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Wembley für ganz Arme

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Im Prinzip bin ich immer noch vollkommen begeistert von meiner Idee. Im Moment will mir aber einfach noch nicht der richtige Gedanke kommen. Ich sitze einfach nur da und stiere ein Loch nach dem anderen in meine Küchenwand, die eigentlich schon aussehen müsste wie ein Schweizer Käse. Auch nach meiner zweiten Tasse Kaffee will mir überhaupt nichts halbwegs Brauchbares einfallen. Ich mache das, was ich in dieser Situation immer mache. Ich schmeiße mein Tablet an und versuche es gleich mal bei den Jungs google. Ich gebe die Worte „Selbstversuch Deutsch“ in der Suchmaschine ein. Ich bin ziemlich sicher, dass meine Suche fruchtlos verlaufen wird. Es wird kaum schon irgendjemand auf den Gedanken gekommen sein, sich selbst auf sein „Deutschsein“ zu testen.

Auf Seite eins erhalte ich jede Menge Verlinkungen zu Onlinelexika und Wörterbüchern. Ich frage mich schon ein wenig, was genau da erklärt sein soll, das Wort „deutsch“ oder das Wort „Selbstversuch“. Gleich zu Beginn der zweiten Seite knutscht mich fast der Elch. Ich lese im Fettdruck „Selbstversuch eines Briten: Wie deutsch kann ein Engländer sein“. Gespannt folge ich dem Link und lande bei der Onlineausgabe einer hessischen Tageszeitung. Nach der Lektüre des Artikels folgt die totale Ernüchterung. Es gibt doch tatsächlich schon jemanden, der einen Selbstversuch gestartet hat, um zu testen, wie deutsch er ist. Und als ob das nicht schon schlimm genug ist, muss es ausgerechnet auch noch ein Brite sein. Da ist ja praktisch die Voreingenommenheit schon abzusehen. Das ist in etwa so, als ob ein Veganer ein Buch über die Fleischeslust schreiben würde oder ein Nichtschwimmer über das Tiefseetauchen. Da hätte man Oliver Kahn früher auch fragen können, ob er wegen akuter Beschäftigungslosigkeit im Tor gleichzeitig noch das Spiel als Schiedsrichter leiten wollte. Ich meine, ich habe mal so rein gar nichts gegen die Briten. Wirklich null. Selbst als ich das erste Mal mit meinem besten Freund in Nordengland unterwegs gewesen bin und eine einheimische Freundin uns eindringlich davor gewarnt hat, dass die Leute in der Region vielleicht das ein oder andere klitzekleine Vorurteil gegen uns Deutsche haben, bin ich absolut unbedarft an die Sache herangegangen. Und ich wurde auch nicht enttäuscht. Nach einem fröhlichen Pubabend mit ein paar Ortsansässigen sind wir noch in einem Haus versackt, in dem sich im Laufe des weiteren Abends eine Spontanparty entwickelt hat. Schon ein paar Biere aus dem Elsass und zwei Whisky haben ausgereicht, dass wir alle gemeinsam mitten im Wohnzimmer eines mir bis dahin vollkommen unbekannten Engländers gestanden und unter maximalen Stimmeinsatz eine perfekte Choreographie zu „YMCA“ aufgeführt haben. Am Ende waren es zwei absolut traumhafte Ferienwochen, mit der kleinen Einschränkung des etwas unbeständigen Wetters oder dem, was man in England halt so dafür hält. Als mir meine neuen Freunde damals erklärt haben, dass es gerade bestes Sommerwetter ist, habe ich dies in Anbetracht der 20 Grad und des immer wieder einsetzenden Regens glatt schon für den berühmten britischen Humor gehalten. Am Ende unseres Aufenthalts habe ich gemerkt, dass es purer Ernst war. Wobei ich ansonsten den britischen Humor eigentlich mag. Ein wenig Sarkasmus hat bekanntlich noch niemanden geschadet, nicht einmal den Unwissenden. Die verstehen ihn ja eh nicht. Ich bin auch absolut begeistert von den wunderbaren Landschaften und den herrlich schrulligen Häusern mit den kleinen Vorgärten, die täglich mit der Fingernagelschere bearbeitet werden müssen. Ich trage auch gern englische Klamotten. Meine Lederschuhe sind aus dem Arbeitsalltag schon gar nicht mehr wegzudenken. Wahrscheinlich bin ich auch der einzige Mensch außerhalb der Insel, der wahnsinnig auf das britische Essen abfährt. Ich schmatze mir die Hände nach den möglicherweise nicht mehr ganz so ursprünglichen Rezepten von Jamie Oliver. Ich liebe die kräftigen Soßen und die schmackhaften Fleischgerichte. Die Worcestersauce von Lea & Perrins könnte ich fast schon pur trinken. Ich mag sogar die schottischen Haggis und das obwohl ich weiß, dass sich die komplette Resterampe eines Schafs in meinem Mund befindet. Was das anbelangt, habe ich aber ohnehin einen sehr außergewöhnlichen Geschmack. Ich esse auch mit Vorliebe Grützwurst, den black pudding der deutschen Küche, und gebratene Rinderzunge. Wenn ich mir so vorstelle, dass die Zunge der Kuh gleichzeitig der Intensivpflege des Darmausgangs dient, klingen die Schafsinnereien sogar fast schon wieder wie eine Delikatesse. Ich habe also bestimmt nichts gegen die Briten und auch nichts gegen ihre Kultur. Aber dass sich ausgerechnet ein Brite darauf testet, wie deutsch er ist und das auch noch aufschreibt, ist schon ein starkes Stück. Ich werde das Buch aber früher oder später lesen müssen. Man muss ja wissen, was die Konkurrenz so macht und wir sind ja jetzt quasi Konkurrenten.

Ich gebe „Adam Fletcher“ bei „amazon“ ein, um zu sehen, was der Engländer so zu Papier gebracht hat. Mein Kinn fliegt gleich nochmal auf den Küchentisch. Der Typ hat ja sogar noch eine Anleitung geschrieben, wie man in 50 Schritten zum Deutschen wird. Dieser Brite schreckt auch vor gar nichts zurück. Warum denkt er eigentlich, dass ausgerechnet ein Brite Bescheid weiß, wie wir Deutschen so ticken. Ich frage mich echt, was in dieser Pseudoanleitung steht. Zieh dir Lederhosen an, höre Volksmusik , fahre mindestens dreimal im Jahr nach Mallorca und saufe Bier soviel du kannst??? Eine Frechheit ist das. Gleich unter dem blöden „Ratgeber“ finde ich das eigentliche Objekt meiner Begierde. Das Buch heißt „Make me german“ und sieht schon auf dem Cover so aus, als wäre es eine wilde Ansammlung absolut flacher Vorurteile.

Was spricht eigentlich genau gegen Vereine oder gar gegen Beamte? Ich arbeite seit einem reichlichen Jahr in der Verwaltung und denke nicht, dass ich zu wenig zu tun habe und den ganzen Tag nur schlafe. Wobei ich streng genommen natürlich auch kein Beamter bin, was meinen Freunden aber herzlich egal ist. Für die ist jeder in der öffentlichen Verwaltung gleichzeitig auch ein Beamter. Eigentlich ist es aber auch vollkommen egal. Irgendwie sind Beamte ja auch so etwas wie Menschen und da gibt es genauso fleißige und nicht ganz so strebsame, die sich wie ein Reptil kurz vor der Winterstarre bewegen. Es gibt aber bestimmt keine andere Bevölkerungsgruppe, über die so viele stumpfsinnige Witze gerissen wird, wie über Beamte. Und jeder einzelne der Späße ist garantiert schon so alt, dass er es aus dem Stand auf der Liste der antiksten Witze auf den ersten Platz schaffen würde. Dabei verdienen die meisten Calauer den Namen „Witz“ noch nicht einmal.

„Was hast du eigentlich gegen Beamte-die tun doch gar nichts.“ Haha.

Oder: „Beamte spielen am liebsten Beamtenmikado-wer sich zuerst bewegt, hat verloren.“ Der Burner.

Gut, ja, es gibt sie ja, die typischen Bilderbuchbeamten, die es draufhaben, ihre Kollegen mit einem ganzen Ar*** voll Arbeit allein zu lassen und sich den Tag mit Kaffeetrinken und koordiniertem Nichtstun zu vertreiben. Da muss man sich nur einmal meine Büronachbarn ansehen. Wenn die sich überhaupt irgendwann einmal bewegen, dann geschieht dies standesgemäß so langsam, dass selbst eine alterskranke Weinbergschnecke noch schneller ist. Die einzige Bewegung, die sie in Realzeit ausführen, ist der Griff zur Stechuhr, damit sie pünktlich in den Feierabend kommen. Natürlich ist das Dienstende eines Vorzeigebeamten genauso geplant, wie der Rest des Arbeitstages auch. Sie arbeiten täglich exakt 30 Minuten länger, damit sie am Freitag den Feierabend um genau 13.00 Uhr sicherstellen können. Und mit Sicherstellen meine ich eigentlich schon beinahe garantieren. Es muss schon ziemlich viel passieren, wenn man einen der Kollegen an einem Freitagmittag kurz vor eins noch davon überzeugen will, sich mit irgend etwas Dienstlichem zu beschäftigen. Ich habe keinen Plan, was dies überhaupt sein könnte. Mir selbst ist es bisher noch nicht gelungen. Ich habe tatsächlich einmal einen Anlauf genommen, an einem sonnigen Freitag kurz vor eins einen Beamten um eine Rücksprache zu bitten. Noch ehe ich bis drei zählen konnte, hatte der Kollege seine Hausschuhe gegen die Straßenschuhe getauscht und seine Brotbüchse in die Ledertasche geschmissen.

Möglicherweise kommt der schlechte Ruf aber auch von dem ganzen Formalismus und der vielen Antragstellerei in den deutschen Ämtern. Andererseits, was wären wir eigentlich ohne unsere viel gescholtene Bürokratie? Ein großer anarchischer Haufen von Späthöhlenmenschen, die sich nach Ordnung sehnen, aber warten bis ihnen jemand sagt, was Ordnung eigentlich ist. Bestes Beispiel hierfür ist mein Freund Simon. Wenn es in unserer Stadt nicht seit zwei Jahren eine „Hundekotverordnung“ gäbe, würde er die dampfenden Tretminen seines windhundgedackelten Spitzmopsmischlings immer noch überall herumliegen lassen, weil es ihm ja niemand verbietet. Simon ist einer der Deutschen, die finden, dass bei uns einfach alles viel zu sehr durchreguliert ist und gleichzeitig für jeden einzelnen Fall eine Vorschrift verlangen. Aber er ist auch generell eher der Typ, der immer an allem etwas auszusetzen hat und auf der anderen Seite niemals einen eigenen Vorschlag bringt. Er findet auch in unserem Verein alles scheiße. Vielleicht ist er ja ein verkappter Brite oder einfach nur ein guter Kumpel von Mr. Fletcher. Der scheint nämlich auch irgendetwas nicht am Vereinsleben zu mögen. Ich weiß gar nicht, was es da nicht zu lieben gibt. Ein paar Leute mit gleichen Interessen schließen sich zusammen und organisieren regelmäßige Treffen, damit sie gemeinsam dieser einen Sache frönen können. Zugegeben, für Manche ist es wahrscheinlich auch einfach nur ein guter Grund, damit sie regelmäßig Ausgang von der Ehefrau bekommen und mal in Ruhe ein Bierchen trinken können. Für eine große Zahl von Deutschen ist das Vereinsleben aber auch ein Stück Familie, eine Abwechslung zum Alltag und eine Möglichkeit, sich sportlich fit zu halten. In einer Hinsicht könnte der Schmähbrite aber vielleicht doch Recht haben. Es gibt bei uns in Deutschland auch den ein oder anderen Verein, den man sich durchaus sparen könnte. Manchmal denke ich, es reicht für die Gründung eines Vereins schon aus, wenn sich zwei Menschen begegnen, deren Hunde dieselben Häufchen absetzen. Wie dem auch sei, ich weiß echt nicht, was grundsätzlich gegen Vereine sprechen sollte. Ich werde mir die Bücher bestellen und sehen, was der liebe Mr. Fletcher so herumzunörgeln hat.

Bevor ich die beiden Pamphlete in meinen Warenkorb schmeißen kann, klingelt mein Telefon. Es ist meine Schwester Julia. Sie fragt, ob ich vielleicht Lust habe, mir mit ihr das Fußballspiel meines Neffen anzusehen – und zwar genau jetzt. Da ich ohnehin nichts anderes zu tun habe, sage ich ihr spontan zu. Ich kann auch ein gewisses Interesse am Fußball nicht leugnen. Bisher beschränkte sich dieses auf das aktuelle Fußballgeschehen von der ersten bis zur dritten Liga. Ab heute wird meine Bandbreite eben um die Kreisoberliga der F – Jugendlichen erweitert.

Der kleine Jason Julian wirkt bis in die letzte Haarspitze motiviert. Von seinem Hochsitz aus starrt er durch die Frontscheibe die menschenleere Straße hinunter. Wahrscheinlich ist er in Gedanken schon voll im Spiel und bekommt gar nicht mit, wie ich vor der Beifahrertür auf und ab springe. Für einen Außenstehenden mag es aussehen, als ob ich einen an der Klatsche habe, weil ich hier wie ein Hampelmann vor der Fensterscheibe herumspringe. Tatsächlich ist es nur der Versuch, irgendwie die Aufmerksamkeit meines Neffen zu erregen. Vergebens. Wenigstens meine Schwester hat von meinem Gezappel Notiz genommen und schwingt sich aus ihrem quietschgelben Lupo, damit ich mich durch die Fahrertür auf die zweite Sitzreihe knitschen kann. Nachdem ich es aus dem Fußraum wieder in die Aufrechte geschafft habe, sitze ich da wie eine eins. Ich schmeiße ein kurzes „Hallo“ in den Innenraum der vierrädrigen Zitrone und hoffe auf eine kurzzeitige Unterbrechung der Meditationsphase meines Neffen. Meine Hoffnung bleibt unerfüllt. Meine Schwester erzählt mir, dass die Verneinung jeglicher Anteilnahme an der Umwelt tatsächlich in einem engen Zusammenhang mit dem Spiel steht. Entgegen meiner eigenen Annahme befindet sich J.J. aber nicht in einer Phase höchster geistiger Anspannung, ihm ist einfach nur speiübel vor Aufregung. Ich hoffe, dass meine Schwester mit dem nachfolgenden Zusatz Recht behält und ich mir nach Fahrtende nicht den Mageninhalt meines Neffen vom Schoß kratzen muss. Angesichts der Tatsache, dass wir im Zwei-Minutentakt anhalten und alle beiden Fenster hinunterlassen, ist das für mich sehr zweifelhaft. Mein ungutes Gefühl verstärkt sich als J.J. anfängt zu stöhnen und immer tiefer ein-und auszuatmen. Ich suche auf der Rückbank nach einer Einkaufstüte oder etwas in der Art, das ich dem Kotzbeutel schräg vor mir als Notfallpackung reichen kann. Leider finde ich nichts Brauchbares, so dass mir nur die Hoffnung bleibt. Trotz aller Befürchtungen kommen wir dann aber glücklicherweise auch ohne größere Zwischenfälle am Sportplatz an.

Pünktlich mit unserer Ankunft zeigt mein Neffe den ersten Ansatz einer körperlichen Bewegung an diesem Tag. Als eine Eskorte von Zweitklässlern auf das Auto zugerannt kommt, um J.J. wortgewaltig in Empfang zu nehmen, gerät er nahezu in Ekstase. Er springt mit einem großen Satz aus dem Auto und ist im nächsten Moment mit seinem kreischenden Anhang spurlos verschwunden. Meine Schwester scheint diese Blitzheilung nicht großartig zu verwunden. Sie schnappt sich routiniert die Sporttasche und schlägt hinter mir die Tür zu. Gleich neben unserem Auto steht ein Typ mit einer Fluppe im Mund und beobachtet hektisch das Geschehen. Wären wir gerade vor einer Bank, müssten wir wohl damit rechnen, dass er im nächsten Moment mit einem Strumpf über seinem Kopf in das Gebäude stürmt. Die Zotteln auf seinem Kopf ähneln der Frisur von Rod Stewart nach einer ausgiebigen Behandlung mit einem Rasentrimmer. Ansonsten erinnert er kleidungstechnisch etwas an eine verwahrloste Vogelscheuche. Als wir gerade auf seiner Höhe sind, lässt Rod seine Kippe hinter dem Rücken verschwinden und nickt uns beiläufig zu. Vielleicht hält er uns ja für zwei Vertreter der Weltgesundheitsorganisation und befürchtet eine Ansprache zum Umgang mit Suchtmitteln in Sporteinrichtungen.

Die Sportanlage ist nicht mehr ganz auf dem aktuellsten Stand. Auf den ersten Blick sieht aber alles sauber und gut gepflegt aus. Vor dem Kabineneingang haben sich zwei Lager aus den Heim- und den Gasteltern gebildet. Die Erziehungsberechtigten von J.J.s Mannschaft fallen Julia herzlich um den Hals, die mich als große Verstärkung vorstellt. Offensichtlich scheinen sich hier alle ganz gut zu kennen und zu mögen. Die Umarmungen und innigen Begrüßungsküsse lassen beinahe schon vermuten, dass dies der Beginn einer freudigen Swingerparty wird. Am Ende der Grußkette steht ein kleiner, leicht untersetzter Mann mit Waden so groß wie zwei Brückenpfeilern, der von Julia im Gegensatz zu den anderen recht förmlich begrüßt wird. Die Vereinsjacke und die Jogginghosen zu den braunen Slippern lassen vermuten, dass es sich bei ihm um den Trainer handelt. Er unterbricht seine Ausführungen über taktische Varianten kurz, um mich beiläufig als „Sportsfreund“ zu begrüßen. Ich bekomme noch einen kurzen aber mächtigen Schlag zwischen die Schulterblätter, dann ist er auch schon wieder voll in seinem Vortrag vertieft. Ich reihe mich wie alle anderen in den Stehkreis ein und bekomme spontan von einem Mann, der sich mir als Klaus vorstellt, einen Kaffee angeboten. Obwohl ich noch nie mit einem Kaffee Brüderschaft getrunken habe, nehme ich den Becher gern an und proste Klaus vor dem ersten Schluck demonstrativ zu. Klaus nickt kurz zurück und startet, nachdem wir nun offiziell Duzbrüder sind, einen ausgedehnten Redemarathon. Mein neuer Freund ist Chef eines inhabergeführten Architekten- und Ingenieurbüros, fährt drei bis vier Mal im Jahr in den Urlaub und glaubt, dass sein Sohn der potenzielle Nachfolger von Christiano Ronaldo ist. Viel mehr bleibt bei mir nicht hängen, da Klaus redet ohne auch nur einmal Luft zu holen und ich irgendwann zu meinem Selbstschutz abschalte. Den anderen Eltern scheint es ganz gut zu gefallen, dass Klaus endlich jemanden zum Spielen gefunden hat. Ich bekomme in regelmäßigen Abständen abwechselnd einen anerkennenden und bedauernden Blick zugeworfen. Der Monolog meines Kaffebruders wird nur einmal für kurze Zeit unterbrochen, als Christiano Junior und seine Gladiatoren aus der Kabine gelaufen kommen. Standesgemäß trägt die große Nachwuchshoffnung eine lässig gegelte Frisur und ein paar knallgrüne Schuhe mit den Initialen seines Idols. Die Miniausgabe von CR 7 wird vom kleinen Bruder von David Beckham flankiert. Der kleine Becks trägt in seinen goldblonden, schulterlangen Haaren ein weißes Klappsband, was bei seiner ausgeprägten Stirnpartie nicht besonderes vorteilhaft wirkt. Das Starensemble wird komplettiert von einem braungelockten Mats Hummels Typ mit ein paar gelben Schuhen. Im Schatten der männlichen Weltauswahl taucht auch eine junge Dame auf. Ihr Trikot mit der Nummer acht und die Fussballschuhe lassen vermuten, dass sie nicht nur zufällig mit aus der Kabine kommt. Mit ihrem betont schlaksigen Gang und ihrem kleinen zusammengezwirbelten Zopf erinnert sie mehr an Kim Kulig als an Birgit Prinz. Als Letzter kommt J. J. aus der Kabine, der wieder zu seiner mentalen Ausgangslage zurückgefunden hat. In der Reihe der Nachwuchssuperstars erinnert er ziemlich stark an Uwe Seeler, allerdings kurz vor seinem 75. Geburtstag. Klaus gibt „Uns Uwe“ wie allen andern vorher auch einen leichten Klapps auf die Schulter und wendet sich mir danach unvermittelt wieder zu.

„Mach ich immer, bringt den Jungs Glück“.

Mit dieser Überleitung macht mir Klaus klar, dass er mir nun wieder voll und ganz zur Verfügung steht. Meine Freude darüber hält sich in Grenzen. Wahrscheinlich hat mein neuer Kumpel die kurze Bedenkzeit genutzt, um sich jede Menge weiteren Redestoff zu überlegen. Er ist so im Redefluss, als ob wir uns schon Jahrzehnte kennen würden. Leider lässt er sich auch nicht davon aus dem Konzept bringen, dass wir gemeinsam mit den anderen Eltern unser Lager an den Spielfeldrand verlegen.

Auf dem Weg zum Platz erkenne ich Rod wieder. Er steht inzwischen ohne Kippe mitten auf dem Spielfeld und leitet die Erwärmung der gegnerischen Mannschaft. Es sieht so aus, als wäre er der Trainer des anderen Teams. Mats´ Eltern haben es sich am Spielfeldrand in ihrer eigens errichteten Loge gemütlich gemacht. Auf zwei Campingstühlen platziert mit einem Kaffee in der Hand beobachten sie das Treiben auf dem Platz. Becks´ Vater ist vor dem Eingang stehen geblieben und raucht genüsslich eine Zigarette zu seinem gerade geöffneten Bier. Der hat wahrlich Stil.

„Oder was meinst du?“ fragt Klaus bohrend.

Offenbar hat er mir die sehr allgemein gehaltene Frage nicht das erste Mal gestellt, was mich jetzt dummerweise sofort zu einer recht allgemeinen Antwort zwingt.

„Jaaaa, dasssssss lässt sich schwer sagen.“

„Wie, es lässt sich schwer sagen, dass neun Uhr ziemlich früh ist?“

„Naja, ich meine, es ist schon früh, aber irgendwie auch schon ganz schön spät…wenn man zeitiger aufsteht.“

Nach einer gefühlten Ewigkeit beginnt Punkt neun Uhr das Spiel und damit auch das Hoffen, dass ich in den nächsten 25 Minuten ein wenig Ruhe vor Klaus haben werde. Mats steht erwartungsgemäß im Abwehrzentrum, Becks kommt über rechts und Christiano durch die Mitte. J.J. hat es sich auf der Auswechselbank bequem gemacht. Meine Schwester erklärt mir, dass das wohl eine reine Schonungsmaßnahme sein muss, weil der Kleine noch etwas Schnupfen hat. Die ersten Minuten passiert rein gar nichts auf dem Platz. Weder Christiano noch einer seiner Mitspieler ist auch nur ansatzweise in der Lage, den Eindruck zu erwecken, dass das, was da auf dem grünen Feld abgeht, irgendetwas mit Fußball zu tun hat. Praktischerweise hat sich auch das Gastteam dazu entschieden, Bemühungen jeglicher Art zu unterlassen und einfach nur auf dem Platz zu stehen. Das einzige, was sich in der näheren Umgebung phasenweise bewegt, sind die vier Eckfahnen. Der Raum dazwischen ist so ruhig und unbewegt, dass man darin locker ein romantisches Picknick abhalten könnte. Klaus scheint ein wenig unzufrieden mit der Gesamtsituation zu sein. Er schreit die anderen Spieler an, dass sie den Ball auf Christiano spielen sollen, damit er endlich mal ein Tor schießen kann. Die Frauen neben Klaus zeigen auch ein wenig Unzufriedenheit, was aber lediglich daran liegt, dass der 3er und der 6er Fußballschuhe tragen, die rein gar nicht zur übrigen Kleidung passen.

Die Ereignislosigkeit des Spiels wird für einen Moment unterbrochen, als wie aus dem Nichts ein Ball auf mich zugerollt kommt. Dem Grunde nach ist dies für sich genommen wenig spektakulär, wenn ich nicht gerade versuchen würde, den Ball volley zurück ins Feld zu spielen, während einer der Gegenspieler direkt auf mich zugerannt kommt. Der Treffer sitzt. Der Nachwuchskicker fällt um wie ein nasser Sandsack. Ich schaue gebannt auf die Gegengerade und sehe die pure Ekstase. Der Schiedsrichter kommt mit einem strammen Schritt auf mich zu und schreit mir irgendetwas entgegen. Das ist mein Ende. Ich bin erledigt. Ich werde wohl der allererste Mensch sein, der bei einem Jugendspiel vom Platz fliegt oder wahlweise aufgeknüpft wird. Die anderen Eltern schreien mich an, als ob sie mich teeren und federn wollten. Ich würde am liebsten im Boden versinken.

Der schnellen Genesung des getroffenen Spielers und der Überzeugungskunst meiner neuen Freunde ist es wohl zu verdanken, dass ich nicht vom Spielfeld fliege und mir nichts angetan wird. Nach genau 25 Minuten bläst der Schiri beherzt durch seine Pfeife zur Pause. Becks Vater hat sich abseits des Spielfeldes schon die nächste Flasche Bier aufgemacht und teert kräftig seine Lunge. Bevor Klaus zu einem weiteren Monolog ansetzen kann, laufe ich zu den Umkleidekabinen. So langsam machen sich meine drei Pott Frühstückskaffee bemerkbar. Umso mehr ich darüber nachdenke, desto mehr habe ich das Gefühl, dass mir die Rinnsäle jede Minute am Hosenbein hinunterlaufen. Ich laufe so schnell es geht zu dem etwas altertümlichen Vereinsgebäude, in dem die Gladiatoren gerade ihre Pause verbringen. Mit jedem Schritt merke ich die Entspannung ein wenig mehr, leider nicht nur im Kopf, sondern auch unterhalb meiner Gürtellinie. Mit großer Erleichterung drücke ich die Klinke hinunter und renne erst einmal kräftig gegen die Tür. Das verdammte Besucherklo ist verschlossen. Die voranschreitende Entspannung paart sich mit panikbedingten Hitzewallungen. Der Schweiß schießt mir aus den Poren und die Staumauer in meiner Blase scheint sich dem enormen Druck jeden Moment beugen zu müssen. Mit einer gekonnten X-Stellung meiner Beine versuche ich zu halten, was immer schwerer zu halten geht. Meine Augen gehen flehend auf die Suche nach einer Möglichkeit zur Erleichterung. Mein erster Blick fällt auf eine schöne große Eiche, die mich förmlich zu rufen scheint. Während mein Gehirn noch damit beschäftigt ist, etwaige moralische Bedenken zu verarbeiten, sind meine Beine mit dem Rest des Körpers schon unterwegs. Glücklicherweise gelingt es meinem Kopf zeitig genug, die Kontrolle über meinen Körper wiederzuerlangen, bevor ich vor der versammelten Elternschaft die Hosen hinunterlasse. Meine Augen wandern zurück zu den Katakomben. Ich renne so gut es mit verschränkten Beinen und einer randvollen Blase eben geht. Da wo die Kabinen sind, müssen auch irgendwo Toiletten sein. Aus einer offenen Tür höre ich das vertraute Rauschen einer Spülung. Ich folge dem Geräusch und schaffe es im letzten Moment gerade noch so an eines der Becken. Die Erleichterung darüber treibt mir spontan die Tränen in die Augen. Mit einem aufrichtigen Schniefen und Grunzen lasse ich meiner Blase freien Lauf. Es gibt absolut nichts, was mich in diesem Augenblick von dem abbringen könnte, was sich gerade mache. Ich habe gerade eine ziemlich genaue Vorstellung davon, warum es Rettung in letzter Sekunde heißen muss und nicht etwa in letzter Minute oder in letzter Stunde. Einen einzigen Augenblick später und ich hätte unter dem schallenden Gelächter einer Horde Siebenjähriger einen riesengroßen gelben Fleck vom Boden wischen dürfen.

Als ich auf den Platz zurückkehre, haben beide Mannschaften schon wieder Aufstellung genommen. Es hat offenbar keine Auswechslungen gegeben. J.J. sitzt immer noch auf der Auswechselbank und zeigt seinen ebenfalls gelangweilten Leidensgenossen einen grünen Brocken, den er sich gerade frisch aus der Nase gezogen hat. Die gesamte Auswechselbank zeigt lachend ihre Anerkennung. Auf dem Platz geht es jetzt ein weniger rassiger zu. Christiano und seine Kumpels legen mächtig los. Entweder hat es in der Halbzeit in der Kabine eine ordentliche Ansprache gesetzt oder die Spieler der Heimmannschaft haben in der ersten Halbzeit komplett die Arbeit niedergelegt, weil sie gegen die frühe Anspielzeit protestieren wollen. Ich weiß ja nicht, ob die Spielergewerkschaft bereits im Jugendbereich aktiv wird, aber eine wirkungsvollere Spielverweigerung hätte sie sich nicht ausdenken können. Die Eltern reagieren sehr unterschiedlich auf diese neue Situation. Während meine Schwester und ihre Freundinnen mit ihrem lautstarken Gekreische an meinem ersten Tinnitus arbeiten, zieht auf der anderen Seite eine ziemliche Unzufriedenheit auf. Die Eltern der Gastmannschaft sehen mit ihren wedelnden Armen wie Schiffbrüchige aus, die verzweifelt versuchen, ein herannahendes Schiff auf sich aufmerksam zu machen. Rod hat sich ein wenig von der Hektik anstecken lassen und hüpft wie das Rumpelstilzchen persönlich die Seitenlinie auf und ab. Mit seinem roten Kopf könnte er den anderen Eltern glatt als Signalleuchte zur Hilfe eilen. Ich vermute, dass er gerade liebend gern eine halbe Schachtel Kippen am Stück wegziehen würde, wenn er nur eine Ecke hätte, hinter der er sich verstecken könnte. Aus dem Hintergrund eilt ihm ein weiterer Rockerkollege zur Hilfe, der sich allerdings mehr für meine Eltern als für die eigenen Spieler zu interessieren scheint. Es sieht so aus, als ob der Typ, der aussieht wie Meat Loaf, sogar ein wenig Schaum vor dem Mund hat. Die Frustration nimmt nicht unbedingt ab, als Christiano nach einer starken Vorarbeit von Becks über die rechte Seite das 1:0 macht. Nun muss auch der Schiri daran glauben, dem auf etwas direkte Art und Weise mitgeteilt wird, dass man weder von ihm, noch von seinem Verband etwas hält. Meat Loaf schreit sprudelnd in Richtung des Schiedsrichters, dass dieser Idiot doch das Foul vorher hätte sehen müssen, wenn er denn nicht komplett blind ist. Da sich die Aktion direkt vor meinen Augen abgespielt hat, habe ich ziemlich deutlich gesehen, dass es nicht einmal einen Körperkontakt gegeben hat. Das hat den gegnerischen Abwehrspieler aber nicht daran hindert, theatralisch zu Boden zu gehen und sich etwa 20 Mal über den Boden zu rollen. Wahrscheinlich heult er jetzt auch nur, weil er durch die vielen Drehungen ein schweres Schleudertrauma erlitten hat.

Nun ist jedenfalls richtig Feuer in der Partie. Rod erteilt seinen Mannen den Befehl, aggressiver zur Sache zu gehen und die Gegenspieler einfach auch mal wegzukrätschen. Dies wiederum versetzt „meine“ Eltern derart in Rage, dass sie sich kollektiv und sehr direkt nach Rods Wohlergehen erkundigen. Der kleine dicke Mann neben Klaus, der offenbar Frank heißt, wird sogar noch etwas konkreter und unterstellt Rod diverse Hirnschädigungen. Die allgemeine Unruhe scheint Christiano zu beflügeln. Mit zielgerichteten Schritten lässt er seine Gegner wie Slalomstangen stehen und schafft es auch noch, die Kugel durch die Hosenträger des Torhüters zum 2:0 einzuschieben. Angetrieben von den vorherigen Unruhen kostet Frank die Situation nun umso mehr aus. Wie nach einem gewonnenen Championsleaguefinale rennt die kleine, laufende Mozartkugel im Hopserlauf die Seitenlinie auf und ab und macht dazu unaufhörlich die gute, alte Säge. Das einzige, was ihn stoppen kann, ist seine nicht vorhandene Kondition. Nach der dritten 10 m Bahn ist Frank derart fertig und verschwitzt, dass ich kurz überlege, schon einmal rein vorsorglich den Rettungsdienst anzurufen. Die klasse Einzelleistung kommt aber nicht bei jedem gut an. Rod ist nach dem Solo auf 180. Seine Arme kreisen wie die Rotorblätter eines startenden Helikopters. Bei etwas günstigerem Wind bestünde wohl die akute Gefahr, dass er auf der Stelle abhebt. Offenbar scheint der Funke auch auf seine Mannschaft übergesprungen sein. Rods Seven krätscht jetzt alles weg, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Nachdem Mats und Becks verhältnismäßig schnell über die Klinge gesprungen sind, schafft es Christiano im Moment noch schneller zu sein als seine heranfliegenden Gegenspieler. Irgendwann muss dann aber selbst er ins Kunstgras beißen. Ein Typ mit einer hochtechnisch wirkenden Sportbrille und der Statur einer Gazelle sprintet kurz nach seiner Einwechslung über den gesamten Platz und schafft es mit einer gut getimten, leicht eingesprungenen Blutgrätsche, sein Opfer zu erlegen. Christiano geht zu Boden und rollt noch etwa zehn Meter weiter bevor er sich vorsichtig aufsetzt. Seiner Mimik nach ist davon auszugehen, dass beide Beine vom Knöchel bis zum Beckengürtel mindestens zehnmal gebrochen sind. Mein Umfeld tobt und schäumt vor Wut. Klaus schreit den Fouler aus voller Kehle an, was Meat Loaf spontan dazu veranlasst, ihm ein gepflegtes Backensolo anzubieten. Das ruft mich auf den Plan. Ich habe ja noch etwas gut zu machen und ich kann meinen alten Freund Klaus in dieser Situation schlecht alleine lassen. Ich frage Meat Loaf, ob er es sich denn alleine zutrauen würde oder ob er den Rest der Rocky Horror Picture Show gleich mitbringen will. Klaus findet meinen Spruch klasse und klopft mir anerkennend auf die Schulter. Der Typ neben Meat Loaf mit Händen so groß wie Toilettendeckeln ist offenbar nicht ganz so angetan davon. Der 2 m Hüne im Holzfällerhemd schaltet sich zum ersten Mal in das Randgeschehen ein.

„Aus welchem Loch bist du denn gekrochen?“ fragt er offenbar in meine Richtung.

Es gibt jetzt genau zwei Möglichkeiten. Ich könnte ihm sagen, dass er wieder auf den Baum zurückgehen soll, von dem er gerade heruntergestiegen ist und sich weiter auf der Brust herumschlagen soll. Das würde mit großer Wahrscheinlichkeit in einer ziemlich eng geführten Diskussion enden, an deren Ende ich wohl meine Zahnzusatzversicherung das erste Mal in Anspruch nehmen müsste. Alternativ hierzu könnte ich auch einfach meine Klappe halten und mich ganz unauffällig abwenden, so als ob ich überhaupt nichts gehört hätte. Ich entscheide mich für Variante Nummer zwei. Ich möchte das Ende des Spiels gern noch in einer aufrechten Position erleben.

Mein geordneter Rückzug scheint zu funktionieren. Der laufende Kleiderschrank beruhigt sich genauso so schnell wie er sich erregt hat. Auch die anderen Gemüter kühlen sich auf Normaltemperatur ab als Christiano wieder auf seinen zwei Beinen steht. Das einzige, was bei Christiano tatsächlich einen leichten Bruch erlitten hat, ist eine seiner gelgestärkten Haarsträhnen, die jetzt unkontrolliert zur Seite hängt. Damit muss er aber wohl noch bis zum Ende des Spiels leben. Es scheint gerade kein Stylist mit einem Notfallset vor Ort zu sein. Abgesehen von seiner Haarblessur läuft er aber schon wieder recht rund.

Die Ausführung des Freistoßes wird zu einer richtigen Inszenierung. Nachdem Christianos Nachfahre das Spielgerät in eine optimale Liegeposition gebracht hat, was runde fünf Minuten dauert, schreitet er ein paar Schritt zurück und bleibt breitbeinig mit dem Blick eines sich duellierenden Westernhelden stehen. Er ist eben schon ein richtiger CR 7 Verschnitt, zumindest was die Show angeht. Der Freistoß selbst passt nicht zur Aufführung und gehört eher in die Kategorie „nicht der Rede wert.“ Das Spiel plätschert danach wieder so vor sich hin. Als die Zuschauer gerade kurz vorm Einschlafen sind, lässt der kleine pummelige Stürmer der gegnerischen Mannschaft mit ein paar schwerfälligen Körperfinten gleich zwei Abwehrspieler aussteigen. Trotz aller anderslautender Befürchtungen kippt er dabei nicht um und geht frei auf unser Tor zu. Kurz bevor das Pummelchen zum finalen Stoß ansetzen kann, läuft ihm die wieselflinke Kim den Ball ab und leitet gleich den Gegenzug ein. Ganz Sportsmann schmeißt sich der Beinahetorschütze auf den Boden und heult wie ein kleines bockiges Kind, dem man gerade sein Lieblingsspielzeug geklaut hat.

Irgendwann kommt es dann tatsächlich zu J.J.´s Einwechslung. Bereits nach den ersten Schritten wird mir klar, dass der späte Teilzeiteinsatz tatsächlich eine Schonungsmaßnahme war. Allerdings ging es dabei wohl eher darum, meinen Neffen vor sich selbst zu schützen. Gleich in der ersten Aktion tritt J.J. erst einmal gepflegt über den Ball. Er bleibt aber stehen und versucht gar nicht, ihm hinterher zukommen, weil er wahrscheinlich selbst nicht im Ansatz daran glaubt, dass er ihn jemals wieder erlaufen wird. Durch einen Zufall landet der Ball aber nur kurze Zeit später wieder bei ihm und entwickelt sich spontan zur ernsthaften Gefahr für seine Gesundheit. Diesmal stolpert er im vollen Lauf über das runde Leder und hakt mit dem Gesicht frontal im Kunstrasen ein. Zum Glück übersteht er den Sturz ohne weitere Blessuren. Dafür scheint er nun noch weniger Bock zu haben als vorher ohnehin schon. Für J.J. wäre es das Beste, wenn er auf der Stelle wieder ausgewechselt werden würde. Zu seinem Glück kommt er den Rest des Spiels nicht mehr an den Ball. Kurz vor dem Schlusspfiff taucht dafür Becks noch einmal freistehend vor dem gegnerischen Tor auf und nagelt die Pille unter die Latte. Von dort aus prallt das Ding direkt auf den Boden. Klaus und Becks Vater reißen sofort die Hände in die Höhe und schreien im Kanon: „Tor!!!“ Meat Loaf und Rod bringt das so auf die Palme, dass sie sich spontan zu einem Rock-Pop-Metal-Crossover entschließen. Gemeinsam grunzen sie ein Medley aus den weltbekannten Nummern „Der war niemals drin“, „Der war sowas von vor der Linie, du Spacko“ und „Wo verdammt nochmal war das Ding hinter der Linie?“. Obwohl ich genau hier und jetzt mein persönliches Wembley erleben könnte, regt sich in mir nichts. Vielleicht liegt es daran, dass ich in diesem Moment einfach nicht richtig auf die Situation vorbereitet bin oder mir fehlen einfach die richtigen Gene. Ich bemühe mich inständig, wenigstens ein wenig emotional rüberzukommen. Aber auch nachdem meine Schwester und ihrer Freundinnen ihre Versuche zur Demontage meines Trommelfells wieder aufgenommen haben, kommt bei mir kein emotionaler Gefühlsausbruch zustande. Das zaghafte „jaaaa“, das mir gerade so über die Lippen kommt, werte ich selbst eher als eine halbherzige Regung. Irgendwie ärgert es mich ja schon. Da bekomme ich die erstklassige Gelegenheit, hier und heute mein persönliches Wembley zu erleben, und ich versage auf ganzer Linie.

Meine innere Selbstmontage wird durch den Pfiff des Schiedsrichters unterbrochen. Dem hängenden Kopf des Gästespielers und dem Ball in seiner Hand zu folge, muss er diesen offensichtlich aufgefangen haben, als er vom Boden zurück in Richtung Spielfeld gesprungen ist. Das Rock-Pop-Duo wechselt sofort die Songauswahl in „Das war nie ein Neuner du Haubentaucher“ während Klaus und seine Freunde einhellig klatschen. Becks schnappt sich sofort den Ball und legt ihn auf den Punkt. Mats steht ganz Profi neben ihm und redet mit schmerzverzerrten Blicken auf ihn ein. Wahrscheinlich versucht er ihn gerade davon zu überzeugen, dass Becks den Neuner lieber nicht schießen soll. Die Bemühungen bleiben jedoch erfolglos. Becks läuft an, trifft den Ball satt und haut das Ding über das linke Lattenkreuz in die angrenzende Gartenanlage. Eigentlich hätte man wissen müssen, dass ein Typ, der aussieht wie ein Engländer, auch keine Strafstöße schießen kann. Zum Glück bleibt der Fehlversuch folgenlos, weil der Schiedsrichter erneut zur Pfeife greift und auf den Punkt zeigt. Ein Spieler der gegnerischen Mannschaft ist bei der Ausführung zu früh in den Strafraum gerannt. Im zweiten Versuch ist Mats nun an der Reihe. Mats schießt das Ding trocken in die Ecke, was bei einem Torhüter mit einer Körpergröße von nicht einmal 1,20 m ein durchaus probates Mittel ist. Durch den verwandelten Neuner steht es nun 3:0, was gleichzeitig auch der Endstand ist, da der Schiedsrichter das Spiel gar nicht mehr anpfeift. Die Eltern geben noch einmal alles. Meine Schwester und ihre Freundinnen strapazieren ein letztes Mal mein Trommelfell. Und Klaus und Frank schreien ihre Freude raus, als bräuchten sie eine intensive Behandlung beim Exorzisten.

Becks Vater hat es sich derweil schon wieder vorm Käfig bequem gemacht, öffnet Bier Nummer drei oder vier und zündet sich zur Abwechslung mal eine Kippe an. Rod scheint gleich nach dem Spielende seine Medikamente wiedergefunden zu haben. Fromm wie ein Osterlamm spaziert er über das gesamte Spielfeld und klatscht freundlich lachend jeden ab, der ihm gerade unter die Hände kommt. Für Meat Loafs Kreislauf wäre es besser, wenn er seine Medizin bald finden würde, denn er zeigt auch nach dem Spielende deutlich, dass er noch einigen, zur Not auch körperlichen, Klärungsbedarf sieht. Da Klaus mit Becks Vater aber den einzig möglichen Kontrahenten ganz gut in Schach hält, beruhigt sich auch Meat Loaf irgendwann.

Ein paar Minuten später stehen alle Eltern wieder gemeinsam an dem Platz, an dem sie auch schon heute Morgen gestanden haben. Aus einer Ecke neben den Pkw-Stellplätzen steigt ununterbrochen bläulicher Rauch auf. Wenn nicht gerade eines der Autos zu brennen beginnt, holt Rod wahrscheinlich in diesem Moment sein gesamtes Nikotindefizit auf, das sich im Laufe des Spiels angestaut hat. Die meisten Spieler kommen relativ schnell aus der Kabine zurück. Sie haben unterschiedliche aber gleichsam fadenscheinige Gründe, warum sie nicht mit ihren Mitspielern duschen können. J. J. taucht als einer der letzten wieder auf. Ich frage mich, was er die letzte halbe Stunde in der Kabine gemacht hat. Eine Dusche hätte er jedenfalls aufgrund seines eingeschränkten Bewegungsradiuses nicht nötig gehabt. Wir gehen zum Auto. Mein Neffe ist total aufgeregt, was aber weniger an dem klaren Sieg als an dem Versprechen meiner Schwester liegen dürfte, auf dem Rückweg einen Zwischenstopp in einem Fastfoodtempel einzulegen. Von der Rückseite des Gebäudes nähert sich ein mattschwarzer nach Fritten stinkender Bus. Der alte Knatterkasten sieht ziemlich abgefrackt und farblos aus. Am Steuer des Autos erkenne ich Meat Loaf wieder, was mich irgendwie nicht sonderlich überrascht. Das Leben ist halt manchmal voller Vorurteile.

Bratwurst am Stiel

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