Читать книгу Die Legende der Alten - Torsten Thiele - Страница 8
ОглавлениеRänkeschmiede
Königin Isi lag in einem Berg von Kissen am Rand eines kleinen Wasserbeckens. Verträumt schaute sie dem Springbrunnen in der Mitte des Bassins zu, sein Plätschern lullte sie ein. Im Hintergrund summte eine Dienerin ein Lied dazu. Hier, unter dem schützenden Dach des Pavillons, hatte Isi ihre Schleier abgelegt, trug nur noch ein dünnes, halb durchscheinendes Gewand. Sie mochte ihren Körper. Seit der Geburt ihrer Kinder war er zwar nicht mehr ganz so perfekt wie früher, doch noch immer konnte sie damit die Blicke der jungen Männer auf sich ziehen. So wie die ihres jetzigen Besuchers.
„Kirai, es freut mich, Euch zu sehen. Kommt, setzt Euch einen Augenblick zu mir, dann können wir ein wenig plaudern“, sagte Isi, lächelte und klopfte dabei einladend auf eines der Kissen neben ihr.
„Königin Isi, es ist mir eine Ehre. Ihr hattet nach mir gerufen?“, antwortete Kirai, während er noch etwas zögerlich näher trat und sich schließlich in gebührendem Abstand neben die Königin setzte.
Dabei hielt er den Rücken gerade und die Beine geschlossen. Auch er hatte seinen Gesichtsschal abgelegt. Die etwas hervortretenden Wangenknochen und die ganz leicht gebogene Nase gaben ihm etwas Männliches. Sein Mund war ebenmäßig, das Kinn schmal. Sein volles, schwarzes Haar schimmerte im Licht. Er war durchaus gutaussehend. Kein Wunder, dass die jungen Damen am Hof hinter seinem Rücken tuschelten. Ebenso war es nicht verwunderlich, dass er sich für Prinzessin Nomo interessierte, die wohl beste Partie am Hof. Die noch beste Partie, dachte Isi.
„Es geht das Gerücht, Ihr würdet um Prinzessin Nomo werben? Der Fehltritt meines Gatten ist ja auch wirklich eine ganz reizende Person“, sagte Isi.
„Man erzählt so viel am Hofe. Aber es ist wohl wahr, dass ich in letzter Zeit die eine oder andere Unternehmung mit Prinzessin Nomo geteilt habe. Sie ist manchmal so erfrischend“, antwortete Kirai.
Königin Isi beugte sich näher an Kirai heran. Dabei legte sie wie zufällig ihre Hand auf seinen Arm. Kirai zuckte, für einen Moment hatte es fast den Anschein, er wollte aufspringen.
„Erfrischend ist eine schöne Umschreibung. Ich würde es unerfahren, geradezu naiv nennen. Mein Gatte, und vor allem ihre Mutter, die beinahe wie eine Glucke auf ihr hockt, haben sie viel zu lange vom wahren Leben ferngehalten. Da ist es beruhigend, dass ein so gestandener Mann, wie Ihr Euch jetzt ihrer annimmt. Ihr habt ja einen gewissen Ruf…“, säuselte Isi Kirai ins Ohr.
„Oh, was meine Erfahrungen angeht, da sind die Gerüchte sicherlich übertrieben, muss ich gestehen. Prinzessin Nomo ist in dieser Hinsicht auch eher unempfänglich. Ich bin überzeugt, sie kennt meinen Ruf nicht einmal“, wiegelte Kirai ab.
„Nur nicht so bescheiden. Wenn Ihr Euch ein wenig anstrengt, werdet Ihr sicher einen bleibenden Eindruck bei Prinzessin Nomo hinterlassen. Das Wohlergehen der Prinzessin liegt mir sehr am Herzen. Nicht auszudenken, wenn ihr etwas zustoßen würde. Und was die fehlende Erfahrung angeht… dem können wir abhelfen“, sagte Isi und strich Kirai zärtlich eine Haarsträhne aus der Stirn.
Kirai räusperte sich verlegen und schaute zur Seite. Für eine Weile saß er so regungslos da. Königin Isi betrachtete ihn von der Seite, ein Lächeln umspielte ihren Mund. Der Springbrunnen plätscherte wie eh und je, die Dienerin summte nur noch sehr leise. Dann stand Kirai plötzlich auf.
„Entschuldigung, Königin Isi, zwar würde ich gern ewig in Eurer Gesellschaft verweilen, aber leider muss ich noch einige sehr wichtige Geschäfte erledigen“, sagte er und verbeugte sich tief.
„Nun gut, wenn die Pflicht ruft… Aber Ihr müsst mich bald wieder besuchen. Ich empfinde Eure Gesellschaft so anregend“, antwortete Isi.
Kaum hatte Kirai den Pavillon verlassen, trat ein Mann in schwarzer Robe aus einer Nische hervor. Königin Isi winkte ihn zu sich.
„Ihr werdet ihn im Auge behalten. Er mag unerfahren sein, aber er ist keiner dieser speichelleckenden Lakaien, der jeden Brocken willig schluckt, den ich ihm zuwerfe“, befahl sie.
***
Lady Lebell lief bereits eine Weile im Zimmer auf und ab. Nervös schaute sie abwechselnd aus dem Fenster dann zur Tür. Als sich die Tür endlich öffnete und ihre Tochter eintrat, atmete sie hörbar aus.
„Na endlich Kind. Beinahe wären meine schlimmsten Befürchtungen wahr geworden. Warum habe ich dir diesen Ausflug auf den Markt nur erlaubt. Die Stadt ist nun einmal ein gefährlicher Ort, besonders für die Beseelten. Das hast du jetzt sicher erkannt“, sagte sie.
„Es war ein herrlicher Ausflug, Mutter! Der Markt ist so voller Leben. Viel zu schade, dass er so abrupt beendet wurde“, antwortete Nomo, während sie zu ihrer Mutter lief und ihr die Wange küsste.
„Kind, du wurdest ausgeraubt! Du hättest dabei auch umkommen können!“, rief Lebell aufgeregt.
„Aber Mutter, das waren doch nur ein paar arme Diebe. Sie stehlen, weil sie sonst nichts zu essen haben. Sie verdienen eher unser Mitleid. Du machst dir einfach zu viele Sorgen“, sagte Nomo und lachte dabei.
„Was soll ich nur mit dir machen, Kind. Du bist die Prinzessin, Neider gibt es genug. Insbesondere, da dich dein Vater seinen Söhnen vorzieht. Glaubst du wirklich, die Königin nimmt das so einfach hin? Diese Schlange sähe dich lieber heute als morgen im Feuer. Du musst vorsichtiger werden, ich kann dich nicht ewig beschützen. Einen weiteren Ausflug in die Stadt wird es zumindest so schnell nicht geben“, belehrte Lebell ihre Tochter.
„Vorsicht hier, Vorsicht da, kein Schritt ohne Wachen. Selbst in der Nacht sitzt noch eine Dienerin an meinem Bett. Warum muss ich überhaupt Prinzessin sein? Warum leben wir nicht wie die normalen Leute in der Stadt?“
Nomo zog die Mundwinkel nach unten und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. Dabei starrte sie an ihrer Mutter vorbei aus dem Fenster.
„Diese Diskussion hatten wir doch schon so oft, Kind. Ohne Wachen wäre es viel zu gefährlich, darüber werde ich nicht noch einmal mit dir debattieren. Du bist nun einmal die Prinzessin, das ist nicht mehr zu ändern. Es ist an der Zeit, diesen Umstand endlich anzuerkennen, schließlich bist du fast erwachsen. Du kannst dich darüber bei deinem Onkel beschweren. Schließlich hat er mich an deinen Vater verkauft“, entgegnete Lebell.
Nomo schnaubte kurz, drehte sich dann um und stürmte aus dem Zimmer.
„Wo willst du hin?“, fragte Lebell.
„Zu Onkel Houst. Ich soll mich doch bei ihm beschweren“, antwortete Nomo schnippisch.
„Bei den Alten, Kind! Der alte Zausel setzt dir doch nur wieder neue Flausen in den Kopf“, rief ihr Lebell hinterher und schlug dabei beide Hände auf den Kopf.
***
„Ihr habt ihn gefunden?“, fragte Kirai die Wache.
„Ja Herr, er ist bereits im Verhörzimmer“, antwortete der Wachmann.
„Gut, gehen wir.“
Das Verhörzimmer lag im Keller eines Wachturms ganz am Rande des Palastes, weit weg von den Wohngebäuden der Beseelten. Es war ein kleiner, kalter und feuchter Raum, eine Ruine der Alten. Den Turm hatte man einfach darauf gebaut. Wie in den meisten Ruinen der Alten bestanden auch die Wände des Verhörzimmers aus Beton, diesem glatten Stein also, den die Alten irgendwie selbst hergestellt hatten. Keiner der Forscher konnte bisher sagen wie. Kirai war das egal, es gab interessantere Errungenschaften der Alten. Für ihn zählte nur, dass der Raum seinen Zweck erfüllte, und dies tat er in hervorragender Weise. War die Tür zum Verhörzimmer geschlossen, hörte man nicht einmal mehr im Turm darüber die Schreie.
Der Mann stand in der Mitte des Raumes. Das bisschen Licht, das durch die geöffnete Tür eindrang, als Kirai eintrat, erhellte ihn kaum. Er hatte den Kopf leicht zwischen die Schultern gezogen und rieb sich mit den Händen über die Oberarme. Von seinen Haaren tropfte noch das Wasser, mit dem ihn die Wachen übergossen hatten. Eine Maßnahme, die sich in Vorbereitung auf ein Verhör als sehr wirksam herausgestellt hatte. Es war kalt hier unten, der Mann war nackt. Kirai legte den kleinen Schalter an der Wand um, an der Decke flackerten zwei Röhren auf und tauchten das Verhörzimmer plötzlich in ein kaltes, helles Licht. Der Mann kniff geblendet die Augen zusammen. Das Licht war eine weitere Hinterlassenschaft der Alten. In ein paar Stunden würde es erst schwächer, noch ein, zweimal aufflackern, bevor es ganz erlosch. Doch zumindest in den Sommermonaten erstrahlte es einen Tag später wieder so hell wie jetzt. Derartige Errungenschaften der Alten interessierten Kirai schon eher. Er hätte einiges dafür gegeben, zu wissen, wie dieses Licht funktionierte. Jetzt hatte er jedoch wichtiger Aufgaben. Seine Hände in den Rücken gelegt, trat Kirai nah an den Mann heran.
„Sicher hadert Ihr jetzt mit Eurem Schicksal“, begann Kirai, „fragt Euch, warum man Euch hierher gebracht hat. Lasst es mich Euch erklären. Ihr kennt Großwesir Houst?“
Der Mann nickte nur.
„Nun, das ist ja noch nichts Außergewöhnliches. Ich habe von Leuten gehört, die nicht einmal wussten, wer ihr König ist, den Großwesir aber kannten sie sehr wohl. Was nur wenige wissen, der Großwesir ist ein geradezu fanatischer Forscher. Er besitzt die größte Sammlung an Artefakten der Alten im Palast und damit im ganzen Land. Zudem weiß ich aus sicherer Quelle, dass er irgendwo in der Stadt noch eine weitere Sammlung unterhält, die jene im Palast geradezu mickrig erscheinen lässt. Ich frage mich nun, wo er diese ganzen Artefakte nur hernimmt? Auch wäre ich an einer kleinen Wegbeschreibung zu seiner Sammlung in der Stadt sehr interessiert. Ihr könnt meine Unwissenheit hier sicher ein wenig erhellen, oder?“, führte Kirai aus.
„Ich weiß nichts darüber“, antwortete der Mann.
„Oh, wie schade. Das ist nicht ganz die Antwort, die ich erhofft hatte“, sagte Kirai und winkte den beiden Wachen, die hinter ihm standen.
Der Mann wich ängstlich zurück, bis er mit dem Rücken an der Wand anstieß. Eine der Wachen versetzte ihm einen Schlag in die Magengrube. Der Mann stöhnte auf und krümmte sich zusammen. Dann packten die Wachen ihn jeweils an einem Arm, schleiften ihn zu dem gut gefüllten Wasserbecken in einer Ecke und tauchten seinen Kopf unter Wasser.
„Ich weiß nic…“
Ein gurgelndes Geräusch erstickte den Schrei des Mannes. Als die Wachen seinen Kopf nach einer Weile wieder aus dem Wasser rissen, schnappte der Mann frenetisch nach Luft.
„Beginnen wir doch noch einmal von vorn“, sagte Kirai.
***
Großwesir Houst saß im Studierzimmer, vor ihm ratterte eine kleine Maschine. In kleinen Tippelschritten wanderte die Figur über den Schreibtisch, machte dabei manchmal Musik. Houst hatte sie erst vor wenigen Tagen erhalten. Gern hätte er sich der Erforschung dieses Artefakts der Alten gewidmet, aber Sleem war bei ihm. Sleem war der Sohn von Wesir Kolat, und einem hochrangigen Beseelten konnte Houst die Ausbildung seines Sohnes leider nicht abschlagen. Das war umso ärgerlicher, da Sleem nicht gerade mit herausragenden geistigen Fähigkeiten glänzte und dies auch nicht mit überbordendem Fleiß ausglich. Viel lieber beschäftigte sich Sleem mit den jungen Damen am Hofe, deren Interesse an Sleem wohl am ehesten der hohen Position seines Vaters geschuldet war. Sleems Äußeres entsprach seinem Naturell, er glich irgendwie mehr einer aufgedunsenen Kröte, denn einem jungen Mann. Schwer vorstellbar, dass eine Frau daran Gefallen finden könnte. Kurz, Houst konnte ihn nicht ausstehen. Dass Sleems Mundwerk niemals still zu stehen schien, machte die Angelegenheit nicht einfacher.
„Meister Houst, die Aufzeichnungen, die Ihr mir gegeben habt, sind ganz formidabel. Sie zeugen von wahrer Meisterschaft. Wie Ihr darin die Schrift der Alten erklären … Könnt Ihr die Schrift der Alten wirklich lesen? Was man damit alles erforschen könnte, welche Geheimnisse sich damit aufdecken ließen. Ich bin so froh, dass Ihr mich als Euren Schüler angenommen habt. Mit all dem Wissen werde ich bestimmt ein großer Forscher. Nicht so ein großer wie Ihr natürlich, wer könnte Euch schon überflügeln, aber doch einer der besten Forscher im Land. Ihr lasst mich doch an weiteren Ergebnissen teilhaben? Ich würde so gern die Sprache der Alten lernen. Ich meine, die Alten, das muss man sich einmal vorstellen. Ich könnte die Götter verstehen. Bitte Meister Houst, lehrt mich die Sprache der Götter“, sabberte Sleem.
„Dazu hatte ich dir die Unterlagen gegeben. Wenn du sie aufmerksam studiert hast, solltest du die Sprache der Alten bereits lesen können“, antwortete Houst.
„Wirklich? Das ist ja großartig. Ich kann die Sprache der Götter lesen. Das werden mir die Damen am Hof nie glauben. Und wie neidisch…“
„Darf ich hereinkommen, Onkel Houst?“
Prinzessin Nomo betrat das Zimmer ohne eine Antwort abzuwarten. Sleem verbeugte sich tief vor ihr und grinste schief.
„Prinzessin Nomo, Eure liebreizende Erscheinung schmeichelt wie immer meinen Augen. Es freut mich so, Euch zu sehen. Ihr glaubt nicht, was mir Euer Onkel beigebracht hat. Ich kann jetzt die Sprache unserer Götter lesen. Ist das nicht wundervoll?“, sagte er.
„Ach tatsächlich. Dann habt Ihr ja eine große Karriere vor Euch“, antwortete Nomo.
Sie konnte Sleem genauso wenig leiden, wie ihr Onkel, sie ekelte sich sogar ein wenig vor ihm.
„Sleem, warum versuchst du nicht, mit deinem neu erworbenen Wissen die Schriften im Tempel zu entziffern? Die Hohepriesterin wäre davon sicher sehr beeindruckt. Vielleicht erlangst du damit sogar das Recht auf eine Privataudienz bei ihr“, schlug Houst vor.
„Eine ausgezeichnete Idee, Meister Houst. Welcher Mann träumt nicht von einer Privataudienz bei der Hohepriesterin. Ich könnte damit eine ganz neue Linie der Beseelten gründen. Ich mache mich gleich auf den Weg. Natürlich nur, wenn Ihr und Prinzessin Nomo mich hier nicht benötigen“, sagte Sleem und verbeugte sich zum Abschied noch einmal so tief, wie es sein fetter Bauch zuließ.
„Nein, geh nur. Ich denke, ich und meine Nichte können dich für eine Weile entbehren“, entließ ihn Houst.
Nachdem Sleem den Raum verlassen hatte, stand Houst auf, nahm Prinzessin Nomo in seine Arme und drückte sie zur Begrüßung. Schließlich hielt er sie auf Armlänge von sich.
„Was verschafft mir denn die Ehre eines Besuchs meiner Lieblingsnichte?“, fragte Houst.
„Lieblingsnichte? Ich bin deine einzige Nichte Onkel Houst“, antwortete Nomo.
„Eben. Also, gibt es wieder Ärger mit deiner Mutter?“, fragte Houst.
„Außer, dass sie mich behandelt wie ein kleines Mädchen, hinter jeder Ecke jemanden vermutet, der mir ans Leben will und mich, nach dem kleinen Zwischenfall heute, wahrscheinlich nie wieder aus dem Palast lässt? Nein, es gibt wohl keinen Ärger, denn diese Behandlung ist normal für eine Prinzessin, meint Mutter. Sie hat mich übrigens ausdrücklich vor dir gewarnt. Du sollst sogar Schuld daran sein, dass ich überhaupt die Prinzessin bin! Du hättest sie an Vater verkauft“, antwortete Nomo.
Houst räusperte sich und drehte sich zum Fenster um.
„Ach, jetzt fängt sie wieder damit an. Nur weil ich deine Mutter meinem Bruder vorgestellt habe. Das sie mir das immer noch nachträgt, nach so langer Zeit“, sagte er und schüttelte leicht den Kopf.
Dann drehte er sich wieder um und lächelte Nomo an.
„Aber vergessen wir die alten Geschichten. Bist du denn nicht gern Prinzessin? Die ganze Welt liegt dir zu Füßen. Es gibt nicht wenige, die mit dir tauschen würden. Und es vergeht kaum ein Tag, an dem dir nicht einer der jungen Männer am Hofe Avancen macht…“
„Der Prinzessin Avancen macht, nicht Nomo! Das ist es ja, alle interessieren sich nur für die Prinzessin, niemand interessiert sich wirklich für mich. Und wenn ich Mutter glauben soll, dann wetzt die Hälfte derer, die mir ins Gesicht lächeln hinter ihrem Rücken die Messer“, fiel Nomo ihrem Onkel ins Wort.
„Deine Mutter will dich nur beschützen. Schon immer haben Intrigen zum Hof gehört, nicht einmal der König ist vor ihnen sicher. Wir alle müssen achtsam sein. Erst letzte Woche ist Priester Pegul verschwunden. Er hatte sich zu sehr in die Angelegenheiten einiger der Beseelten gemischt. Von einem Besuch in der Stadt ist er dann einfach nicht zurückgekehrt. Du solltest die Warnungen deiner Mutter also nicht auf die leichte Schulter nehmen. Sicher, niemand wird öffentlich den Zorn des Königs riskieren, wenn dir, als seiner geliebten Tochter etwas zustößt. Das hält die meisten aber nicht davon ab, im Verborgenen Komplotte gegen dich zu schmieden“, erklärte Houst.
„Und das ist sie, die Welt, die mir zu Füßen liegt. Eine Schlangengrube!“, sagte Nomo.
Plötzliches Kindergeschrei auf dem Gang unterbrach das Gespräch. Schon im nächsten Moment stürmten zwei Jungen ins Zimmer. Im letzten Augenblick konnte sich Nomo noch zu ihnen umdrehen, bevor die beiden sie womöglich umgeschubst hätten. Sie zerrten wild an Nomos Ärmeln. „Gefangen!“, riefen sie dabei immer wieder. Nomos Halbbrüder waren richtige Rabauken, ungezogen, lärmend und grob. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit spielten sie Nomo Streiche. Nomo mochte sie trotzdem, oder auch gerade deswegen. Wenigstens spannen sie noch keine heimlichen Intrigen. Den Kindern auf dem Fuß folgte die Königin.
„Nicht so stürmisch, meine Lieblinge. Einer jungen und liebreizenden Dame, wie eure Schwester mittlerweile eine ist, nähert man sich nicht derart ungestüm. Wo sind nur eure Manieren“, tadelte sie halbherzig.
Nomo machte einen Knicks. Ihre Brüder lachten schelmisch, schubsten und zerrten dann an ihr und versuchten, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Beinahe wäre es ihnen gelungen. Als Nomo die beiden zurückschubsen wollte, rannten sie schnell davon und versteckten sich hinter ihrer Mutter. Dort, in Sicherheit, lugten sie immer wieder hinter dem Rücken der Königin hervor und streckten Nomo die Zunge heraus. Sobald ihre Köpfe wieder verschwunden waren, kicherten die beiden laut.
„Sind sie nicht goldig, meine Lieblinge? Man kann ihnen einfach nicht böse sein“, sagte die Königin.
„Königin Isi, was verschafft mir denn die seltene Ehre Eures Besuches?“, fragte Houst.
„Selten in der Tat. Ihr vergrabt Euch zu sehr in Euren Büchern, Großwesir. Dadurch leiden die politischen Geschäfte. Und am gesellschaftlichen Leben nehmt Ihr auch kaum noch teil. Das empfinde nicht nur ich so, sondern auch Euer Bruder, der König. Deshalb hat er mich gebeten, Euch persönlich zu dem kleinen Ball heute Abend einzuladen. Ihr werdet mir diese Einladung doch nicht ausschlagen?“, antwortete Isi.
„Derlei Aktivitäten liegen mir nicht mehr sonderlich, dass solltet Ihr wissen“, warf Houst ein.
„Es gibt einen Ball?“, freute sich Nomo.
„Ja, Kind. Natürlich seid Ihr ebenfalls eingeladen. Euch brauche ich ja wenigstens nicht lange bitten. Wenn Ihr vielleicht noch ein gutes Wort für den Ball bei Eurem Onkel einlegen könntet? Sicher wird er eine Bitte von Euch nicht ablehnen, Euer Charme ist am Hofe geliebt und gefürchtet zugleich. Es wäre in seinem eigenen Interesse. Ich denke, der König wäre ungehalten, wenn sein Bruder nicht erschiene. Und ich wäre sehr enttäuscht“, sagte Isi und tat dabei so, als sei Houst gar nicht da.
„Oh ja, bitte Onkel Houst. Du hast nicht mehr mit mir getanzt, seit ich ein kleines Mädchen war“, sagte Nomo.
Houst grummelte nur etwas Unverständliches in seinen Vollbart.
***
Es war laut in der Kneipe. Der Wirt, ein stämmiger Mann mit einem beachtlichen Bauch, schleppte unentwegt Bierkrüge an die Tische, an denen Männer würfelten und johlten. Eine Zigeunerin tanzte zur Musik, die ihr Kompagnon einer Fidel entlockte. Die Luft war stickig und schwül, Rauch vom offenen Kamin waberte durch den Gastraum. Niemand beachtete Esrin, als er eintrat. Er kniff die Augen zusammen. Ganz hinten, in der Ecke saß ein Mann allein am Tisch. Der Mann hatte die Kapuze tief in die Stirn gezogen, sein Gesicht lag im Schatten. Ab und an nippte er an seinem Bier. Esrin humpelte durch den Gastraum und setzte sich auf den freien Schemel, dem Mann direkt gegenüber. Seine Krücke lehnte er an die Tischkante.
„Ihr wolltet mich sprechen“, sagte Esrin.
Der Mann antwortete nicht. Stattdessen griff er in seine Jackentasche, kramte dort einen Beutel hervor. Als er den Beutel vor sich auf den Tisch fallen ließ, klimperte im Inneren Metall gegeneinander. Esrin fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und fixierte den Beutel. Mit einem kurzen Schwung ließ der Mann den Beutel über den Tisch zu Esrin gleiten. Der öffnete ihn und stieß einen kurzen, leisen Pfiff aus.
„Ein beträchtliches Sümmchen! Wofür?“, fragte Esrin.
„Mein Herr wird dafür sorgen, dass Ihr heute Nacht in den Palast gelassen werdet. Ihr werdet im Gegenzug dafür sorgen, dass Prinzessin Nomo aus dem Palast verschwindet“, sagte der Mann.
„Prinzessin Nomo? Eine heikle Angelegenheit…“, begann Esrin.
„Die mein Herr fürstlich entlohnt!“, fiel ihm der Mann ins Wort.
Dann stand er auf und legte einen Kupferling für das Bier auf den Tisch.
„Und, mein Herr möchte sie unversehrt, er hat Pläne mit ihr. Wenn der Prinzessin etwas zustößt, wird es nicht nur Euch den Kopf kosten. Ich kenne eure kleine Idylle auf dem Land“, warnte der Mann, „Hier, das sollte dabei helfen.“
Der Mann warf Esrin ein kleines Fläschchen zu.
„Es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis Ihr meine Familie findet. Der Prinzessin wird nichts geschehen. Was ist das?“, fragte Esrin, während er sich am Verschluss des Fläschchens zu schaffen machte.
„Ihr riecht besser nicht daran! Es dauert etwa eine Stunde bevor man danach wieder aufwacht“, antwortete der Mann, bevor er ging.
Esrin schaute ihm nicht nach. Er steckte das Fläschchen ein. Dann zurrte er den Geldbeutel zu und verstaute ihn unter seinem Mantel. Wenig später verließ auch er die Kneipe.
***
Kex presste seine Hand immer noch an den Mund von Kos und starrte zum Ausgang der Gasse. Die eine Wache trat lediglich von einem Bein auf das Andere und lehnte sich an die Mauer eines der Häuser. Sie waren unentdeckt geblieben. Langsam entspannte Kex sich und ließ Kos los, legte aber zur Sicherheit noch einmal den Zeigefinger an seinen Mund. Mittlerweile hatte aber auch Kos die Wachen bemerkt. Der halbe Tag in dem engen, stinkenden Loch hinter dem Bretterverschlag hatte ihnen nicht gut getan, ihre Kleider waren klamm, Kex fühlte sich irgendwie steif und fröstelte leicht. Er schaffte es kaum, einen klaren Gedanken zu fassen. Nicht die besten Voraussetzungen für einen Fluchtplan. Kex schaute sich um. Die Häuserwände ringsum waren kahl und an der niedrigsten Stelle immer noch mindestens drei Meter hoch, nirgends zeigte sich ein Vorsprung, kein Fenster in Reichweite, nicht einmal eine Dachrinne, an der man hätte hinaufklettern können. Zurück auf die Dächer würde er es von hier aus nicht schaffen, schon gar nicht mit Kos. Viele Optionen hatten sie also nicht. Sie konnten sich noch für weitere quälende Stunden in dem kleinen Loch verkriechen, oder sie mussten direkt an den Wachen vorbei. Auch Kos schien zu diesem Schluss gekommen zu sein. Er schaute abwechselnd zum Bretterverschlag und dann zum Ausgang der Gasse. Zuletzt blickte er noch einmal in Richtung Ausgang, dann starrte er Kex fragend an. Nach einer Weile nickte Kex und zog sich die Schuhe aus, die machten zu viel Lärm. Kos trug ohnehin keine Schuhe. Vielleicht kamen sie so unbemerkt nah genug an die Wachen heran, konnten an ihnen vorbeirennen, bevor diese reagierten. Sehr langsam, Schritt für Schritt näherten sich die Jungen dem Ausgang der Sackgasse. Dabei fixierte Kex immer wieder die Wachen. Mittlerweile konnte er drei Männer erkennen, ihre genaue Blickrichtung blieb aber im Dunkel der Nacht verborgen. Zumindest regte sich keiner der drei, noch waren sie sicher. Dann plötzlich eine Bewegung, Kex und Kos erstarrten. Ein Speer klimperte zu Boden, das Geräusch hallte in der Gasse wider. Es folgte ein unverständliches Grummeln, dann ließ sich einer der Männer an der Wand nach unten gleiten und setzte sich, die Knie mit den Armen umschlossen, auf die Straße. Die Geräusche der Nacht kehrten zurück. Irgendwo auf den Dächern stritten sich zwei Katzen, ein einsamer Vogel zwitscherte und weit entfernt grölte ein Betrunkener. Kex und Kos warteten noch eine Weile, bevor sie weiterschlichen. Als sie nur noch ein paar Meter von den Wachen entfernt waren, bemerkten sie, dass alle drei Wachen schliefen. Aber gerade in dem Moment, in dem die Jungen an den Wachen vorbeischlichen, schreckte einer der Männer auf.
„Achtung! Sie kommen. Verteidigt euch…“, rief er.
Kex gab Kos einen Schubs und die beiden rannten los. Doch niemand folgte ihnen. Kex blieb wenigen Metern stehen und blickte sich um. Die drei Männer standen, beziehungsweise hockten noch genauso wie vorhin. Anscheinend hatte einer nur im Schlaf geredet. Erleichtert atmete Kex aus, sie hatten es geschafft, er hatte Kos gerettet. Es war eine Wette, er hatte gewonnen, Esrin verloren.
Mit stolz geschwellter Brust, Kos vor sich herschiebend betrat er wenig später das Versteck der Bande.
„Ich habe ihn gerettet! Ich habe Kos zurückgeholt, hörst du Esrin?“, sagte er laut.
Nichts rührte sich, das Versteck war leer.