burgl«, wiegelte sie ab. »Mir hat einfach in letzter Zeit nix mehr geschmeckt. Aber ich denke, das gibt sich wieder. Hier in der gesunden Bergluft.«

Burgl horchte auf.

Das hörte sich an, als habe Christine vor, nicht so schnell wieder abzureisen. Wollte sie vielleicht sogar für immer auf dem Leitner-Hof bleiben?

»Wenn du ein paar Tage bei uns sein willst«, begann Burgl vorsichtig, »kannst du in deinem früheren Zimmer schlafen. Es schaut noch immer genauso aus, wie du es verlassen hast.«

Christine schluckte. Sie brachte fürs Erste kein Wort hervor, aber das Leuchten in ihren Augen sprach Bände.

»Ist …, ist der Papa zuhause?«, fragte sie schließlich anstelle einer Antwort, wobei sie sich redlich bemühte, ihrer Stimme Sicherheit und Festigkeit zu geben.

Burgl schüttelte den Kopf, während sie, Christine am Arm packend und mit sich ziehend, ins Haus voranging.

»Nein, er ist net da«, erwiderte sie. »Und kommt auch net vor dem Abend zurück. Er ist nämlich in die Kreisstadt gefahren, um eine Futterspende für unseren Gnadenhof abzuholen. Aber du …, du weißt ja wahrscheinlich noch gar net, dass wir inzwischen …«

Christine winkte ab. Sie beschleunigte ihre Schritte, um mit Burgl mithalten zu können.

»Doch, Burgl, ich weiß es recht wohl. Wenn auch noch net lang. Ich hab’ nämlich auf dem Weg hierher den Hirmer-Toni getroffen. Und der hat mir von der …, der Veränderung auf dem Leitner-Hof erzählt.«

»Der Hirmer-Toni?«

Burgls Augen begannen unruhig zu flackern, doch die ältere Dame kam nicht dazu, weitere Fragen zu stellen.

Mittlerweile waren sie und Christine im oberen Stockwerk des Leitnerschen Anwesens angekommen und standen vor der Tür von Christines ehemaligem Mädchenzimmer.

»Hier …, hier sieht es ja wirklich noch immer aus wie vor acht Jahren. Ganz wie früher«, rief Christine aus, als sie nach einem Moment des Zögerns die Tür geöffnet hatte.

Wie ein Kind bei der Bescherung ging sie umher und schaute alles an, berührte dort einen Teddybären und da ein Buch, in dem sie gerne gelesen hatte. Schließlich trat sie ans Fenster, von dem aus man auf St. Johann hinuntersah, und schaute verträumt ins Weite.

»Ich glaube, er wird ein Gewitter geben«, meinte sie nach einer Weile mit einem Blick auf die Kumuluswolken mit den schwarzen Rändern, die sich in Windeseile hinter den Zwillingsgipfeln der Himmelsspitz und der Wintermaid auftürmten.

Burgl zuckte gedankenverloren die Schultern.

»Die Schwalben … Sie sind nimmer gekommen«, sagte sie unvermittelt. »Weißt du noch? Sie haben immer über deinem Fenster genistet.«

Christine runzelte einen Moment lang verwirrt die Stirn, dann nickte sie. »Ja. Du hast Recht, Burgl. Und jeden Morgen haben sie mir ein wunderbares Konzert gezwitschert.«

Burgl seufzte.

»Schon im ersten Frühling, den du in München bei deinem Mann verbracht hast, sind sie weggeblieben«, setzte sie hinzu. »Es war, als ob mit dir das Glück von uns gegangen wäre, Christine. Als ob du es mitgenommen hättest.«

Christine sah Burgl verblüfft an, dann setzte sie sich plötzlich wortlos auf ihr Bett, schlug ihre Hände vor ihr Gesicht und begann zu weinen.

Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern setzte Burgl sich neben die junge Frau und legte beinahe zärtlich ihren Arm um deren Schultern. Wie damals, als sie nach Sepps Scheidung als Haushälterin auf den Hof gekommen war und angefangen hatte, an dem achtjährigen Mädchen Mutterstelle zu vertreten.

»Ich? Und das Glück mit mir genommen?«, nahm Christine nach einer Weile den Gesprächsfaden wieder auf. »Nein, Burgl. Bestimmt net. Vielleicht bin ich sogar diejenige, die von uns dreien am allerwenigsten weiß, wo das Glück hingegangen ist.« Sie putzte sich mit dem Taschentuch, das Burgl ihr gereicht hatte, die Nase. »Schon kurz nachdem der Maximilian, mein Ältester, auf die Welt gekommen ist, hab’ ich immer deutlicher gespürt, dass ich und mein Mann net zueinander passten. Das war wie zwei linke Schuhe, weißt du. Wie Fisch und Vogel, die net zueinander finden können, weil sie in zwei verschiedenen Welten leben.« Sie seufzte. »Ich hab’ mir als Madel immer nur ein ganz anderes Leben gewünscht, als das, das ich hier auf dem Hof gehabt hab. Aber als mein Traum dann endlich wahr geworden ist, hab’ ich einsehen müssen, dass ich für die Münchener Schickeria mit ihren Partys und ihrem oberflächlichen Geplänkel erst recht net geschaffen bin. Und dass ich meinen Mann im Grunde gar net wirklich liebe. Ich …, ich hab’ mir am Anfang meine Verliebtheit nur eingebildet. Weil Hellmuth aus meiner Traumwelt kam. Und weil er der Einzige war, der mich von hier hat fortholen können. Ohne ihn hätte ich Provinzgans nie gewagt, meinen größten Wunsch wahr zu machen und in die Großstadt zu gehen.«

Burgl gab keine Antwort, streichelte nur stumm über Christines blonde Locken.

»Hast du eigentlich nie daran gedacht, dich scheiden zu lassen, Madl?«, fragte sie schließlich.

Christine seufzte.

»Doch, Burgl«, erwiderte sie. »Oft sogar. Aber wo hätte ich denn hin sollen, ganz allein? Und dann war da ja auch der Maximilian. Schon um seinetwillen hab’ ich versucht, mich an die neuen Verhältnisse anzupassen, so gut es eben ging. Ich hab’ gedacht, ich werde es schon schaffen. Zwei Jahre später ist die Anne-Sophie gekommen. Besser geworden ist dadurch natürlich nix. Zwischen mir und Hellmuth, meine ich. Ich …, ich hab’ immer mehr nur noch für die Kinder gelebt. Sie waren und sind alles, was mir geblieben ist von meiner Sehnsucht nach Liebe und Glück.«

»Mein Gott, Madl. Das tut mir so leid für dich«, sagte Burgl leise. »Ich hab’ mir immer so sehr gewünscht, dass du den Richtigen findest. Und dass du die glücklichste Frau auf der ganzen Welt wirst.« Ein paar Minuten saß Burgl in sich zusammengesunken, aber es dauerte nicht lange, bis sich ihre Gestalt straffte und ihr Gesicht einen entschlossenen Ausdruck annahm. »Und wo sind die Kinder jetzt?«, erkundigte sie sich beinahe streng. »Ich muss es wissen. Schließlich sind es die Enkelkinder vom Sepp. Und ein bissel sind es auch meine.«

Einen Lidschlag lang huschte bei diesen Worten ein Lächeln über Christines Züge, doch es verschwand so schnell wie es gekommen war.

»Sie sind in München, Burgl«, erwiderte sie. »Die Anne-Sophie ist im Kindergarten, und der Maximilian ist in der Schule. Und wenn sie heimkommen, kümmert sich Aenne, meine Schwiegermutter um die beiden.«

Burgls Miene verfinsterte sich.

»Von deiner Schwiegermutter hab’ ich ein paar Mal ein Bild in einer dieser Zeitungen gesehen, die voll von Geschichten über gekrönte Häupter und Prominente sind. Also ich weiß net recht … Sonderlich sympathisch ist sie mir net. Meinst du net auch, dass Sepps Enkel

und …, und meine Halbenkel hier bei uns auf dem Leitner-Hof besser aufgehoben wären als bei ihr? Die schöne Landschaft, die gesunde Luft, die Tiere …«

Christine schüttelte fast unmerklich den Kopf. »Das ist net so einfach, Burgl«, wandte sie ein. »Ich kann die Kinder erst zu mir nehmen, wenn ich selber wieder einen Ort gefunden hab, wo ich hingehöre. Ich weiß schließlich noch überhaupt net, wie es weitergeht. Ich weiß ja net einmal, wie mein Vater auf meine Rückkehr reagieren wird.«

Burgl kniff die Augen zusammen und machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Jetzt wird erst einmal net vom Sepp geredet, sondern von dir und von mir«, entschied sie. »Du gehörst hierher auf den Leitner-Hof, falls du das immer noch net begriffen haben solltest. Das werden wir dem Sepp schon beibringen. Und was mich betrifft … Ich hab’ dir geholfen, als du ein kleines Madl warst und deine Mutter dich verlassen hat. Jetzt hat es sich umgekehrt. Jetzt brauche ich dich. Allmählich wächst mir das alles hier nämlich über den Kopf. Das sieht sogar der Sepp, wenn er einen guten Tag hat. Du kannst mich jetzt net einfach im Stich lassen und dich wieder aus dem Staub machen, Christine. Zumal es dir in München sowieso net gefällt.«

Christine warf Burgl einen zweifelnden Blick zu.

»Ich weiß net so recht. Ich …«, begann sie, wurde allerdings von Burgl sofort unterbrochen.

Fast beschwörend legte die alte Haushälterin ihre runzlige, verarbeitete Hand auf die Christines.

»Nein, nein«, fiel sie Christine ins Wort. »Bedenken lass ich net gelten. Du musst bleiben, Madl. Alles andere wäre undankbar. Und Undankbarkeit hab’ dich dir net beigebracht, oder?«

Christine zuckte ein wenig hilflos die Schultern, doch Burgl blinzelte ihr aufmunternd zu.

»Richte dich nur gleich häuslich ein hier heroben. Aber zuerst gehen wir noch in die Küche und kochen uns einen schönen Kaffee. Zur Feier des Tages einmal ohne Bohnen zu sparen. Und ein eiserner Rest vom Gugelhupf ist auch noch da. Der gehört jetzt uns. Uns ganz allein.«

*

Als Andreas Umgelter sich dem Leitner-Hof näherte, fiel ihm als Erstes das silbergraue Auto mit der Münchener Nummer auf. Unwillkürlich schrak er zusammen.

Hatte sein Vater in seiner Ungeduld jemanden ausgeschickt, um ihm hinterher zu spionieren? Oder vielleicht jemanden, der ihm zuvorgekommen war und die ihm zugedachte Aufgabe bereits erledigte?

Mit einem Anflug schlechten Gewissens dachte Andreas daran, wie er bisher seine Tage in St. Johann zugebracht hatte. Er war herumgewandert und hatte in vollen Zügen den Bergfrühling genossen. Er war auf dem blitzenden Wasser des Achsteinsees Kahn gefahren, hatte sich das hervorragende Essen im »Löwen« schmecken lassen und zwischendurch ein wenig mit dem jungen Madl am Empfang und mit den Kellnerinnen geflirtet. Sogar den samstäglichen Tanz im »Löwen« hatte er besucht und sich dabei eingeredet, dass alle diese Beschäftigungen irgendwie zur Vorbereitung dessen gehörten, was er für seinen Vater hier auf die Beine stellen sollte.

Und nun wurde es ernst, und …

Andreas Umgelter schnaufte, als hätte sich von einer Sekunde auf die andere alle Last der Welt auf seine Schultern gelegt.

Diese Versuche, andere zu übervorteilen, und die Heimlichkeiten, die sein Vater als Cleverness bezeichnete, waren einfach nichts für ihn. Er war aus anderem Holz geschnitzt, wenn er auch selber noch nicht so recht wusste, aus welchem.

Einmal mehr überlegte Andreas fieberhaft, was er tun sollte.

Ein zweites Mal umkehren?

Schon war er auf dem Sprung, es wirklich zu tun, als plötzlich ein an einen VW-Kombi gekoppelter Pferdetransporter herangerumpelt kam.

Wahrscheinlich stand ein altes verängstigtes Pferd darin, das auf dem Gnadenhof Leitner Rettung vor dem Abdecker suchte. Eine Welle von Mitleid mit der gequälten Kreatur überflutete Andreas. Auch Silberpfeil würde irgendwann alt sein. Dann würde er seinen wohlverdienten Lebensabend in einem warmen Stall mit genügend Futter und reichlich Zuwendung genießen. Aber leider hatten nicht alle Tiere so viel Glück.

Gespannt beobachtete Andreas, wie nach einigem Hin und Her und einem kurzen Wortwechsel zwischen dem Fahrer des Kombis und Sepp Leitner eine magere, sehr nervöse Fuchsstute ausgeladen wurde. Der Leitner-Bauer hielt trotz seines Alters geschickt und beherzt die Zügel und führte das immer wieder angstvoll wiehernde und tänzelnde Tier unter gutem Zureden und sanften, tätschelnden Berührungen in sein Anwesen.

Im nächsten Augenblick jedoch ertönte völlig unerwartet ein Knall, als hätte sich irgendwo ein Schuss gelöst. Die Felswände des Talkessels warfen den Widerhall zurück.

Selbst Andreas fuhr erschrocken zusammen.

Kein Wunder, dass das laute Geräusch der verängstigten Stute den Rest gab. Sie bäumte sich auf und stieg so abrupt auf die Hinterbeine, dass Sepp Leitner wie eine Stoffpuppe im Zügel hing.

Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, rannte Andreas los, um dem Leitner-Bauern zu helfen, doch die blonde junge Frau, die im selben Moment die Haustür aufstieß, war schneller als er.

»Papa, das Pferd bringt dich ja um!«, schrie sie in Panik und warf sich dem scheuenden Tier, als es seine Vorderbeine wieder auf den Boden brachte und losstürmen wollte, in den Weg. Ohne an die Gefahr, in die sie sich begab, auch nur zu denken.

Allerdings hätte die zarte Frau mit großer Wahrscheinlichkeit nicht die geringste Chance gehabt, wäre inzwischen nicht auch Andreas dort angelangt gewesen. Unter Aufbietung aller seiner Kräfte gelang es ihm, die völlig außer sich geratene Fuchsstute zum Stehen zu bringen. Gerade noch rechtzeitig, um ein Unglück zu verhindern.

Keuchend standen Sepp Leitner, Christine und Andreas neben dem schäumenden und immer noch heftig schnaubenden Pferd und sahen sich an.

»Jesus, Maria und Josef! Dem Himmel sei Dank!«, ertönte es im selben Moment von der Haustür her. Wie unter dem Türrahmen festgewurzelt hatte Burgl Anthuber mit vor Entsetzen geweiteten Augen den Fortgang des Geschehens beobachtet und konnte nun nicht anders, als ihrer Erleichterung über das glückliche Ende auf beredte Weise Luft zu machen. »Heiliger Leonhard, heiliger Antonius, heiliger Johannes und alle anderen Heiligen … Ich stifte euch in unserer Pfarrkirche eine mindestens zwei Meter hohe Kerze zum Dank. Und einen ganzen Rosenkranz bete ich obendrein. So andächtig ich kann.«

»Und auf den Knien«, frozzelte Sepp Leitner, der sich, seinem immer noch wie rasend pochenden Herzen zum Trotz, als erster wieder gefasst hatte und tapfer ein schiefes Lachen versuchte.

Dann wandte er sich an Andreas.

»Ich danke Ihnen von ganzem Herzen«, sagte er schlicht und schaute dem jungen Mann dabei voller Anerkennung und Hochachtung in die Augen. »Was Sie getan haben, hätte kein anderer gewagt.« Dann schwieg er einen Moment und fügte schließlich mit gesenkten Lidern kleinlaut hinzu: »Außer meiner Christine natürlich.«

Christine schaute verlegen zu Boden.

»Auch ich möchte mich bei Ihnen bedanken«, pflichtete sie ihrem Vater bei. »Ohne Sie könnte der Papa jetzt schwer verletzt oder tot sein. Und ich auch.«

Ein wenig zaghaft hob sie ihren Blick und schaute in Andreas dunkelbraune Augen, die sich voller Wärme auf sie richteten.

Sein Gesicht war von der Anstrengung so hochrot angelaufen, dass nicht mehr zu erkennen war, wie ihm von einer Sekunde auf die andere eine heiße Glut in die Wangen schoss.

Christines tiefblaue Augen und ihre sanfte melodische Stimme machten ihm weiche Knie.

Oder war es doch nur der ausgestandene Schrecken?

Als Christine ihm zaghaft ihre Hand hinstreckte, griff er sofort danach und hielt sie fest, als wolle er sie nie wieder loslassen. Ihre immer noch zitternden Finger lagen in den seinen wie ein kleiner, aus dem Nest gefallener Vogel, und er spürte das Bedürfnis, die junge Frau an sich zu ziehen und in die Arme zu nehmen.

Erst das ein wenig beklommene Hüsteln des Reitstallbesitzers, der die Fuchsstute hatte abliefern wollen, brachte ihn wieder in die Wirklichkeit zurück.

»Was sollen wir jetzt machen? Wie wollen wir unter diesen Umständen verbleiben? Kann ich meine Rufina dalassen?«, fragte der Mann mit einem unsicheren Blick auf Sepp Leitner. »Oder ist es Ihnen lieber, wenn ich sie wieder einlade und mitnehme?«

Der Leitner-Bauer schaute auf die Fuchsstute, die immer noch wild mit den Augen rollte, sich aber allmählich zu beruhigen schien.

»Zum Abdecker kommt mir das arme Pferd net. Es kann schließlich nix für seinen schlechten Einstand«, sagte er ohne lange zu überlegen. »Natürlich können Sie es dalassen. Sonst wären wir kein Gnadenhof.«

Dem Reitstallbesitzer entfuhr ein Seufzer der Erleichterung.

Einige Dankesworte stammelnd, die Sepps Idealismus und großes Herz für Tiere rühmten, kehrte er in Windeseile zu seinem Wagen zurück. Fast als fürchte er, der Leitner-Bauer könne es sich doch noch anders überlegen und seinen

Entschluss wieder rückgängig machen.

Andreas löste für einen Moment seine Augen von Christine und sah ihm nach, dann meinte er, zu Sepp Leitner gewandt: »Kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein, Rufina …, die Fuchsstute in den Stall zu bringen? Wenn Sie mir zeigen, in welche Box ich sie stellen darf, werde ich Ihnen diese Arbeit gerne abnehmen.«

Sepp Leitner stutzte. Er wusste im ersten Moment nicht, was er sagen sollte. An so viel Hilfsbereitschaft war er nicht gewohnt.

»Ja, ja freilich. Warum net. Sie …, Sie sind ein so netter und freundlicher Mensch. Allerdings will ich Sie gerade deshalb net … Ich meine …«, stotterte er und setzte schließlich treuherzig hinzu: »Sie sind aber net aus St. Johann, oder?«

Für einen Sekundenbruchteil wallte es heiß in Andreas auf, dann hörte er sich sagen: »Nein. Ich verbringe nur meinen Urlaub hier. Und da hab’ ich zufällig einen Spaziergang hier herauf zu Ihrem Hof gemacht. Ich hab’ also Zeit genug,

um …«

»Wir können unseren Neuankömmling doch gemeinsam in seine Box bringen«, unterbrach Christine Andreas’ Vorschlag, ihrem Vater einen flüchtig fragenden Blick zuwerfend.

Sepp zuckte die Schultern und ließ sich von Burgl, die immer noch ganz auseinander war und sich wie eine Klette an Sepps Arm hing, willig ins Haus zerren, während Christine neben Andreas, der die Fuchsstute am Zügel führte, auf die Stallungen des Gnadenhofs zuging.

Keiner von beiden sprach ein Wort.

»Sie … Sie können ausgezeichnet mit Pferden umgehen«, begann Christine schließlich, als Andreas Rufina in ihrer Box festband und dem Tier das Futter, das Christine ihm reichte, in den Trog füllte.

In Andreas’ Augen leuchtete es auf. Das Lob aus Christines Mund klang ihm wie Musik in den Ohren und machte ihm ganz warm ums Herz.

»Ich habe selber …«, platzte er heraus, verbesserte sich aber sofort. »Ich …, ich habe meine ganze Kindheit und Jugend mit Pferden

verbracht. Reiten ist immer meine liebste Freizeitbeschäftigung gewesen. Sie hat mir viel mehr bedeutet als Schule und Studium.«

Christine nickte.

»Das kann ich verstehen. Ich hab’ zwar net studiert, aber mir ist es trotzdem von Anfang an ähnlich ergangen. Wir hatten hier auf dem Hof nämlich bereits Pferde, als das Anwesen noch kein Gnadenhof, sondern ein ganz normaler Bauernhof war. Und ich hab’ sie sehr geliebt.«

Andreas schluckte verlegen. Mit akribischer Genauigkeit prüfte er, ob Rufinas Box gut verschlossen war. Dazwischen ruhten seine Blicke aber immer wieder auf Christine. Ihre Locken schimmerten in einem Lichtstrahl, der durch eine Lücke in den Brettern drang, wie Gold. Und wenn sie ihn mit ihren blauen Augen ansah … Rasch senkte Andreas den Blick, als Christine sich ihm wieder zuwandte. Er war mit einem Mal verwirrt wie noch nie in seinem Leben. Sein Herz klopfte wild und laut, als schlüge ein Hammer in seiner Brust.

»Bleiben Sie noch länger in St. Johann?«, fragte in diesem Moment Christine.

Andreas biss sich auf die Unterlippe.

Beinahe hätte er gesagt, dass er am liebsten für immer bleiben würde, doch noch ehe er den Mund hätte auftun können, öffnete sich quietschend das Tor zum Pferdestall, und Sepp Leitner stand wieder vor ihnen.

»Ich … Ich hab’ gar nimmer daran gedacht … Ich war völlig durcheinander. Es tut mir leid, dass ich Sie beinahe hätte gehen lassen, ohne mich in irgendeiner Form erkenntlich zu zeigen«, meinte er mit schuldbewusster Miene. »Net einmal nach Ihrem Namen hab’ ich Sie gefragt. Und auch net ins Haus gebeten. Ich hoffe, Sie nehmen es mir net übel. Aber wenn irgendetwas Unvorhergesehenes passiert, merken die Burgl und ich halt doch, dass wir alte Leute sind und nimmer die Nerven haben, die man für solche Situationen braucht.«

Andreas nickte Sepp Leitner verständnisvoll zu.

»Aber das begreife ich doch. In der Aufregung kann man schließlich net an alles denken. Was net einmal unbedingt mit dem Alter zu tun hat. Ich …, ich bin übrigens Andreas Kienberger«, sagte er, voll zufrieden mit sich und seinem Inkognito. »Ich wohne unten in St. Johann im ›Löwen‹. Und eine Gegenleistung für meine Hilfe ist wirklich net nötig. Jeder andere wäre Ihnen genauso beigesprungen, Herr Leitner. Was ich getan hab, war wirklich nur eine Selbstverständlichkeit.«

Sepp Leitner schüttelte stumm den Kopf, dann drückte er Andreas gerührt die Hand.

»Meine Haushälterin, die Burgl, lässt fragen, ob wir Sie, weil es schon bald Mittag ist, zu uns zum Essen einladen dürfen, Herr Kienberger«, erkundigte er sich schließlich. »Damit wir uns wenigstens auf diese Weise ein bissel dankbar erweisen können. Ein Sternelokal sind wir hier zwar net, aber …«

Andreas schielte zu Christine hinüber. Als er aus dem Augenwinkel sah, dass sich bei Sepp Leitners Worten ein strahlendes Lächeln über ihre Züge ausbreitete, hätte er einen Moment lang die ganze Welt umarmen mögen vor Glück.

»Ihre Einladung nehme ich sehr gerne an, Herr Leitner«, entfuhr es ihm schneller als er denken konnte.

»Das freut mich«, antwortete Sepp aufrichtig.

Christine sagte nichts, aber sie fühlte sich so glücklich wie schon lange nicht mehr, als sie hinter ihrem Vater und Andreas in der hellen Frühlingssonne auf das Wohnhaus des Leitnerschen Anwesens zuging. Es war ihr, als schwebe sie auf Wolken.

*

Als das Handy zum dritten Mal in Folge klingelte und das Display dabei wieder den Namen Severin Umgelter anzeigte, entschloss sich Andreas schweren Herzens, das Gespräch anzunehmen. Obwohl in diesem Fall bestimmt eher aller schlechten als aller guten Dinge drei waren.

»Hallo Papa. Andreas hier«, meldete er sich, während er, aus dem Fenster seines Zimmers im »Löwen« blickend, zusah, wie die Sonne glutrot zwischen den Zwillingsgipfeln der Himmelsspitz und der Wintermaid versank. Und ihren Schein über die Felsen ausbreitete, dass sie sich aus dem immer dunkler werdenden Grün der Matten abhoben, als stünden sie in hellen Flammen. Schließlich begannen auch noch die Glocken der St. Johannis-Kirche zu läuten.

Andreas wurde so feierlich zu Mute, dass die Frage seines Vaters nach dem Fortgang seiner Mission in St. Johann über ihn kam wie ein kalter Graupelschauer im Mai.

»Net …, net schlecht«, sagte er schließlich. »Gar net schlecht.

Ich …, ich hab’ mich inzwischen, wie du vorgeschlagen hast, mit diesem Sepp Leitner bekannt gemacht. Und mit seiner Haushälterin und seiner Tochter.«

»Tochter? Ich hab’ gar net gewusst, dass der Alte eine Tochter …« Severin Umgelter führte seinen Satz nicht zu Ende. »Und?«, forschte er weiter.

»Ja, wie gesagt. Es geht ganz gut voran«, antwortete Andreas ausweichend.

Was hätte er seinem Vater auch sagen sollen?

Dass er von der Idee des Gnadenhofs, von den Tieren und von dem Idealismus, mit dem Sepp Leitner sich der bedauernswerten, verstoßenen Geschöpfe annahm, fasziniert war? Und noch viel mehr von Christine, Sepps Tochter? Von der stillen, liebevollen Art, mit der sie sich um die Tiere kümmerte? Von ihren sanften, geschickten Händen? Von dem freundlichen, rücksichtsvollen Umgang, den sie ihrem Vater und seiner Haushälterin gegenüber an den Tag legte? Von den fast zärtlichen Blicken voller Vertrauen und Anerkennung, die sie ihm öfter und öfter, wenn auch für seinen Geschmack immer noch viel zu selten, schenkte?

»Was soll das heißen: Es geht ganz gut voran?«, unterbrach Severin Umgelter die Gedanken seines Sohnes. »Ich nehme an, du hast dir inzwischen das Vertrauen dieses Gnadenhof-Bauern erworben und bist auf dem besten Weg, ihn von den vielen Vorteilen zu überzeugen, die er aus dem Verkauf seines Anwesens an unsere Firma ziehen wird.«

»Ja, natürlich. Ich denke, so kann man es ausdrücken«, hörte Andreas sich sagen und schämte sich im selben Moment für seine Feigheit.

Warum nur knickte er vor seinem Vater immer wieder ein?

Es lag nicht nur an Severins Zorn und an seinen gelegentlichen Herzattacken. Beides spielte eine nicht unbedeutende Rolle, gewiss. Aber er konnte sich dem unbeugsamen Willen des Patriarchen Severin Umgelter einfach nur schwer widersetzen.

»Und die anderen Anwesen und Grundstücke auf der Liste, die ich dir gegeben habe? Was ist mit ihnen? Hast du auch in diesen Fällen schon erfolgreiche Vorstöße unternommen?«, bohrte Severin weiter.

»Ja, natürlich«, antwortete Andreas, ein verlegenes Hüsteln unterdrückend. »Ich kenne inzwischen übrigens sogar den Pfarrer des Ortes. Einen wirklich außergewöhnlichen, sehr sportlichen Geistlichen. Und …«

»Du weichst meiner Frage aus«, drang im selben Moment Severins selbst aus dem Handy noch schneidend klingende Stimme an sein Ohr.

Andreas zuckte unwillkürlich zusammen.

Wie hätte er sich um die dubiosen Belange seines Vaters kümmern sollen? Es fehlte ihm einfach die Zeit dazu. Zwar hatte er aufgehört, St. Johann als Tourist zu erkunden, aber die Arbeit auf Sepp Leitners Gnadenhof füllte ihn voll und ganz aus. Zumal er jetzt am Abend todmüde ins Bett fiel. Wohl war sein Körper nicht ungestählt, aber hin und wieder einen Sport auszuüben war doch etwas ganz anderes als schweißtreibende, körperliche Arbeit auf einem Gnadenhof zu leisten. Und dabei …

»Ich habe dich etwas gefragt, Andreas. Und Fragen sind dazu da, dass man sie beantwortet«, insistierte Severin Umgelter mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit.

Einen Moment lang hätte Andreas das Handy am liebsten durch die geschlossene Scheibe aus dem Fenster gefeuert, besann sich aber rasch eines Besseren.

»Es gibt viel versprechende Anfänge«, tat er geheimnisvoll. »Um nicht zu sagen sehr viel versprechende. Aber es wäre natürlich gefährlich, die Dinge zu überstürzen. Und deshalb halte ich es für unumgänglich, meinen Aufenthalt hier in St. Johann zu verlängern. Drei oder vier Wochen wären, so denke ich, das Mindeste, um erfolgreich operieren zu können.«

Am anderen Ende der Leitung herrschte minutenlanges Schweigen. Severin Umgelter wusste nicht, wie er die Worte seines Sohnes einordnen sollte. Handelte es sich nur um eine Hinhaltetaktik, oder hatte der Bursche zu guter Letzt doch noch Lunte gerochen und war wirklich bereit, endlich volles Engagement für die Firma Umgelter zu zeigen?

Einen Moment lang überlegte Severin, dann entschied er sich für die zweite Möglichkeit. Und beschloss, seinem Sohn die Chance, die er ihm zugestanden hatte, nicht wieder wegzunehmen und stattdessen unbeirrt an ihn zu glauben. Zumal sein Herz ihm in den vergangenen Tagen des Öfteren schwer zu schaffen gemacht hatte. Und er mehr und mehr spürte, dass es wohl bald an der Zeit sein würde, die Leitung der Firma in jüngere und kräftigere Hände zu legen.

»Der Aufschub sei dir zugestanden, Andreas. Immerhin scheint er Sinn zu machen«, sagte er schließlich. »Aber denk daran, dass es in absehbarer Zeit deine Firma und deine Belange sein werden, für die du dich einsetzt.« Severin Umgelter schwieg eine kleine Weile. »Im Übrigen habe ich, sobald du nach München zurückkehrst, eine überaus angenehme Überraschung für dich.« Er schnalzte vernehmlich mit der Zunge. »Sie ist vierundzwanzig Jahre jung, blond und blauäugig. Und studiert zurzeit sehr erfolgreich im siebten Semester Betriebswirtschaft. Dabei ist sie beileibe kein Blaustrumpf, sondern eine überaus attraktive, begehrenswerte Frau. Obendrein reich und von Adel. Herz, was willst du mehr?«

Andreas wusste fürs Erste nicht, was er dazu sagen sollte. Mit Sicherheit meinte es sein Vater gut mit ihm und wollte nur sein Bestes. Aber auf die Idee, endlich ihn selbst entscheiden zu lassen, was dieses Beste war, würde er nicht einmal im Traum kommen.

Als das Gespräch mit Severin Umgelter beendet war, schaute Andreas noch eine Weile kopfschüttelnd auf das Handy, dann schaltete er es aus und verstaute es in dem mit Enzianblüten bemalten Bauernschrank, der sein Zimmer im »Löwen« zierte und mithalf, dessen Namen zu rechtfertigen.

Schließlich trat er auf den hölzernen Balkon hinaus und schaute mit zusammengekniffenen Augen in die Richtung, in der der Gnadenhof Leitner lag. Er musste sich direkt an der Stelle befinden, über der inzwischen der Abendstern aufgegangen war und Andreas verschwörerisch zuzublinzeln schien.

Andreas konnte nicht anders, als sich über sich selbst zu wundern.

Nie und nimmer hätte er geglaubt, dass eine Arbeit wie die auf dem Gnadenhof ihm so viel Freude machen könnte.

Sepp Leitner hatte ihm, als er nach seiner ersten schicksalhaften Begegnung das karge Mittagsmahl mit der Familie geteilt hatte, von seiner verzweifelten Suche nach einem Helfer erzählt. Und er hatte sich daraufhin spontan bereit erklärt, einen Teil seiner angeblichen Urlaubstage damit zu verbringen, auf dem Leitner-Hof mit anzupacken. Zugegebenermaßen anfangs nur, um Christine nahe sein zu können und sie nicht gleich wieder aus den Augen zu verlieren. Nach einer Weile allerdings war ihm aus dem Einsatz für die armen Tiere, die auf Sepps Hof eine Zufluchtsstätte fanden, so etwas wie Freude und tiefe Erfüllung erwachsen. Und der Hof und Christine waren immer stärker zu einer Einheit verschmolzen, ohne dass dies seine Zuneigung zu Christine auch nur im Geringsten geschmälert hätte. Ganz im Gegenteil. Er war sich zunehmend sicherer, Christine zu lieben.

Und in den Momenten, in denen er sich wiedergeliebt wähnte, kannte sein Glück keine Grenzen.

*

»Christine, was machst du denn da?«

Burgl Anthuber stand im Türrahmen von Christines ehemaligem Kinder- und Jugendzimmer und beobachtete mit gerunzelter Stirn, wie Christine ein Kleidungs- und Wäschestück nach dem anderen in Koffer und Reisetasche verstaute. Nach einigem Zögern legte Christine sogar noch das Trachtenjäckchen, das Burgl ihr, als sie noch ein Kind war, eigenhändig gestrickt und mit bunten Alpenblumen bestickt hatte, obenauf. Obwohl es ihr natürlich längst nicht mehr passte.

Auf Burgls energisches Räuspern hin drehte Christine sich um.

»Ich packe, Burgl. Das siehst du doch.«

Aus Burgls Gesicht wich jede Farbe. Dadurch schienen sich ihre Runzeln und Falten noch tiefer einzugraben, und sie wirkte binnen weniger Sekunden wie um Jahre gealtert.

»Heißt das, du lässt mich im Stich? Jetzt, wo ich mich gerade so schön an deine Hilfe gewöhnt hab?« Die Lippen der alten Haushälterin wurden zu einem schmalen Strich. »Sei mir net bös, Christine, aber unter diesen Umständen wäre es fast besser gewesen, du wärst erst gar net wieder hergekommen. Dann hätte ich wenigstens net ein zweites Mal den Abschied von dir verkraften müssen.«

Christine hielt betroffen mit Packen inne und sah auf Burgl, deren Augen feucht schimmerten. Sie trat neben die alte Frau und griff nach deren Händen, an denen noch Teigreste vom Kuchenbacken klebten.

»Grad wollte ich einen Rhabarberkuchen für dich backen«, sagte Burgl, ihre Hände rasch wegziehend, mit dünner Stimme. »Den hast du doch immer so gern gemocht. Und eigenartiger Weise haben die Rhabarberstauden in meinem ehemaligen Bauerngarten Jahr um Jahr wieder ausgetrieben. Inmitten all der wilden Blumen und all dem Unkraut.«

Christine spürte, wie ihr eng ums Herz wurde, doch sie nahm sich zusammen.

»Ich kann doch net ewig bleiben, Burgl. Das musst du doch einsehen. Meine Kinder sind in München und …«

»Eine Schule und einen Kindergarten gibt es auch in St. Johann«, erklärte Burgl. »Hol’ die Kinder nach. Du weißt in München sowieso net, wo du hinsollst. So etwas Ähnliches hast du jedenfalls am Anfang einmal gesagt.«

Christine seufzte.

»Schon, Burgl. Aber hierher gehöre ich auch net. Oder glaubst du, ich merke net, wie oft der Papa mir das mehr oder weniger durch die Blume zu verstehen gibt? Freilich hat er mich wieder aufgenommen, aber einander wirklich näher gekommen sind wir net.«

Christine drehte Burgl für einen Moment den Rücken zu und schaute aus dem Fenster, an dessen Scheiben der Regen klopfte, als hätte er Finger. Wie Tränenspuren zogen sich die holprigen, ungeraden Wege der Tropfen über das Glas.

Burgl wischte sich ihre teigigen Hände an ihrer Schürze ab und gab dabei einen ächzenden Laut von sich, sodass Christine sich ihr unwillkürlich wieder zuwandte.

»Es stimmt, dass der Sepp dir gegenüber, als du zurückgekommen bist, ein bissel skeptisch gewesen ist. Und dich eigentlich eher mir zuliebe unter seinem Dach gelitten hat als um deinetwillen. Aber spätestens seit du ihm damals mit der Rufina so mutig beigesprungen bist, hat sich das gründlich geändert«, behauptete sie.

Christine hob abwehrend die Hände.

»Bloß, dass ich net viel davon gemerkt hab. Gerade in den letzten Tagen war der Papa wieder verschlossener und abweisender denn je«, gab sie zurück, wobei ihr die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben stand. Und mit einem wehmütigen Blick zum Fenster fügte sie schließlich hinzu: »Und auch die Schwalben sind net zurückgekommen,

nur weil ich wieder da bin. Die Zeit lässt sich halt nun einmal net zurückdrehen. Und das Glück lässt sich net herbeizwingen.«

Burgl wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, dann umklammerte sie mit einem erstaunlich festen Griff Christines Handgelenk.

»Sich selber leid tun hat noch nie viel gebracht«, sagte sie und zog Christine mit sich. »Das hilft weder mir noch dir weiter. Komm mit mir hinunter in die Küche. Dann reden wir bei einer Tasse Kaffee. Das ist etwas ganz anderes als hier heroben zwischen gepackten Koffern. Und wenn wir fertig sind und es nix mehr zu sagen gibt, kannst du dich immer noch entscheiden, was du tun willst.«

»Wenn du meinst«, gab Christine nach und folgte Burgl, wenn auch ein wenig widerwillig, die Treppe hinunter.

Schweigend gingen die beiden Frauen nebeneinander her, bis Burgl, schon die Klinke der Küchentür in der Hand, unvermittelt fragte: »Du hast dich in den Andreas verliebt. Stimmt’s oder hab’ ich Recht?«

Christine grub ihre Schneidezähne in ihre Unterlippe und wurde feuerrot im Gesicht.

Burgl bedachte sie mit einem vielsagenden Blick.

»Also stimmt es. Und Recht hab’ ich trotzdem«, zog sie ihre Schlüsse.

Im selben Moment gellte draußen im Hof ein markerschütternder Schrei, gefolgt von einem Fluch, der Burgls Blicke unwillkürlich in Richtung Herrgottswinkel lenkte. Als ob sie das dort hängende holzgeschnitzte Kruzifix für Sepps unflätige Worte um Verzeihung bitten wollte.

Während ihre Lippen noch ein stummes Gebet murmelten, wurde jedoch bereits die Küchentür aufgestoßen, und Sepp kam mehr herein gekrochen als gegangen. Sein Gesicht war schmerzverzerrt.

Mühsam zog er sich über die Schwelle und sank dann erschöpft zusammen.

»Auf der steinernen Treppe vor der Haustür bin ich ausgerutscht«, jammerte er. »Ausgetreten wie sie ist und völlig nass von dem vermaledeiten Regenwetter, das heute schon den dritten Tag andauert. Und jetzt kann ich auf meinem linken Bein nimmer stehen. Und das Kreuz tut mir weh und der Kopf erst recht. Und überhaupt alles.«

»Vielleicht hast du dir das Bein gebrochen, Papa«, meinte Christine besorgt, beugte sich über ihren Vater und versuchte, ihn aufzurichten und zu einem Stuhl zu zerren. Es gelang ihr allerdings nicht, da Sepp Leitner sich schwerer machte als er war und stöhnte, als habe sein letztes Stündlein geschlagen.

»Wenn wenigstens der Andreas da wäre«, klagte er. »Ausgerechnet heute kommt er erst am Nachmittag vorbei. Der wüsste, was zu tun ist. Der ist doch wenigstens ein Mann. Eure Weiberwirtschaft dagegen … Nur jammern und doch nix zustande bringen.«

Burgl reagierte auf Sepps Worte nur mit einem verächtlichen Blick.

»Ruf Dr. Wiesinger, Christine«, bestimmte sie.

»Nein, ruf den Brandhuber-Loisl, Madl«, widersprach Sepp. »Der Doktor schickt mich bloß in ein Krankenhaus. Und wenn ich nimmer auf unserem Hof bin, geht alles drunter und drüber. Dann kann ich gleich dicht machen. Und den Andreas rufst du auch. Er ist der Einzige, auf den ich mich verlassen kann.«

Christine beeilte sich, ihrem Vater seinen Willen zu tun, was Sepp aber wenig nützte.

Andreas’ Handy meldete zu Christines Bedauern nur, dass der gewünschte Gesprächspartner nicht zu erreichen war. Und was Alois Brandhuber betraf, gelang es Sepp in seinem geschwächten Zustand nicht, sich gegen Burgls immer energischer werdende Bestimmungen durchzusetzen.

Sodass kurze Zeit später Dr. Wiesinger auf dem Leitner-Hof erschien.

Er nahm den bei seinem Eintreten von einer Sekunde auf die andere lammfromm werdenden Sepp in seine Praxis mit, wo er einen Bruch des linken Unterschenkels und mehrerer Mittelfußknochen diagnostizierte.

Als Sepp wieder auf seinem Anwesen war, hatte er ein Gipsbein und eine Krücke, mit deren Hilfe er notdürftig umherhumpeln konnte. Und brütete auf dem durchgesessenen Sofa der Wohnküche so trübsinnig vor sich hin wie der nasse graue Tag draußen, der eher in den November als in den vollen Frühling gepasst hätte.

Christine, die nicht wusste, ob die Ankündigung ihrer Abreise ihren Vater aufheitern oder noch missmutiger mache würde, schwieg vorerst über ihre Pläne. Sie brachte ihm stattdessen ein Glas von seinem geliebten Obstler, aber Sepp wies es angewidert von sich.

»Christine, Madl, ich …«, begann er nach einer Weile so mühselig, als fiele ihm selbst das Sprechen schwer, kam aber nicht weit, da Burgl mit energischen Schritten die Wohnküche betrat und ein Briefkuvert in ihrer Hand schwenkte.

»Ich möchte wissen, was das ist«, verlangte sie. »Es ist an dich adressiert, Sepp. Und kommt vom Amtsgericht der Kreisstadt. Ich hab’ es unter deinen Sachen gefunden, als ich dir vorhin sicherheitshalber einen Koffer für das Krankenhaus hab’ herrichten wollen.«

Sepp, nun vollends davon überzeugt, dass dieser Tag ein schwarzer Tag für ihn war, drehte seinen Kopf zur Seite, als ginge ihn das Schreiben nichts an, dann griff er nach dem Obstler und kippte ihn in einem einzigen Zug hinunter. Dabei verzog er das Gesicht, als handle es sich um puren Zitronensaft.

Christine wandte sich mit einem verwunderten Blick an Burgl, die ihr den Brief schulterzuckend übergab.

Sepp erhob keinerlei Einwand. Er starrte auf die Tischplatte, und als Christine den Brief öffnete, tat er genauso unbeteiligt wie zuvor.

Burgls kritischen Blicken konnte er sich allerdings nicht entziehen.

»Der Poststempel auf dem Umschlag ist schon fast eine Woche alt«, bemerkte sie streng. »Ich möchte bloß wissen, warum du den Brief net aufgemacht hast. Bei der Neugier, die du bei meinen Sachen sonst immer an den Tag legst.«

»Weil ich genau weiß, was drinsteht«, brummte Sepp düster, ohne den Blick zu heben.

Mehr brauchte er allerdings ohnehin nicht zu sagen, denn den Rest übernahm Christine.

Fassungslos heftete sie ihren Blick auf die schwarz gedruckten Buchstaben, die vor ihren Augen zu tanzen begannen.

»Der Leitner-Hof …, unser Hof wird versteigert«, stammelte sie schließlich. Wobei sie ratlos von Burgl zu ihrem Vater und von ihrem Vater wieder zu Burgl blickte. »Wir haben nur noch eine ganz kurze Frist, das Geld aufzubringen.« Verständnislos schüttelte sie den Kopf. Eine Weile sagte sie nichts, dann sah sie in Sepps und Burgls verzweifelte Gesichter und straffte ihre Gestalt. »Aber eine kurze Frist ist besser als nix«, setzte sie trotzig hinzu. »Ich könnte vielleicht …«

Sepp schaute seine Tochter aus großen ungläubigen Augen an.

»Du hast ›wir‹ gesagt? Und …, und ›unser Hof‹?«, fragte er, als wagte er nicht, seinen Ohren zu trauen.

Christine nickte zerstreut.

»Freilich, was denn sonst«, antwortete sie mit einer Selbstverständlichkeit, die ihr vor ein paar Stunden noch fremd und unmöglich erschienen wäre. Und führte ihren zuvor angefangenen Satz zu Ende: »Ich könnte vielleicht versuchen, meinen Anteil am Vermögen meines verstorbenen Mannes zu beleihen. Allzu viel wird er mir zwar net überlassen haben, weil es mit unserer Ehe schon lang nimmer zum Besten gestanden ist. Aber völlig leer gehe ich mit Sicherheit net aus. Schon um der Kinder willen. Und mit einem bissel Glück gibt mir die Bank ein Darlehen, auch wenn die Erbschaft noch net auseinander ist. Das hoffe ich wenigstens.«

»Das …, das würdest du wirklich tun?«, fragte Burgl, während sie Christine mit Tränen der Rührung in den Augen umarmte. »Du bist ein gutes Madl. Wenn du uns auf diese Weise helfen könntest, den Hof vor der Zwangsversteigerung zu retten, und mich und den Sepp vorm Altersheim … Vielleicht kennt unser Pfarrer Trenker jemanden, der dich bei deinem Weg in die Bank begleiten und deinen Bitten Nachdruck verleihen kann«, schlug sie vor. »Ich könnte ihn oder unsere Frau Tappert fragen. Oder vielleicht geht er sogar selber mit. Was meinst du, Sepp?«

Der Leitner-Bauer zuckte die Schultern, dann richtete er seinen Blick lange stumm, aber eindringlich auf seine Tochter.

»Wie du ein junges Madl warst, Christine, hab’ ich immer Angst gehabt, du könntest werden wie deine Mutter«, sagte er schließlich. »Wie deine Mutter, die mich verlassen hat, weil sie das Leben auf dem Land net hat ertragen können.« Er machte eine kleine Pause, dann redete er weiter: »Aber du … Ich weiß schon, dass ich viel falsch gemacht hab, Christine. Im Grunde war es net nur das Erbteil deiner Mutter, sondern auch meine viel zu strenge Erziehung, die dich diesem Hellmuth Heller in die Arme getrieben hat. Es tut mir leid, dass ich mitgeholfen hab, dich unglücklich zu machen.« Wieder schwieg Sepp eine Weile, ehe er fortfuhr: »Als du zurückgekommen bist, hab’ ich net gewagt, daran zu glauben, es könnte dir ernst sein mit dem, was du über deinen Weggang aus St. Johann und deine Zeit in München gesagt hast. Immer hab’ ich mir vorgesagt, du suchst nur eine Art Unterschlupf, um bald wieder zu neuen Abenteuern aufzubrechen. Und dann hast du dich dem Pferd, der Rufina, entgegengeworfen. Und dich, ohne zu überlegen, in Gefahr gebracht. Für mich, für einen alten Mann. Da hab’ ich erst wirklich begriffen, dass du an mir hängst. Und jetzt …, dass du jetzt auch noch dein Vermögen einsetzen willst für den Gnadenhof … Du bist net wie deine Mutter. Du hast aus deiner Zeit in München gelernt, dass du hierher gehörst. Wenn du jetzt noch den richtigen Mann finden würdest …«

Christine sah bei diesen Worten Andreas so deutlich vor sich, als stünde er leibhaftig vor ihr, aber sie schüttelte nur den Kopf und winkte mit einem schiefen Lachen ab.

»Ich bin eine Witwe mit zwei Kindern, die einen verschuldeten Gnadenhof wieder in die Höhe bringen will. Sehr große Chancen auf dem Heiratsmarkt rechne ich mir da, ehrlich gesagt, net aus.« Sie tätschelte die Hand ihres Vaters, schenkte ihm noch einen Obstler ein und bedachte auch Burgl und sich selbst mit einem Stamperl. »Damit wir den doppelten Schrecken, der uns heute widerfahren ist, besser verkraften«, meinte sie. Und fuhr, ehe Sepp oder Burgl das Wort hätten ergreifen können, fort: »Jedenfalls bleibe ich da und helfe euch. Und hole meine Kinder in den Pfingstferien schon gleich einmal hierher. Ich hoffe, das ist euch recht.«

Sepp strahlte trotz Gipsbeins, Krücken und drohender Zwangsversteigerung wie schon lange nicht mehr.

»Dann bin ich jetzt endlich ein richtiger Großvater«, sagte er und genehmigte sich ausnahmsweise noch einen dritten Obstler. »Ein richtiger Großvater für richtige Enkel und net bloß für Hunde, Katzen und Pferde. Und eine richtige Familie sind wir auch. Oder zumindest schon einmal fast.«

*

Der Regen hatte aufgehört.

Schon wagten sich zwischen den immer noch grau und schwer über den Berggipfeln hängenden Wolken wieder ein paar Sonnenstrahlen hervor, als Christine auf den Pfarrhof von St. Johann zuging, um Pfarrer Trenker aufzusuchen.

Sie hatte ihr hellblau und weiß gemustertes Dirndlkleid angezogen, das sie vor ihrem Weggang nach München so gern getragen hatte. Und ihre blonden Locken zu einem dicken Zopf geflochten wie früher.

Das Schreiben mit der Ankündigung der Zwangsversteigerung, das sie Pfarrer Trenker zeigen wollte, hatte sie in ihre Tasche gesteckt, ohne es noch eines weiteren Blickes zu würdigen. Es wurde ihr schon schwer genug, wenn sie jetzt mit Sebastian Trenker darüber sprechen musste.

Rasch strich sie, als sie vor dem Pfarrhof stand, ihren Rock glatt und verstaute ein paar widerspenstige Locken in ihrem Zopf, ehe sie auf die Tür zuging, um zu klingeln.

»Christine!«, hörte sie in diesem Moment eine männliche Stimme, die ihr von einer Sekunde auf die andere das Herz bis zum Hals schlagen machte.

Mit einem Ruck drehte sie sich um.

»Herr Kienberger!«, sagte sie, bemüht, sich ihre Freude über die Begegnung an unverhofftem Ort nicht allzu sehr anmerken zu lassen.

Andreas zog fragend die Augenbrauen zusammen.

»Haben wir net beim letzten Mal, als ich auf dem Leitner-Hof ausgeholfen hab, ausgemacht, uns mit dem Vornamen anzureden?«, erkundigte er sich mit gespielter Gekränktheit.

Christine nickte.

»Ja freilich«, erwiderte sie. »Ich bin nur ein bissel durcheinander. Und darum hab’ ich drauf vergessen. Ich …, ich hab’ ja net damit rechnen können, Sie hier zu treffen. Ich wollte eigentlich gerade zu Pfarrer Trenker, weil ich seinen Rat oder, besser gesagt, seine Hilfe brauche.«

»Ach so«, meinte Andreas und rieb sich ein wenig verlegen das Kinn. »Da …, da werden Sie aber leider net viel Glück haben, Christine. Gerade eben hab’ ich den Herrn Pfarrer mit seinem kleinen Wagen in Richtung Waldeck fahren sehen.«

Christine stand ihre Enttäuschung ins Gesicht geschrieben.

Sie hatte so sehr gehofft, für sich und auch für ihren Vater und seine Haushälterin baldmöglichst Klarheit gewinnen zu können, und nun würde sich schon das Gespräch mit Pfarrer Trenker wohl oder übel verschieben.

Andreas versuchte sie aufzumuntern. »Der Herr Pfarrer ist ja net auf Weltreise gegangen. Sie …, Sie können es doch ganz einfach in einer oder zwei Stunden noch einmal probieren, Christine«, schlug er vor. »Da ist Pfarrer Trenker bestimmt wieder daheim. Und bis dahin … Darf ich Sie vielleicht zu einem kleinen Spaziergang rund um St. Johann einladen? Das Wetter hat sich ja inzwischen überraschend schnell wieder gebessert. Ich würde mich wirklich sehr freuen, ich …«

Er verstummte und schaute Christine mit seinen braunen Augen bittend an.

Christine schluckte.

»Warum eigentlich net? Wir müssen uns ja net immer nur bei der Arbeit sehen«, erwiderte sie nach einer kurzen Bedenkpause, ihr immer wilder klopfendes Herz energisch zur Ordnung rufend.

Andreas strahlte.

Mit einer schelmischen Verneigung bot er Christine seinen Arm, und sie hakte sich bereitwillig unter.

Seite an Seite schlenderten sie, über Belanglosigkeiten plaudernd, durch St. Johann. Bis sie den Rundweg erreicht hatten, der durch saftig grüne, blumengesprenkelte Wiesen und Matten führte und in bestimmten Abständen von idyllisch gelegenen Ruhebänken gesäumt wurde.

Immer wieder musterte Christine Andreas von der Seite.

Er hatte sich, wenn sie sich auch erst kurze Zeit kannten, bisher als treuer und zuverlässiger Helfer auf dem Gnadenhof erwiesen. Ihr Vater mochte ihn sehr gut leiden. Und sie selbst …

Christine spürte, wie es ihr glutheiß in die Wangen schoss.

War es eine Fügung des Schicksals, dass sie vor dem Pfarrhof gerade ihn getroffen hatte?

Sollte sie vielleicht sogar zuerst einmal mit ihm über die Probleme des Gnadenhofs sprechen? Vielleicht hatte er ebenfalls eine rettende Idee. Zum Beispiel was ein finanzielles Konzept betraf, das es den Banken erleichtern würde, ihr für den verschuldeten Hof einen Kredit zu gewähren?

Einen Moment zögerte Christine noch.

Sie fühlte sich von Tag zu Tag mehr zu Andreas Kienberger hingezogen, wusste allerdings im Grunde so gut wie gar nichts über ihn. Aber musste ein Mann, der hilfsbereit zu Mensch und Tier war, nicht einfach ein gutes Herz haben?

»Andreas, wollen wir uns net ein bissel setzen?«, sagte sie schließlich, als sie an einer Ruhebank vorbeigingen, neben der sich ein munter plätschernder holzgeschnitzter Brunnen befand.

Andreas nickte.

Bereitwillig nahm er neben

Christine Platz, ihre Nähe und die Aussicht auf St. Johann und die den Ort umgebenden Berge gleichermaßen genießend.

Der Aufenthalt hier in diesem Bergdorf, die Suche nach dem Gnadenhof Leitner und die Begegnung mit Christine hatten sein ganzes bisheriges Leben aufs Angenehmste auf den Kopf gestellt.

Und doch war nichts so wie es eigentlich hätte sein sollen.

Wenn er nur wirklich Andreas Kienberger wäre! Anstatt Andreas Umgelter zu heißen und der Sohn seines Vaters zu sein.

Mit einem Mal hatte Andreas das Gefühl, dass jetzt vielleicht der richtige Zeitpunkt sein könnte, um Christine zu sagen, wer er wirklich war. Der geeignete Moment, um ihr endlich gestehen zu können, dass er sich in sie verliebt hatte. Und dass er am liebsten nie mehr von ihr fortgehen würde.

Er wandte sich Christine zu und sah zu seiner Verblüffung, wie sie genau in diesem Augenblick einen Brief aus ihrem schwarzen, mit Edelweißblüten bestickten Trachtentäschchen zog.

Mit einer zaghaften Handbewegung und einem bang fragenden Blick schob sie ihn auf seinen Schoß.

»Dieses Schreiben hätte ich Pfarrer Trenker zeigen wollen. Das heißt, ich will es immer noch«, sagte sie ein wenig unsicher.

Andreas ergriff das Blatt Papier und überlas es.

Im ersten Augenblick wusste er nicht so recht, was er davon halten sollte. Weil es ihm schwer fiel zu begreifen, was die drohende Zwangsversteigerung des Gnadenhofs zu bedeuten hatte. Welche Folgen hatte sie für Andreas Kienberger? Und für Andreas Umgelter? Und wie würde sein Vater reagieren, wenn er davon erfuhr?

»Du siehst, wir sitzen bis zum Hals in der Tinte, Andreas. Was sollen wir denn jetzt machen?«, fragte in diesem Moment Christine in seine Gedanken hinein.

Andreas zuckte zusammen und schaute Christine unverwandt an. Schuldbewusst wie ein kleiner Junge. Als trüge er die alleinige Verantwortung für die Probleme, in denen sie, ihr Vater und Burgl steckten. Probleme, deren Ausmaß offenbar nicht einmal sein Vater gekannt hatte.

»Das …, das ist ja furchtbar«, stammelte er schließlich.

Christine nickte, während Andreas tröstend seine Hand auf ihre legte.

»Nimm’s net so schwer«, meinte er unbeholfen, doch Christine war nicht gewillt, sich damit abspeisen zu lassen.

Sie erzählte Andreas, worum sie Pfarrer Trenker hatte bitten wollen.

Und dann, da sie schon einmal im Reden war, gab es plötzlich kein Halten mehr. Wie ein Sturzbach, der endlich seinen Weg gefunden hatte, sprudelte alles aus ihr heraus, was sie in den letzten Wochen und auch während ihrer Münchener Zeit bewegt hatte. Sie berichtete zuerst von ihren Kinder- und Jugendjahren auf dem Leitner-Hof und schließlich von ihrer vermeintlichen Liebe zu Hellmuth Heller, von ihrer schon bald völlig zerrütteten Ehe, von ihren Kindern und von ihrer Rückkehr nach St. Johann.

Andreas hörte ihr schweigend zu. Froh, dass sie ihren Redefluss nicht unterbrach und er nichts zu sagen brauchte. Denn was da auf ihn einstürmte, konnte er unmöglich von einer Sekunde auf die andere einordnen.

Die Frau, die er liebte, war nicht das unbedarfte, unschuldige Kind vom Land, für das er sie gehalten hatte. Sie war, obwohl sie sogar ein wenig jünger war als er selbst, schon einmal verheiratet gewesen. Und sie hatte zwei Kinder.

Verstohlen musterte er Christine aus den Augenwinkeln.

War es möglich, dass das Leben keinerlei Spuren in einem Gesicht hinterließ? Christines Züge wirkten offen, fast kindlich. Und ohne Bitterkeit.

»Es …, es tut mir leid, Christine, dass Sie Ihren Mann verloren haben«, presste er schließlich mühsam hervor. Und fand selbst, dass es reichlich ungeschickt und viel zu kühl klang.

Christine zuckte nur die Schultern, ging aber nicht weiter auf Andreas’ Worte ein.

»Es ist auf alle Fälle eine gute Entscheidung, Ihre Kinder in den Ferien hierher zu holen«, fügte er schnell hinzu, obwohl ihm die Vorstellung, dass Christine Mutter zweier Kinder war, fast noch weniger in den Kopf wollte als die Tatsache, dass sie bereits Witwe war.

Christine atmete schwer.

Mit einem Mal lehnte sie ihren Kopf an Andreas’ Schulter, als könne sie die Last ihrer trüben Gedanken und Sorgen einfach nicht mehr alleine tragen.

Andreas fühlte ihre Locken kitzelnd an seinem Gesicht und roch den frischen Duft ihrer Haut. Und merkte, wie sein Herz rascher und lauter pochte.

Ohne dass ihm bewusst wurde, was er tat, legte er seinen Arm um Christine und drückte sie an sich. Und als er spürte, dass sie von dem kühlen Wind, der immer noch an das vergangene Regenwetter erinnerte, fröstelte, zog er seine Jacke aus und legte sie fürsorglich um ihre Schultern.

Christine hob ihren Kopf zu ihm empor und sah ihn dankbar an.

Unwillkürlich musste Andreas schlucken.

Er glaubte, noch nie so tiefblaue Augen gesehen zu haben. Und noch nie Augen, die ihn mit so viel Vertrauen anschauten.

»Der Weg, den du gehen willst, Christine, ist mit Sicherheit net falsch«, hörte er sich plötzlich sagen. »Und wenn Pfarrer Trenker dir helfen kann, tut er es bestimmt. Ich kenn ihn zwar noch net lang, aber seine Predigten am Sonntag klingen jedes Mal so warmherzig und ehrlich. Und so aufrichtig gut gemeint. Ich bin lang nimmer in die Kirche gegangen, aber seit ich hier in St. Johann bin …«

Einen Moment lang wollte Christine Andreas nach seinem ganz normalen, alltäglichen Leben fragen, von dem sie kaum etwas wusste. Doch sie war so sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, dass sie einfach nicht die Kraft dazu hatte.

Und außerdem wäre es auch gar nicht möglich gewesen, denn Andreas redete bereits weiter.

»Ich will auch meinen Beitrag

leisten, euch zu helfen«, versicherte er. »Ich lass euch net hängen, wenn dein Vater jetzt mit seinem Gipsfuß eine Zeit lang nimmer arbeiten kann. Ich bleib in St. Johann und helfe euch. Net nur ein bissel, sondern den ganzen Tag. Als vollwertige Arbeitskraft. Das verspreche ich dir, Christine. Und ich denke über eine Möglichkeit nach, wie deinem Vater langfristig aus seinem Schuldendebakel zu helfen ist.«

Christine schüttelte abwehrend den Kopf, doch die Hoffnung in ihrem Blick strafte diese Geste Lügen.

»Das …, das ist doch einfach zu viel verlangt, Andreas. Du …, du hast doch gar keinen Grund, dich derart für unseren Hof einzusetzen«, stotterte sie.

Andreas nahm ihren Kopf zwischen seine Hände.

»Doch. Natürlich hab’ ich einen Grund«, erwiderte er. »Kannst du dir denn gar net denken, welchen? Jetzt, wo wir ganz selbstverständlich, ohne es richtig gemerkt zu haben, wenigstens schon einmal du gesagt haben zueinander?«

»Ja. Ja, das haben wir«, meinte Christine ausweichend, während ihre Wangen sich glühend rot färbten.

»Ich hab’ dich gern, Christine«, sagte Andreas im nächsten Augenblick unvermittelt. Es drängte einfach aus ihm heraus. Offen und unverfälscht. »Ich hab’ mich auf den ersten Blick in dich verliebt, als ich dich auf eurem Gnadenhof gesehen hab. Und ich hab’ damals spontan angeboten, bei euch mit anzupacken, damit ich in deiner Nähe sein konnte. Ich …, ich könnte, ohne mit der Wimper zu zucken, alles tun, um dich auf Händen zu tragen. Und um dir jeden Wunsch zu erfüllen.«

Christine glaubte ihren Ohren nicht trauen zu dürfen, obwohl sie sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als diese oder ähnliche Worte von Andreas zu hören.

»Ich hab’ dich auch gern, Andreas«, sagte sie schlicht. »Aber …, aber du könntest doch net wirklich hier bei uns in St. Johann bleiben, oder? Dein Platz ist doch woanders?«

Andreas fühlte, wie sein Herzschlag für ein paar Sekunden ins Stolpern kam.

Er schaute auf das wechselnde Spiel von Licht und Schatten, das der Wind und die Wolken auf die Wiesen und Wälder zauberten. Flüchtig und unbeständig. Nur die Bergriesen, die darauf hernieder schauten, blieben sich seit Ewigkeiten gleich.

Was zählte schon im Leben, wenn nicht die Liebe, die man tief in seinem Inneren fühlte? Woran konnte man sich sonst halten? Was sonst machte das Leben aus?

»Das ist so net richtig, Christine. Denn es gibt nix, was ich für dich net könnte. Wir werden den Leitner-Hof retten. Gemeinsam. Ich steh an deiner, an eurer Seite. Und ich …, ich werde deine Kinder kennen lernen. Und mögen, als wären es meine eigenen.«

Christines und Andreas’ Blicke ruhten ineinander.

Und obwohl Christines Verstand aufbegehrte und ihr wieder und wieder einflüstern wollte, dass eine Liebe, wie Andreas sie ihr versprach, im Grunde gar nicht möglich war, konnten ihre Augen in den seinen nichts entdecken, was ihre Zweifel gerechtfertigt hätte.

Willig öffnete sie ihre Lippen Andreas’ Kuss. Bereit, ihrem Herzen zu folgen und an überwältigende Zuneigung und Glück zu glauben.

*

»Ist das net ein bissel arg riskant, so eine Bürgschaft? Ich will dir ja net dreinreden, Sebastian. Aber ich bin mir wirklich net sicher, ob seelsorgerische Pflichten so weit gehen müssen.«

Max Trenker stand, die Hände in den Hosentaschen, neben seinem Bruder im Garten des Pfarrhofs und schaute mit wachsender Ungeduld zu, wie der Geistliche die losen Zweige eines üppigen Rosenstrauchs, der neben der Terrasse emporrankte, festband.

Der Bergpfarrer zuckte die Schultern.

»Geh Max, was heißt da riskant«, wiegelte er ab. »So hoch hab’ ich nun auch wieder nicht gebürgt. Es geht ja im Grunde nur darum, fürs Erste die Zwangsversteigerung des Leitner-Hofs zu verhindern.« Er schnitt sich ein neues Stück Bast ab und hielt prüfend ein Ästchen mit mehreren Blüten in die richtige Lage. »Und im Übrigen kommt mein Einsatz keineswegs nur Christine und den beiden alten Leuten da droben zugute. Sondern verhindert mit ein bisschen Glück, dass irgendein Finanzhai, der sich das Anwesen als Schnäppchen unter den Nagel reißt, eine Diskothek oder wer weiß was daraus macht. Etwas, das nicht in unser St. Johann passt und unseren Ort nur verschandelt.«

Max ließ seine Augen eine Weile prüfend auf den Zügen seines Bruders ruhen, bis dieser sich ihm stirnrunzelnd von Neuem zuwandte.

Max reichte ihm die Gartenschere.

»Du weißt also noch nix von der Ferienappartementanlage, die am Südrand von St. Johann entstehen soll? Mit dem Zentrum genau da, wo der Gnadenhof Leitner liegt?«

Sebastian Trenker stutzte. Es hätte nicht viel gefehlt, und die Gartenschere wäre ihm aus den Händen gefallen.

»hab’ ich mir fast gedacht«, nickte Max. »Auch unser Bürgermeister hat noch net Wind davon bekommen. Was zumindest ein Beweis ist, dass er seine Finger diesmal net im Spiel hat.«

Der Bergpfarrer sah seinem Bruder forschend in die Augen.

»Und du? Weißt du aus wirklich sicherer Quelle Bescheid? Woher hast du …«

»Meine Informationen sind absolut sicher«, erklärte Max, seinen Bruder unterbrechend, mit fester Stimme. »Woher ich sie hab, ist im Moment net so wichtig. Nur so viel: Die Claudia hat da eine ziemlich heiße Sache im Visier. Mir selber geht es fürs Erste nur um denjenigen, der das Großprojekt verwirklichen will.«

»Und wer soll das sein?«, erkundigte sich der Bergpfarrer.

»Severin Umgelter, der Münchener Bauunternehmer«, erwiderte Max.

Sebastian Trenkers Miene verfinsterte sich.

»Wenn das stimmt, seh ich noch etliche Unannehmlichkeiten auf uns zukommen«, unkte er. »Der Umgelter hat im Wachnertal und anderswo schon einigen nicht mehr gut zu machenden Schaden angerichtet. Er hat verdammt gute Beziehungen. Und ein Talent, die Bestechlichkeit anderer regelrecht zu wittern.«

»Du sagst es«, pflichtete Max seinem Bruder bei. Er wollte noch etwas hinzufügen, verstummte aber, als Sophie Tappert auf der Terrasse des Pfarrhofs erschien.

»Wenn Sie mit den Rosen fertig sind, Herr Pfarrer … Der Nachmittagskaffee steht bereit«, sagte sie mit einem Blick auf das Tablett, das sie in ihren Händen hielt.

»Danke, Frau Tappert. Wir kommen gleich«, gab der Bergpfarrer freundlich zurück, obwohl es ihn im Moment gar nicht so sehr nach Kaffee und Kuchen verlangte.

»Du siehst, Sebastian«, meinte Max, während er ein paar Mal verstohlen nach dem Kuchen schielte, der sich zu seiner Freude als Johannisbeerbaiser-Torte entpuppte, »dass die Zukunft des Gnadenhofs Leitner recht düster aussieht. Christines Erbschaft wird wohl kaum hinreichen, den ganzen maroden Betrieb zu sanieren. Und selbst wenn die junge Frau mit deiner Hilfe und ihrer Hände Arbeit eine wirkliche Chance haben sollte, den Hof zu retten, wird es eine ganze Weile dauern. Eine Zeit, in der noch viel geschehen kann. Zumal Severin Umgelter nichts unversucht lassen wird, den Grund und Boden, den er für seine Zwecke braucht, zu bekommen.«

Sebastian Trenker bekam nun doch ein flaues Gefühl in der Magengegend. Und saß kurze Zeit später sehr nachdenklich mit Max und Sophie Tappert am Kaffeetisch. Obwohl die Pfarrersköchin sich wieder einmal selbst übertroffen hatte, brauchte er ziemlich lange, bis sein Tortenstück kleiner wurde.

»Es schmeckt Ihnen aber doch, Herr Pfarrer?«, fragte Sophie Tappert sofort.

»Natürlich«, bestätigte Sebastian Trenker.

Und Max hielt so begierig nach einem zweiten Stück Ausschau, dass die Pfarrhaushälterin unwillkürlich schmunzeln musste.

»Da ist übrigens noch etwas, was ich dir sagen wollte«, begann Max, als Sophie Tappert ins Haus verschwand, um für Nachschub an Kaffee zu sorgen. »Ich war vor ein paar Tagen droben auf dem Leitner-Hof. Angebliche Ruhestörung. Schon wieder einmal. Und da …«

Er unterbrach sich, als er sah, mit welcher Besorgnis sein Bruder an seinen Lippen hing.

»Die Christine und ihr Vater verstehen sich wieder. Besser sogar als früher«, zog er den Teil seines Berichts vor, den Sebastian Trenker mit Sicherheit lieber hören wollte. »Vor allem, seit die beiden Kinder da sind. Es ist erstaunlich, wie schnell sich die Kleinen, obwohl sie nie etwas anderes gekannt haben als die Großstadt, an das Landleben gewöhnt haben. Wenn ich es net besser wüsste, müsste ich annehmen, sie seien auf dem Gnadenhof aufgewachsen.«

Der Bergpfarrer atmete auf.

»Das ist ja wenigstens wieder ein Lichtblick«, meinte er. »Und wie geht es der Anthuber-Burgl?«

Max lachte.

»Prächtig. Sie geht vollkommen in ihrer Rolle als frisch gebackene Oma auf. Und auch dieser Andreas Kienberger, der ja inzwischen sogar auf dem Gnadenhof wohnt, versteht sich recht gut mit Christines Kindern. Und mit den beiden alten Leuten sowieso. Was ihn und Christine betrifft … Es sieht wirklich so aus, als würden die zwei jungen Menschen, sobald das Trauerjahr vorbei ist, zu dir kommen und das Aufgebot bestellen.«

Sebastian Trenker war die Freude über Max’ Worte deutlich anzumerken.

»Das nenn ich gute Nachrichten«, meinte er und lud sich, eine

lästige Wespe verscheuchend, ein zweites Tortenstück auf seinen Teller. »Vielleicht kommt es gar nicht so schlimm wie wir beide befürchtet haben, Max. Man sieht gleich immer viel zu schwarz anstatt auf unseren Herrgott zu vertrauen. Er hat noch immer seine schützende Hand über die Menschen gehalten. Über die Alten und über die Kinder, weil sie seine Hilfe am meisten brauchen. Und vor allem über die, die sich lieben.«

Mit gutem Appetit sprach nun auch der Bergpfarrer der Johannisbeerbaiser-Torte zu, sodass Sophie Tappert, als sie zurückkam, zufrieden auf seinen leeren Teller schaute.

Max Trenker ließ es sich ebenfalls weiterhin schmecken, doch zu wirklich guter Laune fand er nicht.

Er wollte den Frieden der Kaffeestunde nicht noch einmal stören, nahm sich aber trotzdem vor, in den nächsten Tagen mit seinem Bruder erneut über den Leitner-Hof zu sprechen. Er musste ihm einfach sagen, dass mit diesem Andreas Kienberger, so liebenswürdig und bieder er sich auch geben mochte, etwas nicht stimmen konnte. Obwohl er bisher noch keinen hieb- und stichfesten Beweis in der Hand hatte, war er sich doch so gut wie sicher, dass der junge Mann nicht der war, als der er sich ausgab. Und auch nicht als harmloser Tourist nach St. Johann und in den »Löwen« gekommen war.

*

Noch hatte der Hahn nicht den Morgen angekräht, als Andreas seine Kammer auf dem Leitner-Hof verließ und ins Freie trat. Unruhig und ohne Schlaf hatte er sich die ganze Nacht von einer Seite auf die andere gewälzt und es schließlich einfach nicht mehr in seinem Bett ausgehalten.

Gedankenverloren kraulte er Arno, der gähnend hinter ihm hertrottete, das struppige Fell.

»Wenn du mir nur sagen könntest, wie es weitergehen soll«, seufzte er und warf einen Blick zu dem Fenster hinauf, hinter dem er Christines Zimmer wusste, das sie vorerst mit ihren Kindern teilte.

Die Vorhänge waren zugezogen, und wahrscheinlich schliefen alle drei noch tief und fest.

Eine Welle von Wärme und Liebe stieg in Andreas hoch. Am liebsten wäre er nach oben geeilt und hätte sie, allen voran Christine, in seine Arme geschlossen.

Aber gleichzeitig wurde ihm bei dieser Vorstellung eng und bang ums Herz.

Wenn nur nicht alles so verfahren und aussichtslos wäre!

In zahlreichen heimlichen Telefonaten hatte er versucht, seinem Vater zu erklären, dass er ihm für seine Mission nicht mehr zur Verfügung stünde. Dass er sich im Gegenteil in Christine verliebt habe und mit ihr zusammen auf dem Gnadenhof bleiben und ihn weiterführen wolle.

Sein Vater hatte seine Eröffnung zunächst für einen Witz gehalten und sich dann erwartungsgemäß maßlos aufgeregt.

Während Andreas sich nun im milchiggrau dämmernden Morgen auf die noch taufeuchte Bank vor dem Leitner-Hof setzte, ließ er die letztvergangenen Gespräche mit Severin wieder und wieder Revue passieren. Er machte sich Vorwürfe, seinen herzleidenden Vater ein weiteres Mal derart aufgeregt zu haben, wusste aber auch nicht, wie es sich hätte vermeiden lassen. Er liebte Christine über alles. Und hatte er nicht das Recht, sein Leben so zu gestalten, wie es seinen Vorstellungen und Sehnsüchten entsprach?

Er hatte seinem Vater vorgeschlagen, ihm seine Anteile an der Firma auszuzahlen. Die Firma würde es verkraften. Und wenn sein Konzept, den Gnadenhof zugleich als Familien-Ferienhof und Streichelzoo aufzuziehen, erst Früchte trug, würde er, so hatte er Severin versprochen, sogar versuchen, so viel wie möglich von dem ausgezahlten Geld in die väterliche Firma zurückfließen zu lassen.

Es war ein wahrhaft faires Angebot gewesen.

Und was hatte Severin geantwortet?

Er war so wütend geworden wie noch nie in seinem ganzen Leben und hatte ihm damit gedroht, er werde Mittel und Wege finden, ihn, seinen einzigen Sohn, von seinem zum Himmel schreienden Irrweg abzubringen und ihn auf den rechten Pfad zurückzuzwingen.

Andreas schüttelte den Kopf. Warum musste sein Vater sich wieder und immer wieder querstellen?

Er hatte Christine in den nächsten Tagen den vollständigen Plan zur endgültigen Rettung und Sanierung des Leitner-Hofs zeigen und ihr erst dann gestehen wollen, wer er wirklich war. Sie hätte unter diesen Umständen trotz allem nicht an seiner Ehrlichkeit und an seiner Liebe zweifeln können.

Aber nun stand er mit leeren Händen vor ihr.

Wenn sie ihm nicht glaubte und ihn fortschickte …

Nein, das konnte er nicht ertragen. Dann verlor sein Leben jeden Sinn.

Trotz der morgendlichen Kühle fühlte Andreas, wie ihm der Schweiß ausbrach. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, als ein zwitschernder Vogellaut ihn aufhorchen ließ. Er sah nach oben und stellte zu seiner Überraschung fest, dass sich über Christines Fenster unter dem Dachgiebel ein Schwalbennest befand. Es war ihm in den Tagen zuvor nicht aufgefallen. Wahrscheinlich war es erst seit kurzem bewohnt.

Sagte man nicht, nistende Schwalben brächten einem Anwesen Glück?

Ein bitteres Lachen verzerrte Andreas’ Mundwinkel.

Für den Leitner-Hof zumindest schien dies nicht zuzutreffen!

Seufzend wandte Andreas seine Augen wieder von den gefiederten Untermietern ab und richtete seinen Blick ins Weite, wo sich der Turm der St. Johannis-Kirche allmählich aus dem Frühdunst schälte.

Ob er versuchen sollte, mit dem sympathischen Pfarrer Trenker über seine Probleme zu sprechen?

Einen Moment lang keimte Hoffnung in Andreas auf, doch er verwarf seine Idee trotzdem sofort wieder.

Hatte der Geistliche Christine und somit auch ihm selbst nicht schon genug geholfen? Und was konnte Sebastian Trenker dagegen tun, dass er den rechten Zeitpunkt, sein Inkognito zu lüften, nicht gefunden hatte? Dass er von seinen Gefühlen und von der Entwicklung der Dinge regelrecht überrannt worden war?

Mit einem tiefen Atemzug erhob sich Andreas, um sich, wenn er schon keine Ruhe fand, wenigstens nützlich zu machen und mit der Arbeit zu beginnen.

Im selben Moment meldete sich sein Handy aus der Tasche seiner viel zu weiten Latzhose, die er sich, ebenso wie die Gummistiefel, für die gröbere und schmutzigere Arbeit von Sepp ausgeliehen hatte.

Wer telefonierte um diese frühe Morgenstunde …

Ein Blick auf das Display des Mobiltelefons enthüllte Andreas eine Nummer, die ihm nicht das Geringste sagte. Schon wollte er den Anruf ablehnen und nach Eimer und Besen greifen, um sich an die Säuberung der Stallungen zu machen, als er, einer plötzlichen Eingebung folgend, das Gespräch doch entgegennahm.

»Guten Tag, Herr Umgelter. Bitte entschuldigen Sie die Störung zu dieser ungewöhnlichen Stunde. Aber es ist sehr dringend. Ich bin Dr. Valentin vom Herzzentrum München. Es geht um Ihren Vater, Severin Umgelter. Es steht sehr schlecht um ihn. Wir befürchten das Schlimmste. Deshalb …«

Was der Arzt sonst noch mitzuteilen hatte, rauschte an Andreas’ Ohren vorüber wie das gleichförmige Plätschern eines Baches. Er war kaum fähig, den Inhalt des Gesagten aufzunehmen und zu begreifen.

In seinem Kopf hämmerte nur noch ein einziger Gedanke: Sein Vater hatte einen schweren Herzinfarkt erlitten, hatte eine komplizierte Bypass-Operation über sich ergehen lassen müssen und schwebte nun zwischen Leben und Tod. Und er hatte es nicht vermeiden können, diese Situation mit herbeizuführen. Er musste seinen Vater wenigstens noch einmal sehen. Und, wenn möglich, noch ein paar Worte mit ihm sprechen. Er musste nach München fahren. Sofort.

Im selben Moment fiel ihm Christine ein, doch der Vorhang vor ihrem Fenster war nach wie vor dicht geschlossen.

Andreas zuckte bedauernd die Schultern.

Er hatte jetzt nicht mehr die Zeit, sie und die Kinder zu wecken. Es würde vielleicht gerade die Minuten in Anspruch nehmen, die die letzten seines Vaters sein konnten.

Hastig lief Andreas ins Haus, um den Autoschlüssel zu holen, als sein Blick auf die Notizzettel und den Bleistift fiel, die Burgl stets griffbereit auf dem Küchenbüfett liegen hatte. Ohne richtig zu wissen, was er tat, nahm er den Stift zur Hand: Liebe Christine, ich bin schon am frühen Morgen in aller Eile nach München gefahren, um meinen Vater im Münchener Herzzentrum zu besuchen, kritzelte er mit vor Aufregung zitternder Hand. Es geht ihm sehr schlecht. Ich werde bei ihm bleiben, so lange er mich braucht. Ich liebe dich über alles, Christine. Wenn ich auch unter falschem Namen auf euren Gnadenhof gekommen bin. Dein Andreas Umgelter.

Wie im Fieber warf er den Bleistift wieder neben die Zettel, rannte aus dem Haus, schwang sich in seinen Wagen und brauste, ohne auf den ihm noch ein Stück weit nachlaufenden Arno zu achten, davon.

*

»In seiner Kammer ist der Andreas nimmer«, stellte Christine verwirrt fest, als sie zu Sepp, Burgl und den Kindern an den Frühstückstisch zurückkehrte. »Er hat also net verschlafen, wie du gemeint hast, Papa. Sein Auto ist übrigens auch net da. Aber Nachricht hat er keine hinterlassen. Ich hab’ in seiner Kammer nachgeschaut und nix gefunden.«

Der kleine Maximilian zog einen Flunsch.

»Der Anderl hat mir für heute meine erste Reitstunde versprochen. Und was man verspricht, muss man halten«, maulte er und schob dabei seine Kakaotasse so heftig von sich, dass sie beinahe überschwappte.

»Ja, Max, das ist wahr. Mir hat er versprochen, dass er meinen Bäri wieder gesundmacht. Er hat sich nämlich weh getan und im linken Fuß eine ganz große Wunde. Er braucht einen Gips wie der Opa«, ließ sich im selben Moment Anne-Sophie vernehmen und hob zum Beweis ihren Lieblingsteddy hoch, dessen Plüschfell am Bein eingerissen war, sodass die Füllung hervorquoll.

»Deinen Bäri kann ich auch verarzten. Der braucht keinen Gips, der muss genäht werden. Und nähen kann ich besser als der Anderl«, beschwichtigte Burgl, sodass wenigstens Anne-Sophie fürs Erste zufrieden war. Und nur Maximilian weiterhin ein finsteres Gesicht machte.

»Ich möchte nur wissen, wohin der Anderl so früh schon gefahren ist«, beharrte Christine, doch Sepp winkte ab.

»Das kann ich mir schon denken«, meinte er. »Wahrscheinlich hat er sich vor Tau und Tag auf den Weg in die Kreisstadt gemacht. Ein Tier-Großmarkt dort will uns Futter zu einem ausgesprochen günstigen Preis überlassen. Und ein Behördengang steht auch noch an. Erst

gestern hat der Anderl gesagt, dass er sich um beides kümmern will. Weil ich mit meinem Gipsbein ja net Auto fahren kann. Und zeitig wieder heimkommen möchte er wahrscheinlich auch. Wer soll denn sonst die ganze Arbeit tun, wo ich noch immer zum nutzlosen Herumsitzen verdonnert bin.«

Christine zeigte sich wenig überzeugt.

»Um fünf Uhr in der Frühe kann man schwerlich etwas erledigen. Und Bescheid hätte der Andreas mir gestern Abend auch sagen können«, murmelte sie halb besorgt, halb ärgerlich in sich hinein, fand aber bei ihrem Vater kein Gehör.

»Selbst der Anderl kann einmal etwas vergessen«, brummte er zwischen zwei Schlucken Milchkaffee.

Schweigend frühstückte Christine weiter und erhob sich bald, um an Andreas’ Stelle die anfallende Arbeit in den Ställen und Boxen zu übernehmen.

Maximilian und Anne-Sophie hatten ebenfalls keinen Hunger mehr und rutschten flink von ihren Stühlen, um mit den jungen Hunden und Katzen zu spielen. Schon nach ein paar Minuten kreischten sie lautstark um die Wette.

Noch als sie die Ponys am Halfter aus dem Stall und auf die Koppel führte, hörte Christine sie johlen.

Wie gut, dass die Kleinen auf dem Leitner-Hof so glücklich waren!

Endlich hatte Christine das letzte der Tiere zu den anderen gebracht, wollte das Gatter wieder verschließen und zum Anwesen zurückkehren, als ihr plötzlich jemand von hinten auf die Schulter tippte.

In der Meinung, Andreas sei wieder da, drehte sie sich mit einem Lächeln um, das aber von einer Sekunde auf die andere an Glanz verlor.

»Toni, du?«, fragte sie entgeistert und wich unwillkürlich einen Schritt zurück. »Was machst denn du heute wieder bei uns heroben? Ich hab’ dir doch schon vor ein paar Tagen gesagt …«

Toni zuckte die Schultern.

»Was werde ich schon machen? Nachschauen, wie es dir geht, zum Beispiel«, meinte er launig. »Da wir praktisch Nachbarn sind, ist es doch eigentlich ganz normal, dass der Hirmer-Toni hin und wieder bei dir vorbeischaut. Oder findest du das net? Am Anfang hatte ich jedenfalls net den Eindruck, dass es dich stört.«

Christine winkte ab.

»Ich hab’ keine Zeit für deine Sprüche, Toni. Seit mein Vater mit den Krücken herumhumpelt, kenn ich mich gar nimmer aus vor Arbeit.«

»Ich würde dir gern ein bissel was davon abnehmen«, meinte Toni. »Aber du lässt mich ja net.«

Christine bedachte ihn mit einem vielsagenden Blick.

»Freundlicher und netter bist du übrigens früher auch zu mir gewesen«, fuhr er ungerührt fort. »Viel freundlicher und netter.«

»Das muss aber schon ganz schön lang her sein«, gab Christine kurz angebunden zurück.

Toni umfasste ihre Schultern und zog sie zu sich heran.

»So lang nun auch wieder net. Es war halt, bevor dieser Andreas auf euren Gnadenhof gekommen ist. Aber seit euer Mädchen für alles da ist, kannst du ja keine Minute mehr erübrigen für einen Menschen, der es ehrlich und gut meint mit dir.«

Christine versuchte, sich aus Tonis Umklammerung zu befreien.

»Du redest von dir selber, wenn ich dich recht verstanden habe«, bemerkte sie schnippisch.

Toni nickte lächelnd und zog Christine mit einer streichelnden Bewegung das Tuch vom Kopf, das sie sich zur Arbeit über ihre blonden Locken gebunden hatte.

»Ohne den Fetzen bist du noch viel schöner«, flüsterte er nah an ihrem Gesicht. Und fügte mit blitzenden Augen hinzu: »Im Übrigen hättest du ruhig einmal mit mir zum Tanzen in den ›Löwen‹ gehen können. Beim Herr Kienberger, der sich eigentlich Umgelter schreibt, kümmert es dich ja auch net, dass du immer noch frisch gebackene Witwe bist.«

Christine runzelte die Stirn, wich Tonis heißem Atem aus und schob mit einer fahrigen Bewegung das Tuch wieder an seinen Platz zurück. »Umgelter? Wieso Umgelter?«, fragte sie verwirrt.

»Ganz einfach. Weil sich dein feiner Andreas in Wirklichkeit ›Umgelter‹ schreibt. Und der einzige Sohn des Bauunternehmers Severin Umgelter ist. Er ist der Sohn ausgerechnet des Mannes, der sich euren Gnadenhof unter den Nagel reißen will.« Toni machte eine kleine Pause, um seine Worte wirken zu lassen, dann setzte er hinzu: »Warum sich dein Andreas bei euch eingeschlichen und dir den Kopf verdreht hat, brauch ich dir wohl net sagen. Das kannst du dir leicht an den fünf Fingern deiner Hand abzählen.«

Christine schluckte, fasste sich aber sofort wieder.

Das konnte auf gar keinen Fall sein!

Andreas, der sich mit aller Kraft für den Leitner-Hof einsetzte, konnte doch nicht …

»Was du net alles behauptest, Toni«, gab Christine zurück. »Behalt deinen Unsinn am besten für dich. Der Anderl ist zwar aus München, aber er ist alles andere als ein Bauunternehmerssohn. Er …«

Tonis beinahe bösartiges Grinsen ließ Christine erschrocken verstummen.

»Und womit willst du deine unverfrorene Behauptung beweisen?«, zischte sie kurze Zeit später. »Verleumdungen kann sich jeder ausdenken. Dazu gehört bekanntlich net viel außer einem gerüttelten Maß an Bosheit.«

»Dass du mir durchaus zutraust«, vollendete Toni bitter. »Aber macht nix. Ich weiß, was ich weiß. Die Welt ist nämlich klein, Bayern erst recht und St. Johann noch mehr. Und ich erfahr viel, weil ich ein geselliger Mensch bin und die Wirtshäuser net meide. Dein Andreas Kienberger ist erkannt worden. Von einem Freund aus München, den es zufällig in unser Nest verschlagen hat. Pech gehabt, so ist das eben. Bald werden es dir die Spatzen von den Dächern zupfeifen, mit was für einem feinen Herrn du dich eingelassen hast. Aber du hast ja, wenn es um die Männer gegangen ist, schon immer eine recht glückliche Hand gehabt.«

Einen Moment lang zuckten Christines Finger, als wollte sie Toni eine Ohrfeige verpassen. Doch sie besann sich eines besseren, ließ ihn einfach stehen und rannte in Richtung Leitner-Hof davon.

Christine zügelte ihre Schritte erst, als sie das Wohnhaus des Leitner’schen Anwesens schon fast erreicht hatte und spürte, dass ihr Atem knapp wurde.

Dieser Toni Hirmer! Wie konnte er sich eine derartige Unverfrorenheit herausnehmen und einfach behaupten …

Heftig schnaufend drückte Christine die Klinke der Haustür nieder und blieb, noch immer keuchend, im Hausflur stehen.

Und doch … Toni konnte sich seine Behauptung schließlich nicht einfach aus den Fingern gesogen haben. Ein kleines Quäntchen Wahrheit …

Christine schluckte trocken.

Wenn sie es sich recht überlegte, hatte Anderl immer nur sehr wenig von sich preisgegeben. Zu wenig eigentlich. Und ein paar Ungereimtheiten, denen sie zwar keine weitere Beachtung geschenkt hatte, die aber im Grunde genommen …

Entschlossen betrat Christine die Wohnstube. Sie musste unbedingt mit ihrem Vater und Burgl reden. Den beiden müsste doch ebenfalls aufgefallen sein, wenn irgendetwas nicht stimmte!

»Hallo Papa, ich …«

Christine verdrehte ärgerlich die Augen.

Der Kopf ihres Vaters war hinter der Zeitung versteckt, und Burgl beugte sich hingebungsvoll über ihr Flickzeug, während Maximilian und Anne-Sophie ausgelassen mit den jungen Katzen spielten. Am Boden war ein wahres Tohuwabohu von Wollknäueln, Stoffresten und Papierfetzen. Und soeben segelten Burgls Notizzettel unter dem

Triumphgeheul der Kinder wie riesengroße Schneeflocken durch die Luft.

»Eure Nerven möchte ich haben«, murrte Christine mit einem viel sagenden Seitenblick auf die frisch gebackenen Großeltern, die sich in dem munteren Durcheinander pudelwohl zu fühlen schienen, und haschte nach den Zetteln.

Sie hatte noch keine Handvoll davon aufgesammelt, als sie überrascht innehielt. Das …, das war doch Andreas’ Schrift! Was hatte er da eigentlich aufnotiert? Mit einem raschen Blick überlas Christine die wenigen Zeilen und glaubte, ihr Herzschlag müsse aussetzen. Auf einem winzigen Stück Papier teilte Andreas ihr in schlampigen Schriftzügen mit, dass er sich unter falschem Namen auf dem Leitner-Hof eingeschlichen habe. Und der Sohn dieses … Das durfte doch einfach nicht wahr sein! Und jetzt saß er bei seinem angeblich kranken Vater in München.

Christine rüttelte Sepp Leitner an der Schulter.

»Da, Papa. Lies lieber diesen Zettel als deine Zeitung. Auf dem stehen wichtigere Neuigkeiten«, stieß sie heftig hervor.

Unwillig blickte Sepp auf und las, schüttelte den Kopf und las wieder.

»Da hat sich jemand einen Scherz erlaubt«, sagte er.

»Unsinn«, gab Christine zurück. »Das hat kein anderer als der Anderl geschrieben. Und der hat keinen Spaß gemacht. Ganz im Gegenteil. Grad vorhin hab’ ich nämlich den Hirmer-Toni getroffen. Und der hat auch gesagt, dass sich der Anderl gar net Kienberger schreibt. Ich hab’ ihm bloß net geglaubt.«

Sepps Hände begannen zu zittern. »Burgl, lass endlich die unnütze Flickerei und schau her«, verlangte er.

Seine Aufforderung erwies sich allerdings als unnötig, denn Burgl Anthuber stand bereits dicht hinter ihm und Christine. Ebenso wie die beiden Kinder, die, jedes eine junge Katze auf dem Arm, verständnislos und neugierig zugleich auf die Erwachsenen schauten.

In der Wohnküche des Leitner-Hofs war es auf einmal so still, dass man eine Nadel hätte fallen hören können.

Burgl las mit zusammengekniffenen Augen. Beim zweiten Mal nahm sie, um jede Täuschung auszuschließen, ihre Leselupe zu Hilfe.

»So ein gemeiner Schuft, so ein hundsgemeiner«, lautete nach reiflicher Überlegung ihr erster Kommentar.

»Ein Hund kann nie so gemein sein«, berichtigte Sepp ihre Aussage.

»Und der Arno schon gar net«, stimmte Maximilian sofort zu.

Christine schaute entgeistert von einem zum anderen. Und zuletzt wieder in die fragenden Augen ihrer Kinder. Sie presste die Lippen aufeinander und ballte ihre Hände zu Fäusten, dann machte sie wortlos auf dem Absatz kehrt, polterte die Treppe hinauf und schloss sich weinend in ihrem Zimmer ein.

*

Den von Sophie Tappert reichlich mit Proviant gefüllten Rucksack geschultert und die Bergschuhe an den Füßen, verließ Pfarrer Trenker am frühen Nachmittag seinen Pfarrhof, um zu einer Bergtour aufzubrechen. Zum Leidwesen von Sophie Tappert, deren Gewitterwarnung der Bergpfarrer wieder einmal lächelnd in den Wind geschlagen hatte. Die derben Sohlen seiner Schuhe knirschten so munter über den Kiesweg, der an der Kirche vorbeiführte, als freuten auch sie sich auf die Stunden in Gottes freier Natur.

Gerade schlug die Kirchturmuhr mit weittragendem hellem Klang die volle Stunde, als Sebastian Trenker Christine sah.

In einer verblichenen, nicht ganz sauberen Jeans und einem viel zu weiten Pullover, die Haare achtlos zusammengebunden, lief sie mit raschen Schritten auf ihn zu.

»Grüß Gott, Herr Pfarrer. Ich muss mit Ihnen reden, bitte. Hoffentlich haben Sie ein bissel Zeit«, war alles, was sie hervorbrachte.

Sebastian Trenker hielt inne. Die geplante Wanderung zur Kanderer-Alm konnte er wohl vergessen, denn ein Blick in Christines verweintes Gesicht ließ ihn erkennen, dass etwas Furchtbares vorgefallen sein musste.

»Selbstverständlich hab’ ich Zeit für Sie, Christine«, erwiderte er sanft und ging an der Seite der jungen Frau in den Pfarrhof zurück.

In Sophie Tapperts Augen zeigten sich Bedauern und Erleichterung zugleich, als sie den beiden die Tür öffnete und den Rucksack des Bergpfarrers wieder in Empfang nahm.

Wenig später saßen sich Pfarrer Trenker und Christine auf der Terrasse des Pfarrhofs gegenüber. In Anbetracht der hochsommerlichen Temperaturen bei einem Eiskaffee mit Sahne und Karamellsoße.

»Und was führt Sie zu mir?«, erkundigte sich Pfarrer Trenker schließlich.

Christine zog wortlos Andreas’ Notizzettel hervor und legte ihn vor den Geistlichen hin.

»Kann denn das sein?«, fragte sie.

Der Bergpfarrer presste die Lippen aufeinander. Von seinem Bruder Max hatte er schon vor ein paar Tagen von Andreas’ wahrer Identität erfahren. Und machte sich nun Vorwürfe, nicht sofort auf den Leitner-Hof gegangen zu sein, um die Angelegenheit zu klären. Seine Scheu sich einzumischen schien die Sache nur schlimmer gemacht zu haben.

»Ich …, ich hab’ auch schon davon gehört«, antwortete er wahrheitsgemäß, während seine Finger den Becher mit dem Eiskaffee hin und her drehten. »Und ich hätte die leidige Geschichte ohnehin zur Sprache gebracht, weil … Ich wollte sowieso auf den Leitner-Hof. Und fragen, ob es Ihnen recht ist, Christine, wenn der Max und die Anne-Sophie in vierzehn Tagen beim Kindergottesdienst mitwirken.«

Christine sagte nichts. Der Kindergottesdienst interessierte sie im Moment wenig.

»Ich denke trotz allem, dass Andreas’ Einsatz droben auf eurem Hof ehrlich gemeint war«, sagte der Bergpfarrer nach einer Weile unvermittelt. »Er mag im Auftrag seines Vaters hergekommen sein. Aber dann hat sich die Angelegenheit halt anders entwickelt. So etwas passiert schließlich gar net so selten.«

Christine zuckte ungläubig die Schultern.

»Ich weiß net so recht«, entgegnete sie. »Freilich hat er nie etwas von Verkauf gesagt. Ganz im Gegenteil. Aber …, aber es geht ja auch net allein um den Gnadenhof.«

Pfarrer Trenker sagte nichts. Er blickte Christine nur forschend an. Er zögerte damit, eine Frage zu stellen, auf die die Antwort offen genug auf der Hand lag.

»Wenn er es ehrlich mit mir meinen würde, hätte er mich doch net die ganze Zeit über anlügen können«, brach es schließlich aus Christine heraus. »Er kann seinen Sinn net wirklich geändert haben. Denn mit jemand unter einem Dach leben, ihm tagtäglich in die Augen schauen und dabei derart falsch

sein … Für den Anderl war ich nur ein dummes Madl und ein Spielzeug. Und damit ich das endlich begreife, hat er mir die Wahrheit jetzt auf einen Zettel gekritzelt und ist wieder zu seinem Vater verschwunden.« Sie schob ihren noch vollen Eiskaffee-Becher von sich. »Ich hab’ meinen Vater und die Burgl im Stich gelassen und bin dem Hellmuth nachgelaufen. Aber dass mich der Liebe Gott jetzt mit dem Verlust von Heimat und Liebe straft … Wie soll ich denn allein den Gnadenhof, auf dem sich auch die Kinder so wohl fühlen …«

»Nein, Christine«, unterbrach Pfarrer Trenker die junge Frau. »Ich bin mir sicher, es kommt alles wieder ins Lot. Anders kann es gar net sein. Denn Gott straft net. Er ist die Liebe selber. Daran müssen Sie glauben. Und wenn Sie selber lieben, wird Ihnen das auch net allzu schwer fallen. Trauen Sie Ihren Gefühlen, Christine. Sie haben den Andreas doch gern.« Der Bergpfarrer räusperte sich, weil ihm seine Worte ein wenig pathetisch vorkamen, und wies dann lächelnd auf Christines Eiskaffee. »Der ist übrigens zu schade zum Stehenlassen. Greifen Sie zu! Und wenn Sie damit fertig sind, fahr ich zusammen mit Ihnen auf den Leitner-Hof. Ich nehme an, der Sepp und die Burgl können, so wie die Dinge liegen, auch ein bissel Zuspruch gebrauchen.«

*

Die allmählich sinkende Sonne legte bereits einen rosenroten Schimmer über den Leitner-Hof, als Pfarrer Trenker und Christine ankamen. Christine, die gefahren war, sprang flink aus dem Wagen und wollte Sebastian Trenker die Beifahrertür öffnen, doch der sportliche Geistliche war ihr schon um eine Nasenlänge voraus und ging auf Sepps Anwesen zu. Er schaute zu den Schwalben hinauf, die ihr Abendlied zwitscherten, und ließ seinen Blick über die Ställe und Zwinger gleiten, aus denen vielstimmiges Bellen, Grunzen, Wiehern und Miauen zu hören war.

Wo sollten die Tiere denn bleiben, wenn …

Er hatte seinen Gedanken noch nicht zu Ende geführt, als die Tür des Wohnhauses sich öffnete.

Der Bergpfarrer traute seinen Augen kaum. Heraus trat Andreas Umgelter, dicht gefolgt von Maximilian und Anne-Sophie. Als die erste Überraschung vorbei war, wollte Sebastian Trenker ihn ansprechen, kam aber nicht dazu.

»Hallo, Mama«, rief Maximilian. »Der Anderl hat mir aus München eine Reitkappe mitgebracht. Schau mal, jetzt sehe ich aus wie ein echter Reiter, der später einmal Turniere gewinnt.«

»Ja. Und Bäri hat vom Anderl einen Freund bekommen«, ereiferte sich nun Anne-Sophie. »Ich weiß nur noch net, wie er heißen soll.«

Pfarrer Trenker musterte Andreas Umgelter mit forschenden Blicken.

»Haben Sie nicht Ihren Vater besucht?«, konnte er sich schließlich doch nicht enthalten zu fragen.

Andreas nickte ein wenig verlegen.

»Doch, natürlich. Zum Glück war aber, als ich in der Klinik angekommen bin, die schlimme Krise nach der Operation vorüber. Papa ist bereits wieder auf dem Wege der Besserung.«

»Wie schön für Sie und Ihren Vater«, sagte der Bergpfarrer freundlich, wenn auch sein Lächeln etwas distanziert wirkte.

Er sah sich zögernd nach Christine um, die, die Hände in den Taschen ihrer Jeans vergraben, wie angewurzelt stehen geblieben war. Unwillkürlich ließ Sebastian Trenker seine Blicke zwischen ihr und Andreas hin und her wandern.

Die beiden standen voreinander, doch keiner von ihnen fand das richtige Wort.

»Hey, Mama. Sag doch, dass du unsere Sachen toll findest. Du sagst doch sonst auch unentwegt irgendetwas«, beschwerte sich nach einer Weile Maximilian.

»Danke für die Geschenke, Anderl. Sie wären net nötig gewesen«, wandte sich Christine daraufhin an Andreas.

»Ich hab’ noch ein viel schöneres Geschenk«, sagte Andreas mit abgewandtem Blick. »Für dich, Christine.«

Christine schwieg. Sie rechnete mit einem Schmuckstück oder Ähnlichem und war sich bereits darüber im Klaren, dass sie es nicht annehmen würde. Auf gar keinen Fall. Derart platte Entschuldigungsgesten konnten ihr gestohlen bleiben.

»Der Leitner-Hof ist gesichert«, sagte Andreas stattdessen und fügte, zu Pfarrer Trenker gewandt, hinzu: »Den Kredit auf Christines Erbe zahle ich in den nächsten Wochen zurück. Womit sich auch Ihre Bürgschaft, für die ich Ihnen noch einmal wärmstens danken will, erledigt hat.« Dann trat er einen Schritt auf Christine zu. »Die Finanzierung für den Umbau des Anwesens zum Familien-Ferienhof und Streichelzoo steht ebenfalls, Christine. Mehr kann ich nimmer für dich tun. Ich weiß von Sepp, dass du den Zettel gefunden hast. Ich hab’ ihm alles erklärt. Meine Lüge tut mir leid, aber ich kann im Grunde nix dafür. Ich bin einfach so hineingeschlittert. Und auf einmal gab es kein Herauskommen mehr ohne die Angst, dich zu verlieren. Und ich kann mir ein Leben ohne dich nimmer vorstellen.«

Christine sagte noch immer nichts. Sie schüttelte nur stumm den Kopf, als ginge das, was Andreas sagte, über ihr Begreifen.

»Wenn du mich nimmer magst, Christine, weil du mich für unehrlich und unehrenhaft hältst, machst du mich unglücklich. Und tust mir Unrecht. Aber ändern könnte ich es natürlich net. Allerdings möchte ich in diesem Fall trotzdem, dass du ohne mich hier heroben eine Heimat hast. Du stellst die Zukunft des Gnadenhofs also net in Frage, wenn du mir die Tür weist. Ich liebe dich so, dass ich dir alles, am liebsten die ganze Welt zu Füßen legen möchte. Auch wenn ich das Glück net mit dir teilen darf.«

Christine schluckte und atmete heftig, doch im nächsten Moment lag sie in Andreas’ Armen.

»Anderl, verzeih mir. Ich hab’ tatsächlich an dir gezweifelt«, schluchzte sie. »Aber unser Herr Pfarrer hat Recht behalten.«

Sie schmiegte sich an Andreas, als wolle sie ihn nie wieder loslassen. Und Andreas küsste sie, ohne daran zu denken, dass sie nicht allein waren.

Als sie sich wieder voneinander lösten, zog Andreas ein kleines

Kästchen aus seiner Hosentasche.

»Noch ein Geschenk«, sagte er. »Ein Verlobungsring. Darf ich ihn dir anstecken?«

»Anderl«, war alles, was Christine im ersten Moment hervorbrachte.

»Sag schon ja, Madl«, ließ sich plötzlich Sepps Stimme aus dem Hintergrund vernehmen. »Und diesmal hast du meinen Segen.«

Wieder fielen sich Andreas und Christine in die Arme.

Dennoch konnte sich Pfarrer Trenker eine Frage nicht verkneifen.

»Ich will nicht neugierig sein. Aber interessieren würde mich doch, wie Sie plötzlich so viel Geld auftreiben konnten, Herr Umgelter«, erkundigte er sich. »Stammt es aus Ihren Firmenanteilen, oder …«

»Ja, so kann man sagen«, erwiderte Andreas. »Ich kann es im Grunde selber noch gar net fassen, aber mein Vater hat, noch ehe er operiert wurde, eingesehen, wie sehr er am Leben vorbei gelebt hat. Er will die Firma verkaufen und sich noch ein paar schöne Jahre machen. Mir zahlt er meinen Anteil aus.« Er lächelte Sebastian Trenker zu. »Womit sich die geplante Ferienappartementanlage von selber erledigt hat.«

Pfarrer Trenker schmunzelte.

»Das werd ich dem Randl, Ihrem zänkischen Nachbarn sagen«, meinte er. »Sollte ihm der Sinn wieder einmal nach einer Anzeige stehen, soll er sich bewusst machen, dass eine Diskothek und dergleichen Dinge entschieden mehr und unangenehmeren Lärm gemacht hätten als ein paar Tiere.«

»Bravo. Das haben Sie schön gesagt, Herr Pfarrer«, lobte Sepp. »Halten Sie dem Randl nur eine richtige Predigt. Der kann es brauchen.« Plötzlich stutzte Sepp und schaute auf die Bergschuhe, die Sebastian Trenker immer noch anhatte. »Hat die Christine Sie von einer Bergtour abgehalten?«, fragte er.

Pfarrer Trenker nickte, tat aber alles mit einer Handbewegung ab.

»Ja, aber das macht nichts. Es gibt nur eines, was schöner ist als unsere Berge. Nämlich junge Menschen, die sich in Liebe gefunden haben, glücklich zu sehen. Dafür verzichte ich gern auf die Kanderer-Alm.«

»Die Kanderer-Alm mit dem Thurecker-Franz?«, fragte Christine und fügte, an Andreas gewandt, hinzu: »Da war ich als Madl oft mit dem Papa. Ich hab’ zwar gar net geschätzt, wie schön es dort oben ist. Aber heut weiß ich es.«

»Dann gehen wir doch zusammen einmal hinauf«, schlug Andreas vor, während er Christine zärtlich den Ring ansteckte. »Du und ich. Dann kannst du mich diesem Thurecker-Franz, oder wie er heißt, vorstellen.«

»Ja, das machen wir«, erwiderte Christine strahlend. »Es gibt wirklich nix Schöneres als unsere Berge. Und nix Schöneres, als mit dem Mann, den man liebt, und mit einer großen Familie hier in St. Johann zu leben. Das haben selbst die Schwalben unter dem Dach des Leitner-Hofs inzwischen erkannt. Wenn sie auch, genau wie ich, das Glück lange woanders gesucht haben.« Sie schmiegte ihren Kopf an Andreas’ Schulter. »Aber jetzt weiß ich endlich, wo das Glück wirklich ist«, sagte sie und schaute Andreas dabei tief in die Augen.

Der Bergpfarrer Staffel 22 – Heimatroman

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