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Einleitung

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Kapitel 1

Einleitung


Die Abkürzung VUKA (engl. VUCA) steht für Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität und bezeichnet ursprünglich die unübersichtliche politische und strategische Gemengelage nach dem Ende des Kalten Kriegs und einer im Gleichgewicht des Schreckens in zwei Blöcke aufgeteilten Welt. Mittlerweile findet der Begriff weit über seinen militärischen Ursprung hinaus Anwendung, wenn es darum geht, die durch Digitalisierung und Globalisierung zunehmend schwer fassbaren Verhältnisse zu beschreiben, denen sich Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Institutionen und auch das Individuum gegenübersehen. Die mit dieser Entwicklung einhergehende hohe Veränderungsgeschwindigkeit bedeutet gerade für Organisationen einen verstärkten Anpassungsdruck, den Rudolf Wimmer als einen „Zustand des Daueralarmiertseins“ charakterisiert. „Die enorme Steigerung des Komplexitätsgrades der durch diese neuen Horizonte zu berücksichtigenden Umweltgegebenheiten versorgt unsere Organisationen ständig mit Veränderungsimpulsen, für die es organisationsintern häufig noch keine Verarbeitungsroutinen gibt.“ (Wimmer 2012: 15) In den letzten fünf Jahren ist eine Vielzahl von Publikationen erschienen, die Navigationshilfen für die VUkA-Welt anbieten (Johansen & Euchner 2013) und darüber nachdenken, wie Führung, Risikomanagement oder Unternehmenskommunikation unter diesen Umständen noch möglich sind (Mack et al. 2016).

Die große Herausforderung für Organisationen in der VUKA-Welt besteht also darin, die eigene innere Komplexität so weit zu erhöhen, dass sie die Komplexität ihrer Umwelten verarbeiten und dabei gleichzeitig so weit reduzieren können, dass sie noch handlungsfähig bleiben. „Agilität“, der Schlüsselbegriff in dieser Diskussion, lässt sich als eine situationsspezifische und hochgradig flexible Disposition beschreiben, die es Organisationen ermöglichen soll, schnell, lokal und feedbackgeleitet auf sich verändernde Umweltbedingungen zu reagieren. Traditionelle zentrale Steuermechanismen, ein streng hierarchischer Aufbau sowie feste Rollen- und Funktionszuschreibungen erweisen sich angesichts solcher Flexibilisierungsanforderungen als weitgehend unbrauchbar. Eine weitere Herausforderung für gegenwärtige Organisationen stellen ihre Mitglieder selbst dar. In dem Maße, in dem in den westlichen Kulturen in den letzten Jahrzehnten das Individuum und seine persönliche Entwicklung zum gesellschaftlichen Ideal erhoben wurden, steigen auch die Ansprüche der Mitarbeiter in Bezug auf Möglichkeiten der Selbststeuerung und -verwirklichung. Die Diskussionen um Neue Arbeit meinen auch in diesem Sinne eine Veränderung der Arbeitswelt hin zu größerer Flexibilität und Verantwortung des Einzelnen.

Frédéric Laloux hat in seinem Buch Reinventing Organizations (2014) Organisationen aus unterschiedlichsten Branchen untersucht, die sich diesen Herausforderungen in für ihn paradigmatischer Weise stellen. Drei gemeinsame Merkmale sieht er in ihnen verwirklicht: 1) Selbstmanagement – Steuerung durch kollegiale Beziehungen, 2) Ganzheitlichkeit – Einbeziehung der ganzen Person in die Arbeit und 3) evolutionärer Zweck (purpose). Gegenüber klassischen Organisationen bedeutet dies ein grundsätzliches Umdenken, bauten diese doch bislang auf hierarchisch begründete Steuerung, die Trennung von Person und Rolle und einen meist wirtschaftlich begründeten Zweck.

Illustrieren lässt sich der Unterschied zwischen traditionellen und neuen Organisationsformen in Bezug auf das Thema Steuerung am Beispiel der unterschiedlichen Spiellogiken beim Schach und dem chinesischen Go, wie sie von den Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem gemeinsamen Hauptwerk Mille Plateaux (1980) beschrieben wurden. Die Figuren im Königsspiel Schach sind angelehnt an den hierarchisch organisierten Hofstaat und verfügen über klar definierte Funktionen und Aktionsrahmen (ein Turm kann nur gerade Züge gehen, allein die Königin ist polyfunktional einsetzbar). Auch wenn der König nicht über mehr Bewegungsfreiheit verfügt als ein Bauer, ist er die wichtigste Figur im Spiel. Er bindet den Fokus des Spielers und steuert damit das Geschehen. Fällt er, endet das Spiel, selbst, wenn noch weitere Figuren auf dem Feld stehen. Dagegen erhalten die gleich gestalteten glatten Steine beim Go ihre Funktion erst situativ aus den Konstellationen mit anderen Steinen. Hieraus entstehen Handlungsspielräume, in denen sich gegnerische Steine einkreisen, überspringen oder blockieren lassen. ‚Ein Go-Stein kann allein synchron eine ganze Konstellation vernichten, während eine Schachfigur dies nicht (bzw. nur diachron) vermag’ („A lui tout seul, un pion de go peut annihiler synchroniquement toute une constellation, tandis qu’une pièce d’échecs ne le peut pas (ou ne le peut que diachroniquement“) (Deleuze & Guattari 1980: 436). Beim Schach fällt die Entscheidung für den nächsten Zug ausgehend vom strukturellen Zusammenspiel zwischen Handlungsmöglichkeiten der Figuren und dem Verhältnis der Figur zu anderen eigenen oder gegnerischen Figuren. Um eine höherwertige Figur zu schützen, wird dabei auch schon einmal ein Bauer geopfert. Beim Go entstehen die Spielzüge allein aus dem Zusammenspiel der einzelnen gleichwertigen Steine. Fällt einer von ihnen weg, wird er aus der Konstellation der ihn umgebenden Steine ersetzt.

Während wir die funktional differenzierte Organisation im Schach wiedererkennen mögen, erinnert Go eher an die Struktur der Netzwerkorganisation. Dabei erweist sich in einer VUKA-Welt, die zunehmend selbst durch weltweite Vernetzungen geprägt ist, das agile Netzwerk als wesentlich anpassungsfähiger als die vergleichsweise starre Organisation mit ihren langwierigen Berichts- und Anweisungswegen. Während das Netzwerk paradoxe Anforderungen unmittelbar und situativ verarbeitet, muss die Organisation dafür erst differenzierte Strukturen ausbilden, die im Augenblick ihrer Entstehung schon meist wieder hinfällig geworden sind. Wimmer sieht hierin für Organisationen ein Problem, „denn die Produktivität von Netzwerkverknüpfungen folgt einer anderen Logik des Gebens und Nehmens, des Sich-wechselseitigen-Kontrollierens sowie einer Freiheit des Sich-Verabschiedens, als dies bei den Organisationen der Fall ist. Deshalb greifen organisationale Vorstellungen von Führung und Management für die Gestaltung des Steuerungsbedarfs von Netzwerken mit Sicherheit nicht.“ (Wimmer 2012: 19).

Gegenwärtig begegnen Organisationen dieser Herausforderung unter anderem, indem sie Hierarchien und zentrale Steuerungsmechanismen abbauen und durch dezentrale, lokal in einem hohen Maße autonom agierende Strukturen ersetzen. Damit verlagern sie „einen erheblichen Teil des Führungsaufwandes in horizontale Aushandlungsprozesse“ (ebd. 20) zwischen den Akteuren. Für einen international agierenden Konzern bedeutet dies z.B., dass wichtige Entscheidungen in den Niederlassungen nicht mehr durch zentral formulierte Richtlinien und Vorgaben bestimmt, sondern lokal den gegebenen Umständen entsprechend getroffen werden. Die oft paradoxe Komplexität unterschiedlichster nationaler Marktverhältnisse und kultureller Bedingungen wird hier dadurch verarbeitet, dass nicht mehr eine Steuerungsinstanz den Überblick über alles behalten muss, sondern die Steuerung selbst auf die Gesamtorganisation verteilt wird. Durch diese Verflachung der Hierarchien und die Diffundierung von Entscheidungskompetenzen potenziert sich auch die Fähigkeit der Organisationen, ihre Umwelten zu beobachten. Wenn Entscheidungen nicht mehr allein an der Spitze getroffen und dann durch den hierarchischen Wasserfall der Aufbauorganisationen nach unten fließen, um dort ausgeführt zu werden, müssen alle Elemente der Organisation ihre Beobachtungsfähigkeit schärfen, um selbst entscheiden zu können, was vor Ort zu tun ist.

Eine solche Verlagerung aus der Vertikalen in die Horizontale ist zugleich hochkomplex und einfach. Komplex, weil sich hieraus unendliche situative Differenzierungsmöglichkeiten ergeben, und einfach, weil ähnlich wie beim Go die einzelnen Akteure grundsätzlich mit denselben Entscheidungskompetenzen ausgestattet sind. In der Praxis ist dies sowohl für die Akteure als auch für die Gesamtorganisation durchaus anspruchsvoll. Für den einzelnen Mitarbeiter bedeutet mehr Entscheidungskompetenz auch mehr Verantwortung für das eigene Handeln. Der Organisation wird zum einen ein hohes Maß an Vertrauen in ihre Selbststeuerungsfähigkeit abverlangt, zum anderen stellt sich durch die Erhöhung und Ausdifferenzierung ihrer Irritierbarkeit die Frage nach ihren Grenzen und ihrer Integrationsfähigkeit. Während sich die Beobachtungen ihrer Umwelten um ein Vielfaches erhöhen, gilt dies nicht automatisch im gleichen Maße für ihre Fähigkeit der Selbstbeobachtung und Konsolidierung. Dazu bemerkt Wimmer: „Im Umgang mit der Bewältigung organisierter Komplexität ringen wir immer noch mit einer erstaunlichen Differenz zwischen der beobachtbaren sprachlichen Fassung der eigenen organisationalen Realität und den tatsächlich bereits ingang gesetzten Strukturen und Prozessen, die längst einen anderen Typus von Organisation spiegeln.“ (ebd. 25).

Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist dieses Verhältnis zwischen organisationalen Strukturen und Prozessen und ihrer sprachlichen Fassung bzw. die Frage, welche neuen sprachlichen Praktiken vonnöten sind, um die neue innere und äußere Komplexität von Organisationen zu erfassen. Fritz Simon räumt hier den Erzählungen, den Geschichten, einen besonderen Platz ein.

Diese sind offenbar eine höchst ökonomische Art, mit der Komplexität der Welt umzugehen. [...] Sie integrieren [...] in einzigartiger Weise kognitive und emotionale Schemata und werden so zu einem der wichtigsten Interpretationsrahmen, die wir als Menschen zur Deutung unserer Erfahrungen verwenden. [...] Wenn die Mitarbeiter einer Organisation die aktuellen Geschehnisse in einem ähnlichen oder gar denselben narrativen Rahmen stellen, dann nutzen sie in ihrer Kommunikation ein gemeinsames Deutungsschema, welches ihnen Verständigung, die Koordination ihres Verhaltens und gemeinsame Sinnstiftung erleichtert. (Simon 2009: 180).

Solche Formen erzählerischer Koordination und Sinnstiftung haben in Organisationen zwei Ausrichtungen. Zum einen bemühen sich diese in ihrer Öffentlichkeitsarbeit und Außendarstellung um ein konsistentes Bild, zum anderen wirken die Erzählungen, wie Simon bemerkt, auch nach Innen und liefern Identifikation und Orientierung für die Mitarbeiter.

Wenn also Erzählungen für die Integration und Selbstbeobachtung von Organisationen eine so zentrale Bedeutung haben, stellt sich umso dringlicher die Frage, welche erzählerischen Formen der Komplexität der Organisation neuen Typs angemessen sind. Die von Wimmer bemerkte Differenz zwischen organisationalen „Realitäten“ und ihrer erzählerischen Verarbeitung deckt sich mit den Befunden der vorliegenden Arbeit. Auch Organisationen, die zunehmend auf dezentrale Strukturen und Selbststeuerung setzen, greifen in ihren Selbstdarstellungen auf Erzählmuster zurück, die gegenüber ihrem Gegenstand unterkomplex bleiben. Zwar eignet sich die klassische Heldenerzählung mit ihrem klar definierten Protagonisten als Deutungsschema für eine von einem Managerhelden aufopferungsvoll geführte hierarchische Organisation. Die Vielzahl der Beobachter, die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher, gelegentlich auch widersprüchlicher Handlungslogiken und die daraus entstehenden komplexen Interaktionen der an Netzwerken orientierten Organisationen kommen darin jedoch nicht vor.

Lernen könnten Organisationen hier von der Literatur. Diese hat sich in ihren progressiven Formen nämlich längst von Zentralperspektive, einfachen Handlungsverläufen und eindeutigen Wirklichkeitsbezügen verabschiedet. Getrieben durch die Beschleunigungen und Widersprüche der modernen Lebensverhältnisse hat sie Formen gefunden, die ein hohes Maß an Komplexität verarbeiten und dadurch handhabbar machen. Die Gegenüberstellung mehrerer gleichwertiger Erzählperspektiven, das Ineinanderflechten unterschiedlichster Beobachtungen und Textsorten sowie ein sich aus Fragmenten zusammensetzender Aufbau sind nur einige Mittel, denen wir beispielsweise in den literarischen Annäherungen an die moderne Großstadt bei Autoren wie John Dos Passos (1925) oder Alfred Döblin (1929) begegnen. Zu berücksichtigen ist dabei natürlich, dass Organisationen anderen Anforderungen und Risiken unterliegen als die fiktive Welt der Literatur. Ein Roman, dem es nicht gelingt, die von ihm bearbeitete Komplexität zu bewältigen, ist schlicht ein misslungener Roman, während eine desintegrierende Organisation im schlimmsten Fall aufhört zu existieren. Dennoch, so der Leitgedanke dieser Arbeit, ist es für Organisationen in volatilen, unsicheren, komplexen und ambivalenten Zeiten notwendig, sich auch in ihren Selbstbeschreibungen vom alten heroischen Denken zu verabschieden, um eben die Koordinationsleistungen zu erbringen, die durch ihre erhöhte Komplexität im Inneren erforderlich wird. Storytelling in postheroischen Zeiten meint in diesem Sinne eine sprachliche Integration auf hohem Komplexitätsniveau. Dass es dabei nicht notwendig so radikal zugehen muss wie im modernistischen Roman, sondern auch die bereits aus der Antike überlieferte Form des Gesprächs ein geeignetes Mittel dieser Integration sein kann, zeigt bspw. die Bedeutung des empathischen Zuhörens und des Dialogs in agilen Innovationstechniken wie dem Design Thinking.

Bei dem Versuch, alten und neuen sprachlichen Integrationen nachzugehen, verfolgt die vorliegende Arbeit – nach einigen grundsätzlichen theoretischen Überlegungen über die Funktion von Sprache in sozialen Systemen und über das Erzählen in und über Organisationen – das Wechselspiel zwischen organisationalen Strukturen und ihren erzählerischen Wirklichkeitskonstruktionen. Die Neigung des Verfassers zu heterogenen Perspektiven findet dabei ihren Niederschlag auch im Versammeln unterschiedlicher disziplinärer Diskurse, die durch ihre strukturellen Anschlussfähigkeiten die hier geleisteten Beobachtungen anreichern sollen.

Reinventing Narratives

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