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Schlüpferfrei und Spaß dabei

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Mein Wecker klingelt. Es ist genau 6:05 Uhr und damit Zeit zum Aufstehen. Wie jeden Morgen habe ich das Gefühl, dass ich gerade erst eingeschlafen bin und mir mein Wecker einfach nur einen dummen Streich spielen will. Die provozierend grün blinkenden Zahlen auf dem Display überzeugen mich dann aber doch, dass es die kleine hupende Dose ziemlich ernst mit mir meint. Ich versuche vergeblich meine Augen zu öffnen. Jemand muss mir heute Nacht eine komplette Ladung Kleister ins Gesicht geschüttet und anschließend mit einem Bautrockner ausgehärtet haben. Sämtliche Regionen meines Gesichts scheinen total verkrustet zu sein. Ich hebe meinen Kopf wie eine Landschildkröte, die gerade aus dem Winterschlaf erweckt ist und drehe ihn dabei in alle Himmelsrichtungen. In meinem Rücken knackt und knirscht es wie in einem Eichenwald bei Windstärke 8. Nach einem kurzen Blick auf den etwas regnerischen und grauen Morgen entschließe ich mich, noch für ein oder zwei Minütchen unter meiner kuscheligen Decke liegen zu bleiben. Es gibt Menschen, die würden in einer solchen Situation behaupten, dass sie von ihrem inneren Schweinehund besiegt worden wären. Für mich hat es beinahe einen therapeutischen Charakter in meiner alltäglichen fast schon schizophrenen Situation. Das morgendliche Ich verlangt von mir liegen zu bleiben und irgendwann später zur Arbeit zu gehen, während das abendliche Ich trotzdem wieder den Wecker auf 6:05 Uhr stellt, damit ich auch ja nichts von meinem Arbeitstag verpasse. Der einzige Haken an dem therapeutischen Selbstversuch ist allerdings, dass mein Wecker keine Schlummertaste hat.

Als ich das nächste Mal die Augen öffne, ist es schon 6:45 Uhr. Ein wenig erschrocken und noch halb benommen springe ich aus dem Bett und renne auf direktem Weg unter die Dusche. Ich reiße mir die Shorts von den Hüften und lasse mir das lauwarme Nass über den Kopf plätschern. Um ein wenig Zeit zu sparen, kippe ich mir die grüne wohlduftende Sommerfrische gleich bei laufendem Wasser über den Kopf und verbinde so den Wasch- und den Spülgang. Im Anschluss an meinen Schnellwaschgang stecke ich mir meine elektrische Zahnbürste in den Mund, wodurch das gleichzeitige Abtrocknen und Anziehen aussieht, als ob ich einen traditionellen Fruchtbarkeitstanz aufführen wollte. Um genau 6:54 Uhr ziehe ich meine Schuhe an und lasse die Tür ins Schloss fallen. Ich schaue auf meine Uhr und stelle fest, dass ich gerade einen neuen persönlichen Rekord aufgestellt habe. Ich habe es noch nie in unter zehn Minuten geschafft, mich aus der Waagerechten in einen halbwegs arbeitsfähigen Zustand zu versetzen. Trotz meiner Eile betätige ich wie üblich fünfmal die Klinke, nur um sicherzugehen, dass ich die Wohnung auch wirklich richtig abgeschlossen habe. Seit die Polizei bei uns im Keller einen semiprofessionellen Fahrradschieberring ausgehoben hat und ein etwas dubioser Freund meiner Nachbarin mitten in der Nacht in Handschellen abgeführt wurde, brauche ich das irgendwie für mein inneres Sicherheitsgefühl.

Im Treppenhaus steigt mir die wohlbekannte Duftmischung aus Pumakäfig und Biberhöhle in die Nase, gegen die selbst die übergroßen, weit aufgerissenen Fenster nicht ankommen. Zweifelsohne ist der Bodenbelag daran nicht ganz unschuldig. Den würde wahrscheinlich jedes Labor liebend gern als Nährboden für die Aufzucht von Bakterienkulturen aufkaufen. Es herrscht eine beinahe gespenstige Stille. Die meisten Bewohner in diesem Haus sind Studenten. Es wird wohl mindestens noch zwei, drei Stunden dauern, bis auch sie widerwillig unter ihren Decken hervorgekrochen kommen. Der Einzige, den ich auf meinem Weg durchs Treppenhaus antreffe, ist ein Überbleibsel der letzten Nacht, der es sich auf einer der breiten Fensterbänke gemütlich gemacht hat. Offensichtlich stört er sich nicht im Geringsten daran, dass ich gerade durch sein provisorisches Schlafzimmer laufe. Er liegt regungslos auf der harten Steinplatte und schnarcht leise vor sich hin.

An der großen Glastür zur Straße ist es augenblicklich mit der Ruhe vorbei. Die allmorgendliche Blechlawine bahnt sich hupend und kreichend ihren Weg über den grauen Asphalt. Stoßstange an Stoßstange schiebt sich ein Auto nach dem anderen die Straße entlang, so dass nicht einmal mehr ein Stück Papier zwischen sie passen würde. Zum Ärgernis des Fahrers eines blauen Kleinwagens ist ans Linksabbiegen in eine der abzweigenden Straßen nicht zu denken. Kaum tut sich eine Lücke auf, wird diese schnellstmöglich wieder mit einem kräftigen Ruck und einer anschließender Vollbremsung geschlossen. Der Gesichtsausdruck und die Lippenbewegungen des erregten Kleinwagenfahrers lassen erahnen, dass er die kreuzenden Verkehrsteilnehmer dafür nicht unbedingt mit Sympathiebekundungen überschüttet. Die Insassen der fahrenden Barrikaden stieren teils einfach nur geradeaus, teils wirken sie so, als müssten sie den Gang nach Canossa antreten. Auf dem ohnehin schon sehr engen Fußweg drängen sich unaufhaltsam Fahrradfahrer in atemberaubenden Geschwindigkeiten an mir vorbei. Es scheint gerade so, als wollten sie die inoffizielle Meisterschaft um den idiotischsten und rücksichtslosesten Bordsteinrowdy auf zwei Rädern gewinnen. Einige von ihnen sehen mit ihren hautengen Oberteilen wie fliegende Presswürste aus. Ich versuche, mich möglichst aus der Schusslinie zu bringen und keinem der zweirädrigen Psychos vor das Vorderrad zu laufen, was angesichts der eingeleiteten Tiefflugphase der Zweiradreiter gar nicht so einfach ist. Warum gibt es eigentlich nur Schutzhelme für die Fahrradfahrer und nicht auch für die armen Opfer, die in der Ideallinie gerade mal als besseres Freiwild taugen?

Die Situation an der Fußgängerampel gleicht einem Massenstart bei der Tour de France. Ich bin mir nicht sicher, ob es jetzt gerade ein guter Zeitpunkt wäre, mich durch die Massen zu drängen und mir einen Platz in der ersten Reihe zu suchen. Spätestens in der nächsten Grünphase würde ich es bereuen, auf meine Rechte als emanzipierter Fußgänger bestanden zu haben. Ich bleibe lieber hinter dem Hauptfeld stehen und hoffe darauf, dass ich nicht von einem der Spätstarter aus dem Verfolgerfeld überrollt werde.

Erst jetzt merke ich, dass ich eigentlich ziemlich hungrig bin. Angesichts der Tatsache, dass ich gestern Abend die letzte Mahlzeit zu mir genommen habe und ich gerade Hals über Kopf aus der Wohnung geflüchtet bin, ist dies auch nicht weiter verwunderlich. Bei meiner Wohnungswahl muss mein Unterbewusstsein genau diesen einen Tag im Sinn gehabt haben. Auf meinem Arbeitsweg liegen ganze acht Bäcker. Im Prinzip würde mir aber auch schon einer genügen, da ich die anderen ohnehin nur von außen kenne.

Im Laden stehen fünf Kunden vor mir. Die kleine Schlange kommt mir nicht ganz ungelegen. Dadurch habe ich noch ein wenig mehr Zeit für meine Auswahl. Leider funktioniert das eingespielte Verkäuferduo so hervorragend, dass ich es gerade so schaffe, die Warenauslage einmal zu überblicken, bis ich ohne jede Vorankündigung aus meiner Versunkenheit gerissen werde.

„Guten Morgen, bitte?!"

Eine der beiden netten Bäckereifachverkäuferinnen lächelt mich fordernd an. Sie scheint zu dieser morgendlichen Unzeit wahrhaft auch noch eine spontane Antwort zu erwarten. Als ob ich mir schon am Abend vorher Gedanken machen würde, was ich am nächsten Morgen beim Bäcker bestellen möchte. Gerade beim Essen ist es wichtig, seine Bedürfnisse genau zu hinterfragen und sich abwechslungsreich zu ernähren.

„Guten Morgen. Einen Moment bitte."

„Gern!"

Geht doch. Ich habe es noch nie verstanden, wie normale Menschen einfach so zum Bäcker gehen können, um sich dann kreuz und quer durchs Warenangebot zu tanken ohne auch nur einmal zu überlegen, was sie überhaupt wollen. Wahrscheinlich treffen sie sich anschließend an der nächsten Ecke und tauschen die Zufallstreffer gegen ihre eigentlichen Wunschprodukte aus.

Fünf Minuten später entscheide ich mich dann verhältnismäßig spontan für ein Schinken-Käse-Baguette und ein Nougathörnchen, was mir umgehend ein wenig Anerkennung einbringt.

„Gern, wie immer.“

Ich bin halt beständig.

„Danke."

Beim nächsten Mal werde ich mir wirklich etwas am Abend zuvor überlegen. Ich ziehe kurz in Erwägung, ob ich ausnahmsweise noch eine BILD-Zeitung mitnehmen soll. Natürlich würde ich mit einer Süddeutschen unter dem Arm wesentlich intelligenter und elitärer wirken, aber für die schnelle Information zwischendrin ist die Zeitschrift mit den vier großen Buchstaben vollkommen ausreichend. Es war aber schon zu Studienzeiten viel angesagter, die Probeabos der großen deutschen Zeitschriften abzusahnen, um sich jeden Morgen mit einer kompletten Altpapiersammlung auf dem Schoß in die Bahn zu setzen und damit zu zeigen wie toll man ist. Mit der BILD ist es dagegen wie bei den großen Dailysoaps im Vorabendprogramm: Kein Schwein wills gesehen haben, aber jeder weiß Bescheid. Und ganz nebenbei hagelt es satte Quoten.

„Tschühüsss!-Guten Morgeeen.“

Hmm, wahrscheinlich sollte ich mir das mit der Zeitung auch gleich noch am Abend vorher überlegen, jetzt scheint meine Chance jedenfalls vorbei zu sein. Die gut geölte Backwarenverkaufsmaschinerie bedient in diesem Moment schon den nächsten hungrigen Schlund, der natürlich wie am Laufband seine Bestellung herunterrattern kann.

„Tschüüss, schönen Tag noch.“

„Danke, Ihnen auch.“

Auf Arbeit schnappe ich mir erst einmal eine Tasse Kaffee und gönne mir das sorgsam ausgewählte Baguette während ich in einer Akte schmökere. Würde ich den alten Papphefter noch gegen eine Tageszeitung eintauschen, könnte ich glatt schon als Vorzeigebeamter durchgehen. Fehlt nur noch das obligatorische Schild an der Tür, dass ich nicht gestört werden will, weil ich gerade vom Feierabend träume. Gut, vielleicht müsste ich auch noch an meinem Arbeitstempo arbeiten. Gegen den wirklichen Beamten im Zimmer nebenan wirke ich ja schon fast wie Speedy Gonzales nach einer Frischzellenkur. Mein Nachbar bewegt sich so langsam, dass ich ständig die Befürchtung habe, dass er kollabiert, weil sein Blutdruck in den Negativbereich abzurutschen droht. Hätte er eine Sekretärin, bräuchte die nicht einmal Steno zu lernen, weil er genau so langsam spricht wie er arbeitet. Bei dem Sprechtempo könnte sie die Buchstaben während des Diktats sogar ausmalen. Kein Wunder, dass bei dieser Arbeitsweise ständig die Vorgänge liegen bleiben. Am Arbeitsanfall wird’s jedenfalls nicht liegen. Selbst bei seinem Angelurlaub in Norwegen im Sommer wird es höchstwahrscheinlich hektischer zugehen als an seinem Arbeitsplatz. Ich bin echt froh, dass es bei mir ein wenig aufregender ist. Ich würde schlechte Laune bekommen, wenn ich jeden Tag von früh bis spät nur auf den Feierabend warten müsste.

Eine fade Akte und zwei nicht viel spannendere Gespräche später fällt mir ein immer lauter werdendes Geräusch knapp über meiner Gürtellinie auf. Es ist ziemlich genau 13 Uhr. Mein Magen schreit unüberhörbar nach Nahrung. Praktischerweise hat irgendein schlauer Mensch das Internet erfunden, so kann ich mit der Suche nach etwas Essbaren schon am Schreibtisch beginnen.

Der Suppentrog führt diese Woche neben der obligatorischen Kartoffelcremesuppe mit knusprigen Speckwürfelchen, eine thailändische Gemüsesuppe, eine skandinavische Fischsuppe und einen griechischen Hackfleischtopf mit Feta, Tomate und Aubergine. Irgendwie haut mich das Angebot nicht von den Socken. Ich habe heute einfach keinen Bock auf schwimmende Hasenkost, tote Meeresbewohner oder südeuropäisches Allerlei. Im Mr. Bigfood gibt es wieder einmal das original mexikanische Chili. Das ist allerdings immer so dermaßen lasch abgeschmeckt, dass man es ohne jegliche Gefahr einem Neugeborenen zum Mahl vorsetzen könnte. Bei Fleischer Kalbmann gibt es heute Makkaroni mit Würstchengulasch, Makkaroni mit Schweinegulasch oder Makkaroni mit Szegediner Gulasch. Was für eine Abwechslung, wenn man einmal von den Makkaroni absieht.

Damit ist die Entscheidung gefallen! Heute gibt es wieder einmal etwas aus dem Standardprogramm. Das ist zugegebenermaßen nicht gerade sehr abwechslungsreich. Das essbare Dreigestirn besteht aus einer Currywurst, einem Döner oder einer Nudelpfanne. Da ich in dieser Woche bereits Nummer eins und zwei auf der Liste abgearbeitet habe, fällt mir auch die zweite Wahl des Tages einfach. Es gibt die Nudelpfanne.

Als ich von meiner Nahrungsbeschaffung wiederkomme, herrscht auf den Gängen schon wieder ein reges Treiben. Der einzige Ruhepunkt ist mein nachbarlicher Beamter . Der steht gerade ganz tiefenentspannt in der Teeküche und kocht sich einen Kaffee. Sein Mittagessen nimmt er jeden Tag um genau 11.45 Uhr ein. Jegliche Verspätung wird dabei schon fast zu einer lebensbedrohenden Gefahr. Sein Körper ist derart darauf geeimpft, genau nach Protokoll gefüttert zu werden, dass Abweichungen unter keinen Umständen möglich sind. Zur täglichen etwa zweistündigen Mittagszeremonie gehören auch ein Verdauungsspaziergang und der gemeinsame Kaffeeklatsch mit dem Kollegen von gegenüber. Die zwei Männer könnten glatt als eineiige Zwillinge durchgehen. Sie sind beide nicht nur enorm langsam, sie schaffen es auch, durch die Vorspiegelung maximaler Dummheit sämtliche Arbeitsaufgaben von sich fern zu halten. Außerdem hält das Duo jegliche Weiterentwicklung für ein Werk des Teufels. Es grenzt beinahe an ein Wunder, dass es ihnen nach wochenlanger Anleitung endlich gelungen ist, den Powerknopf an ihren PCs zu finden.

Meine Nudelpfanne von Mr. Wan ist genau die richtige Wahl, wenn man einmal davon absieht, dass ich beim Kampf mit den Stäbchen mein heute Morgen frisch angezogenes, ehemals hellblau leuchtendes Hemd von oben bis unten vollgespritzt habe. Dennoch bin ich ein wenig stolz auf mich. Ich erbringe gerade den Beweis dafür, dass auch Männer in der Lage sind, zwei Dinge auf einmal zu erledigen. Neben meinen ausbaufähigen Stäbcheneinlagen stöbere ich durch die Onlineausgaben einiger Tageszeitungen. Bei den Promis und denjenigen, die sich dafür halten, gibt es keine Neuigkeiten. Ich stelle aber fest, dass es inzwischen selbst Menschen zum Promistatus bringen, deren größter Verdienst es ist, ein paar Känguruhoden mit einem feinpürierten Affenanus hinunterzuspülen. Je niedriger die Hemmschwelle, desto größer der Eintrag. Aber irgendwie muss man die Zeiten ja überbrücken, in denen Rihanna gerade nicht kiffend am Strand sitzt und dabei gleichzeitig ihre Fans drei Stunden in irgendeiner Konzerthalle warten lässt. In den Sportteilen der Zeitungen hat sich ein wenig Monotonie breitgemacht. Bayern München dominiert mit Abstand den deutschen Fußball und in Liverpool werden bald wahrscheinlich sogar Schlüpfer mit dem Konterfei von Jürgen Klopp gedruckt, weil „the normal one“ mit seinen schrulligen Sprüchen so wunderbar in die Arbeiterstadt und zum ortsansässigen Fußballverein passt. Zwischendrin stoße ich auf ein paar Artikel zum Wembleytor uns sehe es als Genugtuung an, dass man sich selbst nach 50 Jahren und neuesten technischen Erkenntnissen immer noch uneins ist. Nach der ganzen Kloppmania und dem deutschen Championsleaguefinale vor zwei Jahren im Mutterland des Fußballs hatte ich schon befürchtet, dass wir Deutschen und die Engländer doch eine gemeinsame Fußballsprache sprechen. Wobei es natürlich schon ein ganz besonderes Kompliment war, dass sich gerade die Briten auf das reindeutsche Fußballfinale im Wembley gefreut und uns Willkommen geheißen haben. Man konnte beinahe das Gefühl bekommen, dass unsere Cousins sogar ein wenig anfangen uns zu mögen. Es wirkte fast schon ein wenig befremdlich, dass ausgerechnet die Vorfreude auf ein 90-minütiges Ballsportereignis mit ausschließlich deutscher Beteiligung zwei Nationen näher zusammenrücken lässt als jemals zuvor. Unsere Kanzlerin sollte ernsthaft in Erwägung ziehen, mindestens einen der Finalhelden als Außenminister in ihr Kabinett zu locken. Bei den heutigen Marktwerten der Spieler könnte es jedoch durchaus möglich sein, dass ein Wechsel an einer viel zu hohen Ablösesumme scheitert.

Ein paar Klicks weiter stoße ich in der Onlineausgabe der Bild auf einen älteren Artikel der britischen SUN. Das hochgradig investigative Team von Wissenschaftsjournalisten bei der SUN hat herausgefunden, dass jeder zweite Brite deutsches Blut in sich tragen könnte. Die Meldung klingt wie eine Warnung der Weltgesundheitsorganisation vor einer gesundheitsgefährdenden Epidemie. Praktischerweise hat die britische Tageszeitung auch gleich noch einen Test beigefügt, mit dem man prüfen kann, wie stark man mit dem Deutschenvirus befallen ist. Da ich gerade ohnehin nichts Besseres zu tun habe, klicke ich mich durch die ersten Fragen.

Was ist ihr Lieblingsgetränk?

1 Tee

2 Wein

3 Becks

Also eigentlich habe ich kein Lieblingsgetränk. Wenn es nach den verzehrten Mengen ginge, müsste es Wasser oder Kaffee sein. Ich trinke an einem Tag in etwa so viel Wasser wie eine ausgewachsene Kuh im Hochsommer und bei meinem Kaffeeverbrauch würde ich es selbst nach Tagen noch locker schaffen, den Koffeinbedarf eines Altenheimes für ein gesamtes Jahr abzudecken. Mit meinem unbändigen Drang nach dem schwarzen Gesöff befinde ich mich aber in bester Gesellschaft. Seitdem es hip ist, das koffeinhaltige Heißgetränk in jeder Lebenssituation mit sich herumzuschleppen, scheint die Anzahl der Kaffeejunkies täglich zu steigen. Schon morgens auf dem Weg zur Arbeit kommen mir ganze Menschenschwärme mit halb geöffneten Augen entgegen, die sich an ihren braunen Pappbechern oder der etwas größeren Luxusvariante aus Edelstahl festkrallen und sich mit jedem Schluck ein wenig Lebensgeist einzuflößen scheinen. Aus den eingetrübten Blicken meine ich immer wieder die Frage lesen zu können, wie ich es überhaupt schaffen kann, mich ohne einen frisch gebrühten Kaffeevorrat auf die Straße zu begeben. Vielleicht sollte ich einfach so einen Edelstahlbehälter mit mir herumtragen, damit ich zwischen den Koffeinzombies nicht ganz so auffalle. Mit zunehmenden Einfall des Tageslichts weichen die halbmunteren Kaffeegespenster den romantischen Genießern, die ihre macchiati und espressi in den Straßencafes schlürfen und sich nicht einmal von vollbeladenen 40-Tonnern stören lassen, die einen Meter neben der Tischkante vorbeischeppern.

Bei mir gehört der Kaffee zum täglichen Grundbedarf wie die Luft zum Atmen. Mein Verbrauch steigt proportional mit dem Stressfaktor. An manchen Tagen könnte ich den Kaffee am besten gleich direkt aus der Kanne trinken, damit ich mir das ständige Nachschenken ersparen kann. Glücklicherweise habe ich aber bisher noch keinen Koffeinshock erlitten. Die Pausen zwischen den Kaffees fülle ich, in dem ich literweise Wasser in mich hineinschütte. Ein Nachteil an dieser ganzen Trinkerei ist natürlich, dass ich dadurch ständig zwischen meinem Bürostuhl und dem Toilettensitz hin und her pendeln muss.

Im Test stehen aber weder Kaffee noch Wasser zur Wahl, so dass ich mich zwischen den drei angegebenen Getränken entscheiden muss. Becks habe ich, wenn überhaupt zwei- bis dreimal in meinem Leben getrunken. Ich glaube, dass man bei dieser Anzahl beruhigt noch nicht von einem Gewohnheitsverhalten sprechen kann. Ich muss gestehen, dass es mir nicht einmal schlecht geschmeckt hat. Aus irgendeinem Grund hatte ich beim Trinken aber ständig das Bild in meinem Kopf, wie ich zu den Tönen von Sail Away auf einem großen Kahn über die Nordsee schippere. Einen Wein trinke ich auch ab und zu einmal. Ganz im Gegensatz zu meiner studentischen Sturm-und-Drangzeit, in der wir die Weinflaschen reihenweise mit Löffelstilen dekantiert haben, bin ich heute sogar stolzer Inhaber eines richtigen Weinbestecks. Dies liegt aber größtenteils geduldig in der Schublade und ist nur sporadisch in Gebrauch. Ich denke nicht, dass ich mich deswegen guten Gewissens als Weinliebhaber bezeichnen darf. Meinen Teekonsum würde ich eher als zufällig beschreiben. Es gibt im Prinzip nur zwei Gelegenheiten, bei denen ich einen Tee trinke: entweder wenn ich krank bin oder wenn ich mich wegen der Spätfolgen des letzten abends genauso fühle. Ich lasse die Sache noch einmal sacken.

Die nächste Antwort verlangt mir eine haarscharfe Selbsteinschätzung ab.

Was machen sie, wenn sich ihre Bahn verspätet hat?

1 ich schaue auf die Uhr und warte

2 ich rede auf meinen Nachbarn ein

3 ich renne zum nächsten Schalter und rege mich bei der Bahnangestellten tierisch auf

Ich setze mein Kreuz spontan bei a). Dabei kann ich diese Frage eigentlich nur hypothetisch beantworten. Ich kenne öffentliche Verkehrsmittel überwiegend nur vom Vorbeifahren. Ich laufe jeden Tag zur Arbeit und bin in einem Dorf aufgewachsen, in dem Busse in etwa so oft vorkommen wie Schneeschauer mitten im Mai. So fernab der normalen Zivilisation war es schon fast eine zwingende Voraussetzung, dass man mit 16 den Mopedführerschein macht. Es sei denn, man wollte die Samstagabende unbedingt mit den Seniorenrommerunden in der verrauchten Dorfkneipe verbringen. Das wollte ich aber gerade nicht.

Ganz nebenbei würde ich es auch nicht einmal merken, wenn sich eine Bahn verspätet. Man sagt mir nach, dass das „akademische Viertel“ eigens für mich erfunden worden wäre und ich sogar meine eigene Geburt verpasst hätte, wenn mir nicht meine Mutter und die Hebamme ein wenig auf die Sprünge geholfen hätten.

Bei der nächsten Frage sind meine Fähigkeiten als Modeguru gefordert.

Wann tragen sie Sandalen und weiße Socken?

1 nie

2 nur auf Mallorca

3 immer

Mein innerer Joop schreit mir sofort ein a) ins Ohr und zwar mit einem dicken Ausrufezeichen. Als ich das letzte Mal Sandalen getragen habe, war ich noch in der Grundschule. Und selbst da habe ich sie nur deswegen getragen, weil mir meine Mutter ständig eingeredet hat, dass es das wirkungsvollste Mittel wäre, damit ich später nicht die schwitzigen Stinkefüße meines Vaters bekomme. Inzwischen trage ich aber selbst bei subtropischen Temperaturen am liebsten meine ausgelatschten Sportschuhe. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, warum ich bei ungünstigen Windverhältnissen schon aus einer gewissen Entfernung zu riechen bin. Mein Vater sollte eigentlich wahnsinnig stolz auf mich sein, weil ich eine gute Familientradition mit voller Hingabe weiterpflege.

Die Ära der weißen Socken habe ich schon seit Anfang der Neunziger begraben. Allerdings habe ich selbst damals keine Sandalen zu meinen Tennissocken getragen. Stattdessen habe ich mich tatsächlich mit dunkelblauen Lederslippern auf die Straße getraut. Das ist aus heutiger Sicht mindestens genau so schlimm, es sei denn man heißt Charlie Harper und wohnt in einem Megastrandhaus in Malibu.

Mit Mallorcabesuchen kenne ich mich bisher auch nicht aus. Das mag für einen Deutschen etwas außergewöhnlich klingen, da die balearische Insel ja so etwas wie unser 17. Bundesland ist. Die spanische Urlaubsinsel kenne ich aber im Grunde genommen nur aus dem Fernsehprogramm. Vor allem natürlich durch diverse Berichterstattungen über den Sauftourismus und die ganzen Auswandererdokus, die regelmäßig über den Bildschirm flackern. Die Auswandererfamilien hatten zwar nie Tennissocken und Sandalen an. Ein paar Gemeinsamkeiten habe ich unter ihnen trotzdem festgestellt. Nahezu immer entscheiden sich mehr oder weniger große und in Deutschland gescheiterte Familien ohne jegliche Spanischkenntnisse am letzten Urlaubstag am Strand, dass sie ihre Zukunft ganz relaxt in Spanien verbringen und den Familienunterhalt mit irgend einer fixen Idee verdienen wollen, die schon Tausende vor ihnen hatten. Ganz ähnlich sind dann auch die Erfolgsgeschichten vor Ort, die dazu geführt haben, dass es sogar schon einmal eine Auswandererrückwanderungsshow gab, mit der die Gescheiterten später ihre Rückreise finanziert haben.

Für die nächste Frage wäre es von Vorteil, wenn ich schon jemals in einem Cluburlaub gewesen wäre.

Was machen Sie, wenn Sie eine Sonnenliege sehen?

1 ich lege mich drauf und trinke ein Bier

2 denken Sie, dass es viel zu früh ist, sich an den Pool zu legen?

3 ich lege sofort ein Handtuch auf die Liege

Ich habe keine Ahnung. Ich kenne nur die Liegen in unserem Freibad und die sind fest mit den darauf sitzenden Rentnern verwachsen, die sich im Prinzip nur bewegen, wenn sie in der mitgebrachten Strandtasche im XXL-Format auf Nahrungssuche gehen. Da diese aber in der Regel gleich neben der Lehne steht, ist es für die Liegenbesetzer praktischerweise möglich, den Bewegungsradius auf ein absolutes Minimum zu reduzieren. Das macht es relativ schwer, überhaupt eine leere Liege zu ergattern. Daher schmeiße ich mein Handtuch irgendwo auf die Wiese. Ich kann ja meine Klamotten schlecht mit ins Becken nehmen. Ich gebe gern zu, dass ich mein Handtuch dabei manchmal besonders ausgiebig ausbreite, damit ich mir ausreichend Platz zum Liegen verschaffe. Aber was soll man zwischen den ganzen Sonnenanbetern anderes machen? Ich könnte natürlich auch einfach wie ein Hund das Bein heben und mein Revier markieren. Dann würde ich aber wahrscheinlich gleich wieder im hohen Bogen aus dem Bad fliegen.

Die nächste Auswahl habe ich schon getroffen bevor ich die Frage richtig zu Ende gelesen habe. Wann laufen Sie am liebsten nackt herum.

1 nie

2 nur in dafür vorgesehenen Gebieten

3 überall, auch da wo es keiner sehen will

Es gibt im Prinzip nur drei Orte, an denen ich mich nackt aufhalte: mein Schlafzimmer, mein Badezimmer und die Umkleidekabine in der Schwimmhalle. Ansonsten verzichte ich gern darauf, mich der übrigen Menschheit nackt zu präsentieren. Auch wenn mein Bauch in den vergangenen Jahren von einem knallharten Waschbrett zu einem samtweichen Bügelbrett mutiert ist, muss ich mich nicht für mich selbst schämen. Aber irgendwie schreckt mich der Gedanke ab, dass mir jeder, der es will, dabei zusehen kann, wie ich nicht nur meine Seele baumeln lasse. Ich habe mich schon als Kind nur am Strand umgezogen, wenn mir meine Mutter ein etwa zirkuszeltgroßes Strandlaken um meine nicht vorhandene Männlichkeit gehalten hat. Erschwerend kommt hinzu, dass ich mitten in meiner pubertären Selbstfindungsphase Opfer einer nudistischen Verschwörung geworden bin. Es war in einem der Sommer, die ihren Namen wirklich noch verdient hatten. Die Sonne drückte derart auf den Planeten, dass einem das Wasser schon beim bloßen Atmen aus den Poren schoss. Die Liegewiesen im Sommerbad glichen in etwa der Verkaufsfläche einer Hamburger Fischauktion, nur dass sich lebendige Menschen Körper an Körper in der prallen Sonne aalten. Es gab nur noch einen einzigen Platz im Schwimmbad, der nicht komplett von halbgegrillten Badegästen bevölkert war. Ganz am Ende des Schwimmbades war hinter einer niedrigen Hecke noch eine kleine Grünfläche zu erkennen. Ich rannte im Hürdenlauf so schnell ich konnte über die Liegewiese, was angesichts der dort bruzelnden Badegäste gar nicht so einfach war. Nachdem ich mich endlich durch die halbgaren Menschenmassen gewühlt hatte, sprang ich in einem Satz über die Hecke, ließ meine Decke auf den Boden fallen und schmiss mich ohne nach links und rechts zu sehen auf sie drauf. Ich entblätterte mich bis auf die Badehose und stellte nach einem kurzen Rundumblick fest, dass ich hinter der Hecke der einzige war, der überhaupt noch irgendetwas an seinem Körper trug. Alle anderen Badegäste um mich herum waren splitterfasernackt. Ich war ausgerechnet in den neu eröffneten FKK-bereich geraten. Wegen der fehlenden Alternativen blieb ich trotzdem liegen und entschloss mich, einfach das Geschehen um mich herum auszublenden so gut es eben geht. Als ich mich gerade eincremte, standen wie aus dem Nichts zwei braungebrannte Lederhäute in der Manier eines Dorfsheriffs vor mir. Angesicht der Tatsache, dass beide von Kleidung so viel zu halten schienen wie von einer Achselrasur, sprang ich reflexartig auf, um nicht nach oben sehen zu müssen. Die beiden musterten mich mit einem Blick, wie es sonst normalerweise nur Straßenbahnkontrolleure bei Fahrgästen machen, die keinen gültigen Fahrschein vorweisen können. Nachdem sie mich von oben bis unten durchlöchert hatten, erklärte mir der größere der zwei Nacktmolche, dass ich mich gerade im FKK Bereich befinde. Zustimmend nickend bedankte ich mich und wollte mich gerade wieder hinlegen, als der kleine Unförmige hinzufügte, dass ich dafür nicht angemessen gekleidet bin. Da man auf der Liegewiese eines Freibades wohl kaum einen Smoking erwartet haben dürfte, konnte mit unangemessener Kleidung nur meine Badehose gemeint gewesen sein. Der nackte Sicherheitschef bestätigte meinen vorher nur vagen Verdacht und stellte mich vor eine grausame Wahl: die Badehose oder ich. Das hieß für mich entweder freies Geleit für alles was ich zu bieten hatte oder einen Platz zwischen den ganzen Ölsardinen vor der Hecke. Ich entschied mich für die Badehose und sorgte damit für schallendes Gelächter bei den ganzen Nacktschnecken um mich herum, die jeden Zentimeter beklatschten, den mein Sommertextil nach unten wanderte. Seitdem meide ich Nacktbereiche mindestens so sehr wie der Teufel das Weihwasser.

Bereits nach wenigen Fragen wird selbst mir als ausgewiesenem Schnellchecker mit Spätzündung das Muster des Tests klar. Je mehr Fragen ich mit „C“ beantworte, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich mich als einwandfreier Nachkomme der würschtelfressenden Krauts qualifiziere. Bei mir ist die Anzahl der „C´s“ in der Summe jedoch recht überschaubar. Entweder erweise ich mich einfach als ein schlechtes Medium oder man kann die genetische Herkunft doch nicht an einem Lieblingsgetränk und ein paar schlechten Angewohnheiten festmachen.

Mein doch eher recht neutrales Abschneiden im deutsch-britischen Abstammungstest bringt mich auf eine Wahnsinnsidee. Ich werde Teilnehmer meiner eigens entwickelten Verhaltensstudie unter realen Bedingungen, um herauszufinden, was oder besser wer wirklich in mir steckt. Möglicherweise habe ich ja bisher einfach nur nicht darauf geachtet, wie verhaltensauffällig bin. Man hört ja oft so etwas in der Art. Diejenigen, die nicht alle Latten am Zaun haben, merken es meistens zum Schluss. Vielleicht stimmen aber auch die ganzen Vorurteile nicht und wir Deutschen sind gar nicht so schlimm, wie immer alle meinen. Ich werde mich umgehend in den Dienst der Wissenschaft stellen und mich ans Werk machen. Aber davor trinke ich erst noch einen Kaffee.

Bratwurst am Stiel

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