Читать книгу Die Legende der Alten - Torsten Thiele - Страница 7
ОглавлениеDiebesbande
Die Einöde, meilenweit nichts als trockene Erde, grau, unwirtlich. In der Ferne zuckten Blitze über den Himmel. Aufgetrieben vom Wind huschten kleinere Trichter aus Staub über die Ebene, drehten sich, wirbelten mal in die eine Richtung, dann plötzlich in eine andere, fielen in sich zusammen, nur um kurz darauf, wenige Meter daneben, wieder neu zu entstehen. Fast schien es, als würden sie tanzen. Ein Ballet, die Einöde als Bühne und Kex als Zuschauer. Das gleichförmige Surren der beiden Windräder –Relikte der Alten –, die hinter Kex gespenstisch in den Himmel aufragten, lieferte die Musik dazu. Kex genoss die Aussicht. Mehrere hundert Meter erhob sich die Klippe hier über der Ebene. Unweit schmiegte sich der große Fahrstuhl an den Felsen, seine Holzbalken gebleicht von der Sonne. Er war der einzige Weg in die Einöde, schon seit Jahren hatte ihn niemand mehr benutzt. Was sollte man auch da unten? Dort gab es nur Staub. An die Verdammten, die in der Einöde leben sollen, glaubte Kex nicht. Er hatte schließlich noch nie einen von ihnen gesehen. Wahrscheinlich waren sie eine ebensolche Legende wie die Städte der Alten. Es soll sie ja geben, weit hinter dem Horizont. Kex kannte nur Ruinen, die wenigsten waren einladend. Trotzdem träumte er manchmal von den Städten. Eines Tages würde er hinausziehen, stellte Kex sich vor, und sie finden, irgendwann. Viele sind bereits aufgebrochen, nach ihnen zu suchen, bisher ist niemand zurückgekehrt. Er würde zurückkehren, er würde ein Held sein.
Ein plötzlicher, stechender Schmerz im Rücken riss Kex aus seinen Tagträumen. Er kannte diesen Schmerz und schon lange hatte er aufgegeben, zu zählen, wie oft ihm Esrin seine Krücke zwischen die Schulterblätter gerammt hatte. Mittlerweile nahm er es mit einem gewissen Stumpfsinn hin, wirklich daran gewöhnen konnte er sich wohl nie. Der Schmerz verging, der gekränkte Stolz aber blieb. Irgendwann würde er den alten Krüppel dafür umbringen, nicht jetzt, nicht heute, irgendwann.
„Habe ich mir doch gedacht, dass du wieder hier herumlungerst, du elender Taugenichts. Man sollte dich in die Einöde schicken, die du anscheinend so magst. Es ist Markttag, die Stadt voller Menschen und das Gedränge ideal für uns. Also mach gefälligst, dass du zu den anderen auf den Marktplatz kommst, es gibt Arbeit. Ich füttere dich nicht umsonst durch!“, krächzte Esrin.
Widerwillig erhob sich Kex. Ein paar kleinere Kieselsteine lösten sich vom Rand der Klippe und klimperten hinunter in die Einöde. Esrin war nervös einige Schritte zurückgetreten. Kurz nahm er den Hut mit der breiten Krempe vom Kopf und wischte sich den Schweiß aus der Stirn. Sein Gesicht war mit Pusteln übersät, Zeichen eines Lebens unter freiem Himmel. Einen Gesichtsschal, so wie Kex und die meisten anderen Menschen, trug er selbst im Sommer nicht. Normalerweise vermied Esrin es, hierher zu kommen. Auch ein Grund, warum Kex diesen Platz so mochte. Nur bei besonderen Anlässen holte Esrin Kex persönlich ab, es musste also einen solchen Anlass geben. Doch Esrin schwieg, während er neben Kex den Hügel hinauf zum Stadttor humpelte. Kex fragte nicht, er würde es noch früh genug erfahren.
Vor dem Tor warteten Händler, Bauern und Handwerker aller Art darauf, in die Stadt eingelassen zu werden. Gerade durchstöberten die Wachen den Karren eines Händlers. Sie begutachteten seine Waren von allen Seiten, schafften einige hübsche Stücke in das Wachhaus, andere warfen sie achtlos vom Wagen herunter. Der Händler lief aufgeregt herum, sammelte seine Waren von der Straße und lamentiert dabei über sein Schicksal. Nicht wenige hinter ihm in der Reihe schauten belustigt, andere sorgenvoll. Kex fragte sich, ob es der erste Besuch dieses Händlers in der Stadt war. Jeder wusste, dass die Wachen niemanden ohne Wegzoll einließen. Konnte oder wollte jemand nicht zahlen, bedienten sie sich bei seinen Waren. Fanden sie dort nichts, jagten sie den armen Narren einfach davon. Erst wenn ihre Börsen bereits gut gefüllt waren und das Wachhaus schier überquoll, zeigten sie sich milder. Wer nicht viel hatte, ließ anderen also gern den Vortritt. Allerdings war der Marktplatz begrenzt und wer zuerst kam, besetzte die aussichtsreichsten Plätze, dort, wo die Diener der Beseelten einkauften, oder manchmal sogar die Beseelten selbst flanierten. Die Letzten, die in die Stadt eingelassen wurden, konnten ihre Waren höchstens noch in einer der schäbigen Seitengassen feilbieten. Dort zahlte so mancher Kunde eher mit den Fäusten, oder schlimmer noch, mit Messerstichen, denn mit Geld. Insofern schienen ein paar Kupferlinge mehr für die Torwachen gut angelegt, wenn sie einen dafür nur früh genug einließen.
Wie immer unternahmen die Wachen nicht einmal den Versuch, Kex aufzuhalten. Zu oft schon hatten sie sich zum Gespött der halben Stadt gemacht, als sie hinter ihm her hetzten und über allerlei Hindernisse stolperten, die Kex mühelos vermied. Ihre fettgefressenen Bäuche schwabbelten dabei lustig über ihre Hosen. Jedes Mal hatten sie aufgegeben, ihre hübschen Uniformen verdreckt und zerrissen. Nicht umsonst nannten die anderen Kex Wiesel. Diesen Spitznamen hatte er sich redlich verdient. Mittlerweile quetschten die Wachen nur noch ein kurzes „Verschwinde!“ zwischen den Zähnen hervor und widmeten sich dann wieder ihrer lukrativeren Klientel. Esrin konnte nicht davonlaufen, zahlen musste aber auch er nicht. Welche Abmachung Esrin mit den Wachen getroffen hatte, konnte Kex bisher noch nicht herausfinden. Geheimnisse zu bewahren, zählte zu Esrins herausragenden Fähigkeiten.
Die anderen Jungen der Bande lungerten schon in einer Ecke des Marktplatzes herum. Scheinbar gelangweilt beobachten sie die Ankunft der Händler. Insgeheim schmiedeten sie aber sicher bereits Pläne, wie sie jeden einzelnen um einige Kupferlinge erleichtern konnten. Ein Gesicht kannte Kex noch nicht, ein kleiner Junge, wohl kaum einmal zehn Jahre alt. Er musste neu sein.
„Wer ist der Knirps? Der kommt doch kaum an den Hosenbund heran, so klein wie er ist“, fragte Kex.
„Er erfüllt seinen Zweck. Hoher Besuch ist heute angesagt, meine Quellen berichten von einer Beseelten samt Gefolge. Ich und der Kleine werden sie für euch ablenken, diese schüchternen Kinderaugen werden ihre Wirkung auch bei der Beseelten nicht verfehlen. Ich habe ihn extra dafür gekauft. Kümmer du dich mit den anderen gefälligst darum, dass den Herrschaften der Hosenbund etwas leichter wird. Sonst ziehe ich den Kaufpreis für den Balg von eurem Anteil ab“, raunzte Esrin.
„Das tust du doch sowieso“, erwiderte Kex.
Er biss die Zähne zusammen, als er zur Antwort Esrins Krücke im Rücken spürte. Betont gelassen schlenderte er zu den anderen Jungen hinüber, Esrin blieb zurück, er zeigte sich nie mit der ganzen Bande zusammen. Der kleine Junge trat schüchtern einen Schritt zur Seite, musterte Kex aber immer wieder verstohlen.
„Esrin will, dass wir uns um eine Beseelte kümmern“, sagte Kex.
„Die haben jede Menge Wachen dabei. Ich bin nicht scharf auf die Grube. Soll der alte Drecksack sie doch selber beklauen!“, monierte Bartar.
Er war ein stämmiger, großgewachsener Junge, überragte Kex und die anderen um mindestens einen halben Kopf. Die ersten Anzeichen eines Bartes zierten bereits sein Gesicht. Ein Ereignis, auf das Kex bei sich selbst bisher vergebens wartete. Dabei war er nur ein halbes Jahr jünger als Bartar. Bartar beschwerte sich oft, solange Esrin nicht in der Nähe war, tat aber immer wie ihm geheißen. Und obwohl alle zumindest ein bisschen Angst vor ihm hatten, respektierten ihn nur wenige und wohl kaum einer traute ihm. Das lag vor allem daran, dass er Esrin in dessen Gegenwart geradezu in den Hintern kroch. Keiner der Jungen hatte Lust, von Esrin verprügelt zu werden, nur weil Bartar seinem Meister alle Neuigkeiten aus der Bande zutrug. Stattdessen hatte die Bande Kex als Anführer auserkoren, Bartar beschwerte sich darüber nicht. Immer wenn Kex an seinen Rücken dachte, so wie jetzt, da der dumpfe Schmerz gerade erst abklang, hielt er Bartar für klüger als sich selbst.
„Der Neue soll sie ablenken. Wie heißt du?“, fragte Kex.
„Ich?“, stammelte der kleine Junge und schaute sich dabei um, in der Hoffnung hinter ihm stünde noch jemand, der an seiner statt gemeint sein könnte. Aber da stand niemand.
„Mein Name ist Lasikosa.“
Einige der anderen Jungen kicherten unverhohlen. Auch Kex konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
„Wer hat dir denn diesen bescheuerten Namen gegeben? Wir nennen dich am besten nur Kos“, entschied Kex.
Der Junge zog den Kopf zwischen die Schultern und nickte nur. Kex fragte sich, wie Kos in die Hände von Esrin geraten war. Viel tiefer konnte man nicht mehr sinken, eine Karriere als Dieb und Bettler. Früher oder später würden ihn die Wachen erwischen, vielleicht schon heute. Dann endete das Leben in der Grube. Von Bestien bei lebendigem Leib zerrissen, so erzählte man es sich zumindest in den Tavernen. Kein schöner Tod. Nur die Kinder in den Minen waren noch schlimmer dran, sie sahen kaum das Sonnenlicht. Obwohl, damit bekamen sie auch keine Sonnenkrankheit. Kex wischte diesen Gedanken beiseite. Solange er die Dinge nur richtig anpackte, musste niemand in die Grube, zumindest nicht heute.
***
Prinzessin Nomo hatte ihr schönstes Kleid angezogen, schließlich durfte sie zum ersten Mal in die Stadt auf den Markt. Schon von Kindes an faszinierte sie das Treiben auf den Straßen. Sie saß bisweilen stundenlang vor dem kleinen Fenster im Turm, von dem aus man über die Mauer des Palastbezirkes sehen konnte. Heute würde sie Teil dieses Treibens sein, sie war fürchterlich aufgeregt. Nach jahrelangem Betteln hatte Nomos Mutter diesem Ausflug endlich zugestimmt. Vielleicht beruhigte es ihre Mutter, dass Kirai Nomo begleitete. In letzter Zeit drängte er sich förmlich in Nomos Leben, wo sie war, konnte Kirai nicht weit sein. Kirai war durchaus ansehnlich, stolz, er gab sich öffentlich stets charmant, und so wie bei den meisten anderen Mädchen, hatte dies auch Nomos Herz die ersten Begegnungen schneller schlagen lassen, ihr die Stimme versagt. Doch wenige Treffen hatten Kirai entzaubert, Nomos Aufregung sich schnell gelegt. Er sprach selten mit ihr, nach einigen überschwänglichen Komplimenten bei der Begrüßung – insbesondere wenn ihre Mutter anwesend war – ignorierte er sie zumeist völlig. Ausgiebig unterhielt sich Kirai nur mit anderen Beseelten. Oder, waren keine Beseelten außer ihr anwesend, kommandierte er die Dienerschaft umher. Nomo hielt Kirai deswegen für ausgesprochen eingebildet, aber wenn er ihr zu diesem einmaligen Ausflug verhalf, würde sie seine Gesellschaft auch heute ertragen. Sicher gab es auf dem Markt genügend Ablenkung.
Als sich das Palasttor öffnete, zögerte Nomo für einen Moment. Dann holte sie noch einmal tief Luft und schritt hindurch. Zwei Diener liefen rückwärts vor ihr her und fächerten ihr mit großen Palmenwedeln Luft zu. Mit heftigen Armbewegungen scheuchte Nomo sie davon, der riesige, über sie gehaltene Sonnenschirm war schon auffällig genug. Am liebsten hätte sie auch diesen im Palast gelassen. Aber ohne seinen Schatten riskierte man die Sonnenkrankheit. Auch die Beseelten waren davor nicht gefeit und Nomos dünne Schleier schützten nicht genug. Neben ihr lief Kirai, er nickte ihr kurz zu, sein Blick war leicht verächtlich. Dafür mochte Nomo das Sonnenlicht, die meisten Gesichter waren verhüllt, nur die Augen waren noch zu sehen. Die Augen ersetzten die Mimik, nur wenige konnten mit ihren Augen lügen. Für einen geübten Betrachter – und Nomo war geübt – ließen die Augen wenig Raum für Fehlinterpretationen.
„Manche Beseelte erzählen immer, wie toll doch die Stadt sei. Aber wie Ihr bemerkt, die Sonne brennt hier noch schlimmer als im Palastgarten und die Straßen sind staubig. Man muss es nur einmal gesehen haben und hat für ein Leben genug“, sagte Kirai.
„Ich mag es!“, antwortete Nomo.
Sie hatte die Augen weit aufgerissen, wendete den Kopf neugierig mal in die eine, mal in die andere Richtung. Hinter ihr setzte sich ein ganzer Tross aus Dienern und Wachen in Bewegung. Ihre Augen blickten finster aus dem schmalen Spalt, den ihre Gesichtsschals frei ließen. Anscheinend freute sich außer Nomo niemand auf diesen Ausflug. Nomo hatte darauf bestanden, zu Fuß zu gehen, schließlich sollten sich die Beseelten nicht über die einfachen Menschen erheben. Im Gegensatz zu den meisten Beseelten, nahm sie die Lehren der Priester sehr ernst. Ihrer Mutter gefiel dies gar nicht, und beinahe hätte Nomo damit den ganzen Ausflug gefährdet, aber als auch Kirai ihr zustimmte, die Beseelten sollten ein Vorbild sein – vielleicht war er ja doch gar nicht so eingebildet – , hatte ihre Mutter klein bei gegeben. Und so gingen sie die breite, von Bäumen gesäumte, Straße hinunter zum Markt. Einige der Dächer glänzten dunkelgrau bis violett, spiegelten ein wenig den Himmel, wenn man sie im richtigen Winkel betrachtete. Dachsteine aus der Zeit der Alten. Hier in den besseren Vierteln nahe des Palastes ein Statussymbol. Passanten, die der Prozession begegneten, verneigten sich ehrfürchtig. Die Beseelten mischten sich nur selten unter das einfache Volk, und wenn, blieben sie meist hinter den Vorhängen in einer Sänfte verborgen. Während das unterwürfige Verhalten der Leute Nomo verlegen machte – sie blickte beschämt zur Seite und ihr Gesicht wurde heiß – sonnte sich Kirai förmlich darin. Immer wieder reckte er stolz den Kopf gen Himmel und hob gönnerhaft die rechte Hand. Er war eingebildet!
Zwar war die Stadt die größte Siedlung weit und breit, Nomo erschien sie das Zentrum der Welt, verglichen mit den Städten der Alten aus den Legenden, hieß es, sei sie nur ein mickriges Dorf. So dauerte es lediglich eine Viertelstunde, bis sie den Markt erreichten. Nomo war dennoch überwältigt. Sie wusste gar nicht wo sie zuerst hinschauen sollte. Tausend Eindrücke, verstärkt durch Nomos geschärfte Sinneswahrnehmung, stürmten auf sie ein. Eine besondere Fähigkeit der Beseelten, eine Fähigkeit, die zunehmend seltener wurde. Schon seit Jahren hatte die Hohepriesterin keine potente Linie mehr hervorgebracht. Mittlerweile begründete sich der Rang eines Beseelten meist nur noch auf einen dicken Geldbeutel, so wie bei Kirai. Für einen kurzen Moment blieb Nomo stehen, sog die Gerüche tief ein und lauschte dem Wirrwarr aus Stimmen. Alles war so lebendig. Im Gegensatz dazu erschien ihr der Palast trist und langweilig. Dicht an dicht drängten sich die Marktstände, nur schmale Gassen blieben für die Passanten. An einigen Stellen war es so eng, dass sich die Zeltplanen der gegenüberliegenden Stände beinahe berührten. In den Gassen wimmelte es von Menschen. Sie liefen in alle Richtungen, zwängten sich an denen vorbei die gerade mit einem der Händler feilschten, blieben abrupt stehen, wenn sie in den Auslagen etwas Interessantes endeckten, oder einer der Händler sie mit einem Angebot lockte. Nomo hatte noch nie so viele Menschen gesehen und wunderte sich, wie sich jeder Einzelne in diesem Chaos zurechtfand. Sie schüttelte kurz den Kopf, lachte fröhlich auf und ging dann zum ersten der Marktstände hinüber. Sofort scheuchte der Händler alle anderen Kunden davon und widmete Nomo und deren Gefolgschaft seine ganze Aufmerksamkeit.
„Edle Dame, schaut Euch nur meine Waren an. Es sind die besten im ganzen Königreich“, prahlte er.
Er verkaufte Tücher und Stoffballen in allen möglichen Farben und Mustern, Nomo fand sie wunderschön. Eine von Nomos Dienerinnen trat hervor, rieb einige der Stoffe prüfend zwischen den Fingern und rollte dabei mit den Augen.
„Minderwertige Ware, schlecht gewebt. Und seht nur, wie ungleichmäßig gefärbt die Stoffe sind, Prinzessin. Solch ein Plunder ist Eurer nicht würdig. Hier sollten wir nichts kaufen. Sicher hat ein anderer Händler Besseres zu bieten“, sagte sie.
„Wollt Ihr Eure Herrin beschämen? Sie kann sicher selbst entscheiden, dass meine Stoffe von bester Qualität sind. Es ist echte Seide aus den fernen Landen. Fühlt nur wie…“
„Ich bin die beste Schneiderin im Palast! Euren Dreck könnt Ihr einem unbedarften Bauern aufschwatzen, aber nicht mir“, fiel ihm Nomos Dienerin ins Wort.
Der Händler blickte zur Seite.
„Aber meine Dame, ich wollte gar nicht an Euren Fähigkeiten zweifeln. Es sind exotische Stoffe, vielleicht habt Ihr einen solchen nur noch nie angefühlt“, sagte er.
Die Dienerin starrte ihn nur böse an. Nomo hob entschuldigend beide Hände und zog dabei kurz den Kopf zwischen die Schultern. Dann ging sie weiter. So pilgerte sie von Stand zu Stand. Immer wieder fand einer der Diener oder Dienerinnen etwas an den Waren der Händler auszusetzen. Nomo störte sich nicht daran, sie war nicht hier, um etwas zu kaufen, sie war hier um so viel wie möglich zu sehen. Und davon gab es reichlich, war der Markt doch voll mit Menschen aus allen Ecken des Reiches. Manche trugen so exotische Kleidung, dass Nomo staunend stehen blieb. Andere Marktbesucher fluchten daraufhin, da Nomo den Weg blockierte. Ohnehin war es gar nicht einfach, mit einem so großen Gefolge durch die engen und überfüllten Gassen des Marktes zu gehen. Besonders die Wachen hatten ihre liebe Not. Eine Gruppe Jungen, fast schon Männer, machte sich einen Spaß daraus, immer wieder zwischen den Wachen herumzurennen und sie damit durcheinander zu bringen. Die Wachen schlugen mit den Schäften ihrer Lanzen nach den Jungen, erwischten aber selten einen. Kirai beobachtete dies mit zunehmender Unruhe. Nomo lachte fröhlich, am liebsten hätte sie mit den Jungen, die alle ungefähr in ihrem Alter waren, herumgetollt. Dass sie Kirai nervös machten, gefiel ihr umso mehr.
Eine Menschentraube direkt vor ihnen, aus der lautes Geschrei und das Weinen eines Kindes drang, zog Nomos Aufmerksamkeit auf sich. Als sie herantrat, machten einige der Schaulustigen eine Gasse für sie frei. Ein Mann in mittleren Jahren, ein Krüppel auf einem Holzbein, sein Gesicht nicht verhüllt und gezeichnet von der Sonnenkrankheit, drosch immer wieder mit seiner Krücke auf einen kleinen Jungen ein.
„Du nichtsnutziger Bengel, sieh nur, was du wieder angerichtet hast! Meine schönen Vasen. Die Arbeit eines ganzen Monats hast du zerbrochen. Aus dem Haus sollte ich dich jagen. Von was sollen wir jetzt leben“, schimpfte er dabei.
Auch das Gesicht des Jungen war unverhüllt, arme Leute, sie lebten nicht lange. Plötzlich stand der kleine Junge auf, rannte zu Nomo und klammerte sich hilfesuchend an sie.
„Bitte, bitte hilf mir, er schlägt mich tot“, bettelte der Junge.
„Ist das dein Vater?“, fragte Nomo und legte schützend ihre Hände auf die Schultern des Jungen.
Der Junge schüttelte nur mit dem Kopf, als er noch einmal laut aufschluchzte.
„Wie heißt du denn?“, fragte Nomo.
„Lasikosa“, antwortete der Junge.
Nomo schmunzelte leicht. Kirai zwängte sich durch die Dienerinnen und musterte den Jungen ebenfalls.
„Straßenkinder. Ihr solltet ihnen nicht trauen, Prinzessin. Ehe man sich‘s versieht, ist man um einige Goldlinge ärmer“, sagte er.
Dabei griff er sich an den Geldbeutel, der an seinem Gürtel befestigt war. Gerade noch rechtzeitig, denn im selben Moment war jemand dabei, diesen abzuschneiden.
„Diebe! Wachen, haltet sie auf“, rief Kirai und drehte sich um.
Die Wachen schreckten auf, sie hatten ebenso neugierig wie alle anderen auf die Prinzessin und den kleinen Jungen gegafft. Jetzt bezogen sie mit antrainierter Schnelligkeit Stellung, ihre Lanzen fest im Griff. Die dreisten Diebe, es waren die Jungen, die die Wachen bereits die ganze Zeit narrten, stoben in alle Himmelsrichtungen auseinander. Einige Wachen stellten ihnen nach, hatten im Gedränge des Marktes aber keine Chance. Prinzessin Nomo stand wie erstarrt, beide Hände an den Mund gepresst. Die Menschenansammlung um sie herum löste sich erstaunlich schnell auf. Niemand wollte mit den Diebstählen in Verbindung gebracht werden. Der Krüppel war längst verschwunden. Nur der kleine Junge stand noch unschlüssig neben ihr, einen Moment zu lange. Er wollte gerade ebenfalls davonlaufen, als Kirai ihn packte.
„Du läufst uns nicht auch noch davon, du dreckiger kleiner Dieb!“, raunzte Kirai ihn an.
***
Kex hörte die anderen der Bande bereits lachen, bevor er in den heruntergekommenen Schuppen eintrat, der ihnen als Unterschlupf diente. Es war ein befreites Lachen, eines das zu sagen schien: „Wieder einmal Glück gehabt“. Diese Wachen waren erstaunlich gut ausgebildet gewesen, viel besser als die, mit denen es die Bande sonst zu tun bekam. Selbst Kex hatte ein paar blaue Flecken davongetragen. Aber zumindest hatten sie reichlich Beute gemacht. Wie immer würden sie versuchen, einiges davon vor Esrin zu verbergen. Wie immer würde der Drecksack ihre Verstecke finden. Esrin konnte Geld förmlich riechen. Eine weitere einzigartige Eigenschaft von ihm. Die Bande begrüßte Kex überschwänglich. Das unweigerliche Schicksal eines jeden Diebes, die Grube, war für ein paar weitere Tage aufgeschoben. Grund genug für ausgelassene Stimmung. Esrin war noch nicht da, auch Kos fehlte noch. Kex setzte sich zu den anderen an den Tisch. Darauf lag bereits ein erkleckliches Häufchen Geld. Neben den weit verbreiteten Kupferlingen, waren auch einige Silberlinge darunter und selbst ein paar Goldlinge schimmerten hervor. So viel hatten sie seit Monaten nicht mehr erbeutet. Auch Kex leerte seine Taschen. Dann schob er jedem seinen Anteil zu, jeder bekam dasselbe, egal wie viel er selbst erbeutet hatte. Eine stumme Übereinkunft, die sie vor langer Zeit getroffen hatten. Kex wollte es so, und niemand hatte widersprochen, auch Bartar nicht. Zwei Silberlinge, ein kleines Vermögen, solange Esrin es nicht entdeckte.
Kaum hatte jeder seine Münzen verstaut, trat Esrin durch die Tür. Er war allein.
„Wo ist Kos?“, fragte Kex.
„Kos?“
„Der Neue. Wir nennen ihn Kos“, sagte Kex.
„Ach, der Junge. Er hat seinen Zweck erfüllt. Am Ende war er nicht fix genug, ich hatte mir mehr von ihm versprochen. Nur schade um den Preis, den ich für ihn bezahlt habe“, antwortete Esrin.
„Drecksack. Du hast ihn einfach zurückgelassen. Sie werden ihn in die Grube werfen!“, fuhr in Kex an.
Mit einer Geschwindigkeit, die man einem Krüppel niemals zugetraut hätte, warf Esrin seine Krücke wie einen Speer in Kex Richtung. Diesmal hatte Kex aber damit gerechnet, er wich geschickt aus. Die Krücke knallte in den Bauch von Bartar, dem vernehmlich die Luft entwich und der sich daraufhin zusammenkrümmte. Die anderen sprangen erschrocken von ihren Schemeln auf und traten einen Schritt zurück.
„Treibe es nicht zu weit, langsam werde ich deiner überdrüssig. Du kannst ihn ja aus der Grube retten. Vielleicht wäre ich dich und dein vorlautes, aufmüpfiges Mundwerk dann endlich los“, zischte Esrin während er zu Bartar humpelte und seine Krücke aufhob.
„Das werde ich auch tun“, entgegnete Kex.
„Oh ja, geh nur. Der heldenhafte Ritter zieht hinaus, die Schwachen zu retten. Heldenhaft und gerecht… Ich würde ja zu gern beobachten, wie der schmutzige Dieb vor die Beseelten tritt und die Herausgabe von Seinesgleichen verlangt. Wahrscheinlich lachen sich die Wachen halb tot und lassen dich mit dem Balg davonkommen“, spottete Esrin.
Kex ballte die Fäuste. Für einen Moment zögerte er noch, dann rannte er aus dem Schuppen. Er würde sich beeilen müssen. Nach solch einem Ereignis zogen sich die Beseelten für gewöhnlich schnell in den Palast zurück. Wenn sie den Markt erst einmal verlassen hatten, standen die Chancen schlecht, Kos aus ihrer Gefangenschaft zu befreien. Die Chancen standen auch so schlecht, das gestand Kex sich selbst aber nicht ein, denn das hieße, vor Esrin zu kapitulieren. Also kletterte er auf eines der Dächer, von wo aus er den Markt überblicken und, ohne sich durch das Gedränge des Marktes zwängen zu müssen, Kos hoffentlich noch rechtzeitig erreichen konnte. Tatsächlich hatten die Beseelten und ihr Gefolge den Rand des Marktes noch nicht erreicht. Zwei der Wachen schleiften Kos mit sich. Die Beseelte redete unentwegt auf ihren Begleiter ein. Dabei blieb sie immer wieder stehen und deutete auf Kos. So kam der Tross nur sehr langsam voran, Glück für Kex. Er lief über die Dächer, sprang über kleine Gassen, kletterte an Fassaden hoch und balancierte über schmale Mauern. Er hatte keinen Plan, keine Ahnung wie er Kos aus der Mitte dieser Leute herausholen sollte. Letztlich entschied er sich für die einfachste aller Lösungen. Auf das Überraschungsmoment bauend, sprang er einfach vom Dach mitten in das Gefolge der Beseelten, schnappte Kos beim Ärmel und zerrte ihn mit sich davon. Nachdem die Wachen die Schrecksekunde überwunden hatten, stellten sie den beiden nach. Allein hätte Kex die Wachen sicher nach wenigen Metern abgeschüttelt, doch mit dem kleinen Jungen im Schlepptau gelang ihm dies nicht so leicht. Wie viele Haken sie auch schlugen, wie viele Hindernisse sie ihren Verfolgern auch in den Weg legten, die Wachen blieben an ihren Fersen. Mit seinen kurzen Beinen war Kos einfach zu langsam, musste mühsam über Hindernisse klettern, die Kex mit Leichtigkeit übersprang. Sie mussten nach oben, sie mussten auf die Dächer. Auf den Dächern waren sie in Sicherheit, auf die Dächer folgten die Wachen nie. Sie nutzten einen Karren als Rampe, Kex hob Kos auf das Vordach, bevor er selbst ebenfalls hinaufkletterte. Noch einmal um die Ecke, dann an der Fahnenstange auf das Dach. Zum Glück konnte Kos wenigstens klettern. Sie waren oben, sie liefen über das Dach, sie waren in Sicherheit. Plötzlich traf Kex etwas an der Schulter, ein dumpfer Aufprall, als hätte Esrin mit seiner Krücke zugeschlagen. Gleich darauf durchzog Kex ein heftiger Schmerz im ganzen Körper, kleine Blitze zuckten über seine rechte Schulter. Seine Beine, seine Arme, nichts gehorchte Kex noch, er war gelähmt, selbst sein Herz schien nicht mehr zu schlagen. Er spürte noch, wie etwas an seiner Hand zog, bevor er vorn überfiel. Er schlug auf dem Dach auf, den Schmerz spürte sein tauber Körper nicht mehr. Dann rollte er über die Dachkannte und fiel. Ihm wurde schwarz vor Augen.
Wie lange Kex nicht bei Bewusstsein war, konnte er nicht sagen. Noch immer zerrte jemand an seiner Hand. Erst langsam stellten sich seine Sinneswahrnehmungen wieder ein. Er lag weich, starrte in den wolkenlosen Himmel. Es stank fürchterlich nach Mist. Nach einer gefühlten Ewigkeit konnte er auch seine Beine wieder spüren, jeder einzelne Muskel schien zu schmerzen, so als hätte er am ganzen Körper Muskelkater. Dennoch setzte er sich auf, ein kleiner Junge mit ängstlich aufgerissenen Augen starrte ihn an, zog an seinem Arm. Kos, erinnerte sich Kex, er hatte ihn gerettet, sie waren auf der Flucht, sie mussten weg hier. Kex schaute sich um, er musste sich erst einmal orientieren. Er saß mitten in einem großen Misthaufen, daher also der Gestank. Es würde Wochen dauern, bis seine Kleider nicht mehr danach rochen. Aber der Haufen hatte ihnen das Leben gerettet, ihren Sturz vom Dach abgefangen, insofern war der Geruch ein kleiner Preis. Mühsam wühlte sich Kex von dem Haufen herunter, bis er endlich festen Boden unter die Füße bekam. Sie standen in einer kleinen Sackgasse, sie mussten hinaus bevor die Wachen kamen. Vor dem Ausgang der Gasse blitzen bereits die Spitzen einiger Lanzen in der Sonne. Es war zu spät, sie saßen in der Falle. Einige Ratten, aufgeschreckt durch die beiden Jungen, verschwanden in einem Loch, das ein verwitterter Holzverschlag offen ließ. Ein Versteck, das war zumindest eine Chance. Kos war klein genug, er passte mühelos hindurch. Kex musste sich schon mehr anstrengen. Zum Glück war das Holz bereits morsch und brach aus, als sich Kex durch das Loch am Boden zwängte. Eine der Ratten sprang quiekend über ihn hinweg. Er schaffte es gerade noch rechtzeitig, bevor die erste Wache in die Sackgasse einbog. Hinter dem Verschlag war nur wenig Platz, der Boden war feucht und schmierig. Auch hier stank es fürchterlich, beißend nach Urin. Anscheinend waren sie unter der Latrine einer der billigen Gasthäuser gelandet. An der Steinwand hinter ihnen ergoss sich ein kleines aber beständiges Rinnsal. Die ganze Wand glänzte im diffusen Licht, das durch die Ritzen im Bretterverschlag eindrang. Draußen waren jetzt deutlich mehrere Schritte zu vernehmen.
„Habt ihr sie?“, fragte eine Stimme vom Eingang der Gasse her.
„Sie sind nicht hier Herr“, antwortete jemand direkt vor dem Verschlag.
„Dann sucht sie gefälligst! Ich habe diesen dreisten Kerl schließlich mit dem Blitzwerfer getroffen, sie sind hier vom Dach gefallen. Sie können sich nicht in Luft aufgelöst haben“, rief der Mann vom Eingang der Gasse wieder.
„Ja, Herr“, kam die Antwort, beinahe konnte Kex den Atem des Mannes spüren so nah war er.
Die beiden hielten die Luft an. Eine Lanze stocherte plötzlich durch einen etwas breiteren Spalt im Verschlag. Sie streifte Kex am Arm, bevor ihre Spitze gegen die Wand schlug. Kex biss die Zähne zusammen, er zitterte leicht. Kos hatte sich ängstlich in die hinterste Ecke des Verschlags geduckt. Die Lanze verschwand wieder, nachdem sie noch einige Male gegen die Wand gestoßen wurde. Schritte entfernten sich.
„Wir haben alles durchsucht. Sie sind nicht mehr hier, Herr“, sagte draußen eine Stimme.
„Dafür lasse ich Euch in die Grube werfen! Abmarsch!“, schrie der Mann am Eingang der Gasse.
Als Antwort bekam er nur Gemurmel. Die Schrittgeräusche entfernten sich schnell. Dennoch warteten die beiden Jungen noch stumm bis die Sonne unterging, ehe sie aus dem Bretterverschlag wieder hervorkrochen. Im fahlen Licht der Neumondnacht waren die Wachen am Ausgang der Gasse kaum zu erkennen, aber Kex Augen hatten sich im inneren des Verschlags an die Dunkelheit gewöhnt.
„Ich…“, begann Kos.
Durch die ansonsten reduzierten Geräusche der Nacht, klang Kos Stimme unglaublich laut. Kex erschrak regelrecht. Schnell drückte er seine Hand auf den Mund des Jungen. Er selbst hielt die Luft an und starrte zu den Wachen hinüber. Einer der Männer bewegte sich.