Читать книгу Die Legende der Alten - Torsten Thiele - Страница 5

Unterwelt

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Kex wusste nicht, ob er wach war oder nur träumte. Er öffnete die Augen, doch sehen konnte er nicht. Sein Arm schmerzte, jeder Pulsschlag pochte in seinen Schläfen. Der Raum fühlte sich eng an, bedrückend, er spürte den zurückgeworfenen Luftzug seines eigenen Atems. Gleich neben ihm bewegte sich etwas, jemand. Kex hörte ihn flüstern.

„Pst ganz leise. Pst weiß, dass sie gute Ohren haben. Pst hat sich und den Jungen gut versteckt. Sie kommen, brauchen Wasser wie Pst. Aber hier werden sie Pst nicht finden. Der Junge ist schwach, verletzt. Pst hat Jungen geholfen. Junge ist keiner von denen, ist anders. Pst ist auch anders. Pst isst keine Menschen“

„Hall …“

Eine Hand drückte fest auf Kex Mund. Vor Schreck biss er sich auf die Zunge. Sein Hinterkopf wurde gegen harten Stein gepresst.

„Junge muss leise sein. Sie kommen, dürfen uns nicht finden. Sie haben gute Ohren“, flüsterte die Stimme.

Entfernt hörte Kex Geräusche, sie erzeugten ein Echo. Es dauerte eine Weile, bis Kex sie als Schritte erkannte. Irgendwer näherte sich. Die Schritte klangen falsch, fremd, so bewegten sich keine Menschen. In regelmäßigen Abständen klapperte etwas, es klang wie Holz oder Metall, das gegen Stein schlug. Schritt, Schritt, Klack, Taptap … Schritt, Schritt, Klack, Taptap … Vielleicht war es das Echo, vielleicht träumte Kex tatsächlich nur. Aufwachen! Wie war er hierhergekommen? Als Kex den Kopf hob, stieß er mit der Stirn gegen Stein. Neuer Schmerz, als wenn ihm der alte nicht schon genügen würde. Die Schrittgeräusche kamen immer näher. Es mussten mehrere Kreaturen sein, vielleicht zwei oder drei.

„Ich rieche Blut“, sagte plötzlich eine tiefe Männerstimme.

„Hab gesagt, einer ist runterkommen“, antwortete eine andere Stimme, „Wasser platsch gemacht“

Die Schrittgeräusche stoppten, noch ein kurzes Schlurfen, Wasser gurgelte.

„Das Wasser schmeckt nach Blut“, sagte die tiefe Stimme.

„Aber niemand hier“, entgegnete die zweite Stimme.

„Liegt bestimmt im Wasser. Wir müssen ihn rausholen, verdirbt sonst das Wasser“, meinte die tiefe Stimme.

„Wie willst du ihn finden? Wasser viel zu groß“, widersprach die andere Stimme.

„Wir gehen die anderen holen. Viele Augen suchen“, schlug die tiefe Stimme vor.

„Viele Münder essen“, gab die zweite Stimme zu bedenken.

„Wenn wir ihn nicht finden, niemand isst. Obendrein verdirbt das Wasser“, sagte die tiefe Stimme.

„Du hast recht. Gehen andere holen“, stimmte die andere Stimme zu.

Die komischen Schrittgeräusche setzten wieder ein. Sie entfernten sich langsam. Eine Weile nachdem sie Kex nicht mehr hören konnte, regte sich der Mann neben ihm.

„Junge muss mit Pst an sicheren Ort gehen. Wenn sie alle suchen kommen, sie werden Pst und Jungen finden. Müssen an Ort gehen, den Menschenfresser fürchten. Pst fürchtet Ort auch, aber Pst fürchtet Menschenfresser mehr. Ist Junge wach? Junge muss selbst laufen. Pst kann Jungen nicht so weit tragen. Sie werden bald zurück sein. Junge und Pst müssen sich beeilen“, flüsterte der Mann.

Dann schob er Kex mit beiden Händen, solange bis Kex von selbst vorwärts kroch. Da er auf dem Rücken lag, konnte er sich lediglich mit den Füßen voranschieben. Jedes Mal stieß er dabei mit seinen Knien an die Decke. Sein Rücken schrammte über rauen Felsen, es schmerzte fürchterlich. Kein Traum. Ein schwacher Lichtschimmer tauchte auf, ließ den Fels silbrig glänzen. Ein Ausgang aus dieser Enge. Der Fels über Kex hörte plötzlich auf, von weit oben fiel diffuses Licht herein. Noch einmal wurde Kex geschoben, er hatte nicht einmal bemerkt, dass er sich nicht mehr bewegte. Dann tauchte neben ihm ein hagerer Mann auf. Zotteliges, im schwachen Licht hell schimmerndes Haar umrahmte das Gesicht des Mannes, der Bart ließ den Mund verschwinden, lediglich die schiefe Nase ragte aus diesem Wirrwarr heraus. Der gehetzte Blick des Mannes blieb nicht einmal für eine Sekunde an einem Ort haften. Kaum aus der Felsspalte hervorgekrochen, sprang der Mann auf und rannte einige Schritte davon. Dann stoppte er abrupt, drehte sich nach allen Seiten um, sein Kopf schien niemals still zu stehen. Dabei klemmte er bisweilen das zweite Glied seines rechten Zeigefingers zwischen die Zähne.

„Junge muss aufstehen, Pst folgen. Geschwind, geschwind“, forderte er Kex auf.

Kex drehte sich mühselig auf den Bauch. Als er sich mit den Händen abstützte, knickte sein verletzter Arm ein.

„Au“, rief er.

„Nicht schreien. Menschenfresser gute Ohren“, flüsterte der Mann.

Er ließ die angewinkelten Unterarme ein paarmal ruckartig nach unten sausen und kam zurück zu Kex. Mit erstaunlicher Kraft zerrte er Kex auf die Beine. Für einen Moment musste sich Kex an dem Mann festhalten, das Gewicht seines Körpers war zu viel für seine Beine. Der Mann lief dabei bereits los, Kex hielt sich weiterhin an ihm fest, hatte dabei aber große Mühe zu folgen. Sein rechter Knöchel schmerzte bei jedem Schritt ein wenig mehr. Irgendwann riss der Kontakt ab, Kex benötigte eine Pause, keuchte schwer.

„Pst hier drüben. Junge nicht stehen bleiben. Junge Pst folgen. Geschwind, geschwind“, sagte der Mann aus einiger Entfernung leise.

Kex schnaufte noch einmal tief durch und humpelte dem Mann dann hinterher. Wenig später rannte der Mann noch schneller, verschwand in einem dunklen Gang. Hinter sich, noch sehr leise, hörte Kex die komischen Schrittgeräusche. Sie wurden schnell lauter. Beinahe schon panisch hetzte Kex auf den dunklen Gang zu. Der helle Haarschopf des Mannes lugte einige Male kurz aus dem Eingang hervor. In seiner Hand glimmte etwas. Als Kex den Gang endlich erreichte, hätte er vor Anstrengung beinahe geschrien. Doch der Mann zerrte ihn weiter, Kex konnte in der Dunkelheit nichts sehen, stolperte mehr voran, als das er lief. Der schwache Schein dessen, was der Mann in der Hand hielt, reichte nicht bis zu Kex. Aus der Halle hinter ihnen waren Stimmen zu hören. Die Worte konnte Kex nicht verstehen, es klang jedoch aufgeregt. Vor ihnen plätscherte Wasser, eine Stufe, Kex Füße wurden nass. Sie liefen im Wasser weiter. Plötzlich verschwand der Mann, Kex trat scheinbar ins Leere. Er stolperte, ruderte wild mit den Armen. Beinahe gleichzeitig fanden sein Fuß und sein Hintern wieder festen Grund, jedoch keinen Halt. Er rutschte immer schneller eine Schräge hinunter. Wenig später drückte ihn die Wucht der Geschwindigkeit und seines eigenen Gewichts unter Wasser. Er war unten angekommen. Bevor er selbst wieder an die Oberfläche strampeln konnte, packten ihn Hände am Arm und hievten ihn aus dem Wasser.

„Menschenfresser kommen. Geschwind, geschwind. Hier entlang. Pst bald in Sicherheit“, sagte der Mann und rannte den nächsten dunklen Gang entlang.

So schnell er nur konnte, folgte ihm Kex, orientierte sich an dem seltsamen Schimmer in der Hand des Mannes, der wie ein Glühwürmchen durch den Gang irrlichterte. Das kalte Wasser hatte Kex Schmerzen ein wenig betäubt, das half für eine Weile. Sie erreichten einen größeren Gang, in dessen Mitte – ein gutes Stück abgesenkt – Schienen verliefen. Als Kind hatte Kex einen solchen Gang bereits einmal gesehen, als er für Chak im Keller des verlassenen Hauses nach Ruinen der Alten gesucht hatte. Wie damals tanzten von Zeit zu Zeit kleine bläuliche Blitze über das Metall, die Luft kribbelte ein wenig auf der Haut. Der Mann und Kex gingen am Rand des Ganges entlang.

„Junge und Pst jetzt sicher. Menschenfresser uns nicht mehr folgen. Haben Angst vor großer Metallschlange“, sagte der Mann, während er vor Kex am Rand des Ganges entlanglief.

***

Nomo eilte über abgewetzte Stufen nach unten. Immer wenn ihr jemand entgegen kam, senkte sie den Kopf, drehte sich ein wenig zur Seite. Dieser Teil des Palastes war ihr völlig unbekannt, hier arbeiteten und wohnten die Bediensteten. Es war eng, düster und roch muffig. Beseelten begegnete man hier nicht. Aber Hem wollte es so, warum hatte er ihr nicht gesagt. Ständig fürchtete Nomo, einen Aufschrei des Entsetzens zu hören, dass sie jemand erkannte und – höflich aber bestimmt – dieses Ortes verwies. Der Aufschrei blieb aus, niemand interessierte sich für sie. Alle schienen derart mit ihren eigenen Aufgaben beschäftigt, dass keiner Nomo als den Fremdkörper wahrnahm, als den sie sich selbst fühlte. Sie hastete an einem kleinen Fenster vorbei, stoppte jedoch plötzlich und ging zwei Schritte zurück. Der Raum dahinter lag im Dunkel, so wirkte das Fenster wie ein Spiegel. Nomo erkannte sich selbst kaum wieder. Die Kleider, die ihr Hem gegeben hatte, waren die einer einfachen Magd. Abgewetzt an Knien und Ellenbogen, fleckig und hier wie da schon geflickt. Sie kratzten fürchterlich auf der Haut, so wie auch die Unterwäsche. Hem hatte darauf bestanden, dass Nomo selbst diese wechselt. Ein immerhin halbwegs sauberes Tuch versteckte ihre Haare, nur eine Locke lugte hervor und fiel störrisch in ihre Stirn. Gleich darunter zeichnete sich ein schmutziger Streifen ab, da, wo Hem sie sich den Schweiß hatte aus der Stirn wischen lassen. Diesen Schweiß hatte sie sich sauer verdienen müssen, der Boden in Hems kleiner Kammer blitzte inzwischen. Nomo ahnte jetzt schon den Muskelkater, den sie von der ungewohnten Anstrengung davontragen würde.

„He, kleines Prinzesschen, träumst wohl gerade“

Jemand griff Nomo an den Hintern und kniff einmal kräftig zu. Vor Schreck quiekte Nomo auf und sprang zur Seite. Ein kräftiger Mann grinste sie an. Ihm fehlten schon zwei Zähne. Er roch nach Pferdemist.

„Du kannst mich gerne heute Nacht besuchen. Das Stroh im Stall ist wunderbar weich. Es gibt dort auch einen alten Schimmel. Dann werde ich dein Prinz sein. Jetzt machst du aber besser, dass du an deine Arbeit kommst. Wenn dich einer der Hofdiener hier herumlungern sieht, setzt es Hiebe. Für derartige Ruten ist dein hübscher Hintern viel zu schade“, sagte der Mann.

Er lachte über den Scherz, den Nomo nicht verstand. Für einen Moment blieb sie – noch immer erschrocken – stehen, dann aber rannte sie einfach davon. Hinter sich hörte sie den Mann noch einmal lachen, bevor sich auch seine Schritte entfernten. Nomo stoppte erst wieder vor der Küche. Hier lag ihr Ziel. Laut Hem sollte sie sich beim Koch melden. Sie hatte ihn einmal gesehen, nachdem sich einer der Gäste ihres Vaters über das Essen beschwert hatte. Ein untersetzter Mann mit breiten Schultern, rundem Gesicht, freundlichen Augen und einem kleinen Bauchansatz, der unter seiner weißen Jacke kaum auffiel. Nomo entdeckte ihm am Ofen, er probierte gerade etwas, verzog das Gesicht und brüllte daraufhin den neben ihm stehenden Jungen an. Dieser zog instinktiv den Kopf zwischen die Schultern und trat zwei Schritte zurück. So entging er knapp einer Maulschelle. Jemand stieß am Eingang der Küche mit Nomo zusammen.

„Was stehst du hier herum, hast du keine Arbeit?“, schnauzte sie eine ältere Frau im vorbeigehen an.

Zögernd trat Nomo in die Küche und ging zum Koch hinüber. Immer wieder musste sie dabei anderen Bediensteten ausweichen, die beladen mit Töpfen, Geschirr oder allerlei Zutaten durch die Küche hetzten. Einer trug sogar ein halbes Schwein auf seiner Schulter an ihr vorbei.

„Hallo, ich … soll mich bei Euch …“, stammelte Nomo, als sie den Koch endlich erreichte.

„Ein neues Küchenmädchen, was? Das wurde aber auch Zeit! Lass dir da hinten in der Waschküche Arbeit geben“, polterte der Koch, „Na los, beweg dich!“, fügte er hinzu, als sich Nomo nicht gleich auf den Weg machte.

Wenig später stand Nomo über einen großen Waschkessel gebeugt und schrubbte mit einer groben Bürste die teils angebrannten oder eingetrockneten Reste aus Töpfen. Nur durch ein winziges Kellerfenster fiel ein wenig Licht herein, im mittlerweile versifften Wasser konnte man kaum etwas sehen. Überall schwammen Reste herum, klebten an den Armen und den Töpfen, wenn man sie herauszog. Manche Töpfe waren dabei so groß, dass Nomo sie beinahe nicht allein heben konnte. Noch nie hatte sie derart schwer arbeiten müssen. Was bezweckte Hem nur mit dieser Aufgabe? Wollte er ihre Ausdauer testen? Zwei weitere Küchenmädchen kamen herein, brachten neue Töpfe zum spülen. Sie kicherten lautstark.

„Das nenne ich einen Schock“, sagte die eine, „Sleems Körperfülle komplett nackt, sagst du?“

„Ja, seine Haut ist wie die von einem Baby. Kam wohl gerade aus dem Bad, sein Hintern leuchtete rosig. Er machte Posen vor dem Spiegel. Dabei spielte er sich mit der Hand an seinem Pimmel herum. Ohne Spiegel findet er ihn wahrscheinlich nicht. Sah nicht besonders groß aus. Vielleicht so“, berichtete die Zweite und hielt dabei Daumen und Zeigefinger in die Höhe.

„Dabei gibt er immer derart an damit, dieser Aufschneider. Hat er dich bemerkt?“, plusterte die eine wieder.

„Die Alten bewahren mich davor. Als er anfing zu stöhnen, bin ich schnell wieder aus dem Zimmer geschlichen, bevor er über mich herfällt. Zum Glück habe ich jetzt Küchendienst und muss das Zimmer heute nicht mehr putzen“, antwortete das zweite Küchenmädchen, während beide die Spülküche wieder verließen.

Wenig später trugen einige Diener das schmutzige Geschirr vom Frühstück herein und stapelten es auf einem der Tische an der Wand. Nomo beugte sich noch ein wenig tiefer über den Waschtrog. Viele der Diener hatte sie schon einmal gesehen. Sie fürchtete, die Diener würden sie ebenfalls erkennen. Doch keiner würdigte sie auch nur eines Blickes. Zwei ältere Frauen mit grauen Schürzen füllten einen weiteren Waschtrog mit heißem Wasser. Nomo blickte ein wenig sehnsüchtig auf den dampfenden Trog, ihr Wasser war inzwischen kalt. Keine wirklich guten Voraussetzungen für saubere Töpfe.

„Wenn ich diesen Berg an Geschirr sehe, beneide ich die Zimmermädchen“, begann die eine der Frauen, „ein paar Stunden mit dem Staubwedel durch die Räume ziehen und schon ist ihre Arbeit getan“

„Es kommt darauf an, durch welche Räume man zieht. Zosel hat sich letztens einige Hiebe eingefangen, weil sie Isis Goldkinder zur Räson bringen wollte. Die Quälgeister hatten hinter ihrem Rücken den Staub wieder in den Zimmern verteilten. Natürlich sind sie daraufhin gleich heulend zu ihrer Mutter gerannt. Und die versteht bekanntlich keinen Spaß, wenn es um ihre Lieblinge geht“, entgegnete die andere Frau.

„Da hast du recht. Nicht einmal der König wagt es, seinen Söhnen eine Maulschelle zu verpassen“, stimmte die erste Frau zu.

„Ich verstehe ohnehin nicht, warum er sich das alles von Isi gefallen lässt. Warum jagt er sie nicht einfach davon?“, meinte die zweite Frau.

„Das weiß ich auch nicht. Er kann sich ja nicht einmal sicher sein, dass die Prinzen von ihm sind. Isi treibt es ja beinahe mit jedem Beseelten. Schlimmer als die Hohepriesterin. Derzeit vögelt sie mit Kirai herum. Ob die Idee mit dem Blutrichter von Isi stammte? Mal sehen, wie lange er seinen Kopf noch auf den Schultern trägt“, sagte die erste Frau.

„Da kann einem nur die Prinzessin leidtun. Sie ist so ein unschuldiges Mädchen, Kirai betrügt sie bereits vor der Hochzeit“, seufzte die andere Frau.

„Ich werde ihn niemals heiraten!“, stieß Nomo hervor.

Die beiden Frauen blickten sich verdutzt zu ihr um. Nomos Gesicht lief rot an. Sie drehte sich weg, zog den Kopf noch ein wenig tiefer zwischen die Schultern und schrubbte den Topf besonders heftig.

„Was?“, fragte eine der Frauen.

„Ich meine, an Stelle der Prinzessin würde ich Kirai nicht heiraten“, sagte Nomo leise.

„Wie soll sie das anstellen, sie ist ihm versprochen“, entgegnete die Frau.

***

Ängstlich verkroch sich Pst hinter einem der Pfeiler, als sie die stählerne Schlange – wie Pst das Ungetüm nannte – kommen hörten. Kex versteckte sich nicht, schließlich hatte er nun bereits drei Begegnungen mit der Schlange überlebt. Es war eine Maschine der Alten, beängstigend groß und ohrenbetäubend laut, aber nicht hinter ihnen her. Warum sie noch immer funktionierte, wusste Kex nicht. Im Licht ihrer Augen, betrachtete er kurz die Wunde an seinem Arm. An den Rändern bröckelte bereits der Schorf ab, nicht mehr lange und einzig eine lange Narbe würde daran erinnern. Dann sauste die Schlange vorbei, Kex hielt sich die Ohren zu. Wie immer erschien die Dunkelheit danach viel intensiver. Beinahe völlige Schwärze, bis sich die Augen daran gewöhnt hatten und zumindest einige Konturen wahrnahmen. Aber auch nach Tagen hier unten – wie viele konnte Kex nicht sagen – fühlte er den Weg mehr, als das er ihn sah. Die seltsam leuchtenden kleinen Pilze, die er von Pst bekommen hatte, halfen wenig. Ohne Pst wäre er verloren. Der alte Zausel hatte ihn aufgepäppelt, seine Wunden versorgt, ihn manchmal – als Kex in fiebrigen Träumen lag – sogar gefüttert. Noch heute erschien Kex dies einfacher, als bei vollem Bewusstsein die Käfer und Würmer herunterzuwürgen, die Pst ihm brachte. Meist lebten sie noch. Kex schüttelte es leicht bei dem Gedanken.

„Junge wie Pst“, pflegte der alte Mann dann immer zu sagen, „Junge und Pst essen keine Menschen“

Auch jetzt brabbelte der Alte leise vor sich hin, sprach von sich in der dritten Person. Er nannte sich selbst Pst, kein richtiger Name, aber der Einzige, den er offensichtlich kannte. Kex hatte ihn nach seinem richtigen Namen gefragt, ohne Erfolg. Mit seiner bisweilen schusseligen Art, erinnerte Pst ihn ein wenig an Chak, für den Kex als Kind Artefakte der Alten gesammelt hatte. Vielleicht projizierte Kex aber auch nur seine Wünsche. Es war das erste Mal, dass Kex ihn auf einem seiner Streifzüge begleitete. Kex fühlte sich ausreichend erholt dafür. Schließlich musste er langsam lernen, sich hier allein zurecht zu finden. Sicher, Pst genoss Kex Gesellschaft offenkundig, sorgte hingebungsvoll für ihn. Doch Kex widerstrebte diese Abhängigkeit zutiefst. Wenn es wirklich darauf ankam, stand jeder für sich allein. Außerdem konnte Kex nicht ewig hier unten in diesen Katakomben leben, die Dunkelheit ertrug er schon jetzt kaum noch. Er wollte zurück an die Oberfläche, zurück in die Stadt. Auch wenn dies bedeuten könnte, Esrin gegenübertreten zu müssen. Ein kalkulierbares Risiko, verglichen mit einem Leben hier unten. Pst kannte einen Weg in die Stadt, da war sich Kex sicher. Zumindest wurde der alte Mann immer recht still und gebärdete sich noch ängstlicher als sonst, wenn Kex danach fragte.

„Gebiet der Menschenfresser“, flüsterte Pst plötzlich, „Haben gute Ohren, feine Nasen. Junge muss ganz leise sein“

Noch immer nannte Pst ihn Junge, nach unzähligen Versuchen verbesserte ihn Kex nicht mehr. Wohl eine der vielen Eigenarten von Pst, so wie die Selbstgespräche, oder dass er sich auf dem Zeigefinger herum kaute, so wie jetzt. Sie schlichen nun durch die Gänge, beim kleinsten Geräusch blieb Pst kurz stehen und lauschte angestrengt. Erst wenn er sich sicher war, dass sie keinem der Menschenfresser in die Arme liefen, gingen sie weiter. Das wenigste hier unten war natürlichen Ursprungs. Vielmehr schienen diese ganzen Katakomben eine einzige riesige Ruine der Alten zu sein. Eben betraten sie zum Beispiel eine eher flache Halle, die von unzähligen Pfeilern gestützt wurde. Vereinzelt glimmten oder flackerten einige Lichter der Alten. Chak hatte Kex einmal erzählt, dass die Alten damit die Nacht zum Tag gemacht hatten. Wie sie genau funktionieren, hatte aber auch Chak nicht erklären können. Immerhin konnte durch die Lichter auch Kex etwas erkennen. Die Halle ähnelte dem Kerker im Palast, nur dass hier niemand Mauern zwischen den Pfeilern errichtet hatte. Ein Muster aus Strichen und Pfeilen schmückte den Boden. Verstreut standen einige völlig verrostete … nun ja, Karren. Zumindest hatten sie Räder. Sie waren jedoch komplett geschlossen und Kex fragte sich, wo die Alten die Ochsen festgemacht haben mögen. Aber wer weiß, vielleicht fuhren sie – so wie die stählerne Schlange noch heute – von ganz allein und benötigten gar keine Ochsen. Kex ging näher zu einem der Karren hin und blickte durch die Scheibe ins Innere.

„Maschinen der Alten gefährlich wie Menschenfresser. Junge nicht anfassen“, flüsterte Pst leise und zog Kex weiter.

Sie ließen die Halle hinter sich und die Dunkelheit kehrte zurück. Der schwache Schimmer der Pilze reichte nicht einmal bis zu den Wänden. Doch wenig später entdeckte Kex am Ende eines Seitenganges erneut Licht, sehr helles Licht. Kex bog in den Gang ein, Pst zog ihn am Ärmel zurück.

„Gefährlicher Ort. Menschenfresser dort. Junge und Pst nicht diesen Weg gehen“, warnte er.

Kex ließ sich nicht beirren, ging den Gang weiter. Pst folgte ihm, zitterte dabei aber vor Angst, zupfte Kex immer wieder an den spärlichen Resten seines Hemdes. Sie krochen auf allen vieren durch ein nur reichlich hüfthohes Rohr. Dahinter öffnete sich ein Spalt und Kex stand in einem riesigen Raum. Der Boden war gefliest, unweit wand sich ein überdimensionierter Schlauch nach oben, ein großes, rundes, größtenteils zerbrochenes Fenster in der Decke gab den Blick in den Himmel frei. Mehrere Stockwerke über ihnen klapperten plötzlich Türen, Stimmen waren zu hören. Pst riss an Kex Kleidung.

„Menschenfresser bald hier sein. Junge mitkommen, geschwind, geschwind“, jammerte er und kroch bereits zurück durch das Rohr.

Als Kex aus dem Dunkel des Ganges die seltsam tapsenden Schrittgeräusche vernahm, folgte er Pst. Sie bogen gleich hinter dem Rohr in eine schmale Nische ein, eigentlich nur ein Felsspalt, kaum breit genug, dass Kex hindurch passte. Enge, Kex spürte seinen Atem. Die tapsenden Geräusche kamen näher, stoppten, in der großen Halle johlte jemand. Schauriges Geheul dutzender Stimmen – einige ganz nah – antwortete aus den Gängen. Pst blieb stehen, sie steckten in einer Sackgasse. Kex hielt den Atem an. Irgendein Tier kroch über seinen Nacken.

„Ich rieche Fleisch hier“, sagte eine tiefe Männerstimme.

„Unsinn, das Fleisch kommt von oben“, widersprach eine andere.

Jemand schrie in der Halle entsetzt auf. Eine junge Stimme, Kex kam sie bekannt vor. Der Schrei wurde gedämpft, es polterte, noch mehr Menschen johlten, noch mehr Geheul antwortete, auch die Männerstimmen gleich neben Kex und Pst.

„Das Fleisch kommt“, sagte eine der Männerstimmen.

Dann entfernten sich ihre tapsenden Schritte. Schritt, Schritt, Klack, taptap … Der Schrei war wieder deutlich zu hören, verstummte mit einem dumpfen Aufprall. Kurz darauf jammerte jemand vor Schmerz und Entsetzen, rief um Hilfe. Kos, schoss es Kex durch den Kopf.

„Das ist Kos. Wir müssen ihm helfen“, rief Kex und machte einen Schritt aus der Felsspalte.

Pst hielt ihn mit aller Kraft zurück. Tapsende Schritte kamen schnell näher, stoppten am Eingang des kleinen Seitenganges, an dessen Ende sich Pst und Kex versteckt hielten. Kex versuchte sich loszureißen, doch Pst krallte an seinem Arm.

„Hab doch gesagt, hier ist Fleisch“, sagte die tiefe Männerstimme.

Kex hatte es wenigstens geschafft, seinen Kopf zu drehen. Im diffusen Gegenlicht am Eingang des Tunnels erkannte er eine massive Gestalt. Sie hielt etwas in der Hand, es sah aus wie eine Keule. Die Gestalt schnüffelte in den Gang hinein. Noch immer wimmerte und schrie Kos aus der Halle, Kex konnte es kaum ertragen. Plötzlich gab es einen dumpfen Schlag, etwas knackte, Kos Stimme erstarb abrupt. Es folgte wieder lautes Geheul. Kex bekam eine Gänsehaut.

„Komm. Sonst andere alles allein essen und wir hungern“, forderte eine Stimme neben der Gestalt am Eingang.

„Gut. Wir suchen später! Aber nichts den anderen sagen, ist unser Fleisch hier“, antwortete die Gestalt.

Dann befestigte sie die Keule irgendwie an ihrer Hose und rannte davon. Dabei stützte sie sich aller paar Schritte mit den Händen am Boden ab, hoppelte ähnlich wie ein Hase, bevor sie mit wiegendem Gang weiterlief. Die Keule klapperte auf den Stein. Schritt, Schritt, Klack, taptap … Gleich darauf folgte eine zweite Gestalt. Beide verschwanden mit erstaunlicher Geschwindigkeit in dem Rohr, das zu dem großen Raum führt. Sie hoppelten, anstatt zu kriechen. Kaum waren sie verschwunden, stupste Pst Kex an, schob ihn aus der Spalte. Auf Zehenspitzen schlich er an Kex vorbei, sobald der schmale Tunnel es zuließ. Kex folgte ihm ebenso leise. Zurück in den Hauptgang, dann weiter in die flache Halle. Sie hatten die Halle beinahe durchquert, als zwei untersetzte Gestalten hinter jeweils einer der Säulen hervor sprangen und sich ihnen in den Weg stellten. Pst wich ängstlich zurück, kaute wild auf seinem Zeigefinger und suchte panisch nach einem Ausweg. Kex drängte ihn zu einem der Lichter, dort wo man besser sehen konnte. Die Gestalten trugen jeder eine Keule in der Hand. Im Lichtschein erkannte Kex, das es Kinder waren, wohl kaum älter als zehn bis zwölf Jahre. Sie schwangen ihre Keule über dem Kopf und stürmten auf ihn zu. Noch war Kex geschwächt, hatte seine frühere Kraft und Schnelligkeit nicht wieder erreicht. Doch die Erfahrung unzähliger Keilereien auf den Straßen der Stadt zahlte sich nun aus. Die beiden Kinder droschen wahllos mit ihren Knüppeln in seine Richtung, Kex gelang es stets, den Schlägen auszuweichen. Mit einer Finte schaffte er es hinter einen der Jungen. Der andere Junge drehte sich um und schlug wieder zu, traf dabei anstatt Kex aber seinen Kumpanen. Dieser ging ächzend zu Boden. Die Überraschung des Jungen nutzte Kex aus, packte dessen Keule und rammte ihm seinen Ellenbogen mit voller Wucht ins Gesicht. Der Kiefer des Jungen knackte, er wimmerte und sank auf die Knie. Pst rannte im gleichen Moment davon.

„Pst Angst! Junge kommen, geschwind, geschwind“, rief er Kex zu.

Kex stand, den Knüppel des Jungen noch in der Hand, über den Jungen gebeugt. Der blickte ihm ängstlich entgegen, schloss dann die Augen, als würde er den finalen Schlag erwarten.

„Geschwind, geschwind“, rief Pst noch einmal leise, „Andere Menschenfresser bald hier sein“

Kex zerrte den Jungen auf die Füße und schleifte ihn mit sich mit. Pst schaute ihm entsetzt zu, wie ein Reflex wanderte sein Zeigefinger in den Mund.

„Ist Menschenfresser, wird uns töten und essen“, sagte er.

„Er ist nur ein Kind“, antwortete Kex.

„Ihr tötet mich nicht?“, fragte der Junge erstaunt.

„Warum sollte ich?“, sagte Kex.

„Um zu essen!“, erwiderte der Junge, „Pa sagt immer, wer leben will, muss andere töten“

„Wir essen keine Menschen“, entgegnete Kex, „Wir leben trotzdem“

„Ihr werdet bald verhungern“, sagte der Junge.

Kex ignorierte den Einwand und zog den Jungen einfach weiter mit sich. Pst folgte ängstlich.

***

Eine neue Verkleidung, nicht ganz so schmutzig wie die erste, aber sie kratzte ebenso unangenehm auf der Haut. Hem hatte Nomo in das Outfit eines Zimmermädchens gesteckt. Ihr Auftrag, Putzen und aufräumen. Körperlich kaum eine wirkliche Herausforderung – Töpfe spülen war schwerer – und doch erschien ihr diese Aufgabe kaum lösbar. Denn hier, in den Gängen und Zimmern der Beseelten, begegneten ihr ständig Menschen, die sie kannte. Deshalb hielt sie den Kopf gesenkt, machte sich klein und tippelte schnellen Schrittes an jedem vorbei, den sie traf. Stets lauschte sie an der Tür, bevor sie eintrat. Hörte sie von drinnen das kleinste Rascheln, huschte sie schnell weiter. Bisweilen, wenn sich doch jemand im Raum befand, knallte sie die Tür einfach wieder zu und rannte davon. Trat nach ihr jemand in ein Zimmer, drehte sie sich flugs zur Wand, vermied dabei sogar Spiegel. Jedes Mal schlug ihr das Herz bis zum Hals und sie fürchtete, man könnte es pochen hören. Und wozu überhaupt diese ganze Maskerade? Nomo hatte schon den Küchendienst nicht verstanden. Wollte Hem sie auf ein einfaches Leben vorbereiten? Oder testete er nur ihre Ausdauer und ihren Mut? Sie hatte ihn gefragt. Seine Antwort? Alles und nichtssagend zugleich. Der Wert ihrer Aufgaben, was sie daraus lernen würde, läge in ihren eigenen Händen. Keine weiteren Erklärungen. Der Kontakt mit Hem war nicht einfach.

„Nomo? … Prinzessin Kind, wie seht Ihr denn aus“

In Gedanken versunken hatte Nomo Königin Isi nicht bemerkt. Nomos Gesicht lief rot an, sie machte aber dennoch einen Knicks, blickte dabei verschämt zu Boden. Wenigstens war Isi allein.

„Interessante Kleider. Ist dies der neue Trend am Hofe? Habe ich etwa die neueste Mode verpasst? … Nein halt, wie ich hörte, wurdet Ihr zuletzt des Öfteren mit Hem gesehen. Die Gesellschaft mit dem obersten königlichen Spion tut Euch nicht gut, Prinzessin. Was hat der alte Geheimniskrämer mit Euch vor?“, fragte Isi.

„Königin Isi … Ihr entschuldigt … ich muss … ich habe zu tun“, stammelte Nomo und eilte nach einem weiteren Knicks davon.

„Seid vorsichtig, Kind, wer zu viel Schmutz aufwirbelt, holt sich schnell eine Staublunge“, rief Isi ihr lachend hinterher.

Nomo flüchtete in den nächsten Raum. Die Augen geschlossen lehnte sie für ein Moment mit dem Rücken an der Tür, atmete heftig. Dann hielt sie plötzlich die Luft an, riss die Augen auf und blickte sich im Raum um. Das Zimmer war leer, Nomo entwich ein erleichterter Seufzer. Noch immer an der Tür gelehnt rutschte sie in die Hocke, vergrub ihr Gesicht in den Händen. Königin Isi würde diese kleine Begebenheit sicher überall herumerzählen, Nomos Mutter, ihr Vater würden davon erfahren. Sie wären entsetzt. Und wofür das alles? Nomo stand auf, schniefte und wischte mit Tränen in den Augen über eine Kommode. Was sollte Nomo das Zimmermädchen hier entdecken, das Nomo die Prinzessin übersah? Sie hatte dieses Zimmer schon hunderte Mal besucht, es war das Arbeitszimmer ihres Vaters. Schon als Kind hatte sie hier manchmal gespielt. Gedankenverloren schlenderte Nomo am langen Bücherregal vorbei, ihre Finger glitten dabei über die Buchrücken. Eines der Bücher gab unter ihrem leichten Druck ein wenig nach. Ein kurzer, kaum wahrnehmbarer Klick war zu hören. Nomo versuchte das Buch herauszuziehen, doch es klemmte fest. Sie drückte etwas stärker gegen den Buchrücken. Es ertönte ein nun deutliches Klickgeräusch und mit Knarzen schwang ein Teil des Bücherregals zur Seite. Dahinter führte eine schmale Treppe in die Tiefe. Neugierig steckte Nomo ihren Kopf am Regal vorbei, die Stufen der Treppe verloren sich in der Dunkelheit. Als sie hinter sich vom Gang her die Stimme ihres Vaters hörte, schreckte sie zurück, schubste dabei das Regal wieder in seine normale Position. Dann rannte sie los. Zu spät. Denn auch ihr Vater hatte die Tür bereits erreicht. Fast panisch blickte sie sich um, beinahe wäre sie unter den Tisch gekrochen. Die Tür öffnete sich. Nomo sprang im letzten Augenblick zur Seite, drehte sich zur Wand. Mit zittriger Hand polierte sie den alten Schrank, in dem sie sich als Mädchen manchmal versteckt hatte. Heute war er zu klein für sie. Ihr Vater lief an ihr vorbei, ohne sie zu beachten. Hinter ihm kam ein weiterer Mann ins Zimmer. Sein Gesicht spiegelte sich einen Moment in der Schranktür. Hem. Er hob kurz die Augenbrauen, ein Lächeln huschte über sein Gesicht, so schien es.

„Kolat ist als Großwesir völlig ungeeignet. Warum protegiert Ihr ihn, Hem? Schließlich hat er meinen Bruder in die Einöde geschickt“, sagte der König, während er sich in den Sessel hinter seinem Schreibtisch fallen ließ, „Feinde muss ich nicht noch in mächtige Positionen heben“

„Mit Verlaub, mein König, niemand hat Houst in die Einöde geschickt, er ist freiwillig gegangen. Dabei hat ja nicht er Eure Tochter entführt. Sein Motiv mag aus seiner Sicht konsequent erscheinen, für das Königreich ist sein Weggang ein herber Verlust“, antwortete Hem.

Nomo horchte, hielt sogar die Luft an. Wut und Trauer stiegen in ihr auf. Ihr Onkel hatte ihr Vertrauen missbraucht, sie entführt. Und jetzt sollte das doch nicht wahr sein? Er hatte es zugegeben. Andererseits, wieso sollte Hem ihren Vater belügen, er arbeite für ihn. Sie hatte sich nicht einmal von Houst verabschiedet.

„Wie immer seid Ihr gut informiert, Hem. Was wisst Ihr noch in dieser Angelegenheit? Na egal, es ist ohnehin zu spät. Mein Bruder ist bisweilen ein dickköpfiger alter Narr. Ich habe versucht, ihm die Sache auszureden“, sagte der König.

„Euer Bruder hinterlässt eine große Lücke, mein König. Er war ein Garant für die Stabilität unseres Königreichs. Ihr solltet diese Lücke schnell schließen. Kolat mag Euch nicht als vertrauenswürdig erscheinen, und wahrscheinlich habt Ihr damit sogar recht, doch bisher hatte er stets ein offenes Ohr für die notwendigen Belange des Königreichs. Außerdem genießt er hohes Ansehen, Ihr solltet ihn bei der Wahl nicht einfach übergehen. Er könnte sich letztlich offen gegen Euch wenden und andere in Versuchung führen“, meinte Hem.

„Houst hat einen Scherbenhaufen hinterlassen! Offensichtlich war ihm seine Nachfolge egal, niemand kann ihn ersetzen. Er hat sich zu früh verabschiedet. Was ist mit meiner Tochter, macht sie Fortschritte? … Schaut mich nicht so erstaunt an, Hem, ich weiß, dass Ihr sie in Eure Dienste genommen habt“, wollte der König wissen.

„Nun wie ich höre, seid auch Ihr gut informiert, mein König. Eure Tochter ist eine talentierte Schülerin. Zieht Ihr sie etwa als neuen Großwesir in Erwägung?“, fragte Hem.

„Warum nicht? Sie würde mich zumindest nicht hintergehen“, entgegnete der König.

Nomo fiel vor Schreck der Lappen aus der Hand. Schnell hob sie ihn wieder vom Boden auf und putzte weiter. Sie zitterte dabei.

„Könnte sie dasselbe auch von Euch erwarten, mein König?“, fragte Hem.

Der König zog finster die Augenbrauen zusammen. Nach einem Moment hob Hem abwehrend die Hände, legte den Kopf leicht zur Seite.

„Entschuldigung, mein König, ich wollte Euch nicht beleidigen. Nur, die Prinzessin ist zu jung und unerfahren für diese Aufgabe. Sie wäre ein Spielball höfischer Intrigen. Ihr würdet Euch selbst keinen Gefallen damit tun“, widersprach Hem.

„Ein Spielball? Hem, sie ist Eure Schülerin! Gebt Ihr so wenig auf Eure Fähigkeiten als Lehrer?“, fragte der König.

„He Mädchen, bring uns Wein!“, befahl er dann an Nomo gerichtet.

Nomo vollführte einen schnellen Knicks, ohne sich zu ihrem Vater umzuwenden. Dann rannte sie fast aus dem Arbeitszimmer. Ihr Vater überlegte tatsächlich, sie zum Großwesir zu machen. Dabei verstand sie von Politik genauso viel wie vom Spionieren. Sie betete zu den Alten, dass Hem es ihm ausreden konnte.

***

„Iiih, Würmer“, rümpfte der Junge die Nase, „Ich mag keine Würmer essen“

Zugegeben, das Häufchen sich windender Würmer, durchsetzt mit ein paar krabbelnden Insekten und Spinnen, sowie einigen leicht lumineszierenden Pilzen, sah selbst im Dunkeln nicht besonders appetitlich aus. Allerdings hatte sich Kex bereits daran gewöhnt, der Hunger war inzwischen ohnehin stärker als der Ekel. Und schließlich konnte man kaum erkennen, was genau man sich da in den Mund stopfte.

„Würmer oder hungern, Menschen gibt es nicht“, entgegnete Kex nur kurz.

Wie brachte man einem Kind bei, dass Menschen eigentlich nicht auf dem Speisezettel anderer Menschen stehen. Für Kex war dies selbstverständlich, ihm bereitete allein die Vorstellung Übelkeit. Der Junge aber kannte anscheinend nichts anderes.

„Kleiner Junge Menschenfresser, großer Junge muss ihn wegschicken“, zeterte Pst, „Kleiner Junge wird uns erschlagen, wenn wir schlafen. Kleiner Junge wird uns essen“

Wo die Menschenfresser herkamen, wusste weder Pst noch der Junge. Die Große Halle – die Grube, wie Pst Kex aufklärte – war ihr Futtertrog. Kos füllte wahrscheinlich bereits ihre Mägen. Einfach nur widerlich. Nicht einmal der schlimmste Abschaum der Stadt käme auf eine derart perverse Idee. Und niemand verdiente ein solches Schicksal. Allein für die Existenz der Grube hätte Kex die Prinzessin in der Einöde zurücklassen sollen. Die Beseelten waren allesamt grausame Mörder. Kos hatte mit Nomos Entführung doch gar nichts zu tun, wollte ihr sogar helfen. Sein Tod war nicht fair. Doch Wut half Kex jetzt nicht weiter. Ihm gegenüber saß noch immer ein Junge, im selben Alter wie Kos, ein Junge für den er, Kex, nun verantwortlich war. Der Junge stocherte unschlüssig mit den Fingern in seiner Portion Würmer herum, führte dann einen kleinen Happen zur Nase und roch daran. Kex drehte sich ein wenig weg, tat so, als würde er es nicht bemerken. Wie selbstverständlich, und mit gespielt großen Appetit – das hieß, ohne wie sonst bei jedem Bissen das Gesicht zu verziehen – aß er. Ja Kex leckte sich sogar am Ende die Finger ab. Aus den Augenwinkeln sah er, wie der Junge die ersten Würmer in den Mund steckte, vorsichtig darauf herum kaute und sie dann hinunter schluckte. Ein kleiner, aber wichtiger Erfolg.

„Würmer schmecken gut“, sagte Pst, „Würmer schmecken besser als Menschen“

„Würmer sind bäh!“, entgegnete der Junge trotzig und spuckte den letzten Bissen wieder aus.

Manche Erfolge wehren nicht lange. Pst war aufgesprungen. Seinen Zeigefinger im Mund lief er am Rand ihres kleinen Lagers auf und ab. Ein sicheres Zeichen, dass er große Angst hatte.

„Kleiner Junge wird uns essen. Aber großer Junge gut. Pst muss sich um großen Jungen kümmern. Pst kann nicht weglaufen“, murmelte er, „Pst mit großem Jungen weggehen. Pst großem Jungen den Weg zeigen. Großer Junge schon nach Weg gefragt. Pst nichts sagen“

Kex stand ebenfalls auf, stellte sich mit verschränkten Armen vor den Jungen. Dieser blickte nicht einmal zu ihm auf. Die Lippen zusammengepresst beugte sich Kex plötzlich zu ihm hinunter, packte ihn am Hemd und zog ihn ein Stück zu sich heran.

„Würmer oder hungern“, zischte Kex noch einmal.

„Die anderen werden mich holen kommen! Dann muss ich keine Würmer mehr fressen“, rief der Junge.

„Wenn die anderen großen Hunger haben, essen sie vielleicht dich“, erwiderte Kex und ließ den Jungen los.

„Papa beschützt mich, lehrt mich kämpfen. Ich bin stark. Stark genug, andere zu besiegen. Euch werden wir essen“, beharrte der Junge.

„Wenn du stark bleiben willst, solltest du deine Würmer essen“, blaffte Kex den Jungen an und ging zu Pst hinüber.

***

Dieser Tag gehörte ihr. Eigentlich sollte sie jetzt Hem und ihren Vater in die Stadt begleiten. Der König hörte sich heute die Sorgen der kleinen Leute an. Hem fand das eine ausgezeichnete Gelegenheit, die Stimmung im Volk einzufangen. Doch ihre Mutter, Lady Lebell, hatte vehement darauf bestanden, dass Nomo den Palast nicht verließ. Dabei hätte Nomo diese Aufgabe gefallen, ein Aufgabe, bei der sie endlich einmal sie selbst gewesen wäre und nicht irgendeine Dienstmagd. Unter dem Vorwand, einfach nur einen Spaziergang in den Gärten zu unternehmen, verabschiedete sie sich von ihrer Mutter. Die königlichen Gärten waren voll mit verwinkelten Wegen, kleinen Lauben und einigen Heckenlabyrinthen. Auf dem Weg hindurch schüttelte Nomo ihre beiden Leibwächter ab. Noch ein kleiner Abstecher in Hems Kammer, wo sie sich robuste Kleider und eine Fackel auslieh, und schon schlich sich Nomo unbeobachtet in das Arbeitszimmer ihres Vaters. Nach einigen Fehlversuchen fand sie das Buch, das gar keines war. Klick und das Regal sprang auf. Eine Fackel mitzunehmen, wäre nicht einmal notwendig gewesen, in einer Nische gleich neben dem Eingang stapelte sich ein ganzer Vorrat. Nomo zündete ihre Fackel an, zog das Regal wieder in seine Position und stieg dann die schmale Treppe hinunter. Die Treppe endete, ein schmaler Gang folgte, eine Kreuzung – Nomo entschied sich für den Weg nach rechts –, erneut eine Treppe nach unten, wieder Gänge, neue Kreuzungen. Längst vergessene Wege. Gedämpfte Stimmen, deren Worte man kaum verstehen konnte, waberten durch die Luft. Hier und da gab es eine Tür, die sich Nomo aber nicht zu öffnen getraute. Es erschien ihr zu riskant, herauszufinden, wer oder was sie im Raum dahinter erwartete. Sie hörte das Klappern von Töpfen, sie musste in der Nähe der Küche sein. Dann endete der Gang, ein rundes Loch im Boden mit einer Leiter führte weiter in die Tiefe. Feuchte Luft zog von dort herauf. Nomo zögerte einen Moment, stieg dann jedoch hinab. Die Leiter war lang, endlos lang, und beinahe wäre Nomo umgekehrt, als sie schließlich doch den Boden erreichte. Erneut Gänge, diesmal waren sie Rund, Schläuche aus Stein, und sehr alt, wahrscheinlich aus der Zeit der Alten. In manchen konnte Nomo nur gebückt gehen. Es gab auch weitere Leitern. Durch manche der Röhren floss ein kleines Rinnsal stinkenden Wassers. Manchmal hörte Nomo entfernt Geräusche, als renne jemand durch die Gänge. Es klang seltsam, irgendwie falsch. Schritt, Schritt, Klack, tiptap. Schritt, Schritt, Klack, tiptap… Wahrscheinlich nur das Echo ihrer eigenen Schritte. Doch die Geräusche stoppten nicht, wenn Nomo stehen blieb. War noch jemand hier unten? Wieder ein rundes Loch im Boden gab den Blick in eine größere Höhle unter ihr frei. Die Leiter, die nach unten führte, war abgebrochen. Die Reste baumelten mehrere Meter über dem Boden der Höhle in der Luft. Im Augenwinkel sah Nomo einen dunklen Schatten vorbeihuschen. Er verschwand in einer Röhre in der Wand der Höhle. Zu groß für eine Ratte. Nomo hielt die Fackel in das Loch, lauschte eine Weile. Nichts rührte sich mehr, die Geräusche hörten auf, Stille. Sie schüttelte kurz den Kopf und lief dann weiter. Als sie plötzlich an einer Kreuzung deutlich Stimmen hörte, zuckte sie zusammen.

„Pst weiß nicht mehr. Pst hat vergessen“

„Du hast nur Angst“

„Kex?“, flüsterte Nomo zu sich selbst und horchte noch einmal genauer.

„Du willst mir den Weg nicht zeigen, weil du Angst hast“

„Kex!“, rief Nomo laut.

Doch ihr Ruf wurde von einem lauten Rattern übertönt. Der Boden unter ihren Füßen vibrierte. Vor Schreck suchte Nomo an der Wand halt. Sie fürchtete, der Gang könnte einstürzen. Nach wenigen Augenblicken entfernte sich das Rattern, verschwand schließlich ganz. Aber auch Kex Stimme hörte sie nicht mehr, einzig ein Wassertropfen, der vor ihr auf den Boden platschte, durchbrach die Stille.

„Kex!“, rief Nomo noch einmal.

Sie bekam keine Antwort. Wenig später erreichte Nomo eine Leiter nach oben. An deren Ende führte eine Öffnung ins Freie. Einige Grasbüschel wuchsen an deren Rand. Tageslicht fiel herein, auch wenn nur einen knappen halben Meter oberhalb der Öffnung Bretter den Weg versperrten. Eine Katze fauchte erschrocken auf, als Nomo ihren Kopf aus der Öffnung steckte, und rannte dann davon. Nomo löschte die Fackel und kroch unter den Brettern hervor. Sie stand in einer schmalen Seitengasse, mitten in der Stadt.

***

Von dem Jungen fehlte jede Spur. Kex suchte im weiten Umkreis um das Lager, stöberte einige Gänge entlang, ohne Erfolg. Anfangs hatte ihn Pst begleitet, jetzt wartete der alte Mann im Lager. Ohnehin gab sich Pst über das Verschwinden des Jungen weit weniger aufgeregt als Kex. Vielleicht hatte der alte Zausel den Jungen einfach davon gejagt. Schwer vorstellbar zwar, so ängstlich wie Pst sich bisweilen zeigte, doch was wusste Kex schon. Ist die Angst nur groß genug, schlägt sie womöglich auch bei Pst in verzweifelte Wut um. Aber egal ob Pst ihn nun verjagt, oder er sich einfach nur davongeschlichen hatte, der Junge war weg. Kex gab seine Suche auf. Mit hängenden Schultern schlich er zum Lager zurück. Er empfand das Verschwinden des Jungen als persönliche Niederlage. Wut und Trauer vermischten sich. Als Retter eignete er sich offensichtlich nicht so gut. Ja, er hatte sich eingebildet, den Jungen vor diesem armseligen Schicksal als Menschenfresser retten zu können, wollte ihn aus dieser Dunkelheit befreien. Dabei wusste er nicht einmal, ob er es selbst jemals wieder an die Oberfläche schaffen würde. Immerhin dafür gab es einen Hoffnungsschimmer, Pst hatte eingewilligt, ihm den Weg zu zeigen. Das galt natürlich nur, solange sich der launische alte Mann noch an sein Versprechen erinnerte.

„Können wir gehen?“, fragte Kex als er ins Lager zurückkehrte.

„Pst hat Würmer gesammelt, besondere Würmer. Sehr lecker“, antwortete Pst.

„Hör mal Pst, du hast gesagt, du kennst den Weg in die Stadt. Du wolltest ihn mir zeigen“, sagte Kex.

„Pst erinnert sich nicht. Pst kennt keinen Weg. Böse Männer warten in der Stadt, werden Jungen und Pst töten. Besser bleiben hier unten. Böse Männer kommen nicht hierher, haben Angst vor stählerner Schlange und vor Menschenfressern. Junge sollte jetzt seine Würmer essen“, sagte Pst, während er sich schon wieder seinen Zeigefinger zwischen die Zähne klemmte.

„Gut, wenn du nicht willst … Zur Grube finde ich auch allein“, sagte Kex.

„Nein, Junge nicht gehen. Menschenfresser warten in Grube. Grube ist nicht Weg in die Stadt. So leckere Würmer“, bettelte Pst und hielt Kex eine Handvoll weiß schimmernder, sich windender Maden entgegen.

„Dann zeige mir den richtigen Weg. Du hast es versprochen!“, beharrte Kex, nahm aber einige der Maden aus der Hand von Pst.

Sie schmeckten tatsächlich besser, als die Würmer, die bisher auf dem Speisezettel standen. Nachdem sich Pst nicht rührte, verschränkte Kex enttäuscht die Arme vor der Brust, atmete noch einmal tief durch und stapfte dann demonstrativ davon. Er hatte den ersten Gang, der vom Lager wegführte, noch nicht einmal erreicht, als ihn Pst überholte.

„Hier entlang, geschwind, geschwind“, flüsterte der alte Zausel.

Sie wanderten für Stunden. Dieser Teil der Katakomben war Kex völlig neu. Sie kamen in Keller, vollgestopft mit Kabeln, Rohren und Maschinen der Alten. Manche Räume und Gänge waren hell erleuchtet, andere lagen in diffusem Halbdunkel, die meisten aber waren so finster wie der überwiegende Rest der Katakomben. Einige wenige Maschinen brummten leise vor sich hin. An anderen blinkten winzige rote Lichter. Immer wenn sich Kex einer der Maschinen neugierig näherte, zog ihn Pst schnell weiter.

„Maschinen der Alten nicht anfassen. Töten Jungen! Gefährlich wie Menschenfresser“, quetschte er dann stets zwischen Zähnen und Zeigefinger hervor.

Letztlich blieb Pst an einer Kreuzung zweier Gänge stehen. Unschlüssig blickte er den einen Gang entlang ins Dunkel. Der Gang mündete nach wenigen Metern in einen größeren Tunnel. Kex sah dort einige kleine Funken am Boden aufblitzen. Ein deutlicher Luftzug blies ihnen entgegen.

„Müssen wir da entlang?“, fragte Kex.

„Pst weiß nicht mehr. Pst hat vergessen“, antwortete Pst

„Du hast nur Angst. Du willst mir den Weg nicht zeigen, weil du Angst hast“, entgegnete Kex.

Von Ferne rumpelte die stählerne Schlange. Jemand rief Kex Namen. Wahrscheinlich bildete sich das Kex aber nur ein. Ohnehin ratterte die Schlange jetzt so laut, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstand. Die Schlange zischte vor ihnen im Tunnel vorbei. Pst rannte plötzlich den Gang entlang, dem Rattern hinterher. Kex hatte Mühe, ihm zu folgen. Sie erreichten die Schienen, vor ihnen entfernte sich die stählerne Schlange schnell. Die Augen des Ungetüms leuchteten dabei rot. Auf einem schmalen Sims an der Wand des Tunnels folgten sie ihr. Dann wurde die Schlange langsamer, wartete auf sie. Die Schlange sprach, Worte der Alten, die Kex aus der Entfernung nicht verstehen konnte. Waren die Alten gar keine Menschen? Waren es derartige Monster aus Stahl? Der Sims wurde breiter, der Tunnel öffnete sich zu einer Halle. Kex bemerkte es nicht sofort, aber er war schon einmal hier gewesen, als kleiner Junge auf der Suche nach Artefakten für Chak. Aber Erinnerungen sind trügerisch, die Details verschwimmen schnell, vielleicht glich diese Halle der aus Kex Kindheit auch nur. Zumindest zeigte der Rumpf der Schlange wie damals Löcher, Türen, und daran erinnerte sich Kex genau. Durch eine dieser Türen verschwand gerade Pst.

„Pst guter Mann. Pst bringt dir Sohn zurück, hat Jungen vor Menschenfressern gerettet. Pst Jungen die Stadt zeigen. Pst hat Angst um Jungen, böse Menschen warten in der Stadt, schlimmer als Menschenfresser. Vor Menschenfressern Pst kann dich und Jungen verstecken, vor bösen Menschen in der Stadt nicht. Keine Angst, Pst nur Jungen den Weg zeigen. Pst lässt dich nicht allein“, murmelte Pst aus dem Inneren der Schlange.

Als Kex ebenfalls in den Rumpf des Ungetüms einbog, schrak er erst einmal zurück. Pst hockte unweit der Tür neben einem Skelett. Auch hier blitzten Kex Erinnerungen auf, bei seinem ersten Besuch hatte jene Leiche noch Fleisch auf ihren Knochen.

„Schau unser Sohn. Kam von oben gefallen, kein Menschenfresser. Aber vielleicht Junge geschickt von bösen Menschen aus der Stadt, gekommen, um dich und Pst zu holen“

Pst stand auf, stellte sich heftig zitternd vor das Skelett, den angewinkelten Zeigerfinger zwischen seinen Zähnen. Die Augen aufgerissen starrte er panisch auf Kex. Kex hob beschwichtigend die Hände und trat noch einen Schritt zurück.

„Mich hat niemand geschickt“, sagte er.

Plötzlich redete die Schlange wieder, mit der Stimme einer Frau. Es klang angenehm, freundlich. Dennoch zuckte Kex leicht zusammen. Pst starrte immer noch auf Kex, schien die Stimme gar nicht wahrzunehmen. Zwar hatte Chak Kex einst die Sprache der Alten gelehrt, doch das schien Ewigkeiten her. Kex verstand nur einige der Worte.

„…Richtung … Straße bitte einsteigen …“

Dann wechselte die Stimme, es war eine andere Frau. Was sie sagte erschien Kex völlig fremd. Ein ohrenbetäubender Piepton setzte ein, Kex hielt sich die Ohren zu. Pst schrie währenddessen auf. Die Tür schloss sich. Kex wollte noch hinausrennen, doch es war bereits zu spät. Die Schlange hatte sie gefressen und setzte sich in Bewegung. Das Piepen hörte auf. Krampfhaft klammerte sich Kex an einer Stange fest, Pst schrie noch immer. Das Ungetüm der Alten bewegte sich schneller und schneller, ratterte in die Dunkelheit. Draußen vor den Fenstern schoss der Tunnel an ihnen vorbei, erhellt vom flackernden Licht aus dem Inneren. Kex wurde schlecht, er musste sich übergeben. Wenn wenigsten Pst aufhören würde zu schreien. Die erste Frauenstimme meldete sich wieder, wurde von Pst fast übertönt.

„… rasse, der … endet … bitte alle … eigen“

Gleich darauf folgte die zweite Frauenstimme, unverständliches Kauderwelsch. Die Schlange bremste, was Kex Übelkeit noch verstärkte. Er übergab sich erneut. Schließlich kam die Schlange zum stehen, die Tür öffnete sich. Kex rannte hinaus, fiel nach wenigen Metern schwer atmend auf die Knie. Auch Pst verließ die Schlange, vorsichtig, wie es seine Art war. Endlich schrie er nicht mehr, die Stille tat gut. Nach einer Weile beruhigte sich Kex langsam, hob das erste Mal den Kopf und sah sich um. Die Halle glich beinahe der, in der sie in die Schlange eingestiegen waren. Nur brannte hier nirgends ein Licht der Alten. Wo das Licht aus dem Inneren der Schlange nicht hinreichte, herrschte Dunkelheit.

„Weg in die Stadt. Junge kann nun gehen“, sagte Pst.

Er stand an einer langen Treppe, die nach oben führte. Kex raffte sich auf, ging zur Treppe. Nach kurzem Zögern stieg er die Stufen nach oben. Pst folgte mit einigem Abstand. Leise murmelte er vor sich hin, sprach von den bösen Männern und davon, dass er Kex vor ihnen verstecken müsse. Zumindest reimte sich dies Kex aus den wenigen Satzfetzen zusammen, die er verstand. Oben angekommen, endete ein kurzer Gang als Sackgasse. Die Trümmer der eingestürzten Decke versperrten den weiteren Weg. Im ersten Reflex ließ Kex die Schultern sinken, bis er sich an diesen Gang erinnerte und zur Decke aufblickte. Dort klaffte – so wie in seiner Kindheit – noch immer das Loch, der Weg nach draußen. Ohne großartig zu überlegen, begann Kex, Trümmer vom Ende des Ganges unter dem Loch aufzustapeln. Pst sah ihm dabei zu, bei jedem Geräusch schnellte sein Zeigefinger zum Mund und Pst rannte zur Treppe, sah nach, ob nicht jemand von dort heraufstieg. Kex Aufgabe stellte sich schwerer heraus, als sie zu Anfang aussah. Viele der Trümmer klemmten fest, waren ineinander verkeilt oder schlicht viel zu schwer, um sie davonzutragen. Auch fehlte es an genügend Licht für die Arbeit. Nach etwa einer Stunde pausierte Kex, setzte sich resigniert auf eine aus den Trümmern herausragende Betonplatte und blickte auf das klägliche, nicht einmal einen halben Meter hohe Häufchen Steine, das er bisher zusammen getragen hatte. Pst stellte sich plötzlich auf den winzigen Hügel, steckte seinen Arm nach oben. Er erreichte gerade eben mit den Fingerspitzen den Rand des Loches.

„Pst Leiter für Jungen. Aber Pst hat Angst um Jungen, böse Menschen in der Stadt werden ihn fangen. Pst vor bösen Menschen geflohen, sich vor ihnen hier versteckt. Böse Menschen immer noch warten auf Rückkehr von Pst und Jungen“, sagte er.

Skeptisch musterte Kex Pst. So dünn und verhärmt der alte Mann aussah, würde er Kex Gewicht kaum tragen können. Pst verschränkte die Hände vor seinem Bauch.

„Pst Leiter für Jungen“, sagte er.

„Bist du dir sicher, dass du mich tragen kannst?“, fragte Kex.

„Junge nach oben klettern, geschwind, geschwind“, forderte ihn Pst auf, während er sich kurz nach allen Seiten umsah.

Vorsichtig setzte Kex seinen Fuß in Pst Hände, hielt sich an dessen Schultern fest. Jeden Moment fürchtete er, der alte Zausel würde aufschreien, seine Hände auseinanderreißen und davonrennen. Doch es geschah nicht. Pst zitterte, ächzte unter Kex Gewicht, als dieser langsam auf seine Schultern kletterte, aber er hielt stand. Auf Pst Schultern stehend konnte Kex ein gutes Stück in das Loch hineinreichen, fand genügend Halt, um sich nach oben zu ziehen und hindurch zu klettern. Es war eng, enger als er es in Erinnerung hatte. Vielleicht lag es aber auch daran, dass er selbst viel größer war, als damals. Endlich erreichten seine Hände die obere Kante, kurz darauf steckte Kex den Kopf aus dem Loch, wuchtete mit einer letzten Anstrengung seinen Körper hinterher. Er hatte es geschafft, er war frei, zurück in der Stadt. Beinahe hätte er vor Freude geweint. Dann fiel ihm Pst ein. Der Keller war stockfinster, Kex tastete sich auf dem Boden voran. Nach einer Weile fand er das alte Seil, nach dem er gesucht hatte. Doch als er daran zog, zerriss es in seinen Händen. All die Jahre in der feuchten Luft des Kellers, hatten es verrotten lassen. Kex beugte sich über den Rand des Loches und blickte nach unten. Dunkelheit, nirgends der schwache Schimmer der lumineszierenden Pilze, die Pst immer bei sich trug.

„Ich muss erst ein Seil holen. Ich komme wieder und hole dich nach oben, Pst? Hörst du?“, rief Kex.

Er bekam keine Antwort.

***

Ein leichtes Kribbeln breitete sich in Nomos Bauch aus, als sie durch die Stadt lief. Keine Wachen beschützten sie, niemand begleitete sie. Allein, fremd, auf sich gestellt, beängstigend und erregend zugleich. Insgeheim dankte sie Hem bereits für die Aufgaben der letzten Tage. Eine Küchenmagd, ein Dienstmädchen hielt den Kopf gesenkt, ging still ihrer Arbeit nach. So jemand fiel nicht auf, so jemand war für die meisten Menschen unsichtbar. Dies galt für den Palast, aber – wenn auch in abgeschwächter Form – ebenso für die Stadt. Die einfache, nicht eben weibliche Kleidung, die Nomo trug und die auf dem Weg durch die Tunnel unter der Stadt hier und da einen schmutzigen Flecken abbekommen hatte, tat ihr übriges. Zudem schienen die meisten Menschen mit sich selbst beschäftigt. Die Stadt zeigte sich so lebhaft wie an jenem Markttag, selbst aus der kleinsten Gasse kroch noch jemand hervor. Natürlich, heute war ihr Vater in der Stadt, ein besonderer Tag. Die Leute wollten ihren König sehen. Nomo ließ sich mit der Menge treiben, ihr Weg führte sie zum Marktplatz. Aus verwinkelten kleinen Gassen wurden schon bald breitere Straßen mit noch mehr Menschen. Letztlich öffnete sich die Straße zu einem großen Platz. Ohne die Stände der Händler sah er irgendwie nackt aus, trotz der vielen Menschen, die sich auf ihm drängten. Am anderen Ende des Platzes ragte ein etwas erhöhtes Podest auf, Nomos Vater und Hem standen darauf. Davor glitzerten die Speerspitzen der Wachen in der Sonne. Nomo war ein wenig stolz auf sich selbst. Unbemerkt von allen und ungeachtet des Verbots ihrer Mutter würde sie an diesem Ereignis teilhaben. Sie kicherte sogar bei der Vorstellung, wie sie Hem von den Geschehnissen hier berichtete.

„Er wird staunen“, sagte sie laut.

Zwei junge Männer neben ihr, schauten irritiert. Gut, dass ihr Gesichtstuch Nomos Grinsen verbarg. Sie presste die Lippen zusammen, drehte den Kopf weg und zwängte sich durch die Menge weiter nach vorn.

***

Kex tastete sich aus dem Keller nach oben. Endlich fiel ein wenig Licht durch einige Ritzen, er war im Erdgeschoß angekommen, das Haus allerdings nur noch eine eingefallene Ruine, Trümmer versperrten den Weg. Ein riesiger Haufen aus Schutt, morschen Balken und Brettern. Kex musste sich nach außen graben. Da, wo bereits Licht einen Ausgang vermuten ließ, zerrte er Steine zur Seite, rüttelte an den Balken, zerbrach Bretter, bis er endlich mit einer letzten vehementen Anstrengung durch die Trümmer ins Licht des Tages stieß. Zwei kleine Jungen, die unweit der Ruine spielten, rannten erschrocken davon.

„Mama, Mama!“, schrien sie, „Ein Geist ist aus der Ruine gekommen“

Kex kniff die Augen zusammen, schützte sie mit der Hand gegen das grelle Licht. Tränen rannen ihm über die Wangen, er benötigte eine Weile, bis er sich orientieren konnte. Er stolperte aus der Ruine auf die Straße. Ein Passant musterte ihn argwöhnisch, machte dann eilig einen großen Bogen um Kex. Kex sah an sich herab, er war beinahe nackt. Nur noch ein paar Fetzen Kleidung hingen an ihm herab, derartig verdreckt, dass sich selbst der schäbigste Bettler von ihm abwenden würde. So konnte er unmöglich länger herumlaufen, er benötigte dringend neue Kleidung. Kex zog sich zurück in den Schatten einer Nische zwischen zwei Häusern, auch weil das grelle Licht noch immer in seinen Augen brannte. Weitere Passanten zogen an ihm vorbei, alle in Richtung Markt. War heute Markttag? Nach den Wochen – oder waren es Monate gewesen – im Kerker und unter der Stadt fehlte Kex jegliches Zeitgefühl. Aber das spielte jetzt keine Rolle, zuerst musste er sich etwas zum anziehen besorgen. Kex kletterte nach oben, die Nische war dazu eng genug. Oben auf den Dächern beobachtete ihn niemand, auch wenn hier die Sonne unerbittlich auf seinen ausgemergelten Körper brannte. Am Horizont zeigten sich einige kleine Wolken, Vorboten des nahen Winters. Sie versprachen Abkühlung, Regen. Kex wanderte über die Dächer, suchte sich seinen Weg zu den Terrassen der wohlhabenderen Bürger, sprang über schmale Gassen hinweg, hoch oben über den Köpfen der Passanten. Die vielen Menschen auf der Straße versprachen einsame Wohnhäuser. Sicher war die eine oder andere Hausfrau, ein Dienstmädchen, unachtsam genug, Kleider unbeaufsichtigt zum trocknen aufgehängt zu haben. Kex musste nicht lange suchen, ein einsamer Balkon, über dessen Geländer einige Hosen und Hemden hingen, erregte seine Aufmerksamkeit. Nur Augenblicke später kratzte die neue Kleidung auf Kex Haut. Einfache Dienstkleidung – er befand sich im Handwerkerviertel –, schlicht, unauffällig und sauber, genau richtig. Ein gutes Gefühl, er war zurück im Leben. Er blickte nach Osten, da, wo der Marktplatz eine deutlich sichtbare Lücke zwischen den Dächern hinterließ. Sein nächstes Ziel, Kex Magen verlangte nach etwas anderem als Würmern und Käfern.

***

In der Nähe des Podestes drängten sich die Menschen besonders dicht. Vor Nomo baute sich eine schier undurchdringliche Mauer aus Körpern auf. Doch die Menge befand sich ständig in Bewegung, jeder versuchte, einen besseren Platz zu bekommen. Einige Kinder krochen gar zwischen den Beinen herum. Immer wieder drängelten sich einzelne, meist kräftiger Männer nach vorn, begleitet von bösen Blicken und einigen Schimpftiraden. Im Schatten jener Forschen, nutzten andere die aufgerissenen Lücken aus. So hatte es auch Nomo bis hierher geschafft. Nur wenige schienen das Podest nicht als ihr Ziel zu haben. Gerade eben stieß ein junger Mann Nomo an, drückte sie zur Seite, als er sich an ihr vorbei zwängte. Seine Kleidung roch nach frischer Seife, er selbst nach altem Schweiß. Irgendwie vertraut. Sein Weg führte ihn an den Rand des Marktplatzes. Nach einigen Metern blickte er sich um, für einen kurzen Moment sah Nomo sein unverhülltes Gesicht. Kex? Im nächsten Augenblick verschwand er zwischen den Leuten. Nomo versuchte, ihm zu folgen, doch sie wurde mit der Menge davon gespült. Sie kämpfte dagegen an, reckten ihren Hals, den jungen Mann fand sie nicht mehr. Schließlich gab sie mit einem traurigen Seufzer auf.

***

Kex kämpfte sich unter vollem Einsatz seiner Ellenbogen durch die Besucher des Marktplatzes hin zum Rand. Das Gedränge erleichterte ihm die Arbeit, jeder wurde ständig von irgendjemandem angestoßen oder zur Seite geschoben. Ein Griff in fremde Taschen fiel da nicht weiter auf. Inzwischen hatte Kex sich in genug Geldbeuteln bedient, es reichte für ein wirklich opulentes Mahl, sogar in einem der besseren Gasthäuser der Stadt. Zeit sich zurückzuziehen. Zwar konnte er niemanden der alten Bande entdecken, auch von Esrin fehlte bisher jede Spur, doch man sollte sein Glück nicht überstrapazieren. Eine derartige Gelegenheit auf gute Beute ließ sich der alte Stinkstiefel garantiert nicht entgehen. Und für eine Begegnung mit Esrin fühlte sich Kex noch nicht stark genug. An seine Zukunft mochte Kex ohnehin nicht denken, genoss er doch gerade erst seine wiedergewonnene Freiheit. Warum sich dieses Gefühl mit Sorgen zerstören. Sein Weg führte ihn weg vom Markt, hinein ins Händlerviertel. Wieso es ihn gerade hierhin trieb, wusste er nicht. Vor einem kleinen Gasthaus blieb er stehen. Hier hatte er früher mit den Jungs immer besonders erfolgreiche Raubzüge gefeiert. Es war nicht gerade exklusiv, aber gemütlich und sauber. Das Essen schmeckte hier hervorragend, das Bier auch. Also trat Kex ein. Insgeheim hoffte er wohl auch, das eine oder andere bekannte Gesicht zu sehen. Gleich am Eingang griff eine Hand nach Kex Geldbeutel. Wie unverfroren, einen Dieb bestehlen zu wollen. Ehe es sich der Dieb versah, wurde er von Kex an die Wand neben der Tür gepresst.

„Petel! Deine ungeschickten Drahtfinger werden dich noch einmal ins Grab bringen“, zischte Kex und ließ von seinem ehemaligen Kumpan ab, „Sind noch mehr von der Bande hier?“

„Wenn ihr euch prügeln wollt, geht ihr besser auf die Straße!“, warnte sie der beleibte Wirt, der eben ein paar volle Bierkrüge vorbeischleppte.

Für einen Moment musterte Petel Kex mit aufgerissenen, misstrauischen Augen. Ob er Kex dabei für eine Bedrohung oder schlicht ein Gespenst hielt, konnte Kex nicht ausmachen.

„Die Bande gibt es nicht mehr, ich bin allein“, antwortete Petel schließlich, „Und du bist eigentlich tot“

Offensichtlich hatte sich Petel für das Gespenst entschieden, mit einem Gespenst konnte man reden, vor einer Bedrohung lief man davon. Kex ignorierte Petels Bemerkung über sein Ableben – schließlich hatte dazu tatsächlich nicht viel gefehlt –, vielmehr legte er seine Hand freundschaftlich auf Petels Schulter und schob ihn sanft zu einem der freien Tische.

„Lass uns etwas essen und trinken“, sagte Kex, „Ich bin gerade erst wieder in der Stadt angekommen“

„Hatte dich Esrin wie uns aus der Stadt gejagt?“, fragte Petel, „Falls du ihn suchst, den gibt es auch nicht mehr“

Kex machte sich nicht einmal die Mühe, sein erstauntes Gesicht zu verbergen. Dies waren unerwartete Neuigkeiten. Von welchen Überraschungen würde Petel noch berichten. Das Gespräch mit ihm versprach, interessant zu werden.

***

Nur noch wenige Meter trennten Nomo und das Podest auf dem ihr Vater residierte. Nach einer anfänglichen Rede, ließ man nun ausgewählte Bürger vortreten. Ein Händler beklagte sich über zu hohe Zölle, eine ganze Abordnung von Handwerkern verlangte im Gegenzug die Zölle sollen erhöht werden, damit sie ihre Waren besser verkaufen konnten. Ein zerlumpter Landstreicher bettelte um Almosen und eine Frau mittleren Alters klagte die Stadtwache an, ihre Tochter vergewaltigt zu haben. Kleine und große Sorgen. Der König hörte sie sich an, aufmerksam, geduldig, beriet sich immer wieder mit Hem, ließ ihn Notizen machen. Nomo beobachtete ihren Vater genau, es wirkte nicht echt. Die Leute, diese Situation langweilten ihn. Doch die Bittsteller kannten den König natürlich nicht so gut wie Nomo ihn kannte. Für sie sah es so aus, als würde er ihre Sorgen ernst nehmen, als sei ihr Anliegen nun in den richtigen Händen. Es verfehlte seine Wirkung nicht. Sichtlich zufrieden trat jeder einzelne von ihnen zurück in die Menge. Die Frau, deren Tochter die Stadtwachen übel mitgespielt hatten, weinte sogar. Bisweilen hätte Nomo aufschreien können, erinnerte sie sich doch nur zu gut an die ewigen Diskussionen mit ihren Vater. Die Menschen in der Stadt sollten ihm zujubeln, seinen Thron festigen, ansonsten hielt er sie für irrelevant. Zurück im Palast würde er nichts ändern, ihm ging es nur um den guten Eindruck. Für diese Auftritte, für diesen Mummenschanz liebte ihn das Volk. Warum nur konnte man Menschen so einfach hinters Licht führen. Nomo nahm sich vor, einige der vorgebrachten Probleme selbst in die Hand zu nehmen. Der Aufruf des letzten Bittstellers riss sie aus ihren Gedanken. Ihr Vater und die Abordnung würden schon bald in den Palast zurückkehren. Nur wie sollte sie dorthin gelangen? Den Zugang zum Tunnel fand Nomo nie und nimmer wieder, sie hatte nicht einmal auf den Weg geachtet. Ein kleiner Tumult spielte ihr in die Hände. Natürlich wollten noch viele Leute ihre Bitte äußern, verlangten vorgelassen zu werden. Während die Wachen die Menge zurückdrängten, schlüpfte Nomo abseits unbemerkt durch ihre Reihen und gesellte sich zu den Bediensteten ihres Vaters. Ihr Weg in den Palast war gesichert. Erst als sie jemand an eine der Tragestange des Podestes schob, merkte sie, dass es ein verdammt schwerer Weg werden würde.

Die Legende der Alten

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