Читать книгу Reinventing Narratives - Torben Lohmüller - Страница 3
Sprache, Erzählung, Organisation
ОглавлениеKapitel 2
Sprache, Erzählung, Organisation
2.1. Maturana und die Biologie der Sprache
Da es im Folgenden um die von Wimmer geforderte „sprachliche Fassung“ organisationaler Wirklichkeiten und die von Simon konstatierte Koordinationsleistung erzählerischer Formen geht, soll zunächst grundsätzlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Sprache und den zu koordinierenden Verhältnissen beleuchtet werden. Als hilfreich erweist sich dafür eine vom Vater des Autopoiese-Konzepts, Humberto Maturana, entwickelte Theorie menschlicher Sprache. Ausführlich erläutert er diese in dem 1978 erschienenen Aufsatz „Biology of Language: The Epistemology of Reality“. Maturana eröffnet seinen Aufsatz mit der Feststellung, dass alles, was gesagt wird, von einem Beobachter gesagt wird, und führt dazu weiter aus:
An observer is a human being, a person, a living system who can make distinctions and specify that which he or she distinguishes as a unity, as an entity different from himself or herself that can be used for manipulations or descriptions in interactions with other observers. An observer can make distinctions in actions and thoughts, recursively, and is able to operate as if he or she were external to (distinct from) the circumstances in which the observer finds himself or herself. Everything said is said by an observer to another observer who can be himself or herself. (Maturana 1978: 31)
Für Maturana (auch er ist „nur“ Beobachter) ist Sprache eine Form der Beobachtung, d. h. einer spezifischen System-Umwelt-Unterscheidung, durch die ein Mensch in der Lage ist, die Umstände, in die er eingebettet ist, als von sich unterschieden zu behandeln und in der Interaktion mit anderen zu nutzen. Der sprechende Beobachter beobachtet sich selbst in seinem Verhältnis zu seiner Umwelt und koordiniert sich dabei durch sein Sprechen mit anderen Beobachtern. Die Verwendung der Sprache ist damit immer an einen spezifischen Kontext gebunden und grundsätzlich relational bzw. dialogisch als Interaktion mit einem anderen Beobachter verstanden. Den Kontext bezeichnet Maturana als konsensuellen Bereich (consensual domain) und definiert ihn als „the domain of interlocked conducts that result from ontogenic reciprocal structural coupling between structurally plastic organisms“ (ebd. 47). Wenn Menschen über strukturelle Kopplungen an einander gebunden sind und damit relevante Umwelten für einander werden, die sich gegenseitig in der Fortführung und evolutionären Entwicklung ihrer Autopoiese anregen, entsteht eine konsensuelle Koordination von Verhalten, die diese Kopplung weiterbestehen lässt.
In der Sprache der klassischen Systemtheorie haben wir es hier zunächst mit einer Kybernetik erster Ordnung zu tun, in der die Veränderungen einer der Systemkomponenten reziproke, jedoch weiterhin durch die jeweils eigene Autopoiese strukturdeterminierte Veränderungen bei der anderen hervorruft. Operational entsteht eine Beobachtung dieser Kopplung – also eine Beobachtung zweiter Ordnung – im konsensuellen Bereich und unter der beim Menschen gegebenen Bedingung einer hohen neuronalen Plastizität dann, wenn „the relations of neuronal activity generated under consensual behavior become pertubations and components for further consensual behavior“ (ebd. 49). Voraussetzung für die Metabeobachtung des Verhaltens ist also die Differenz von Zuständen, die sich aus der Evolution des auf einander bezogenen Verhaltens ergibt und die wiederum als Perturbationen in die Interaktionen eingespeist und zur weiteren Koordination des Verhaltens genutzt werden. Auf dieser Ebene entsteht nun, laut Maturana, Sprache: „Linguistic behavior is behavior in a consensual domain. When linguistic behavior takes place recursively, in a second-order consensual domain, in such a manner that the components of the consensual behavior are recursively combined in the generation of new components of the consensual domain, a language is established.“ (ebd. 51)
Maturana hat an anderer Stelle das menschliche Sein im Fluss der Sprache als ‚konsensuelle Koordination konsensueller Koordinationen von Verhalten’ („coordinaciones consenuales de coordinaciones consensuales de conducta“) (Maturana 2004: 44) beschrieben und deutlich von der Vorstellung abgegrenzt, es handle sich beim Sprechen primär um das Operieren mit Symbolen. Kravchenko (2011) sieht in diesem Punkt einen wichtigen Gegenentwurf zu linguistischen Theorien, die die denotative Funktion von Sprache in den Vordergrund stellen. Sprachliche Symbole sind für Maturana vielmehr nachträglich ‚vom Beobachter als Abstraktionen von Regelmäßigkeiten in diesem Fluss [der Sprache] unterschieden und daher der Sprache sekundär’ („distinguidos por el observador como abstracciones de regularidades en ese flujo y como tal secundarios al lenguaje.“) (ebd.)
An dieser Stelle führt Maturana seine Überlegungen nicht detaillierter aus. Denkt man sein Modell jedoch weiter, lässt sich eine zusätzliche retrospektive Beobachterebene einfügen, die wiederum koordinierend auf das sprachlich koordinierte Verhalten in dem konsensuellen Bereich sozialer Interaktionen wirkt: Wenn sprachliche Symbole Beobachtungen über Regelmäßigkeiten im Verhaltensfluss strukturell gekoppelter biologischer Systeme sind, lässt sich über das Erzählen sagen, dass es aus Beobachtungen über die Abfolge dieser Regelmäßigkeiten innerhalb eines beobachteten Zeitraums besteht. Werden in Bezug auf diese Beschreibungen noch Beobachtungen über mögliche Kausalitäten und eine Selektion zwischen für diese Erklärung relevante und irrelevante Beobachtungen vorgenommen, gelangen wir zu einem Prototyp narrativer Formen, sodass wir festhalten können: 1) Erzählungen sind Beobachtungen in sprachlicher Form über die Zusammenhänge und Kausalitäten von Regelmäßigkeiten im sprachlichen Verhalten von miteinander interagierenden lebenden Systemen (in diesem Fall Menschen). 2) Erzählungen werden von einem Beobachter erzählt und richten sich an einen oder mehrere Beobachter, und 3) Erzählungen sind konsensuelle Koordinationen (x-ter Ordnung) von Verhalten und wirken rekursiv auf die sie hervorbringenden Systeme zurück.
2.2 Erzählen in Organisationen
‚Unzählbar sind die Erzählungen der Welt’ („Innombrables sont les récits du monde“) schreibt Roland Barthes in seiner Einführung in die strukturale Erzählanalyse (1966: 1). Um dieser Vielzahl in Bezug auf das Erzählen in und über Organisationen zumindest ein wenig gerecht werden zu können, benötigen wir ein Modell mit einigen grundlegenden Begriffen, die die unterschiedlichen Aspekte des Erzählens spezifizieren können. Ausgehen möchte ich dabei ergänzend zu der von Maturana abgeleiteten Bestimmung des Erzählens als konsensueller Koordination von einem systemtheoretischen Verständnis des Erzählens als einem Sonderfall der Kommunikation (vgl. dazu auch Clarke 2014). Letztere wird von Niklas Luhmann als dreifache Selektion von Information, Mitteilung und Verstehen definiert (Luhmann 1984: 196). Ausgewählt wird dabei, was als Information kommuniziert wird und wie diese Information kommuniziert wird. Die Unterscheidung zwischen Information und Mitteilung ist Voraussetzung für das Verstehen, in dem wiederum eine Selektion der Bedeutungen vor dem Hintergrund möglicher Kontexte vorgenommen wird (Luhmann 2002: 287). Geleistet werden diese Unterscheidungen von einem Beobachter (Luhmann nennt diese Funktion in seinem Modell Ego), der in der Kommunikation mit einem anderen (bei Luhmann Alter), unter den Möglichkeiten, die das Medium Sprache bietet, unterscheidet, in welcher Form eine Information zur Mitteilung werden soll, ohne dass er jedoch sicher sein kann, wie diese Unterscheidungen beim anderen ankommen. Erst wenn es zu einem wie auch immer gearteten Verstehen kommt (dieses kann durchaus von der intendierten Bedeutung abweichen), ist die Kommunikation abgeschlossen.
Erzählungen zeichnen sich gegenüber anderen Formen der Kommunikation durch einige Besonderheiten aus: So wird die Position des Beobachters von einem Erzähler übernommen, der aus seiner spezifischen Perspektive auswählt, was erzählt wird. In der Regel handelt es sich beim Erzählten um Vergangenes bzw. eine Reihe von vergangenen Ereignissen oder Zuständen. Im Erzählen werden diese in eine sequenzielle Abfolge gebracht, bei der, folgen wir Arthur C. Dantos Definition narrativer Strukturen, ein früheres Ereignis A seine Bedeutung in Bezug auf ein späteres Ereignis B erhält (Danto 1962: 65). Diese Bezugsetzung ist entscheidend für die Selektion der erzählerischen Mitteilung. Anders als in der oftmals umfassenderen Beschreibung wird für A nur das ausgewählt, was sich zu B in Bezug setzen lässt und damit Bedeutung gewinnt.
Nehmen wir zur Illustration die folgende Sequenz: Ein Mann stand am Straßenrand und las in der Zeitung. Da ergriff ein Windstoß die Zeitung des Mannes. Bei dem Versuch, sie einzufangen, rannte er blindlings auf die Straße und wurde von einem Bus erfasst. Vom Ende dieser Sequenz her gesehen ist es bedeutsam, dass der Mann eine Zeitung las, weil diese Teil der Ursache des darauf folgenden Unfalls ist. Deshalb wird dieses Detail für die Erzählung ausgewählt. Nicht ausgewählt werden dagegen andere mögliche Informationen z. B. über die Kleidung des Mannes, die Farbe seiner Schuhe oder den Artikel, den er gerade gelesen hat. Letzterer würde erst dann wieder bedeutungstragend und auswahlwürdig, wenn es in ihm um die zunehmende Anzahl von Unfällen durch unaufmerksame Fußgänger ginge.
Wenn eine solche Erzählung zu einer Kommunikation mit einem Leser oder Zuhörer führt, unterscheidet dieser analog zu Luhmanns Modell zwischen dem Was (Information) und dem Wie (Mitteilung) der Erzählung. Damit eine solche Kommunikation als Erzählung erkannt wird, muss sie sich darüber hinaus auf bestimmte Konventionen beziehen, die vom Erzähler und Leser/Zuhörer geteilt werden und die wir als Erzählmuster bezeichnen können. Solche Erzählmuster können die einfache Form der Erklärung eines Zustandes C aus einem Zustand A über eine Entwicklung B haben. Der Mann hatte einen Unfall (C), weil er eine Zeitung las (A), die vom Wind weggetragen wurde und ihn unaufmerksam auf die Straße rennen ließ (B). Die Kulturgeschichte hat in Märchen, Sagen, Erzählungen und Romanen eine Vielzahl an sehr viel komplexeren Erzählmustern geschaffen, die als Schemata sowohl für das Erzählen wie auch für das Verstehen von Erzählungen dienen. Diese werden wiederum in zahllosen verstandenen Erzählungen sowohl tradiert als auch variiert und weiterentwickelt und beeinflussen als Muster wiederum die Selektionen kommender Erzähler.
Wie der Luhmannsche Kommunikationsbegriff, ist auch der hier skizzierte Zirkel des Erzählens als rekursive Einheit zu denken, in der die verschiedenen Aspekte in ständiger Wechselwirkung zu einander stehen. So können wir zwar die Funktion des Erzählers isoliert als einen Aspekt der Erzählung untersuchen, doch gäbe es ohne das Erzählen und die daraus entstehenden Erzählmuster phänomenologisch gesehen auch keinen Erzähler.
Neben diesen formalen Aspekten des Erzählens wollen wir eine zusätzliche Unterscheidung einführen, die wir als unterschiedliche Modi des Erzählens beschreiben und die sich an Humberto Maturanas Differenzierung unterschiedlicher Wege der Welterklärung anlehnen: den Weg einer in Klammern gesetzten Objektivität bzw. der konstitutiven Objektivität und den Weg der Objektivität ohne Klammer bzw. der transzendentalen Objektivität (Maturana 2003: 20). Während letzterer von einer von Beobachtern unabhängigen, prinzipiell objektiv beschreibbaren Wirklichkeit ausgeht, versteht ersterer die Wirklichkeit als Konstrukt lebender Systeme, deren Beobachtungen stets von ihrer jeweiligen biologischen Konstitution abhängig sind. Damit sind die Dinge immer nur für sie bzw. in Interaktion mit ihnen, jedoch nicht an sich. Die Vorstellung von einer Wirklichkeit macht unter diesen Bedingungen wenig Sinn und wird durch ein relationales und damit letztlich immer auch plurales Wirklichkeitsverständnis ersetzt.
Hier gibt es nun eine für unsere Zwecke produktiv nutzbare Parallele zur literatur-wissenschaftlichen Erzählforschung: Einige Jahrzehnte vor Maturana hat der russische Literaturwissenschaftler und Philosoph Michail Bachtin am Beispiel Dostojewskis für den Roman eine ähnliche Unterscheidung eingeführt, die bei ihm als Gegensatz zwischen monologischem und dialogischem Schreiben formuliert wird.
Dostoevsky’s novel is dialogic. It is constructed not as the whole of single consciousness, absorbing other consciousnesses as objects into itself, but as a whole formed by the interaction of several consciousnesses, none of which entirely becomes an object for the other; this interaction provides no support for the viewer who would objectify an entire event according to to some ordinary monologic category (thematically, lyrically or cognitively) – and this consequently makes the viewer also a participant.“ (Bakhtin 1993: 18).
Im dialogischen Roman gibt es keine privilegierte Erzähl- bzw. Beobachterperspektive auf die Dinge der Welt und nicht einmal eine einheitliche Welt, innerhalb derer sich diese Perspektiven verorten ließen. Stattdessen stellt Dostojevski seine Figuren als autonome – mit Maturana könnten wir sagen operational geschlossene – Bewusstseine nebeneinander, die jeweils ihre eigenen Welten konstruieren, ohne dass dabei eine als die objektiv richtige privilegiert würde. Es gibt keinen übergeordneten Beobachter, für den die anderen Bewusstseine nur Objekte wären, sondern nur Interaktionen – in Harmonie oder im Widerstreit miteinander – zwischen Beobachtern. Das dialogische Erzählen wird damit polyphon. Nicht mehr ein Erzähler berichtet verlässlich über eine Welt, sondern eine Vielzahl von Stimmen liefert jeweils beobachtergebundene Perspektiven darauf. Die Wirklichkeit wird damit nicht entwertet oder beliebig, sie wird jedoch erheblich komplexer und nur als sozial konstruiert fassbar.
Der oben beschriebene Zirkel des Erzählens kann sich nun in beiden Modi – dem monologischen und dem dialogischen – entfalten. Für das Erzählen in Organisationen macht dies nicht zuletzt dann einen Unterschied, wenn es darum geht, wie viel Komplexität in den Erzählungen verarbeitet wird. Die monologische Erzählung – sie ist eher der Regelfall – reduziert die Komplexität des organisationalen Geschehens auf einfache Erzählmuster, die auf einfache Wirklichkeitskonstruktionen Bezug nehmen und aus einfachen Beobachterperspektiven erzählt werden. Ansätze zu dialogischen Formen tragen der Vielstimmigkeit, der Pluralität von Beobachtungen und den wechselseitigen Abhängigkeiten dieser Beobachtungen Rechnung, laufen aber gerade wegen dieser Komplexität Gefahr, nicht mehr handhabbar zu werden und desintegrierend auf die Organisation zu wirken. Am deutlichsten zeigt sich diese Spannung zwischen monologischer Integration bei geringer Komplexität und dialogischer Desintegration bei hoher Komplexität in den Makrostrukturen der Erzählmuster. Sie liefern Schemata für die Orchestrierung der einzelnen Stimmen, privilegieren bestimmte Beobachter gegenüber anderen und liefern Erklärungen für die Zusammenhänge einzelner Ereignisse. Dass Erzählungen nicht im luftleeren Raum, sondern stets vor dem Hintergrund bereits vorhandener Erzählungen entstehen, war eine Erkenntnis der Intertextualitätstheorie (vgl. Kristeva 1967). Als Sinnvoll erscheint es uns daher, die Untersuchung zu den einzelnen Aspekten des oben beschriebenen Zirkels mit den Erzählmustern zu beginnen.