Читать книгу Die Legende der Alten - Torsten Thiele - Страница 4

Die Nachtjäger

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Sie liefen die Nächte hindurch, egal wie dunkel es war. Natürlich, Beo war mit Nachtjägern unterwegs. Doch während ihre jungen Begleiter sicheren Fußes durch die Einöde eilten, stolperte sie selbst über jeden noch so kleinen Stein, der aus dem staubigen Untergrund herausragte. Sie hielt die Gruppe auf, ein mieses Gefühl. Beo lief in der Mitte, wurde der Abstand zwischen ihr und den vor ihr laufenden Nachtjägern zu groß, warteten diese. Sie mussten oft warten, beschwerten sich jedoch nie. Auch die hinter ihr maulten nicht. Vielleicht fiel es den Nachtjägern selbst gar nicht auf, sie waren es gewohnt, Rücksicht zu nehmen. Schon als Kinder schickte man sie immer wieder mit normalen Verdammten auf kleine nächtliche Ausflüge, trainierte sie darauf, ihre besondere Gabe für andere einzusetzen. Und dennoch, Beo haderte mit ihrem Schicksal. Sie war eine Älteste – und für diese Gruppe stimmte dies sogar –, sie sollte voranschreiten, sie sollte die Gruppe führen. Stattdessen irrte sie beinahe hilflos durch die Dunkelheit, ein Krüppel sobald die Sonne hinter dem Horizont verschwand, angewiesen auf die Augen anderer. Anfangs wollte Beo nur in der Dämmerung wandern, die Nacht genauso auslassen wie die heißen Stunden in der prallen Tagessonne. Doch sie konnte sich mit diesem Vorschlag nicht durchsetzen. Vertrödelte Zeit, meinten die Nachtjäger. Sie hatten recht. Dies hätte ihr Vorankommen wesentlich verzögert, das ganze Unterfangen von vornherein zum Scheitern verurteilt. Auch so waren sie bereits mehrere Tage unterwegs und noch immer kein Anzeichen für Wasser. Die ersten Wasserbeutel waren bereits leer, noch weitere zwei Tage und sie hätten die Hälfte ihrer Vorräte aufgebraucht. Spätestens dann mussten sie eine Entscheidung treffen, dann war die letzte Gelegenheit, zur Siedlung der Verdammten zurückzukehren. Natürlich würde man sie dort nicht mit offenen Armen empfangen, vielleicht drohte einigen von ihnen sogar der Tod. Aber eben nur vielleicht. Ohne Wasser in der Einöde war der Tod sicher. Doch heute musste Beo diese Entscheidung nicht fällen, noch blieben ihnen zwei Tage. Genug Zeit also. Sie würden Wasser finden! Diesen Optimismus redete sich Beo immer ein, wenn ihre Zweifel größer wurden. Bisweilen murmelte sie den Satz wie ein Mantra vor sich hin. Soeben begann sie wieder damit.

„Wir werden Wasser finden … Wir werden Wasser finden … Vielleicht ist es morgen schon soweit. Wir werden bestimmt bald Wasser finden … Wir müssen einfach“

„Macht Ihr Euch Sorgen?“, fragte Mo.

Beo erschrak ein wenig. Mo hatte zu ihr aufgeschlossen. Es war nicht das erste Mal, dass Beos Gemurmel die Aufmerksamkeit von Mo oder Zemal auf sich zog. Immer wieder vergaß sie, dass die beiden jedes Steinchen zu Boden fallen hörten. Irgendwie unheimlich.

„Ich muss wie eine schrullige und zumindest in euren Augen alte Frau wirken. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich seit zwei Jahren allein lebe. Wenn niemand da ist, redet man irgendwann mit sich selbst“, antwortete Beo.

„Jetzt seid Ihr nicht mehr allein. Wir sind da“, sagte Mo.

„Ich weiß. Aber alte Gewohnheiten kann man nicht so schnell ablegen. Glaubst du, wir werden bald auf eine Wasserquelle stoßen? Du und die anderen Nachtjäger waren ja schon oft in der Einöde, im Gegensatz zu mir … Sollten wir es vielleicht in einer anderen Richtung probieren?“, fragte Beo.

„Ich weiß nicht. Bisher haben wir in der Einöde immer nur gejagt. Woran man eine Quelle erkennt, hat uns Telek nicht gelehrt. Wir müssen einfach auf unser Glück vertrauen“, antwortete Mo.

„Glück? Daran glaube ich nicht. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit“, entgegnete Beo.

„Ich werde mit Zemal reden, ihm fällt sicher etwas ein“, beruhigte Mo.

***

„Beo hat den gemeinsamen Beschluss des Rates einfach ignoriert und die beiden aus dem Käfig gelassen! Wenn sie wenigstens den Mumm gehabt hätte, ihre Beweggründe hier zu erklären. Aber sie ist davongelaufen. Das zeugt nicht eben von Reife. Jetzt haben wir in wenigen Tagen zwei Älteste verloren“, monierte Piri.

„Wir kennen die Umstände doch gar nicht. Vielleicht haben die Nachtjäger Beo einfach als Pfand mitgenommen. Ihre Vorräte reichen maximal für zwei Wochen. Sie können sich also nicht ewig in der Einöde verstecken. Mit Beo in ihrer Hand wollen sie uns bestimmt nur unter Druck setzen“, warf Dilo ein.

„Es würde zu diesen aufmüpfigen Nachtjägern passen“, stimmte Fuzill zu.

„Mo und Zemal haben sich nicht durch die Gitterstäbe gezwängt, der Käfig war offen. Nur wir Älteste haben einen Schlüssel. Und ich erinnere daran, dass Älteste Beo als einzige gegen die Bestrafung gestimmt hat“, widersprach Piri.

„Mein Schlüssel wurde mir gestohlen“, sagte Dilo kleinlaut.

„Was? Wie konnten die Nachtjäger so dreist sein? Wir sollten dies bei unserem Urteil über Mo bedenken“, merkte Fuzill an.

„Ich glaube dennoch nicht an Beos Unschuld. Dazu war die Abreise zu gut organisiert. Wenn man ihr Zelt betritt, erwartet man fast einen Abschiedsbrief zu finden, so säuberlich aufgeräumt ist es. Und die Vorräte, die die Nachtjäger mitgenommen haben, stammen fast alle von Beos Feld“, beharrte Piri.

„Vielleicht wollte sie sich damit freikaufen“, sagte Dilo.

„Diese Diskussion ob Älteste Beo nun freiwillig oder gezwungenermaßen bei den Nachtjägern ist, bringt uns doch nicht weiter. Wir werden es erfahren, wenn sie ins Lager zurückgekrochen kommen. Darauf sollten wir vorbereitet sein. Für Mo und ihre Freunde braucht es ein hartes Urteil, schließlich hat sie uns zum Gespött der Verdammten gemacht“, forderte Fuzill.

„Hat nicht unser hartes Urteil erst zu dieser Situation geführt?“, meinte Dilo.

„Vielleicht hättet Ihr Euren Schlüssel besser verstecken sollen“, ätzte Fuzill.

„Bitte, wir sollten uns nicht auch noch streiten. Was geschehen ist, können wir nicht mehr rückgängig machen. Sollten die Ausreißer wieder hier in der Siedlung auftauchen, können wir aber auch nicht so tun, als seien sie nie davongelaufen. Schließlich überlassen sie den Schutz aller Verdammten nun einer Handvoll verbleibender Nachtjäger. Wir lehren ja schon ein paar Kindern mit dem Speer umzugehen, obwohl sie dafür noch viel zu jung sind und sich gar nicht sicher gezeigt hat, dass sie einmal Nachtjäger sein werden“, sagte Piri.

„Dann hoffen wir, dass die Ausreißer zurückkehren“, sagte Dilo.

„Nein, das hoffen wir nicht! Ihnen war es egal, wie die Verdammten ohne sie zurechtkommen. Sie können sich nicht unterordnen. In ihrer Arroganz meinen sie, dass sie allein besser dran wären“, widersprach Fuzill.

„Älteste Fuzill hat recht. Sie werden weiter rebellieren, nur ihre eigenen Ziele verfolgen, bis die Gemeinschaft der Verdammten daran zerbricht“, stimmte Piri zu.

„Jeder macht einmal Fehler“, versuchte es Dilo noch einmal.

„Für die er die Konsequenzen tragen muss“, fiel ihr Piri ins Wort, „Es ist auch für mich nicht leicht – schließlich ist mein eigener Enkel unter ihnen – aber es wäre besser, sie kämen nie zurück. Für Querulanten ist in unserer Mitte kein Platz“

„Schon mit ihnen hatten wir zu wenig Nachtjäger. Wie sollen wir das Camp ohne sie vor den Wüstenratten schützen. Müssen wir zukünftig Angst um unsere Kinder haben?“, wollte Dilo wissen.

„Wir finden eine Lösung“, beendete Piri die Diskussion.

***

Noch immer fühlte sich Zemal nicht als Teil der Nachtjäger. Deshalb verkündete nun auch Beo den Vorschlag, der eigentlich von ihm stammte … wieder einmal. Zemal vermied jegliche Aufmerksamkeit, hielt sich im Hintergrund, mittendrin und doch nicht dabei. Es funktionierte nicht. Sicher, sie hatten einige Probleme. Ihre Abreise geschah abrupt, es fehlte am Nötigsten. Aber warum sollte Zemal diese Probleme lösen? Entscheidungen lagen ihm nicht. Und schließlich war Beo die Älteste, ein Mitglied des Rates, sie sollte die Gruppe führen. Natürlich ging dies nicht ohne Mo, das hatte auch Beo schnell erkannt. Mo wurde von den anderen quasi als Anführerin angesehen. Zemal unterstützte dies, Mo war eine gute Anführerin. Auch Beo arrangierte sich deshalb mit Mo und nach den wenigen Tagen seit sie ihr zuhause verlassen hatten, waren die beiden beinahe schon Freundinnen geworden. Jedenfalls steckten sie recht häufig ihre Köpfe zusammen. Älteste Beo wusste, dass im Zweifel Mos Wort bei den Nachtjägern mehr zählte als das ihre. Sie machte aus der Not eine Tugend und bezog Mo in die Entscheidungen ein, die für das Überleben aller von Belang waren. Auch das störte Zemal wenig, die beiden Frauen sollten so viel diskutieren wie sie mochten. Doch Mo fragte ihn anschließend stets nach seiner Meinung, erwartete von ihm Lösungen für Probleme, über die er noch nie in seinem Leben nachgedacht hatte. Oder sie wollte zumindest eine Bestätigung für ihre eigenen Vorschläge. Er konnte damit leben, für sich selbst verantwortlich zu sein, aber für die ganze Gruppe … Was, wenn es falsch war, in nördliche Richtung zu gehen? Sicher, nach Osten und Westen waren lange vor ihnen schon Suchtrupps der Verdammten aufgebrochen. Gäbe es dort Wasser, wären diese längst zurückgekehrt. Und von Süden her kamen die Stürme, dort zeigte sich die Einöde noch lebensfeindlicher als hier. Kein Verdammter ging in diese Richtung, zumindest nicht bei klarem Verstand. Norden erschien demnach die beste Wahl. Doch bisher hatten sie kein Wasser gefunden, irrten umher, ohne ein wirkliches Ziel. Mit Grauen dachte Zemal daran, dass sie der Durst nach Nadamal treiben könnte. Dorthin wollte er nun wirklich nicht zurück. Hatte er insgeheim diesen letzten Ausweg ins Kalkül gezogen, als er Mo Norden vorschlug? Wenn auch sein neuer Vorschlag keinen Erfolg brachte, könnte es dazu kommen. Ohnehin war die Idee nicht ganz ungefährlich, könnte einen von ihnen oder auch allen das Leben kosten. Die Zweifel nagten an ihm. Während Beo sich mit Mo beriet, Mo danach einfach ihn fragte, konnte sich Zemal an niemanden wenden.

„… wir werden uns deshalb aufteilen, unseren Weg in Sichtweite nebeneinander fortsetzen. Damit erweitern wir automatisch den Korridor, in dem wir nach Wasser suchen können“, verkündete Beo.

Wie üblich murrten Tikku und Preido. Sie akzeptierten keine Entscheidung klaglos, boten selbst aber auch keine Alternativen an.

„Was ist das den für eine Scheiße! Jetzt soll also jeder für sich durch die Einöde stapfen“, maulte Tikku.

„Und was machen wir, wenn ein Sturm aufzieht? Wenn wir uns aus den Augen verlieren?“, wollte Preido wissen.

„Scheiße genau, was machen wir dann?“, stimmte Tikku ein.

„Wie ich schon erwähnt habe, finden wir uns etwa alle zwei Stunden zusammen, indem einfach diejenigen ganz außen zu ihrem rechten beziehungsweise linken Nachbarn gehen und dann gemeinsam mit diesem zum nächsten Nachbarn und so weiter. Das gleiche machen wir natürlich auch wenn ein Sturm heraufzieht. Sollte jemand den Blickkontakt zu einem seiner Nachbarn verlieren, macht er sich mit Rufen und Winken beim anderen Nachbar bemerkbar. Der gibt das Zeichen weiter, so dass alle stoppen und nach dem Vermissten suchen können“, erklärte Beo.

„Ich und Zemal gehen ganz außen, Älteste Beo bleibt mit Ker zusammen in der Mitte, dazwischen verteilen sich die anderen“, fügte Mo hinzu.

„Scheiß Plan“, sagte Tikku noch einmal, stiefelte dann aber schon nach rechts davon, „Kommst du Preido?“

Zemal winkte Ilbi und Skio zu sich und machte sich auf den Weg in die andere Richtung.

„Es ist ein guter Plan“, raunte ihm Mo zu, als er an ihr vorbei ging.

***

Der Sturm kam so plötzlich, den Nachtjägern blieb gar keine Zeit mehr, sich wieder zusammen zu finden. Zemal schaffte es eben noch in den Windschatten eines Felsens. Eigentlich war es nur ein größerer Stein, viel Schutz bot er nicht. Staub fegte über Zemal hinweg, durchdrang die Kleidung und setzte sich überall fest. Das Atmen viel schwer, es kratzte im Hals. Mehr als einmal musste Zemal husten, der Gesichtsschal schützte nicht genug. Er hielt sich auch noch das Hemd vor Mund und Nase. Staub schmirgelte über die nun nackte Haut an Bauch und Rücken. Ab und an erhellten Blitze die Nacht, ihr Licht drang sogar durch die geschlossenen Augen. Zum Glück waren es aber nicht allzu viele, Zemal hatte bereits schlimmere Stürme überstanden. Doch die Zeit verging quälend langsam, der Sturm dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Hatten es die anderen ebenfalls an einen halbwegs sicheren Ort geschafft? Würden sie sich wiederfinden? Diese Fragen schlichen sich in Zemals Gedanken. Er war nicht optimistisch genug, mochte sie nicht positiv beantworten.

Beinahe so unvermittelt wie der Sturm aufgezogen war, ebbte er auch ab. Der aufgewirbelte Staub würde zwar noch für Stunden die Luft vernebeln, aber Zemal konnte wieder aufrecht stehen. Sofort suchte er nach den anderen. Er war sich jedoch nicht sicher, ob er wirklich in die richtige Richtung lief. In seinen Augen klebte der Staub, noch konnte auch er nur wenige Meter weit blicken. Er schrie nach Ilbi, sie war vor dem Sturm neben ihm gelaufen. Antwort bekam er keine. Er lief und schrie weiter, unermüdlich. Längst musste er den Abstand zwischen sich und Ilbi zurückgelegt haben, von der Nachtjägerin fehlte jedoch jede Spur. Zemal drehte sich einmal um sich selbst. Ringsum trübe Luft, die jegliche Kontur verschluckte. Dann tauchten vor ihm zwei Schatten aus diesem grauen Nichts auf.

„Zemal, bist du das?“, fragte einer der Schatten.

Es waren Skio und Ilbi. Zemal atmete einmal erleichtert aus. Ein Anfang, immerhin. Das nährte die Hoffnung, die restlichen Nachtjäger ebenfalls zu finden.

„Ja, ich bin hier. Habt ihr schon einen der anderen gesehen? Wir müssen sie suchen“, sagte er.

Es dauerte noch eine ganze Stunde, bis sich die ganze Gruppe zusammenfand. Aber immerhin, niemand hatte ernsthaft Schaden genommen. Für eine Weile rasteten sie, klopften sich ausgiebig den Staub aus den Kleidern, kicherten dabei wie kleine Kinder. Sie lebten, ein glücklicher Moment. Letztlich mahnte Beo aber wieder zum Aufbruch. Mo entfernte sich sogleich nach links von der Gruppe. Ungläubig starrten ihr die anderen hinterher. Als ihr niemand folgte, blieb Mo stehen und drehte sich um.

„Was ist los? Wir gehen weiter! Die Kette hat doch prima funktioniert, sogar den Sturm haben wir überstanden. Kommt endlich!“, forderte sie.

„So eine Scheiße! Hoffentlich finden wir bald Wasser“, fluchte Tikku.

Mit leicht hängenden Schultern zog jeder der Nachtjäger erneut allein hinaus in die Einöde.

***

Anfangs hielt Mo die Schatten in der immer noch von aufgewirbeltem Staub trüben Atmosphäre für eine besonders große Felsformation. Erst als sie näher kam, schärften sich die Konturen und waren als Gebäude erkennbar. Ruinen der Alten. Im spärlichen Licht der beginnenden Morgendämmerung, bar jeglicher Farbnuancen, wirkten sie bedrohlich. Mos Magen rebellierte ein wenig. Eigentlich hatten sie einen weiten Bogen um Nadamal gemacht. Sollten sie derart vom Weg abgekommen sein? Ihre Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet, dies war nicht Nadamal. Die Ruinen bestanden lediglich aus einer Handvoll Gebäuden. Auch Tikku, der in etwa hundert Metern neben Mo lief, hatte sie inzwischen entdeckt, gestikulierte wild mit den Armen und deutete immer wieder in diese Richtung. Mo ging zu ihm hinüber. Zusammen mit Tikku wartete sie, bis sich die Neuigkeit über Preido in der Kette weiterverbreitete und sich die ganze Gruppe bei ihnen einfand.

„Da sind einige Gebäude“, sagte Tikku und zeigte auf die Ruinen.

Beo kniff angestrengt die Augen zusammen, schüttelte dann leicht mit dem Kopf und ließ die Schultern ein wenig sinken. Offensichtlich konnte sie nicht viel erkennen. Es musste schwer für sie sein, als einzige normale Verdammte unter Nachtjägern. Zemal konnte ihre Resignation nachfühlen, noch vor wenigen Monaten war er bei derartigen Lichtverhältnissen ebenso blind gewesen wie sie.

„Wir sollten sie untersuchen. Mit ein wenig Glück funktioniert die Wasserversorgung noch“, schlug Mo vor.

„Können wir damit warten, bis auch ich etwas sehen kann?“, bat Beo, „Ruinen der Alten sind gefährliche Orte“

„Es ist noch ein Stück. Bis wir dort sind, sollte es hell genug sein. Ansonsten rasten wir am Rand noch einmal“, antworte Mo.

„Einverstanden. Dann lasst uns gehen“, stimmte Beo zu.

Die Hoffnung auf Wasser, ja vielleicht sogar ein neues Zuhause, trieb sie schnell voran. Je näher sie kamen, desto deutlicher – und monströser – zeigten sich die Ruinen. Ein fensterloser, mehrere Stockwerke hoher Betonklotz thronte vor ihnen, in dessen Mitte ein Turm aufragte und sich irgendwo im Himmel verlor. Der Klotz selbst schien vollkommen intakt, von Ruinen konnte man nur bei den umliegenden Häusern sprechen. Es war noch ziemlich dunkel, als sie an den ersten Überresten ankamen. Dennoch untersuchten sie diese sogleich. Beo beschwerte sich nicht, inspizierte sogar als erste eines der Gebäude. Viel zu sehen gab es dort allerdings nicht. Wie die Ruinen am Rand von Nadamal war auch dieses Haus komplett leergeräumt. Ein Haufen zusammengefallener Steine aus denen hier und da noch die Reste der einstigen Mauern herausschauten. Und das nächste Haus befand sich in keinem besseren Zustand. Sie ließen die restlichen Ruinen links liegen, der düstere Klotz bot sicher Interessanteres. Um zu ihm vorzudringen, mussten sie aber erst einmal die Mauer überwinden, die ihn umringte. Sie war gut zwei Mann hoch, wie das Gebäude selbst aus massivem Beton errichtet und deshalb noch nicht verfallen. Da aber auch die Alten wohl kaum über diese Mauer gesprungen sein dürften, musste es einen Eingang geben.

„Wir sind schon einmal um diese scheiß Mauer herum!“, sagte Tikku nach nur wenigen Metern, „Da sind unsere Fußspuren“

Tatsächlich konnte man an Stellen, an denen der permanente Wind den Staub der Einöde nicht ständig aufwirbelte, die Reste einiger Fußabdrücke erkennen.

„Wir sind gerade mal zehn Meter gelaufen. Außerdem sind die Spuren älter. Jemand hat die Mauer vor uns umrundet“, korrigierte Mo.

„Vielleicht sind sie noch hier. Wir sollten vorsichtig sein“, warnte Zemal.

„Es könnte eine der Expeditionen sein, die wir auf die Suche nach neuen Wasserquellen geschickt haben. Wer außer uns Verdammten sollte sonst durch die Einöde streifen“, beruhigte ihn Beo.

„Scheiße, und wenn es irgendwelche Alten aus diesem Klotz da sind?“, warf Tikku ein.

„Dann wären wir die ersten, die ihnen seit einem knappen Jahrtausend begegnen. Lasst uns einfach weitergehen“, sagte Mo.

Sie setzten ihren Weg fort, folgten der Mauer und den Spuren. Zemal hielt seinen Speer bereit. Ker, der ihn dabei beobachtete, nahm seine Waffe ebenfalls zur Hand. Seit er ihm das Leben gerettet hatte, war Zemal so etwas wie ein Idol für den Jungen. Sie umrundeten die Mauer ohne Zwischenfälle, aber auch ohne eine Lücke zu finden. Letztlich kamen sie an ein großes, metallenes Tor. Rechts und links auf der Mauer daneben befanden sich die seltsamen Augen, die Zemal und Mo schon aus Nadamal kannten. Doch an diesen Augen hier blinkte weder ein rotes Licht, noch folgten sie ihren Bewegungen. Trotzdem hob Zemal vorsorglich einen Stein auf und warf ihn zum Tor. Der Stein schepperte gegen das Metall und fiel zu Boden. Mehr passierte nicht. Neben dem Tor hatte jemand einige Steine zu einer Treppe aufgestapelt. Sie war allerdings gerade einmal so hoch, dass ein ausgewachsener Mensch, der auf den Schultern eines anderen stand, den Rand der Mauer erreichte.

„Komm!“, forderte Mo Zemal auf, „Wenn ich auf deine Schultern steige, kann ich über die Mauer klettern“

„Und dann?“, fragte Beo, „Wie willst du jemals wieder herauskommen? Ich halte das für keine gute Idee. Vielleicht bewirken diese Knöpfe hier ja etwas“

Beo stand am Rand des Tores. Kratzspuren an den Kanten verrieten, dass jemand versucht hatte, das Tor aufzustemmen. Offensichtlich ohne Erfolg. In die Wand daneben war eine kleine Tafel mit lauter runden Löchern eingelassen, darunter befanden sich ein schmaler Schlitz mit einem komischen, nur fingerbreiten Feld daneben und drei Knöpfe. Zusammen mit Mo und Zemal inspizierte Beo neugierig den Schlitz, fuhr mit dem Finger über den schmalen Steg in der Mitte des Feldes daneben, dann drückte sie vorsichtig einen der Knöpfe. Nichts passierte. Auch die beiden anderen Knöpfe bewirkten nichts.

„Da drinnen fressen Wüstenratten jemanden!“, rief Ker.

Er hatte sich bis an den Rand der Mauer hochgezogen und schaute ins Innere. Unter ihm stand Tikku und stützte ihm seine Füße ab.

„Können wir ihm helfen?“, wollte Beo wissen.

„Nein, er ist schon tot. Er trägt komisch bunte Kleidung, sieht nicht wie ein Verdammter aus“, berichtete Ker und ließ sich auf Tikkus Schultern zurückfallen.

„Was machen wir jetzt?“, fragte Preido.

„Nach drinnen können wir jedenfalls nicht. Dass jemand von uns das Schicksal dieses Mannes teilt, möchte ich nicht riskieren“, antwortete Beo, „Wir sollten weiterziehen, etwas anderes bleibt uns kaum übrig“

„Ja gehen wir lieber, das Gebäude ist mir unheimlich. Hinter so einer Mauer kann sich nichts Gutes verbergen“, stimmte ihr Ilbi zu.

Die anderen Nachtjäger schauten erwartungsvoll zu Mo. Für einen Moment trat Mo unschlüssig von einem Bein auf das andere, drehte sich dann noch einmal zu dem Gebäude um, ihr Blick folgte dem Turm in den mittlerweile blauen Himmel.

„Bist du dir sicher, dass es kein Verdammter war, Ker“, fragte sie schließlich.

„Zumindest keiner aus unserer Siedlung. Oder hast du dort schon einmal ein blaues Hemd gesehen“, antwortete Ker.

„Ich wüsste zu gern, wer er war“, sagte Mo.

„Mmh, nach den Fußspuren zu urteilen, war er nicht allein. Zwar ist nicht bekannt, dass in unserer Siedlung jemals ein anderer Verdammter aufgetaucht ist – und wir leben schon seit Generationen dort –, es ist aber nicht ausgeschlossen, dass es noch andere Verdammte geben könnte. Meint ihr, wir könnten ihren Spuren folgen?“, fragte Beo.

„Wenn sie der Wind nicht alle weggeweht hat“, entgegnete Mo.

***

Esrin hasste Kamele. Das ständige Schaukeln auf ihren Rücken schlug ihm auf den Magen und jeden Moment fürchtete er, sein Hosenboden würde durchscheuern. Die Alternative hieß laufen. Er hatte es versucht, ganz am Anfang – und zum Leidwesen seiner Frau –, als sie vom großen Fahrstuhl in die Einöde marschiert waren. Doch der staubige Boden bot seiner Krücke nur ungenügend Halt. Bald schon hatte er hoffnungslos zurückgelegen und war dabei so außer Atem geraten, er hätte dem Kameltreiber ein Vermögen für den Platz auf dem Rücken eines der Tiere geboten. Dank seiner Frau musste er dies aber gar nicht. Sie hatte derart eindringlich und lautstark lamentiert, dass sogar einer der Händler sein Reittier für ihn hergab, nur damit ihr Gezeter endlich verstummte.

Wenigstens ritten sie mittlerweile nicht mehr in der prallen Mittagssonne, allein schon weil sich die Tiere weigerten. Ihre Reise beschränkte sich nun auf die noch erträglichen Morgen und Abendstunden. Zwar beschwerte sich der ehemalige Großwesir mehr als einmal, dass sie dadurch viel zu langsam vorankamen und die Städte der Alten nie erreichen würden, doch es half nichts. Esrin selbst war das Ziel dieser Reise egal, sein Leben hatte mit der Fahrt im großen Fahrstuhl aufgehört. In dieser heißen, staubigen Wüste gab es nichts, das seine Neugier irgendwie reizen konnte. Hier gab es für ihn wenig zu tun, seine Fähigkeiten brauchte niemand. Die Kameltreiber verstanden ihr Handwerk, führten die Karawane mit lang eingeübter Routine. Nicht einmal der Verlust eines der ihren, so wie gestern an diesen seltsamen Ruinen der Alten, brachte sie aus der Ruhe. Houst hatte darauf gedrängt, jemanden über die Mauer zu schicken, gehofft, jener möge im Inneren einen Mechanismus zum öffnen des Tores finden. Was der Mann stattdessen fand, war sein Tod. Er hatte geschrien, doch wer sollte ihm helfen, ohne sein eigenes Leben zu riskieren. Wer oder was den Mann getötet hat, ist noch immer unklar. Zwar hatte ein anderer der Kameltreiber nachgesehen, sein Bericht von Tieren, die aussahen wie Ratten, aber so groß waren wie Hunde, erschien wenig glaubhaft. Vielleicht hatte ihm der Schreck einfach die Sinne vernebelt. Zumindest hatte Esrin von solchen Tieren noch nie etwas gehört.

Sie machten an einer der Felsformationen – die alle irgendwie gleich aussahen – halt. Es dämmerte bereits, in nicht einmal einer Stunde würde die Sonne hinter dem Horizont verschwunden sein. Zeit ihr Lager für die Nacht aufzuschlagen. Esrin wartete, bis der Kameltreiber sein Reittier dazu brachte, sich hinzusetzen. Wie immer rebellierte sein Hintern, als er mühselig vom Rücken des Kamels kroch. Sein verbliebenes Bein zitterte unter Esrins Gewicht. Wenigsten verhinderte der felsige Untergrund, dass seine Krücke gleich bis zur Hälfte im Staub versank. Man musste auch mit kleinen Erfolgen zufrieden sein. Seine Frau – die beiden Töchter im Schlepptau – näherte sich. Sie wirkte müde und schlecht gelaunt. Sie war schon auf seinem Anwesen kaum zu ertragen gewesen, hier in der Einöde war es noch schlimmer. Es verging kaum ein Tag, an dem sie Esrin nicht wegen des harten Schicksals, das er ihr eingebrockt hatte, anklagte. Esrin mochte sich dies heute nicht anhören. Er drehte sich einfach um und humpelte davon, dahin wo Houst zusammen mit dem Anführer der Karawane eine von Housts Karten studierten. In die Nähe des ehemaligen Großwesirs traute sich Esrins Weib nicht, ein sicherer Zufluchtsort. Esrin setzte sich in Hörreichweite auf einen Stein.

„Diese Stadt der Alten liegt viel zu weit im Westen. Bis dahin reichen unsere Vorräte nicht“, sagte der Anführer.

„Es ist aber die größte Stadt auf der Karte und damit auch für Euch das lohnenswerteste Ziel“, entgegnete Houst.

„Wer sagt uns, dass diese Karte überhaupt stimmt. Schon die letzte darauf verzeichnete Siedlung konnten wir nicht finden, es sei denn es war dieser unsägliche Klotz mit den jämmerlichen Steinhaufen Drumherum, an dem ich einen meiner besten Männer verloren habe. Euer Mann hat uns reiche Beute und neue Handelsrouten zu den Verdammten versprochen. Bisher sehe ich davon nichts“, wandte der Karawanenanführer ein.

Esrin musste unweigerlich Lachen. Houst und der Karawanenanführer blickten irritiert zu ihm herüber.

„Handelsrouten zu den Verdammten …“, Esrin japste nach Luft, „Warum nicht gleich zu den Alten … Die Verdammten sind eine verdammte Legende. Und selbst wenn es sie gäbe, schaut Euch um, was sollten sie zum Handeln haben außer Staub und Steine?“

„Wenn es die Verdammten gibt – und für unser aller Wohl hoffe ich das – haben sie Wasser und Vorräte mit denen sie handeln können. Noch ein paar Tage und ich wette, Ihr würdet Euer Weib dafür hergeben“, erwiderte der Anführer.

„Oh, das würde ich schon jetzt“, sagte Esrin und kicherte noch immer.

***

„Sie sind nach Süden abgebogen, laufen jetzt genau auf die Siedlung der Verdammten zu“, sagte Mo.

„Dann kommen wir wieder nach Hause“, meinte Ker.

Es klang eine gewisse Hoffnung in seiner Stimme. Die anderen schwiegen. Heimlich mochten sie ebenfalls Sehnsucht verspüren, offen zugeben wollte dies aber keiner. Zemal jedenfalls hatte verdammt großes Heimweh.

„Die Spuren sind frisch, spätestens bei Einbruch der Dunkelheit haben wir sie eingeholt. Sie laufen wesentlich langsamer als wir. Vielleicht liegt es an den seltsamen Geschöpfen, die sie dabei haben müssen. Diese ovalen Abdrücke stammen eindeutig nicht von Menschen. Hoffen wir, das sie friedlich sind“, meinte Beo schließlich.

„Scheiße, und was wenn nicht?“, fragte Tikku.

„Hast du etwa Angst?“, wollte Preido wissen.

„Ich bin nur vorsichtig, schließlich haben wir mit Ker noch halbe Kinder dabei“, entgegnete Tikku.

„Ich bin kein Kind!“, protestierte Ker.

„Hört auf zu streiten und lasst uns weitergehen. Ob sie gefährlich sind, sehen wir noch früh genug“, sagte Mo.

„Gefährlich oder nicht, sie haben besser Wasser für uns dabei. Unsere Vorräte reichen nur noch einen Tag“, sagte Preido und stiefelte hinter Mo her.

Auch der Rest setzte sich in Bewegung. Schnell holte Tikku Preido ein, die beiden waren mittlerweile unzertrennlich, verkrochen sich tagsüber sogar in einem Zelt. Beo hatte Ker unter ihre Fittiche genommen, wahrscheinlich aus Mutterinstinkt, er war der jüngste in der Gruppe. Ker störte sich nicht daran, genoss die ihm entgegengebrachte Aufmerksamkeit. Schließlich kam ihm damit auch die verantwortungsvolle Aufgabe zu, nachts auf Beo aufzupassen. Ilbi und Skio liefen kurz dahinter, schnatterten dabei wie immer unentwegt miteinander. Zemal fragte sich, ob ihnen deswegen nicht irgendwann der Mund weh tun müsste. Er selbst bildete das Schlusslicht. Seit sie den Fremden folgten, stampften sie wieder zusammen durch den Staub. Sich aufzuteilen und in einer Kette zu laufen, hätte zu viel Zeit gekostet.

Die Sonne war noch nicht lange untergegangen, als sie vor sich einige Lichter entdeckten. Die Fremden rasten offensichtlich. Mo blieb stehen und wartete auf die anderen.

„Da vorn sind die Fremden. Wenn sie in der Nacht rasten, haben sie vielleicht nicht genügend Nachtjäger dabei“, sagte sie.

„Dann lasst uns einfach in ihr Lager stürmen, ihnen das Wasser abnehmen und ehe sie reagieren können, verschwinden wir schnell wieder“, schlug Tikku vor.

„Mit welchem Recht sollten wir ihnen ihr Wasser einfach wegnehmen? Verdammte sind doch keine Raubtiere! Wir werden mit ihnen verhandeln, sie um Wasser bitten“, entrüstete sich Beo.

„Sie werden uns ihr Wasser kaum freiwillig geben“, meinte Preido.

„Sie laufen direkt zur Siedlung. Sie könnten ihre Vorräte dort wieder auffüllen. Wenn sie das wissen, sind sie vielleicht bereit, uns etwas abzugeben“, mischte sich Zemal ein.

„Schauen wir uns ihr Lager erst einmal von nahem an, dann können wir immer noch entscheiden. Ker, du bleibst hier bei Beo und unserem Gepäck. Die anderen kommen mit“, beendete Mo die Diskussion.

„Wenn wir mit ihnen verhandeln wollen, sollte ich dabei sein“, wandte Beo ein.

„Keine Angst, ich verspreche, wir fallen nicht in ihr Lager ein, bevor wir das nicht alle beschlossen haben“, entgegnete Mo und verschwand bereits in der Dunkelheit.

„Zemal! Bitte sorge dafür, dass sie ihr Versprechen hält“, ordnete Beo an.

Zemal nickte unsicher, nahm seinen Speer und rannte hinter den anderen her.

***

Das Kamel schnaubte und riss an der Leine, Staub wirbelte unter seinem Getrampel auf. Mit all seiner Kraft stemmte sich der Kameltreiber dagegen. So unruhig hatte er sein Tier selten erlebt, normalerweise war es von sanftem Gemüt. Auch die Treiber neben ihm mühten sich mit ihren Kamelen ab, konnten sie kaum noch kontrollieren. Er riskierte einen Blick in die Dunkelheit, sah jedoch nicht Ungewöhnliches. Doch irgendetwas war da draußen, die Tiere spürten das.

„Was ist los?“, wollte der Karawanenanführer wissen.

„Die Kamele wittern etwas. Sie lassen sich nicht beruhigen“, quetschte der Kameltreiber hervor.

„Haltet sie um jeden Preis fest. Ohne die Kamele sind wir in dieser vertrockneten Einöde aufgeschmissen“, ordnete der Anführer an.

Dann scheuchte er das Lager auf, rief die restlichen Männer zu den Speeren. Weitere Fackeln wurden entzündet, Menschen wuselten durcheinander. Houst und ein paar ältere Händler schickte man, zusammen mit den Frauen und Esrins beiden Töchtern, in die Mitte des Lagers. All diejenigen, die nicht mit den Kamelen beschäftigt waren, bildeten mit Fackel und Speer bewaffnet einen Kreis um das Lager und starrten angestrengt in die Dunkelheit. Einige zitterten vor Aufregung, andere vor Angst. So mancher schrak vor seinem eigenen Schatten im flackernden Licht der Fackeln zurück. Esrin humpelte knapp hinter den Männern entlang, inspizierte jeden einzelnen, so als würde er kontrollieren, ob sie ihren Speer auch richtig herum hielten.

„Was macht Ihr hier, Krüppel? Geht zu den anderen in die Mitte!“, herrschte ihn der Karawanenanführer an.

„Ich mag vielleicht ein Krüppel sein, aber kämpfen ist eines der wenigen Dinge, von denen ich etwas verstehe. Einige Eurer Männer machen sich beinahe in die Hosen, ich kann ihre Angst riechen. Sollten sie davonrennen, werdet Ihr froh sein, das ich noch hier bin“, entgegnete Esrin und setzte seinen Kontrollgang unbeirrt fort.

Es begann mit einem Pfeifton, knapp außerhalb ihres Sichtbereichs. Ein kurzer unangenehm hoher Ton, der beinahe in den Ohren schmerzte.

„Achtung, Wüstenratten!“, rief eine junge Frauenstimme aus dem Dunkel.

Noch mehr fiepende und quiekende Geräusche waren zu hören, Dutzende Füße trappelten auf den Boden. Menschliche Schrittgeräusche mischten sich darunter, jemand keuchte. Die Fieptöne wurden frenetisch, Tumult entstand. Eine breite Staubwand zog aus der Dunkelheit auf das Lager zu. Die Männer packten ihre Speere etwas fester, einige wichen einen Schritt zurück, bis Esrin ihnen seine Krücke in den Rücken stupste. Keiner – nicht einmal der Karawanenanführer – traute sich nachsehen. Immer wieder tauchten für einen kurzen Moment Gestalten aus der Staubwand auf, einige menschlich, andere sahen aus wie Hunde. Doch beide, Mensch wie Tier, bewegten sich derart schnell, dass man ihre Konturen kaum erkannte. Vielleicht waren es auch nur Trugbilder der eigenen Angst. Die Staubwand erreichte die Männer, verschlechterte ihre Sicht noch mehr. Sie zogen sich ihre Gesichtstücher vor Mund und Nase, begannen, mit den Speeren im Nebel herumzustochern. Den Staub hielten sie damit nicht auf, etwas anderes näherte sich dem Lager nicht. Kurze Zeit später endete es. Das letzte Quieken erstarb, Schritte entfernten sich, die Luft klarte langsam auf. Zurück blieben die Nacht und das sanfte Rauschen des Windes.

***

Als Ker Mo rufen hörte, griff er instinktiv zu seinem Speer. Er hatte ihre Worte auf die Entfernung nicht verstanden, doch es klang wie eine Warnung.

„Was ist da los? Wir sollten nachsehen“, sagte Beo.

„Ich kann Euch nicht hier im Dunkeln allein lassen“, antwortete Ker.

„Und ich sagte auch, wir sollten nachsehen, gemeinsam. Vielleicht sind sie in die Hände der Fremden geraten“, entgegnete Beo.

Ker stocherte mehrmals nervös mit dem Speer im Staub vor seinen Füßen herum.

„Also gut. Aber Ihr müsst dicht hinter mir bleiben“, sagte er dann.

Beo musste unweigerlich schmunzeln. Ker nahm die Aufgabe, sie zu beschützen, wirklich ernst.

„Versprochen“, versicherte sie.

Ker lief leicht geduckt, huschte von Felsen zu Felsen. Beo folgte ihm aufrecht und weit weniger elegant. Wer außer den Nachtjägern sollte sie in der Dunkelheit schon sehen. Als Ker gerade wieder aus seiner Deckung hervor sprang, stand er plötzlich zwei Wüstenratten gegenüber. Die Tiere wichen ein Stück zurück, sie waren wohl genauso erschrocken wie er.

„Wüstenratten! Schnell an den Felsen“, zischte Ker Beo zu.

Beo sah lediglich manchmal die Augen der Wüstenratten schwach schimmern, eine große Hilfe im Kampf würde sie nicht sein. Widerspruchslos tat sie also wie ihr geheißen und zog sich an den Felsen zurück. Inzwischen hatten die beiden Ratten ihren ersten Schreck überwunden und bauten sich angriffslustig vor Ker auf. Eine der Ratten humpelte leicht, ihre Flanke war blutverschmiert. Ker ließ seinen Speer kurz vorschnellen, doch die Ratte wich mühelos aus. Die zweite Ratte nutzte die Gelegenheit und sprang auf Ker zu. Aber auch Ker hatte seit seiner letzten Begegnung mit den Ratten dazugelernt. Er trat einen Schritt zur Seite und stieß gleichzeitig mit dem Speer zu. Leider übersah er dabei einen Stein hinter ihm, stolperte und setzte sich auf seinen Hintern. Ihm blieb keine Zeit sich aufzurappeln, die erste Ratte raste nun auf ihn zu. Im letzten Moment riss Ker seinen Speer herum. Die Ratte war zu schnell, konnte nicht mehr abbremsen. Die Geschwindigkeit und ihr eigenes Gewicht drückten sie gegen die Speerspitze. Sie wurde aufgespießt. Ker sprang zurück auf seine Füße, trat die tote Ratte von seinem Speer und suchte nach der Zweiten. Schwer verwundet schleppte diese sich gerade unweit durch eine Lücke zwischen zwei Felsen. Er hatte sie also vorhin getroffen. Ohne zögern rannte ihr Ker hinterher. Er musste sie töten, bevor sie Verstärkung anlocken konnte. Seine Eile war unnötig, die Wüstenratte kroch kurz hinter dem Felsen nur noch Zentimeter um Zentimeter voran. Ker stieß ihr noch einmal seinen Speer ins Herz, jetzt war sie sicher tot. Den Speer mit der aufgespießten Ratte auf seiner Schulter wollte er gerade wieder zurückgehen, als ihm einige Büchel Wollgrass auffielen. Dahinter befand sich eine Spalte im Felsen, die groß genug für einen Menschen war. Neugierig inspizierte Ker die Felsspalte, steckte vorsichtig seinen Kopf hindurch. Offensichtlich führte sie in eine unterirdische Höhle. Entfernt hörte er etwas plätschern. Wasser!

***

Von wegen, er kann mich hier im Dunkeln nicht allein lassen. Beo presste sich noch immer gegen den Felsen. Von Ker sah und hörte sie aber seit einiger Zeit nichts mehr. Sie fürchtete bereits, jeden Moment von Wüstenratten angefallen zu werden.

„Ker?“, rief sie zaghaft.

Hatten ihn die Ratten überwältigt? Vielleicht lag er nur wenige Meter entfernt blutend im Staub der Einöde und sie war die einzige, die ihm jetzt helfen konnte. Vorsichtig löste sich Beo vom Felsen und ging ein paar Schritte in die Nacht. Dabei hatte sie die Augen weit aufgerissen, starrte derart angestrengt in die Dunkelheit, dass sie ihr bald schmerzten.

„Ker? Bist du hier irgendwo?“, rief sie noch einmal.

Sie drehte sich im Kreis, stolperte einige Schritte weiter. Im Augenwinkel nahm sie eine kurze Bewegung wahr, fühlte es mehr, als das sie es sah.

„Bist du das, Ker?“, rief sie.

Konturen lösten sich aus dem Dunkel, kamen auf sie zu.

„Was macht Ihr hier? Ihr solltet doch mit Ker bei den Vorräten warten“, fragte Zemal.

„Wo ist Ker?“, wollte Mo wissen, die mit dem Rest der Gruppe ebenfalls ankam.

„Ker ist verschwunden. Wir haben dich schreien hören, Mo, und wollten nach euch sehen. Wir hatten befürchtet, ihr könntet in die Hände der Fremden gefallen sein. Aber dann kamen Wüstenratten. Ker hat mit ihnen gekämpft, ich habe ihn dabei aus den Augen verloren. Blind wie ich in der Nacht bin, ist das nicht allzu schwer. Jetzt suche ich nach ihm. Was war denn da los im Lager der Fremden? Gab es Schwierigkeiten?“, antwortete Beo.

„Das Lager der Fremden wurde von ein paar Wüstenratten angegriffen. Es waren nicht viele, wir haben sie getötet“, sagte Mo.

„Wir haben sie dabei. Das sollte unsere Vorräte wieder ein wenig auffüllen und wenn wir ihr Blut trinken, sparen wir für einen ganzen Tag Wasser“, ergänzte Preido stolz.

„Die Fremden sind definitiv keine Verdammten …“, begann Skio.

„Über die Fremden könnt ihr mir später berichten. Jetzt müssen wir erst einmal Ker finden“, unterbrach sie Beo.

„Älteste Beo hat recht“, stimmte ihr Mo zu, „Er könnte wieder in Schwierigkeiten stecken“

„Da vorn liegt eine tote Ratte und daneben sind Spuren“, sagte Zemal und war bereits unterwegs.

Die anderen folgten ihm und später den Fußspuren bis hin zur Felsspalte.

„Hier hören die Spuren auf“, sagte Zemal.

„Der Kindskopf wird doch nicht etwa da hineingekrochen sein“, meinte Mo.

Sie hatte kaum ausgesprochen, als Ker seinen Kopf aus der Felsspalte nach draußen steckte.

„Ich bin kein Kind!“, beschwerte er sich, „Ich habe Beo vor zwei Wüstenratten gerettet!“

„Und dazu musstest du dich da in diesem Loch verkriechen?“, fragte Mo ungläubig.

„Das habe ich entdeckt. Da unten gibt es eine große Höhle mit vielen Gängen. Viel größer als die in der wir als Kinder gespielt haben. Irgendwo tiefer muss Wasser sein, man kann es rauschen hören. Allein habe ich mich aber nicht weiter hinein getraut“, berichtete Ker.

„Scheiße, bestimmt pfeift nur der Wind durch die Höhle. Ich bin immer noch dafür, den Fremden einfach das Wasser abzunehmen. Wären wir nicht da gewesen, hätten die Wüstenratten sie wahrscheinlich zerfleischt. Beim nächsten Mal tun sie es ganz sicher. Dann brauchen sie ihr Wasser ohnehin nicht mehr“, sagte Tikku.

„Die Fremden haben riesige Tiere dabei, größer als ein Mensch“, sprudelte es aus Skio heraus, „Sie haben einen großen Buckel und einen langen Hals. Die Fremden haben Stricke um den Kopf der seltsamen Tiere gebunden und halten sie daran fest. Warum die sich das gefallen lassen, weiß ich nicht. Schließlich sehen sie doch viel stärker aus als die Fremden. Die Fremden selbst tragen ganz komische Kleider in grellen Farben. Auch ihre Gesichtstücher sind bunt. Und wenn sie reden, klingt es komisch, ich habe fast nichts verstanden. Es gab auch einen Fremden, der hatte gar kein Gesichtstuch, sondern ein Rad auf dem Kopf. Der lief auch nur auf einem Bein, ein Stock unter seiner Achsel ersetzte das zweite“

„Ich glaube, sie haben uns nicht einmal kämpfen sehen. Nachtjäger sind keine unter ihnen, sie tragen stattdessen Feuer in ihren Händen. Deshalb rasten sie in der Nacht“, meinte Mo.

„Ich habe mehr als dreißig Fremde gezählt, das meiste sind Männer. Und sie sind bewaffnet. Die Spitzen ihrer Speere sind aus Metall“, ergänzte Zemal.

„Hast du nicht gesehen, wie sie zurückgewichen sind, als die erste Wüstenratte zum Angriff pfiff? Scheiße, die machen sich doch in ihre bunten Hosen, wenn sie uns sehen“, sagte Tikku.

„Wir wissen nicht, warum sie hier sind und wie sie auf uns reagieren, ob sie überhaupt mit uns reden würden. Ein Überfall kommt für mich weniger denn je in Frage. Schon gar nicht, wenn wir in dieser Höhle Aussicht auf Wasser haben. Mo?“, sagte Beo.

„Ich weiß nicht. Was meinst du, Zemal?“, fragte Mo.

Zemal, der sich lässig auf seinen Speer gestützt hatte, richtete sich auf. Er presste die Lippen zusammen, sein Rücken versteifte sich. Schon wieder sollte er entscheiden.

„Die Fremden hätten wir schnell wieder eingeholt, sollte es dort unten doch kein Wasser geben“, sagte er zögerlich.

„Gut, dann lasst uns unsere Sachen holen und die Höhle erkunden.“, entschied Mo.

„Verdammte Scheiße, ich hasse Höhlen!“, fluchte Tikku.

***

Irgendwann hatte Houst die Müdigkeit doch übermannt und er musste eingeschlafen sein. Als er aufwachte, kroch die Sonne bereits über den Horizont. Er brauchte ein wenig, bis er sich orientiert hatte und an die Ereignisse der letzten Nacht erinnerte. Fast schien es ihm noch wie ein Traum. Houst erhob sich und – noch etwas wacklig auf den Beinen – streifte er durchs Lager. Der Anführer der Kameltreiber stand mit einigen seiner Leute etwas entfernt, etwa da wo in der Nacht die Geräusche hergekommen waren. Dieser Krüppel Esrin lungerte ebenfalls dort herum. Houst gesellte sich zu ihnen. Der Wind hatte die Spuren noch nicht gänzlich verweht, menschliche Fußabdrücke und Fährten mehrerer Tiere konnte Houst noch deutlich erkennen. Direkt vor den Füßen des Anführers lag … nun ja, eine Ratte, obwohl sie für eine Ratte viel zu groß war.

„Ihr wolltet mir ja nicht glauben, dass sie so groß sind. Jetzt seht ihr es selbst. Genau solche Viecher haben Zep auf dem Gewissen“, sagte einer der Kameltreiber.

Zep, so hieß wohl der Mann, den sie vor zwei Tagen über die Mauer bei den Ruinen der Alten geschickt hatten. Sicher kein schöner Tod, von so etwas angefallen zu werden. Houst betrachtete die Ratte eingehend. Außer ihrer beachtlichen Größe sah sie aus wie eine gewöhnliche Ratte. In ihrer Flanke klaffte eine größere Wunde, die wohl auch Grund ihres Ablebens gewesen sein dürfte. Soweit sich Houst erinnerte, hatte gestern Nacht keiner der Männer das Lager verlassen. Wer also hatte diese Ratte getötet? Houst entschloss sich zu glauben, dass es die Verdammten gewesen sind, dass es sie doch geben müsse. Allein schon die Fußspuren sprachen dafür. Waren sie noch in der Nähe? Houst blickte sich um, suchte die Gegend nach Anzeichen irgendeiner Bewegung ab. Außer dem ständig aufwirbelnden Staub entdeckte er nichts.

„Ihr fragt euch auch, wer uns das Schicksal des armen Zep erspart hat, nicht wahr? Eure Verdammten sind anscheinend doch keine Legende. Mir stellt sich eher die Frage, warum sie es getan haben. Sind es unverbesserliche Gutmenschen, oder schauen sie einfach nur gern zu, wie wir uns durch diese vermaledeite Wüste quälen? Ich tippe ja auf das Letztere“, sinnierte Esrin.

„Es mag euch verwundern, aber es gibt tatsächlich Menschen, denen das Leben anderer Menschen nicht völlig egal ist“, entgegnete Houst.

„Dies aus Eurem Munde zu hören, amüsiert mich. Ich habe oft genug für Euch den Dreck wegräumen müssen. Es hat mir dies hier …“, Esrin machte mit der freien Hand eine ausladende Geste, „… eingebracht. Aber lassen wir die alten Geschichten ruhen. Schauen wir lieber, ob sich Eure Verdammten wirklich um unser Wohlergehen sorgen. Ihre Spuren führen da hinter. Wir sollten ihnen folgen, solange sie der Wind noch nicht völlig zugeweht hat“

Der Krüppel hatte recht. Ihnen bot sich gerade die einmalige Gelegenheit, die Verdammten kennen zu lernen. Während die Kameltreiber weiter über die tote Ratte diskutierten, folgte Houst den Spuren in die Einöde. Esrin begleitete ihn. Ein alter Mann und ein Krüppel, was werden die Verdammten wohl zu so einer Abordnung sagen. Nach wenigen hundert Metern traf die Spur der sie folgten auf eine weitere, viel deutlichere Spur. Fast konnte man schon von einem Trampelpfad sprechen. Hier waren vor kurzem Menschen in beide Richtungen unterwegs gewesen. Die beiden Männer entschieden sich erst für rechts, der Pfad führte sie an einer Felsgruppe entlang und durch eine Lücke zwischen zwei Felsen hindurch. Dort verschwanden die Spuren in einer Felsspalte, vor der eine dieser Ratten hockte und den Neuankömmlingen entgegen fiepte. Im nächsten Augenblick sprang sie auch schon auf Houst zu. Dieser erstarrte vor Schreck. Mit einer Geschwindigkeit, die ihm Houst niemals zugetraut hätte, rammte Esrin der Ratte seine Krücke in die Seite. Von der Wucht des Stoßes wurde die Ratte gegen den Felsen geschleudert, deutlich hörte man Knochen brechen. Bevor sich die Ratte wieder aufrappeln konnte, schnitt ihr Esrin mit einem Messer die Kehle durch.

„Ich sollte wohl Abbitte bei Euch leisten. Wahrscheinlich habt Ihr mir eben das Leben gerettet“, bedankte sich Houst.

„Bildet Euch nicht zu viel darauf ein. Ohne Euch kehrt die Karawane zur Stadt zurück und ich bleibe allein in der Einöde. Euer Freund hat sich da klar ausgedrückt. In dieses Loch da krieche ich deswegen aber nicht für Euch“, antwortete Esrin und zeigte mit der Krücke zur Felsspalte.

„Trotzdem Danke. Gehen wir zurück zum Lager. Für die Felsspalte brauchen wir ohnehin Fackeln“, sagte Houst.

***

Gänge, schmale und breite, hohe und welche durch die sie auf ihren Knien kriechen mussten, so wie jetzt. Vor allem aber Gänge, die so dunkel waren, dass selbst die Nachtjäger darin kaum etwas erkennen konnten. Unterbrochen wurden die Gänge nur von ebenso variantenreichen Höhlen, auch diese natürlich bar jeden Schimmers von Licht. Ohne die kleine Lampe mit der Drehkurbel, die Zemal einst von Telek für seine Initialisierung erhalten und an die er sich erst jetzt wieder erinnert hatte, wären sie verloren gewesen. Beos anfänglicher Zorn war mittlerweile weitgehend verflogen, doch noch immer grollte sie mit ihm. Sie hatte Zemal die Lampe sofort aus der Hand gerissen, geradezu getobt und sich nicht nur einmal beschwert, warum sie sich all die Tage durch die Finsternis hatte quälen müssen, während in seinem Gepäck dieses Kleinod aus der Zeit der Alten schlummerte. Endlich konnte sie den Weg bestimmen, endlich war sie es die voranschritt, oder aktuell vorankroch. Die Luft war feucht, mancherorts liefen bereits winzige Rinnsale an den Felswänden herab. Sie folgten dem Rauschen, soweit dieses Labyrinth aus Gängen und Höhlen dies zuließ. Nicht nur einmal waren sie dabei in einer Sackgasse gelandet, mussten umkehren und einen anderen Weg wählen. An jeder neuen Kreuzung wurden ihre Diskussionen mürrischer. Doch sie kamen ihrem Ziel offensichtlich näher, Wasser rauschte hier so laut, dass sie sich kaum noch unterhalten konnten. Ihre Kleidung fühlte sich inzwischen klamm an. Zemal fröstelte es sogar ein wenig. Häufig rutschten seine Hände auf dem glitschigen Fels weg und er schlug irgendwo gegen die Wand. Manchmal stieß er mit dem Kopf auch gegen einen Felsvorsprung oder der Vorsprung schrammte über seinen Rücken. Sein ganzer Körper musste inzwischen mit blauen Flecken übersät sein. Hinter sich hörte er Tikku beständig fluchen. Zemal war nicht der einzige, dem der Weg Schwierigkeiten bereitete. Es ist nicht immer von Vorteil, groß gewachsen zu sein.

Die im Schein der Lampe glänzenden Felswände weiteten sich, eine weitere Höhle tat sich auf. Und mitten hindurch floss, nein toste Wasser. Derartige Wassermengen hatte noch nie einer der Nachtjäger gesehen. Sie ließen sich am Rand des unterirdischen Flusses nieder, probierten. Das Wasser war kalt, klar, es schmeckte herrlich. Welch ein Unterschied zu den lauwarmen und abgestanden Resten aus ihren Wasserbeuteln. Die vom Durst Geplagten versetzte dieser Augenblick in Hochstimmung. Mo schaufelte mit beiden Händen Wasser aus dem Fluss und spritzte es in Richtung Zemal. Selbst noch mit Trinken beschäftigt, konnte Zemal nicht mehr ausweichen. Ein kalter und nasser Schauer ergoss sich über seinen Rücken. Mo kicherte, tauchte ihre Hände bereits für eine weitere Fuhre ins Wasser.

„He. Na warte!“, rief Zemal und spritzte zurück.

Der Rest der Gruppe, selbst Beo ließ sich davon anstecken und bald schon tobte eine wahre Wasserschlacht, die erst abebbte, als alle bis auf die Haut pitschnass waren. Erschöpft und bisweilen immer noch glucksend saßen oder lagen sie am Rand des Flusses.

„So viel Wasser. Das würde für alle Verdammten dieser Welt reichen“, sagte Beo.

„Wir müssen in der Siedlung davon erzählen“, meinte Ker, „Sie werden stolz auf uns sein“

„Bei Ältester Piri wäre ich mir da nicht sicher“, entgegnete Mo.

„Das Überleben der Verdammten bedeutet meiner Großmutter viel. Auch sie wird sich über eine neue Wasserquelle freuen“, widersprach Zemal.

„Scheiße, dazu müssen wir aber erst einmal einen Weg aus diesem Loch finden. Ich krieche jedenfalls nicht wieder durch diesen Scheißgang zurück. Hat sich einer von euch überhaupt den Weg gemerkt? Ich kenne ihn nicht mehr“, sagte Tikku.

Die Frage war berechtigt. Auch die anderen mussten zugeben, dass sie die Orientierung verloren hatten. Eine neue Wasserquelle machte auch nur Sinn, wenn die Verdammten den Weg zu ihr sicher wiederfanden, es nicht derart mühselig war, zu ihr vorzudringen.

„Wie wir hierhergekommen sind, weiß niemand mehr sicher. Ich denke, wir sollten nach einem einfacheren Weg an die Oberfläche suchen“, schlug Beo vor.

Dabei drehte sie kräftig an der Kurbel der Lampe und ließ den Lichtkegel durch die Höhle gleiten. Am gegenüberliegenden Ufer des Flusses wichen kleine, gelb schimmernde Punkte vor dem Lichtschein zurück. Augenpaare, sie waren nicht allein. Natürlich, Wüstenratten konnten auch nicht ohne Wasser leben. Und schließlich hatte eine Ratte Ker den Weg zum Eingang der Höhle gewiesen. Dass sie es unbehelligt bis hierher geschafft hatten, war wohl nur ein glücklicher Zufall. Die Nachtjäger nahmen ihre Speere zur Hand, doch die Ratten zogen sich zurück. Da wo der Fluss die Felswand zur Höhle durchbrochen hatte, zeigten sich einige Reste von Mauerwerk. Die Nachjäger beschlossen, diesen Weg zu nehmen. Schließlich waren die Alten, die diese Mauer vermutlich einmal errichtet hatten, sicher nicht auf derart verschlungenen Wegen hier hinunter gestiegen.

***

„Das ist eine Sackgasse, verengt sich in etwa vierzig Metern zu einem Loch, durch das nicht einmal ein Kind passt“, meldete der Kameltreiber, als er aus dem letzten von der Höhle abzweigenden Gang wieder herauskam.

„Gut, dann bleiben immer noch zwei Gänge die zumindest in einer weiteren Höhle enden. Wasser gibt es dort noch nicht, das Rauschen kommt von tiefer unten. Einer der Männer ist auf eine dieser Riesenratten gestoßen, konnte sie aber abwehren. Zumindest scheuen sie wohl wie gewöhnliche Ratten das Feuer“, fasste der Karawanenanführer zusammen.

„Und von den Verdammten keine Spur?“, wollte Houst wissen.

„Nichts. Wie auch, auf dem nackten Fels hier lässt man keine Fußabdrücke zurück. Wenn sie tatsächlich in diesen Höhlen leben, dann tiefer unten, dort wo es Wasser gibt vermutlich“, antwortete der Anführer.

„Das würde zumindest erklären, warum sie in der Nacht aufgetaucht sind. Vielleicht haben sich ihre Augen an diese Dunkelheit angepasst und sie scheuen das Sonnenlicht“, meinte Houst.

„Möglich. Soll ich die Männer noch weiter hinunter schicken?“, fragte der Karawanenanführer.

Houst überlegte eine Weile. Einerseits zwickte ihn die Neugier unter den Fingernägeln – er hätte die Verdammten zu gern kennen gelernt –, andererseits blieb ihnen nicht viel Zeit für die Suche. Schon so waren ihre Vorräte knapp bemessen. Dass die Verdammten diese auffüllen könnten, schien zweifelhafter denn je. In den Höhlen gab es nur diese Riesenratten und vereinzelt herumkriechendes Kleingetier. Kamele fraßen weder das eine noch das andere. Wenn Houst mit seiner Karawane wenigstens eine der Städte der Alten erreichen wollten, mussten sie sich beeilen.

„Nein, wir ziehen weiter“, sagte Houst schließlich.

Hitze schlug ihm entgegen, als Houst aus der Höhle wieder ins freie trat. Das grelle Sonnenlicht blendete ihn.

„Und, seid Ihr Euren Verdammten begegnet?“, empfing ihn Esrin.

„Keine Spur mehr von ihnen“, antwortete Houst.

„Ich habe gleich gesagt, in dieses Loch hinabzusteigen, ist Zeitverschwendung. Die Verdammten – oder wer immer diese Menschen sind – haben sich heute Nacht nicht gezeigt, warum sollten sie es jetzt tun“, meinte Esrin.

Houst ignorierte ihn und ging zu den warteten Kamelen hinüber. Zeit aufzubrechen. Weit würden sie an diesem Vormittag ohnehin nicht mehr reisen können. Doch sie hatten ihre Zelte am Morgen bereits abgebaut, eine oder eineinhalb Stunden Weg waren besser als nichts. Sie zogen nach Süden, darauf hatte sich Houst vor wenigen Tagen mit dem Karawanenführer geeinigt. Zwar war im Westen eine wesentlich größere Siedlung der Alten auf Housts Karten eingezeichnet, die Stadt im Süden lag jedoch um einiges näher. Houst hoffte, dort nicht nur die Überreste der Alten zu finden. Niemand wusste, wie weit die Einöde wirklich reichte. Doch dass sie sich unendlich ausdehnte, war unwahrscheinlich. Vielleicht gab es auf der anderen Seite mehr als Staub und Steine, vielleicht lebten dort Menschen.

***

Piri betrat die große Halle als erste. Sie kam sich ein wenig verloren vor in dem riesigen Raum. Dieses Gefühl beschlich Piri oft. Nur heute traf es sie stärker als sonst, ließ sich nicht einfach abschütteln. Für einen Moment blieb sie stehen und blickte sich um. Der Tisch und die fünf abgewetzten Stühle standen wie eh und je in der Ecke, Staub tanzte im Lichtstrahl der Abendsonne, die durch die Fenster schien. Die Zeltplane, mit der die Lücken im Dach geflickt waren, blähte sich leicht im Wind. Alles schien wie immer, alles schien an seinem Platz. Und doch fehlte irgendetwas. Dilo trat hinter ihr durch die Tür. Piri konnte sie an ihrem Gang erkennen, der typisch schlurfende Klang ihrer Schritte war unverwechselbar. Die Größe der Halle und ihr teilweise noch intakter Betonfußboden verstärkten die Geräusche. Und plötzlich wusste Piri, was fehlte. Außer Dilos Schritten war es ungewöhnlich still. Das gleichmäßige Brummen der Wasserpumpe hörte sie nicht!

„Guten Abend Älteste Piri. Findet Ihr auch, dass irgendetwas komisch ist heute. Vielleicht werde ich ja nur schrullig aufs Alter, aber etwas stimmt hier nicht“, begrüßte Dilo Piri.

„Es ist die Pumpe, sie läuft nicht. Wir müssen nach ihr sehen“, antwortete Piri.

Die beiden Frauen gingen hinüber zu dem kleinen Raum, in dem sich die Pumpen befanden. Ratlos standen sie im Eingang.

„Welche der drei Pumpen hat eigentlich zuletzt noch funktioniert?“, fragte Dilo.

Piri blickte unschlüssig von einer Pumpe zur nächsten, zuckte dann mit den Schultern.

„Wenn ich das wüsste. Wir haben uns zu sehr auf Telek verlassen. Jetzt wo er nicht mehr da ist, kennt sich keiner mehr mit den Pumpen aus“, antwortet Piri.

Nichtsdestotrotz trat Piri näher an die Pumpen heran, drückte auf alle Schalter, die sie finden konnte, fingerte an einem losen Kabel herum. Ein heftiger Schmerz durchfuhr ihre Hand plötzlich, sie zog sie schnell zurück. Kleine Funken wanderten an der Pumpe entlang zum Boden.

„Autsch!“, sagte Piri.

„Die Pumpe ist ausgefallen!“, rief Fuzill aus der Halle schon von weitem.

„Ja, das wissen wir bereits“, antwortete Piri, „Hat Euch Telek gezeigt, wie man sie repariert?“

„Ich habe ihm lediglich einmal zugesehen. Telek hat mal da herumgedreht, mal dort ein wenig gerüttelt. Ich fand es derart langweilig, dass ich nach wenigen Minuten gegangen bin“, entgegnete Fuzill.

„Telek kann doch nicht so kurzsichtig gewesen sein und niemanden in die Technik der Pumpen eingewiesen haben? Irgendwer muss sich damit doch noch auskennen“, sagte Piri.

„Älteste Beo hat sich für die Pumpen interessiert“, sagte Dilo.

„Älteste Beo ist nicht hier“, bemerkte Piri trocken.

„Was machen wir jetzt? Gleich beginnen die Wahlen für die neuen Ältesten. Die meisten Verdammten versammeln sich schon vor der Halle“, fragte Fuzill.

„Wir müssen sie informieren“, sagte Dilo.

„Sie wissen es ohnehin schon, schließlich läuft kein Wasser mehr ins Becken. Derartige Neuigkeiten verbreiten sich schnell. Erst recht wenn sich ohnehin alle zusammenfinden“, meinte Fuzill.

„Führen wir erst einmal die Wahlen durch. Über unsere weiteren Schritte sollten wir gründlich nachdenken. Vielleicht hat auch einer der neuen Ältesten eine Idee“, schlug Piri vor.

„Gut, das klingt vernünftig“, stimmte ihr Dilo zu.

Die drei alten Damen schlurften zum Ausgang. Die Menge war unruhig, als die Ältesten aus der Halle traten. Überall hatten sich kleine Grüppchen gebildet, die aufgeregt miteinander diskutierten. Drei ältere Frauen und zwei Männer standen unmittelbar am Eingang zur Halle, die Kandidaten für den Rat der Ältesten.

„Stimmt es, dass die Pumpe ausgefallen ist?“, wollte eine der Frauen wissen.

„Die Leute sind beunruhigt“, sagte einer der beiden Männer.

„Noch besteht kein Grund zur Sorge. Wir werden nach der Wahl über dieses Problem sprechen. Dann können sich die beiden Sieger als neu gewählte Älteste mit einbringen“, antwortete Piri, „Ist für die Wahl alles vorbereitet?“

„Wir sind bereit“, entgegneten die Kandidaten einhellig.

„Gut, dann wollen wir es nicht weiter hinaus zögern. Versammelt eure Anhänger um euch. Mögen die Besten gewinnen“, gab Piri den Startschuss.

„Verdammte, ich bin der älteste der Kandidaten. Meine Erfahrung ist unerreicht. Schart euch um mich! Unter meiner Führung wird die Siedlung erblühen“, rief einer der beiden Männer und lief dabei auf den Platz.

Die Gespräche der Verdammten verstummten sofort, alle Köpfe wandten sich den Kandidaten zu. Einige Verdammte – wohl seine Familie, seine Freunde und sonstigen Unterstützer – umringten den ersten Kandidaten.

„Reines Alter sagt noch nichts über die Fähigkeiten aus. Ich mag die jüngste im Kreise der Kandidaten sein, doch ich bin auch die Fitteste. Mein Elan ist weithin bekannt. Ich werde damit die Siedlung zum Guten verändern“, skandierte eine der Frauen.

Auch sie lief dabei in die Menge und wurde sogleich von ihren Unterstützern umringt. Diese Szene wiederholte sich für die drei anderen Kandidaten. Nach der Ankündigung seines vermeintlich größten Vorzugs, vereinte jeder eine mehr oder minder große Traube von Anhängern um sich. Anschließend zogen die Gruppen umher und versuchten, sich jeden noch frei stehenden Verdammten einzuverleiben. Die Kandidaten und ihre glühendsten Verfechter kämpften dabei mit allerlei Mitteln, machten teils absurde Versprechen, handelten mit einigen für deren Unterstützung einen Preis aus oder umschlossen ganze Grüppchen, mit denen sie dann einfach weiterzogen. Letztlich waren alle versammelten Einwohner der Siedlung einem der Kandidaten zugeordnet. Nun diskutierten die Gruppen heftig untereinander, Argumente und auch wüste Beschimpfungen flogen hin und her. Wechselwillige hinderte man aktiv, die Gruppe zu verlassen. Kleinere Handgreiflichkeiten und größere Tumulte entstanden, besonders wenn überzeugte Anhänger eines Kandidaten einfach jemanden aus einer anderen Gruppe herauszerrten. Die neuen Mitglieder nahm man unter lautem Jubelgeschrei in die eigene Gruppe auf. Manche dieser Entführten, stifteten in der neuen Gruppe Unruhe, brachen die Gruppe auf und boten so dem Gegner eine offene Flanke. Es galt also, genau abzuwägen, wen und wie viele Verdammte man anderen Gruppen entriss. Auch wer an mehreren Fronten kämpfte, rieb sich schnell auf. Schützte einen Kandidaten nur noch eine Rumpftruppe aus wenigen Anhängern, wurde er von einer größeren Gruppe bald ganz geschluckt. Damit endete auch seine Kandidatur, er oder sie hatte verloren. Letztlich blieben so nur noch zwei etwa gleich große Gruppen übrig. Die neuen Mitglieder für den Rat der Ältesten waren gefunden. Mit stolz geschwellter Brust traten sie aus der Mitte ihrer nun beträchtlichen Anhängerschar heraus und ließen sich von deren Jubel bis vor die große Halle tragen. Gewonnen hatten die jüngste Kandidatin und der jüngere der beiden Männer.

„Die Verdammten haben gewählt“, sagte Piri laut, der Jubel ebbte ab, „Der Rat der Ältesten begrüßt Adal und Lelli in seiner Mitte. Wir werden uns nun zu unserer ersten …“

„Älteste! Älteste!“

Ein kleiner Junge – einer derjenigen, die erste Anzeichen für die Fähigkeiten der Nachtjäger gezeigt hatte – kam vom Rand der Siedlung auf den Platz gerannt. Ziemlich außer Atem erreichte er den Eingang der Halle.

„Älteste, jemand kommt aus der Einöde. Es sind Fremde, sie tragen bunte Kleider und sitzen auf dem Rücken riesiger Tiere. Sie marschieren direkt auf die Siedlung zu“, berichtete der Junge.

***

Schon wieder ein Rattennest, bereits das dritte auf das sie stießen. Mit eingeübter Effizienz bildeten die Nachtjäger einen Kreis um Beo und die kranke Ilbi. Während es den Nachtjägern zukam, die Ratten abzuwehren, drehte Beo wild an der Kurbel der kleinen Lampe, verschaffte ihnen so das dafür nötige Licht. Allein der Anblick der schieren Masse an Ratten, die ihnen gegenüber stand, blies die Müdigkeit aus ihren Knochen. Sie kämpften nun schon seit Stunden gegen mal kleinere, mal größere Gruppen Wüstenratten. Diese Gänge wimmelten von ihnen. Genug Übung für die Nachtjäger. Mittlerweile saß jede Bewegung, jedes Ausweichen ein geschmeidiger Tanz, beinahe jeder Stoß mit dem Speer traf. Doch die Nester waren dennoch schlimm. Hier wuselten wahre Horden von Ratten umher, die obendrein noch extrem aggressiv angriffen. Verständlich, schließlich verteidigten sie ihren Nachwuchs. Der kleinste Fehltritt konnte das Ende der ganzen Gruppe bedeuten. Die Nachtjäger funktionierten beinahe schon wie Tötungsmaschinen und dennoch wurde es eng. Skio keuchte vernehmlich, Kers Beine zitterten, Tikkus Kleider klebten schweißnass an seinem Körper. Währenddessen betete Beo leise zu den Alten und Mo schrie ihren Frust heraus. Zemal tobte wie ein Wahnsinniger durch die Ratten. Als die letzte Ratte fiel, brachen sie alle erst einmal zusammen. Noch eines dieser Nester würden sie wahrscheinlich nicht überstehen. Die Gruppe musste raus aus diesen Gängen, zurück an die Oberfläche. Sie brauchten eine längere Rast, sie brauchten Schlaf. Ilbi benötigte noch mehr, es ging ihr zunehmend schlechter. Schweiß perlte auf ihrer Stirn, sie war kaum noch bei Bewusstsein. Es war nur ein kleiner Kratzer, den sie sich bei der Verteidigung der Fremden letzte Nacht zugezogen hatte. Doch mittlerweile leuchtete ihr ganzer Unterschenkel rot. Richtig laufen konnte sie damit schon lange nicht mehr. Anfangs hatte sie sich nur bei Beo aufgestützt, doch seit einiger Zeit wechselten sich Zemal und Tikku damit ab, sie zu tragen. Das zehrte natürlich zusätzlich an den Kräften.

„Wir können hier nicht länger bleiben. Der Geruch von Blut lockt weitere Ratten an“, mahnte Beo.

„Nur noch ein paar Minuten Luft holen“, beschwerte sich Preido.

„Wir sind schon ein gutes Stück nach oben gestiegen, es kann nicht mehr weit bis zur Oberfläche sein. Dann haben wir alle Zeit der Welt zum Rasten“, entgegnete Beo.

„Los, ich habe keine Lust, hier zu verrecken“, forderte Mo.

Als sie aufstand zitterten ihre Beine und sie musste sich für einen Moment mit ihrem Speer abstützen. Ihr Magen war ein großes schwarzes Loch. Es fehlte nicht viel und sie hätte sich auf die toten Ratten gestürzt. Aber das rohe Fleisch war zu zäh, ließ sich nicht hinunter schlingen, sie und Zemal hatten es tatsächlich probiert.

„Scheiße, ich kann kaum noch kriechen“, stöhnte Tikku, „wie soll ich da Ilbi tragen?“

„Ich nehme sie“, sagte Zemal, obwohl er in keinem besseren Zustand war als die anderen.

Quälend langsam setzte sich die Gruppe in Bewegung. Jeder Schritt schmerzte, die Knie wackelten. Ker stolperte und fiel. Mit Skios Hilfe rappelte er sich mühsam auf. Erst nach einigen Metern ging es besser. Der Gang – eigentlich war es ein Rohr mit mindestens drei Metern Durchmesser – zog sich trotzdem in die Länge. Und dann war an dessen Ende eine Wand.

„Dieser scheiß Gang ist eine scheiß Sackgasse“, polterte Tikku frustriert.

Im selben Moment hörten sie in einiger Entfernung hinter sich eine Ratte pfeifen.

„Wenigstens können uns die Ratten nicht umzingeln“, meinte Mo, „schnell an die Wand“

„Wir werden alle sterben“, jammerte Skio.

„Da ist eine Leiter an der Seite. Sie führt nach oben“, sagte Beo, als sie als erste am Ende der Sackgasse ankam.

„Reiß dich zusammen, Skio! Schau nach, ob es da oben Ratten gibt“, ordnete Mo an, „Beo Ihr leuchtet ihr von hier aus. Das Licht sollte uns noch reichen, die Ratten hier abzuwehren“

„Ich habe Angst“, sagte Skio und blieb wie angewurzelt stehen.

Ker zögerte nicht lange und stieg die Leiter nach oben. Vorsichtig lugte er durch die Öffnung.

„Irgendetwas brummt hier oben, Ratten kann ich aber keine sehen“, rief er nach unten.

„Gut, alles ist besser als hier auf die Ratten zu warten. Lasst uns da rauf gehen“, sagte Mo.

„Zemal, bring am besten Ilbi als erstes nach oben …“, begann Beo.

„Ich sollte besser hier bleiben, falls uns die Ratten noch erreichen“, wandte Zemal ein.

„Mo und Tikku halten die Ratten auf. Niemand außer dir schafft es mit Ilbi da hinauf. Skio, Preido, ihr geht hinter ihm. Macht schnell“, befahl Beo.

Zemal ächzte die Sprossen der Leiter hinauf. Das zusätzliche Gewicht von Ilbi lastete schwer auf seinen Schultern. Bereits nach einem Drittel der Strecke musste er kurz innehalten. Er hatte Tränen in den Augen, sein Hunger überwältigte ihn schier.

„Was ist?“, fragte Skio unter ihm.

„Nichts“, quetschte Zemal hervor und zwang sich weiter.

Er mobilisierte wirklich alle Kräfte, wuchtete sich Sprosse für Sprosse nach oben. In seinem Kopf drehte sich alles, mehr als einmal griff seine Hand daneben, bevor sie die nächste Sprosse fand. Plötzlich wurde die Last auf seiner Schulter leichter. Er hatte nicht bemerkt, dass er oben angekommen war, ihm Ker Ilbi von seiner Schulter zerrte. Nachdem er durch die Öffnung gekrochen war, legte sich Zemal flach auf den Boden. Ihm wurde schwarz vor Augen, seine Sinne schwanden.

Als er wieder erwachte, blickte er in Mos besorgtes Gesicht. Sie saß, den Wasserbeutel in ihrer Hand, über ihn gebeugt. Der Kuss, den sie ihm vor Freude auf den Mund drückte, nahm ihm den Atem und beinahe wäre er erneut ohnmächtig geworden.

„Mach das nie wieder!“, sagte Mo, als sie endlich von ihm abließ.

„Ist er zu sich gekommen?“, wollte Beo aus dem Hintergrund wissen.

„Ja“, antwortete Mo.

„Gut. Es reicht, wenn Ilbi krank ist. Zemal könnte auch niemand tragen“, sagte Beo.

Zemal richtete sich mühsam auf. Mit seinem Bewusstsein kehrte auch der Hunger zurück, er fühlte sich unendlich schwach. Mo reichte ihm den Wasserbeutel und einen Rest schrumpeliger Wurzeln.

„Füllt den Magen ein wenig“, sagte sie.

Beinahe ohne zu kauen, schlang Zemal die Wurzeln hinunter. Der Hunger blieb. Sie hatten hunderte Ratten getötet, Fleisch für Monate. Allein hier unten fehlte die Sonne, um es zu trocknen. Sollten sie nicht bald einen Ausgang finden, würden sie auch die wenigen Tiere, die als Beute an ihren Rucksäcken hingen, wegwerfen müssen. Zemal schaute sich um. Ein schwerer, gewölbter Metalldeckel mit einem Rad oben drauf, verschloss die Öffnung, durch die sie gekommen waren. Die kahlen Betonwände wiesen einige dünne Risse auf, schienen ansonsten aber intakt. Hinter einem Mauervorsprung fiel Licht in den kleinen Raum.

„Wo sind wir? Da ist Licht. Gibt es einen Weg nach draußen?“, fragte Zemal.

Mo blickte kurz zu dem Vorsprung hinüber. Ihr Gesicht wurde ernst.

„Was ist?“, wollte Zemal wissen.

„Da führt eine kurze Treppe nach oben. Am Ende ist eine verschlossene Tür“, mischte sich Ker ein, „Über der Tür ist ein komisches Auge das einen verfolgt“

„So wie in Nadamal“, sagte Mo.

Ein lautes, metallisches Quietschen ließ die ganze Gruppe zusammenzucken.

„Scheiße, was ist das denn“, rief Tikku hinter der Ecke.

Eine Stimme erklang, in einer Sprache die keiner der Nachtjäger verstand. Zemal und Mo hörten sie nicht zum ersten Mal. Kurz darauf bog Tikku rückwärts um die Ecke, in seinem Schlepptau gleich zwei dieser runden Blechtonnen mit Armen und einem dieser Augen oben drauf, vor denen Mo und Zemal einst aus Nadamal geflohen waren.

„Vorsicht, diese Dinger verschießen Blitze“, warnte Zemal, „Sie werden uns töten. Wir müssen wieder nach unten!“

Auf der den Nachtjägern zugewandten Seite leuchtete ein Quadrat auf und ein menschliches Gesicht erschien. Das Gesicht lächelte und redete dann in dieser komischen Sprache mit ihnen. Die andere Blechtonne zeigte in Richtung der Tür.

„Wir sind kaum mehr in der Lage davonzulaufen“, meinte Beo, „Das Gesicht sieht freundlich aus. Ich glaube, wir sollen ihnen folgen“

„Wir wissen zwar nicht, was uns dort hinter der Tür erwartet. Schlimmer als diese Nester voller Wüstenratten kann es aber kaum sein“, stimmte Mo zu.

Ker hatte sich neugierig an eine der Tonnen herangewagt. Jetzt stupste er mit dem Finger das Gesicht in dem Quadrat an, zog den Finger aber blitzschnell zurück. Nichts passierte. Noch einige Male fasste Ker die Tonne an verschiedenen Stellen an, erhielt jedoch nie eine Reaktion. Nach einer Weile wiederholte das Gesicht seine kleine Rede von vorhin, zumindest klang es so.

„Die tun uns nichts“, sagte Ker.

Das beruhigte Zemal wenig. Er mochte diese Dinger nicht, wusste nicht, was sie waren, er verstand nicht einmal ihre Sprache. Außerdem erinnerten sie ihn an sein eigenes Versagen bei seiner Initialisierung. Eine der Tonnen fuhr mittlerweile zwischen den Nachtjägern umher, blieb dann plötzlich vor Ilbi stehen. Ihr Auge musterte Ilbi eingehend. Das Gesicht erschien, sprach ein paar Worte, und als sich Ilbi nicht rührte, hob die Tonne sie einfach hoch und fuhr mit ihr davon.

„He, was soll das!“, rief Tikku.

Doch die Tonne ließ sich davon nicht beirren, überwand mit der komischen Konstruktion aus jeweils drei Rädern an jeder Seite im nu die wenigen Treppenstufen und verschwand unter den verdutzten Blicken der Nachtjäger durch die Tür. Im gleichen Moment begann das Gesicht der anderen Tonne, wieder zu sprechen, zum dritten Mal denselben Text.

„Kommt, wir müssen hinter Ilbi her. Wer weiß, wo dieses Ding sie hinbringt“, sagte Beo.

„Los, schnappen wir unsere Sachen“, forderte auch Mo.

Jeder gab sein Bestes, jeder machte so schnell er konnte. Doch die ausgelaugten Körper verweigerten den Dienst. Keiner schaffte es, sich seinen Rucksack ohne die Hilfe eines anderen auf den Rücken zu packen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie endlich durch die Tür traten. Hinter der Tür erwartete die Nachtjäger ein längerer Gang. Er war mit den Lichtern der Alten ausgeleuchtete, solche, wie sie in der großen Halle in der Siedlung der Verdammten brannten. An die Wände waren mehrere verschieden starke, parallel verlaufende Kabel geklebt. Unter der Decke verliefen scheinbar kreuz und quer dicke und dünne Rohre. Sie gingen durch einen Raum, in dem lauter brummende Kästen herumstanden. Zemal zog Ker mit sich, der stehen geblieben war und einen der Kästen untersuchte.

„Besser wir fassen hier nichts an“, sagte er.

Ein weiterer Gang, diesmal ohne Kabel und Rohre, folgte. Dann erreichten sie einen kleinen Raum. An einer Seite befand sich eine metallisch schimmernde Tür ohne Griffe. Die zweite Tonne fuhr an ihnen vorbei und drückte einige Tasten auf einem Tastenfeld neben der Tür, die daraufhin rechts und links in der Wand verschwand und einen noch viel kleineren Raum freigab. Die Wände waren ungewöhnlich glatt, die Nachtjäger konnten sich selbst darin sehen, so wie auf der Oberfläche des Wasserbassins in der Siedlung, nur fiel deutlicher. Die Tonnen drängten die Gruppe in den kleinen Raum, das Gesicht in dem Quadrat redete dabei unentwegt auf sie ein. Es klang monoton, beruhigend, fast wie ein Schlaflied. Es war eng in dem Raum, die Nachtjäger zwängten sich aneinander. Kaum waren alle drinnen, schloss sich die Tür. Sie waren gefangen, dachte Zemal, eingesperrt in diesem viel zu kleinem Raum. Er wollte die Tür wieder aufschieben, doch seine Hände fanden am glatten Metall keinen Halt. Über der Tür leuchtete etwas, es gab einen kurzen, kaum spürbaren Ruck. Sie bewegten sich, oder besser der Raum schien sich zu bewegen.

„Was passiert hier?“, fragte Beo.

„Wir sollten nicht hier sein“, sagte Zemal.

„Aber Ilbi ist hier irgendwo“, widersprach Skio.

Mit einem leichten Kribbeln im Bauch ebbte das Gefühl der Bewegung ab und hörte schließlich ganz auf. Die Tür verschwand wieder in den Wänden. Die Nachtjäger drängten aus dem engen Raum heraus in eine weitläufige Halle. Zemal blieb wie angewurzelt stehen. Eine breite Fensterfront gab den Blick nach draußen frei. Er kannte diesen Blick, er hatte ihn schon einmal gesehen. Sie waren mitten in Nadamal, mitten in dem Gebäude, aus dem er und Mo bei seiner Initialisierung geflohen waren. Schritte und erneut eine Stimme ließ die Nachtjäger herumfahren. Der Mann, den Mo aufgeweckt hatte, trat herein.

Die Legende der Alten

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