Читать книгу Nebula Convicto. Grayson Steel und die Magische Hanse von Hamburg - Torsten Weitze - Страница 6
ОглавлениеSchwingen am Horizont
Schwarzwald, St. Blasien, Ortsteil Menzenschwand, Samstag, 10. September, 10.01 Uhr
Irgendein dämonisches Wesen hatte wohl seinen natürlichen Schutz überwunden und es sich in Graysons Gehirn gemütlich gemacht, um dort laut und eindringlich auf ihn einzuschreien.
Er öffnete seine verklebten Augen und erkannte, dass der Ursprung des Geräusches außerhalb seines Verstandes zu finden war und zwar in Form seines Smartphones, das laut und hartnäckig klingelte. Ächzend hieb Grayson nach dem nervigen Ding, und als er sich aufrichten wollte, erfasste ihn ein dermaßen kräftiger Schwindel, gefolgt von einem üblen Kopfschmerz, dass er sich umgehend zurück aufs Bett fallen ließ.
Krampfhaft versuchte Grayson sich an die gestrigen Geschehnisse zu erinnern. Sie hatten den Basilisken gestellt und waren ins Gasthaus zurückgekehrt. Dem Zustand seines Kopfes nach und gemessen an den Schmerzen in Rücken und Armen, mussten sie noch von einer heimtückischen Wesenheit angegriffen worden sein, aber dem Quaestor fehlten einfach die Erinnerungen. Alles nach dem Betreten der Schankstube lag hinter einem dichten Nebel verborgen. Grayson machte sich große Sorgen, dass er Opfer eines Zaubers geworden war, obwohl er doch gegen diese Art der Magie immun sein sollte.
Da klopfte es an der Tür, und Grayson brummte so etwas wie eine Zustimmung, zumindest glaubte er das. Die Augen noch immer geschlossen, hörte er, wie jemand die schwere Eichentür öffnete und mit einem japsenden Luftschnappen ins Zimmer trat.
»Gute Güte, Sportsfreund!«, rief Morgan viel zu laut. »Welcher Güterzug hat Sie denn gerammt?« Grayson hörte, wie der Magus durch den Raum schritt. »Die Luft hier drinnen kann man schneiden, und haben Sie tatsächlich in Ihrer nassen Kleidung geschlafen?«
Der Ermittler war stolz auf sich, dass er ein eloquentes Brummen von sich geben konnte. Morgan redete weiter. »Gut, dass Richard die Heizung hochgedreht hat oder Sie hätten sich den Tod geholt. Aber auf das Aroma aus klammem Stoff und verschwitztem Quaestor kann ich gerne verzichten.« Ein Fenster wurde ruckartig geöffnet, klare, frische Luft strömte in den Raum und kitzelte Graysons Lungen. Er öffnete seine Augen einen Spalt und erblickte Morgan, der mit einem taxierenden Blick am Fußende des Bettes stand, die Hände in die Hüften gestemmt und wieder in den üblichen dunkelblauen Anzug gehüllt, der ihm das Aussehen eines Bilderbucharistokraten gab.
»Was haben Sie sich nur dabei gedacht, einen solchen Rachenputzer in einem Zug hinunterzustürzen? Richard und ich haben jahrhundertelange Erfahrung mit so einem selbstgebrauten Zeug, aber Sie musste der Schwarzgebrannte ja umhauen.«
Eine diffuse Erinnerung regte sich in Graysons Verstand. »Das in dem Glas war kein herkömmlicher Schnaps?«
Morgan lächelte belustigt. »Wir sind hier in keinem dieser edlen Wohlfühlhotels, die Sie überall im Schwarzwald finden. Viel authentischer als in diesem Gasthaus wird es nicht.«
Grayson schüttelte den Kopf, eine Geste, die er sofort bereute, als der Kopfschmerz sich augenblicklich vervielfachte.
»Warum genau sind wir überhaupt hier abgestiegen?«, fragte er ächzend. »Sonst ist Ihnen das Beste doch gerade gut genug.«
Morgan wischte sich ein imaginäres Staubkorn von der Kleidung. »Dies IST das beste Etablissement weit und breit, zumindest wenn es um magischen Schutz geht. Wir wollen schließlich unter dem Radar fliegen, und ob Sie es glauben oder nicht, dieses Gebäude steht schon sehr lange und ist über viele Generationen im Besitz einer einzigen Familie geblieben, die nie aus seinen Wänden ausgezogen ist. Das bedeutet, es besitzt tatsächlich einen Schutzgeist, und zwar den mächtigsten, den es im Umkreis von einhundert Kilometern gibt. Glauben Sie wirklich, ich würde sonst diese Matratzen ertragen?«
Grayson blinzelte den Magus eulenhaft an, während er sein Gedächtnis durchforstete. Die kalte Luft half ihm dabei, seine Gedanken zu ordnen, auch wenn seine klamme Haut in der halbfeuchten Kleidung bereits begann, merklich auszukühlen.
»Schutzgeister sind Feenwesen, die sich zu Orten großer positiver Energie hingezogen fühlen. Man fand sie früher häufig auf Dorfplätzen, an zentralen Brunnen oder in besonders gastfreundlichen Häusern vor«, zitierte er eine Passage, die ihm aus der Enzyklopedia Nebulae einfiel. »Ihre Gestalt gleicht stets landestypischen Kleintieren, wie Katzen, Hunden oder Vögeln.«
»Sehr gut, mein Bester«, strahlte Morgan ihn an. »Sie entwickeln sich ja noch zu einem richtigen Gelehrten.« Der Magus machte eine vage Handbewegung in Richtung des Ermittlers. »Wie wäre es, wenn Sie sich besonders ausgiebig frisch machen und wir alles weitere bei einem späten Frühstück besprechen? Richard hat zwar bereits den gebratenen Speck im Alleingang aufgegessen, aber ich bin mir sicher, bis Sie fertig sind, hat unsere Wirtin bereits Nachschub bereitgestellt.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, ging Morgan aus dem Raum und schloss die Tür hinter sich, damit Grayson mit seiner Verwandlung in ein zivilisiertes Individuum beginnen konnte.
Er erhob sich langsam und schlurfte ins Bad, nicht ohne vorher am Fenster stehen zu bleiben und die Luft des trockenen Herbstmorgens tief in seine Lungen zu saugen.
Selbstverständlich regnet es heute nicht, dachte er sauertöpfisch. Schließlich müssen wir heute nicht den ganzen Tag durch einen verfluchten Wald stiefeln.
Da das Licht in seinen Augen stach, drehte er sich nach einigen Atemzügen um und verschwand im Bad. Der kurze Blick in den Spiegel erschreckte ihn so sehr, dass er beschloss, erst einmal zu duschen und sich erst dann einer gründlichen Inspektion zu unterziehen. Die nächste halbe Stunde verbrachte Grayson mit einer ausgiebigen Dusche, einer gründlichen Rasur und einem Wechsel seiner Kleidung. Schließlich begutachtete er sich erneut im Spiegel und stellte zufrieden fest, dass sich das Ergebnis sehen lassen konnte. Die stechend blauen Augen wirkten nicht mehr rotumrändert, und seine scharfen Gesichtszüge waren wieder die eines gewöhnlichen dünnen Mannes. Die dunkle Lederjacke, die ihm bis zum Oberschenkel ging, verbarg seine Bewaffnung, und der dunkelgraue Hoodie gab ihm dieses joviale Aussehen, das dafür sorgte, dass er nicht sofort als Ordnungshüter wahrgenommen wurde. Schwarze Jeans und passende Sneakers vervollständigten das Bild. Als ihn sein Magen daran erinnerte, dass er seit dem gestrigen Morgen nichts mehr gegessen hatte, drehte er sich weg, um sich zu Richard und Morgan in den Speiseraum zu gesellen. Aus dem Schankraum scholl ein lebhaftes Stimmengemurmel zu dem Quaestor herüber. In dem engen Flur zum Gastraum gab es keine Fenster, sodass dieser zu jeder Tageszeit im Halbdunkel lag, sofern kein Licht eingeschaltet wurde.
Trotzdem war die schwarze Katze nicht zu übersehen, die mitten im Gang auf halbem Weg zwischen Graysons Zimmer und den lärmenden Gästen im Schankraum saß und den Quaestor aus bernsteinfarbenen Augen intensiv betrachtete.
Grayson konnte generell nicht besonders viel mit Haustieren anfangen, aber bei Katzen sah die Sache anders aus. Die kleinen Racker vertrauten nicht jedem, hatten ihren eigenen Kopf, und ihre Neugier trieb sie schon mal in Ecken, die nicht ganz ungefährlich waren. Der Quaestor war selbstironisch genug, um die Parallelen zu erkennen. Er ging in die Hocke und erwiderte stumm den Blick der Katze, die sich nach einigen Sekunden tatsächlich auf den Weg zu ihm machte. Ihr schwarzes Fell glänzte seidig, was Grayson angesichts des mangelnden Lichts seltsam vorkam. Als sie ihren Kopf an seinen ausgestreckten Händen reiben wollte, stoben bläuliche Funken auf, und da wusste er, dass er den Schutzgeist des Hauses vor sich hatte. Schnell dimmte er sein Lacunusfeld so weit herunter, wie es ihm möglich war, und als die Katze noch einmal versuchte, sich an ihm zu reiben, entstand nur ein leichtes Knistern, das in Grayson ein sanftes, angenehmes Kribbeln hervorrief und dem schwarzen Tier ein tiefes, zufriedenes Schnurren entlockte. Dann biss es einmal sanft in seine rechte Hand, ein kaum wahrnehmbares Piken, das den Quaestor zusammenzucken ließ. Das Schnurren brach ab, und die Katze verschwand ohne einen Blick zurück den düsteren Flur entlang, um dort scheinbar mit den Schatten zu verschmelzen.
Grayson erhob sich und schritt auf den Schankraum zu, während er sich gedankenverloren die rechte Hand rieb und darüber nachdachte, was diese seltsame Begegnung zu bedeuten hatte. Er wusste, dass Schutzgeister all jenen gegenüber freundlich gesonnen waren, die als Bewohner oder Gast in den Mauern des Gebäudes lebten, dem sie innewohnten. Aber normalerweise zeigten sie sich nur in Zeiten großer Harmonie, zu gelungenen Feiern oder bei Geburten im Haus. Die einzige andere Gelegenheit, zu der sie sich derart exponierten, war, wenn eine schwere Gefahr für einen der Bewohner drohte. Beunruhigt rieb sich Grayson über die kribbelnde rechte Hand und dehnte sein antimagisches Feld wieder zu seiner normalen Größe aus, während er beschloss, heute extrem wachsam zu sein. Dann trat er aus dem Schatten des Ganges hinaus in die Lebhaftigkeit des Schankraums, der bis zum Bersten gefüllt war. Neben mehr als zehn Einwohnern des Dorfes sah er mindestens acht Touristen, die es sich gerade am reichhaltigen Frühstücksbuffet gemütlich machten. Der Ermittler brauchte einen Moment, um Richard und Morgan zu finden, die sich an einen kleinen Ecktisch im hintersten Winkel der Schankstube eingerichtet hatten. Zu Graysons Freude sah er beim Durchqueren des Raumes, dass die beiden bereits einen beträchtlichen Berg an Nahrung gesichert hatten, von dem sie sich eifrig bedienten. Richard saß wie immer in seinem weißen Trenchcoat und dem roten Hemd da und wirkte in etwa so unauffällig wie ein Leuchtturm im Nebel. Morgan biss gerade in ein dick mit Butter bestrichenes, getoastetes Brot, das derart verführerisch roch, dass der Quaestor sich setzte und augenblicklich damit begann, sich Essen auf einen bereitstehenden Teller zu schaufeln.
»Auch Ihnen einen schönen guten Morgen, Grayson«, sagte Richard belustigt, und der Ermittler nickte ihm gedankenverloren zu. Es gab Rührei, gebratenen Speck, mehrere stark duftende Käse und verschiedene dicke Würste mit groben Stücken in ihrem Inneren. Der Kaffee duftete verlockend, und gierig trank Grayson eine Tasse, bevor er seine beiden Tischgenossen eines Blickes würdigte.
Die Vorliebe des Quaestors für Kaffee war kein Geheimnis, und nach der zweiten Tasse beruhigte er seinen fordernden Magen, indem er ihm große Mengen köstlich schmeckender Nahrung zuführte.
»Was gibt es Neues?«, fragte er knapp zwischen zwei Bissen. Morgan blickte sich kurz um, bis er sich überzeugt hatte, dass sie über den Lärm in der Schankstube nicht belauscht werden konnten.
»Die Durchsuchung der Wohnung unseres verstorbenen Herrn Blaukreuz hat nichts ergeben, das Haus war durch ein Feuer in der Vornacht vollkommen ausgebrannt«, sagte er leise. Grayson brummte daraufhin nur, da er mit keinem besseren Ergebnis gerechnet hatte. »Emilio wurde bereits abgeholt und sollte schon heute die erste Behandlung gegen seine Unpässlichkeit erhalten«, fuhr der Magus fort. Anscheinend traute er ihrer Umgebung doch nicht so ganz und wählte daher seine Worte mit Bedacht. »Ein Ersatz für unser Team wurde beantragt, aber bis der eintrifft, sind wir vorerst zu dritt.«
Grayson hielt inne und biss sich nachdenklich auf die Innenseite seiner Wange. Ohne Saggitarius waren sie sehr geschwächt und das Gefühl drohenden Unheils schien sich immer mehr in seinem Hinterkopf zu verfestigen. Ohne darüber nachzudenken, rieb er sich über die Stelle, wo ihn der Schutzgeist gebissen hatte. Morgan folgte mit den Augen seiner Bewegung.
»Was haben Sie denn da, Sportsfreund?«, fragte er mit großen Augen und ergriff die rechte Hand des Ermittlers, ohne auf die Funken zu achten, die sofort zwischen ihnen übersprangen und dem Magier beträchtliches Unbehagen zufügen mussten. Schnell reduzierte Grayson seine Aura und antwortete leise. »Ich hatte Besuch vom Schutzgeist dieses Ortes. Der kleine Kerl hat mich dort gebissen.«
Morgans Augen wurden glasig, ein Zeichen, dass er in die magische Welt sah, die Grayson verschlossen blieb. »Er hat Sie tatsächlich mit seinem Mal versehen!«, entfuhr es ihm laut. »Ein Stück seiner Macht steckt im wahrsten Sinne des Wortes in Ihnen. Das ist höchst ungewöhnlich und beunruhigend.«
Grayson zog seine Hand zurück, und Nervosität machte sich in ihm breit, aber Morgan hob beschwichtigend die Arme.
»Nicht aufregen, mein Bester«, beruhigte ihn der Magus. »Das Mal eines Schutzgeistes verschwindet mit der Zeit, wenn sein Träger dessen Macht verbraucht hat. Es ist nur ein schwacher Zauber, der Ihnen im passenden Moment einen leichten Schubs in die richtige Richtung geben wird, wenn Sie ihn benötigen. Bemerkenswert ist nur, dass der Geist sein Mal auf Ihnen anbringen konnte. Er muss noch mächtiger sein als angenommen.«
Grayson starrte auf seine Hand hinunter, die aussah wie immer. Der silberne Siegelring des Verhangenen Rats prangte an seinem Ringfinger und wies ihn jedem gegenüber als Quaestor aus, der der Nebula Convicto angehörte und somit das radförmige Zeichen auf dem Schmuckstück zu deuten vermochte. Er rieb sich mit dem Zeigefinger der linken Hand über die Stelle, wo ihn die Zähne der Katze gepikst hatten, aber von einem leichten Kribbeln abgesehen, das beständig schwächer wurde, war dort nichts zu sehen oder zu spüren.
»Dass ich dem so viel Bedeutung beimesse, hat einen anderen Grund«, erklärte Morgan sich indes weiter. »Sein Mal hinterlässt ein Schutzgeist nur, wenn er spürt, dass ein Mensch in nächster Zeit großes Ungemach überstehen muss.«
Schweigen setzte am Tisch ein, und auf einmal kam Grayson das Frühstück nicht mehr ganz so köstlich vor. Die vage Bedrohung kommender Gefahr schien sich ständig zu verdichten. Grayson war nun lange genug in der magischen Welt der Nebula Convicto unterwegs, um Omen ein gewisses Gewicht einzuräumen, wenn sie von Fakten untermauert wurden.
Zeit, die Initiative zurückzuerlangen, dachte er und räusperte sich anschließend.
»Also gut, was wissen wir? Unser umtriebiger Herr Blaukreuz war anscheinend in den Schmuggel der Zauberspeicher verstrickt, sonst wäre er nicht getötet worden, als wir ihn unter die Lupe genommen haben.«
»Und er war entbehrlich genug, um als Köder für die Falle durch den Basilisken herzuhalten«, warf Richard ein.
Grayson deutete bestätigend mit dem Finger auf den Kreuzfahrer. »Exakt. Dieses Manöver unserer Gegenspieler war eiskalt durchkalkuliert. Entweder der Basilisk tötet uns, oder er versteinert einige von uns und schwächt so die Handlungsmöglichkeiten der Quadriga. Selbst wenn wir ohne Schaden aus dem Wald hervorgekommen wären, die Botschaft ist eindeutig.«
Morgan nickte. »Sie wissen, dass wir ihnen auf den Fersen sind und löschen jeden noch so kleinen Hinweis aus, dem wir nachgehen.«
»Eine klassische Zermürbungstaktik«, sagte Richard düster.
Grayson klatschte plötzlich begeistert in die Hände. »Genau!«, sagte er enthusiastisch. »Und wann setzt man eine solche Strategie ein?«
Richard und Morgan schauten ihn kurz an, dann erhellten sich ihre Gesichter, und der Kreuzritter sagte leise: »Wenn man Angst vor einer direkten Konfrontation mit dem Feind hat.« Dann wurde die Miene des Mannes nachdenklich. »Aber das Timing bleibt bedenklich. Irgendwas liegt in der Luft.«
Grayson nickte und wandte sich an Morgan. »Noch keine aufregenden Neuigkeiten innerhalb der Nebula Convicto?«
Der Magus hob demonstrativ sein Smartphone. »Alles ruhig, keine Vorkommnisse. Der Tod des Wolpertingers war angeblich ein Selbstmord in seiner Zelle. Bis wir etwas anderes wissen, sollten wir davon ausgehen, dass die Nebelwacht unterwandert sein könnte. Aber was auch immer geschieht oder geschehen wird, liegt tief in den Schatten verborgen.«
Grayson fuhr bei dieser Formulierung ein Schaudern über den Rücken, und er fasste einen Entschluss. »Wir werden nach Worthington Manor zurückkehren«, verkündete er. »Hier erreichen wir nichts, sind exponiert und schlecht informiert. Vielleicht erhalten wir in unmittelbarer Nähe zum Verhangenen Rat neue Hinweise.«
Die anderen nickten zögerlich. Grayson konnte ihren betrübten Gesichtern ansehen, dass sie sich so fühlten wie er. Es kam ihm wie ein Rückschlag vor, dass sie ohne eine neue Spur und wie ein Hund mit eingekniffenem Schwanz den Rücktritt nach London antraten, aber er wüsste nicht, welche Wahl ihnen sonst noch blieb.
Schweiz, Basel, Flughafen Basel, Samstag, 10. September, 14.23 Uhr
Ihre Abreise ging schnell vonstatten. Jeder packte seine Sachen, und Richard fuhr sie in einem zügigen Tempo zum Flughafen von Basel, wo bereits ein kleines Transportflugzeug auf sie wartete, das Morgan auf dem Weg dorthin organisiert hatte. Ihre Diplomatenpässe verhinderten jegliche bürokratischen Hindernisse, und nach kürzester Zeit standen sie auf dem Rollfeld. Grayson warf gerade einen skeptischen Blick auf den Privatjet, auf dessen Heckflosse tatsächlich das Emblem des Verhangenen Rates prangte.
»Also besonders unauffällig nenne ich das nicht«, sagte Grayson, während er auf das Symbol deutete.
Morgan zuckte die Achseln. »Wir haben gelernt, dass die beste Tarnung meist mundaner Natur ist. Sämtliche Jets des Verhangenen Rates sind in ein normales Unternehmen eingegliedert, das weltweit operiert. Die Nebula Corporation umfasst derart viele Investitionszweige, dass jeder, der per Zufall auf das Ratssymbol oder unsere weltlicheren Aktivitäten stößt, bei eventuellen Recherchen an einem multinationalen Konzern hängen bleibt, der mäßig erfolgreich und vollkommen langweilig ist«, erklärte er, während sie die kurze Gangway hinaufstiegen.
Grayson dachte erst, der Magus würde scherzen, aber die Miene des Mannes war unbewegt.
Der Quaestor blieb einen Moment stehen und verdaute die Implikationen des gerade Gehörten. Er wusste, dass die Nebula Convicto in jedem Winkel der Welt Strukturen besaß, die ein Zusammenleben zwischen der magischen und der normalen Bevölkerung regelten, aber irgendwie machte die Existenz eines eigenen milliardenschweren Konzerns diese Vernetzung viel greifbarer, da sie so überaus weltlich war.
Er stieg die letzten Stufen empor und betrat eine kleine, komfortable Welt des Luxus. Sie waren erster Klasse mit einem Linienflug hergereist, als sie ihre Ermittlungen aufgenommen hatten, und da hatte Grayson schon über die Annehmlichkeiten gestaunt, aber dieser Anblick wirkte auf ihn wie pure Dekadenz. Der Innenraum der Maschine besaß nur vier dicke, cremefarbene, ledergepolsterte Sessel, die extrem großzügig auseinanderstanden. Ein riesiger Bildschirm nahm die hintere Wand der Kabine ein. Grayson sah eine kleine Bar, eine breite Couch und hinter einem zurückgeschobenen Vorhang sogar frisch gebügelte Kleidung, die an breiten Trägern von der Decke hing. Etwas mulmig erkannte Grayson die typischen Outfits von Morgan, Richard, Emilio und ihm, und er warf Morgan einen ungläubigen Blick zu, den dieser mit einem verspielten Lächeln erwiderte.
»Sie sind mittlerweile lange genug Quaestor, Ihre Vorlieben bezüglich der Dienstkleidung sind hinterlegt. Als ich den Jet für die Quadriga angefordert habe, wurde er mit passender Ausrüstung versehen. Munition für Ihre Waffe finden Sie in der Innentasche der Lederjacke.« Dann drehte er sich zur Bar um und goss sich ein großzügiges Glas Scotch ein. »Sie auch?«, fragte er und hielt ihm das Getränk entgegen.
Grayson war versucht anzunehmen, als die Gewaltigkeit der Gemeinschaft, für die er nun arbeitete, mit solcher Vehemenz auf ihn einprasselte, aber er hielt sich dann doch zurück. »Nein danke«, lehnte er ab. »Ich habe gestern Abend erst bewiesen, dass ich Alkohol gegenüber nicht so resistent bin.«
Morgan schmunzelte. »Richard und ich haben aber auch viel mehr Übung als Sie.« Dabei deutete der Magus auf den Custos, der gerade die Außentür des Flugzeugs schloss.
Etwas störte Grayson an diesem Anblick, und nach einigen Sekunden, wusste er auch was: Er sah keine Besatzung an Bord, und auch wenn Grayson keinen Flugbegleiter benötigte, wäre ihm die Anwesenheit eines Piloten doch sehr recht gewesen. Als Richard dann in das offenstehende Cockpit glitt, schrillten bei dem Ermittler die Alarmglocken.
»Moment mal«, sagte er angespannt. »Wollen Sie dieses Ding etwa fliegen?«
Der Kreuzritter sah ihn an und nickte gelassen. »Selbstverständlich«, sagte er ruhig. »Sie wissen, dass ich niemand anderen an das Steuer eines Fahrzeugs lasse, wenn ich dies vermeiden kann.«
»Aber das hier ist ein verfluchter Jet!«, rief Grayson fassungslos aus.
»Entspannen Sie sich, Quaestor«, sagte Richard nur. »Er hat ja noch nicht mal eine Bewaffnung.«
Grayson konnte nicht viel mehr tun, als dem breitschultrigen Mann blinzelnd hinterher zu starren, während dieser es sich mit routinierten Bewegungen auf dem Pilotensitz bequem machte. Morgan schob dem verdatterten Ermittler ein großes Glas Scotch in die Hand, das dieser nun widerstandslos annahm.
»Beruhigen Sie sich, Sportsfreund. Unser Richard kann alles steuern, was fährt, fliegt oder schwimmt. Nur U-Boote liegen ihm nicht so ganz«, sagte er lächelnd.
»Fang nicht wieder mit der Geschichte an«, grollte es aus dem Cockpit. »Du weißt genau, das Ding zu versenken, war damals die einzige Möglichkeit, uns vor dem deutschen Zerstörer zu verstecken.«
Morgan schmunzelte nur und fläzte sich mit seinem Drink in einen der Ledersessel.
Grayson nahm einen tiefen Schluck der braunen Flüssigkeit und ließ sich dann schicksalsergeben in den Sessel fallen, der Morgan gegenüberstand.
»Warum können wir keinen normalen Flieger nehmen?«, fragte er den Magus in leisem Tonfall. Irgendwie verängstigte ihn der Gedanke, dass ein Mann diesen Privatjet in den Himmel steuern würde, der schon zu Zeiten der Kreuzzüge auf dem Pferderücken durch die Gegend gereist war.
Morgan sah ihn ernst an und beugte sich zu ihm nach vorne. »Erstens wissen wir nicht, ob die Verschwörer uns eine weitere Falle stellen wollen, und dann hätte ich liebend gerne keine unschuldigen Passagiere oder potenzielle Attentäter in einem Flugzeug um mich herum«, begann er. »Und zweitens ist Richard einer der besten Piloten, die ich kenne. Also trinken Sie Ihr Glas aus und genießen Sie den kurzen Flug.«
Die Möglichkeit, dass ihnen jemand auf ihrem Rückflug als Passagier einer Linienmaschine auflauern mochte, war Grayson noch gar nicht eingefallen, und dass Morgan dieses Szenario in Erwägung zog, machte ihm klar, für wie brenzlig der jahrhundertealte Magier ihre momentane Lage hielt.
Bevor er seine Zweifel äußern konnte, setzte sich der Jet in Bewegung, und für die nächsten Minuten war Grayson voll und ganz damit beschäftigt, sich klar zu machen, dass sie in Richards fähigen Händen vollkommen sicher waren. Wie er herausfand, half ihm der Scotch dabei.
Schließlich waren sie in der Luft, und der Ermittler musste zugeben, dass der Start butterweich verlaufen war und der Luxus und die gute Abschirmung der Kabine ihr Übriges dabei taten, ihn zu entspannen. Wenn er nicht aus dem Fenster sah, hätte er ebenso gut im Kaminzimmer von Worthington Manor sitzen können.
Morgan nahm Graysons zunehmende Gelassenheit mit einem wohlwollenden Nicken zur Kenntnis und wollte gerade etwas sagen, als hinter dem Magus die Bildschirmwand zum Leben erwachte und eine riesige Nase zeigte, die breit und knorrig wirkte.
»Hoi«, rumpelte eine Stimme viel zu laut durch die Innenlautsprecher der Kabine. Grayson zuckte zusammen und hatte seinen Revolver bereits in der Hand, als Morgan sich noch zu dem Bildschirm umdrehte.
Die Nase wurde kleiner, als der Sprecher am anderen Ende der Leitung sich von der Kamera entfernte. Grayson staunte nicht schlecht bei dem Anblick, der sich ihm bot. Er starrte auf den breiten Kopf eines menschenähnlichen Wesens, das über einen feuerroten Bart und kurzgeschnittene, ebenso rote Haare verfügte. Tiefe Furchen in der Haut des Fremden ließen auf ein hohes Alter schließen, aber die lilafarbenen Augen blitzten gereizt und lebhaft aus dem Gesicht des Mannes hervor. Nase, Ohren, Lippen und Augenbrauen des Sprechers waren gepierct, und die darin steckenden Metallstifte und Ringe wiesen allesamt Gravuren und Verzierungen auf, die Grayson als magische Sigillen und Zeichen erkannte. Verschlungene Muster und Linien waren auch penibel in den Bart und die Haartracht des Fremden rasiert worden und gaben ihm den Gesamteindruck eines okkulten Punks. Kurze, schwielige Finger wurden ins Bild der Kamera gehoben, die nur ein undurchdringliches Nichts im Hintergrund der Kreatur zeigten, die auf einem ergonomischen Stuhl zu sitzen schien und wohl von einem Bildschirm vor ihr angeleuchtet wurde.
»Endlich seid ihr mal in der Nähe einer gesicherten Leitung«, motzte der Sprecher statt einer förmlichen Vorstellung los. »Ich sitze schon seit einem Tag auf meinem stark behaarten Hintern rum und warte auf Einsatzbefehle. Was für eine Art Quadriga seid ihr denn? Die Schneckeneinheit für besonders langsam zu bearbeitende Fälle?«
Grayson zog die Augenbrauen hoch, und die Finger seiner Hand verkrampften sich wütend um den Griff seiner noch immer gezogenen Waffe.
Morgan erkannte wohl die Anspannung in dem Quaestor, hob rasch die Hände und lenkte dessen Aufmerksamkeit auf sich. »Immer mit der Ruhe, Sportsfreund. Auf den Monitor zu schießen, wird nur die Spesen in die Höhe treiben, und außerdem wollen wir doch kein Loch in unserem schönen Flugzeug, während wir ein paar Kilometer hoch in der Luft sind, oder?«
Schnell steckte Grayson die Waffe weg, da Morgan anscheinend keine Gefahr in dem Wesen auf dem Bildschirm sah und forderte ihn mit einer stummen Geste auf, die Situation zu erklären.
Der Magier bedeutete ihm mit einer beruhigenden Handbewegung, etwas Geduld zu haben und drehte sich wieder zu dem Bildschirm um.
»Sie sind unser Schatten, nehme ich an?«, fragte er nach einem Räuspern.
Die Gestalt am anderen Ende der Leitung nickte, dass die Piercings nur so klimperten. »Und Sie sind wohl der Blitzmerker in der Gruppe. Dann muss das da drüben mit der hageren Fratze und dem Finger am Abzug wohl euer Mann fürs Grobe sein, der erst schießt und dann denkt. Wo sind denn euer Quaestor und euer Custos?«
Grayson erkannte, dass der Fremde ihn für einen Saggitarius hielt und wusste nicht, ob er beleidigt oder geschmeichelt sein sollte. Er entschied sich für beides und steckte seine Waffe fort, um anschließend demonstrativ langsam seine Arme über der Brust zu kreuzen, sodass sein Siegelring gut zu erkennen war.
Jetzt war es an dem Fremden, die Augen aufzureißen. »Sie sind dieser sagenhafte Lacunus, von dem alle reden? Das ist mal eine echte Enttäuschung.«
Grayson spürte, wie sein Puls weiter hoch ging, und seine Antwort glich mehr einem Knurren. »Wer genau sind Sie, was machen Sie auf dem Bildschirm dieses Flugzeugs, und warum genau sollte ich Ihnen nicht das Leben zur Hölle machen, wenn wir wieder am Boden sind?«, stieß er gereizt hervor. Grayson hatte generell nichts gegen laxe Umgangsformen, aber er wollte verdammt nochmal wenigstens wissen, wer ihn gerade beleidigte.
Überraschenderweise schien der Fremde Graysons forsche Tirade extrem wohlwollend aufzunehmen. »Wer ist denn da endlich aufgewacht?«, fragte er fröhlich. »Wie der Sprüchewerfer so richtig erkannt hat, bin ich der neue Schatten der Quadriga. Ich bin Mack und sowas wie euer digitaler Laufbursche. Ihr sagt mir, was ich über wen herausfinden soll oder welchen Sicherheitscode ihr benötigt, wenn ihr mal irgendwo reinmüsst, wo ihr nicht erwünscht seid, und ich regele das schon.« Der Kopf des Wesens rückte vertraulich nah an die Kamera heran. »Privataufträge für das Verschleiern von Aktivitäten, die nicht in der Dienstakte auftauchen sollen, kosten aber extra.« Dabei zwinkerte Mack derart anzüglich, dass Grayson Morgan nur fassungslos anstarrte.
Der Magus räusperte sich. »Sie sollten sich vergegenwärtigen, dass unser Schatten ein Zwerg ist. In deren Kultur ist eine offenherzige Ausdrucksweise ein Zeichen für großen Respekt. Je unverblümter er ist, umso mehr schätzt er Sie.«
Grayson wollte eben nicken, als er stutzig innehielt. »Moment mal? Zwerge gibt es wirklich?«
Jetzt blickten sowohl Morgan als auch Mack enttäuscht zu ihm herüber, und dass beide denselben Gesichtsausdruck zur Schau stellten, sagte dem Ermittler, dass hier keine kulturellen Barrieren eine Missdeutung zuließen.
»Ich bin in der Enzyklopedia Nebulae erst beim zwanzigsten Band«, verteidigte er sich rasch.
Mack nickte daraufhin verständnisvoll. »Ja, das Dilemma einer Rasse, die mit Z beginnt. Über uns schreibt man immer als Letztes.« Dann beugte er sich wieder vertraulich vor und flüsterte laut: »Ich schicke Ihnen nachher eine App. Dann können Sie die einzelnen Wesen schnell nachschlagen. Das Ding hat sogar eine Kamerafunktion. Einfach den grünen Haufen Glibber vor sich mit der Kamera des Smartphones ins Visier nehmen, und die App sagt Ihnen, dass Sie vor einem Katalfrakt stehen, der Sie einhüllen und langsam verdauen will.«
Morgan blies empört die Wangen auf. »Der Verhangene Rat hat jedwede digitale Form arkanen Wissens auf mobilen Geräten verboten!«, fuhr er auf. »Die Gefahr einer unkontrollierten Verbreitung sensibler Informationen ist viel zu groß.«
Mack hob in einer entschuldigenden Geste die Hände. »War nur ein Scherz«, sagte er langsam, nur um dann Grayson zuzunicken und dabei erneut zu zwinkern, als der Magus sich wegdrehte.
»Also ersparen Sie uns ab jetzt die Hintergrundrecherchen?«, hakte Grayson nach, der verzweifelt versuchte, der Informationsflut Herr zu werden.
Der Zwerg nickte, blieb aber zum ersten Mal stumm, während er den Quaestor intensiv musterte.
Er testet mich, wie ich mit neuen Situationen und Fakten umgehe, fuhr es Grayson durch den Kopf. Er dachte noch einige Sekunden nach und blickte den Zwerg dann direkt an.
»Als Erstes können Sie sich mit unseren Notizen und Fallakten zu der Entführung Sophias vertraut machen, vor allem mit den Ungereimtheiten, die sich am Ende des Falles nicht zufriedenstellend klären ließen. Woher kamen die illegalen Zauberspeicher? Wer hätte noch ein Motiv, die Nebula Convicto zu erschüttern? Wer im Verhangenen Rat könnte zu den Mitverschwörern gehören?«
Mack pfiff durch die Zähne. »Das sind keine Kleinigkeiten, Quaestor. Ihr vier steckt wirklich bis zum Hals in der Scheiße.«
»Wir sind nur noch zu dritt«, sagte Grayson ernst. »Unser Saggitarius wurde im Zuge einer geschickten Falle durch einen alten Basilisken versteinert.«
Der Schatten schluckte schwer und lehnte sich weit in seinem Stuhl zurück, sodass Grayson erkennen konnte, dass der Zwerg nur eine zerrissene Jeansweste an seinem stark behaarten Oberkörper trug, der mehr als ein paar Pfunde zu viel aufwies und dem gedrungenen Körper des Wesens eine fast schon quadratische Note gab.
»Ich hoffe, Sie sind dem Druck gewachsen. Sie könnten immerhin der Nächste sein, den es trifft«, fügte der Quaestor hinzu. Er wollte wissen, aus was für einem Holz der Zwerg geschnitzt war, und die Warnung um Leib und Leben ließ jeden sehr schnell Farbe bekennen.
»Ihr drei macht euch mal um mich keine Sorgen«, sagte Mack schließlich nach einer kurzen Pause. Er hämmerte auf seiner Tastatur herum und fuhr dann fort: »So, sämtliche Akten zu Sophias Entführung liegen mir jetzt vor, und ich beginne mit der Wühlarbeit. Sonst noch etwas?«
Grayson dachte nach und nickte dann. »Kommen Sie in Worthington Manor vorbei und nehmen auch unsere handschriftlichen Notizen der letzten Monate mit. Vielleicht haben wir ja etwas übersehen. Ein neutraler Blick von außen wirkt oft Wunder.«
Der Zwerg grinste spitzbübisch und schüttelte dann den Kopf. »Das wird eher schwierig werden«, sagte er und drückte eine Taste irgendwo vor sich. Das Kamerabild wechselte und zeigte die kleine Gestalt von schräg oben, aus mindestens dreißig Metern Höhe. Mack winkte zu ihnen hinauf, aber Graysons Aufmerksamkeit wurde durch etwas anderes gefesselt. Die massige Gestalt saß anscheinend ganz allein mitten in einer gewaltigen, dunklen Höhle, deren Wände vom Weitwinkelobjektiv der Kamera nicht erfasst wurden. Vor dem Zwerg befand sich ein Setup aus mehreren Monitoren und einem dicken, schwarzen, metallischen Kasten, der wohl den Rechner des Schattens darstellte. Armdicke Kabel führten dort hinein und hinaus und eines davon wand sich in die Höhe, um in der Decke der Höhle zu verschwinden. Runen und Glyphen waren auf den Kabeln und dem Gehäuse des Rechners angebracht und glommen in einem pulsierenden, weißen Licht. Die skurrile Szenerie wurde dadurch abgerundet, dass der Zwerg und seine Ausrüstung in einem komplexen Bannkreis saßen, wie der Quaestor ihn sonst nur von aufwendiger Ritualmagie kannte, wie Morgan sie manchmal zu besonders kniffeligen Anlässen durchführte.
Der Magus ergriff nun wieder das Wort und deutete auf den Ausblick auf dem Bildschirm. »Zwerge leben knapp zehn Kilometer unter der Oberfläche und können aufgrund der unterschiedlichen Temperatur- und Druckverhältnisse nicht zu uns hinaufgelangen, ohne an den Folgen zu sterben. Sie sind das einzige Volk, das eine rudimentäre Verschmelzung von Magie und Technik zustande gebracht hat, und bilden das Rückgrat innovativer Weiterentwicklungen in der Nebula Convicto. Einige wenige sind zudem als Schatten für Quadrigas oder die Unendliche Legion tätig und aufgrund ihrer Fähigkeiten heiß begehrt«, erklärte Morgan.
Das Bild wechselte zurück auf das breite Gesicht Macks. »Genauso ist es, Dummerchen. Ich gehe nirgendwo hin und hole auch nichts ab. Wenn ihr mir Daten zur Verfügung stellen wollt, dann bitte digital. Scannt den Kram ein und ich sehe, was ich finde.«
Grayson schwindelte ein wenig. »Und wieso reden wir dann in Echtzeit miteinander, während Sie in einer Höhle tief unter der Erde sitzen und wir in einem Flugzeug fliegen und das bei einem gestochen scharfen Bild?« Technik hatte Grayson nur mäßig interessiert, aber er war in genug Funklöcher geraten, um die jetzige Übertragung zu bewundern.
Mack klopfte mit einem selbstgefälligen Grinsen auf den Rechner vor sich. »Selbstgeschriebene Datenkompression. Und natürlich magisch verstärkte Lichtleiterkabel.« Er blickte Grayson fragend an, als er fortfuhr. »Ich lese mich schon mal in die Materie ein und warte darauf, dass ihr mir den Rest schickt. Sonst noch was oder kann ich die Verbindung trennen?«
Grayson überlegte, aber alles Wichtige war gesagt. Dann fiel ihm wieder ein, dass Zwerge die Offenheit liebten. »Ist Mack ein typischer Zwergenname?«, fragte er also geradeheraus.
»Nur eine Kurzform«, war die Antwort. »Ihr könnt mich aber alle auch gerne Mackulinarus-Formulinis-Andarluis nennen.«
»Echt jetzt?«, entfuhr es Grayson, und der Zwerg nickte.
»Wir haben keine echten Vornamen. Bei uns bilden der Eigenname, die Namen der Eltern und des Bergreiches, in dem wir leben, immer den gesamten Namen. Total umständlich, aber man gewöhnt sich daran.«
»Ich denke, ich bleibe bei Mack«, sagte der Quaestor, und der Zwerg nickte beifällig.
»Gute Entscheidung«, lobte er. »War es das?«
»Wie kontaktieren wir Sie?«, fragte Grayson rasch, als der Zwerg seinen Finger bereits auf eine Taste legte.
»Die passende App ist auf euren Smartphones. Hab sie während des Gesprächs über die sichere Leitung hochgeladen«, sagte Mack nur, und der Bildschirm wurde schwarz.
Grayson schaute verdutzt auf die schwarze Wand der Kabine und dann auf Morgan, der nur entschuldigend die Achseln zuckte.
»Zwerge gelten aufgrund ihrer Direktheit als grob, unsensibel und beleidigend, aber in Sachen Technik macht ihnen keiner etwas vor. Gerüchten zufolge stecken sie hinter den großen IT-Firmen unserer Zeit und zwingen die angeblichen Gründer dazu, zu jedem Zeitpunkt eine bestimmte Kleidung wie lächerliche Rollkragenpullover oder Hoodies zu tragen.«
Grayson dachte, dass dies einige der schillernden Typen der Tech-Szene erklären würde, ignorierte aber die Implikationen. »Und was ist Ihre persönliche Meinung zu Zwergen?«, fragte er stattdessen.
Morgan blickte zur Decke und zuckte dann die Achseln. »Ich finde sie grob, unsensibel und beleidigend.« Er machte eine kurze Pause. »Aber trotzdem würde ich mir keinen anderen Schatten wünschen. Die Lady vom See persönlich muss darum gebeten haben, dass wir einen Zwerg zugeteilt bekommen. Noch nie in der Weltgeschichte hat ein Mitglied des kleinen Volkes je Verrat geübt, und das bedeutet, wir können ihm blind vertrauen, egal, wie sehr er uns beschimpft.«
Also das sind mal gute Nachrichten, dachte Grayson. Ihm war ein loyaler, ungehobelter Punk tausendmal lieber als ein handzahmer Bürohengst, der kein Rückgrat besaß.
»Wissen Sie, wo er sich aufhält?«, fragte Grayson aus Neugier, und zu seiner Überraschung nickte Morgan augenblicklich.
»Das Andarluis-Bergreich streckt sich unter Frankreich und Deutschland entlang, und soweit ich weiß, liegen ihre arkanen Rechner irgendwo unterhalb von Berlin. Sie nutzen das Datenaufkommen der Hauptstadt, um ihre eigenen Tätigkeiten zu verschleiern. Wann immer ihnen jemand auf die Spur kommt, tarnen sie das Ganze als Abhörskandal oder internationalen Datenklau oder so etwas«, erklärte der Magus.
Grayson ließ sich wieder in den gepolsterten Sessel sinken und nippte an seinem Scotch. Er hatte heute beiläufig mehr über die Strukturen der Nebula Convicto erfahren, als in den letzten Monaten zusammengenommen, und in ihm keimte der Verdacht, dass Morgan darüber entschied, wann der Quaestor bereit für eine neue Dosis an relevanten Informationen war und ihn in der Zwischenzeit mit Basiswissen über die einzelnen magischen Wesenheiten beschäftigt hielt, bis er sich soweit akklimatisiert hatte, dass er die nächste Offenbarung verkraftete. Er beschloss, seine Theorie zu testen.
»Wer leitet eigentlich die Nebula Corporation?«, fragte er und betrachtete Morgan genau. Der wich seinem Blick aus und machte eine vage Handbewegung.
»Das ist furchtbar kompliziert«, sagte er ausweichend. »Der Vorstand setzt sich nach einem verwirrenden Schlüssel zusammen, der sich wiederum aus der Sitzverteilung der Parteien im Verhangenen Rat und den Machtverschiebungen innerhalb der wichtigsten magischen Industriezweige ergibt.«
»Und welche Industriezweige wären das?«, hakte Grayson nach, nicht gewillt, den Magus so leicht davonkommen zu lassen.
Der bedachte ihn mit einem langen Blick und seufzte schließlich. »Also schön, Sie sind mir wohl auf die Schliche gekommen. Ich versuche, die Dinge möglichst simpel für Sie zu gestalten, bis Sie sich eingewöhnt haben. Schließlich sind Sie erst seit einem Jahr dabei und lernen währenddessen eine jahrtausendealte, komplexe Zivilisation kennen.« Der Magus sah Grayson intensiv in die Augen. »Sie werden mir schon vertrauen müssen, dass Sie immer alle Informationen bekommen, die Sie benötigen. Oder soll ich Sie mit den arkanen Triaden von Hong Kong oder den baltischen Werrudeln vertraut machen, obwohl diese gerade keine Rolle spielen?«
Grayson erwiderte den Blick stur, sein Kinn kampflustig vorgereckt, und eine Weile sahen sich die beiden Männer nur schweigend an. Dann erkannte der Ermittler, dass er sich gerade nur so störrisch und schwierig verhielt, weil ihm die Informationen über den Kopf stiegen. Also gab er klein bei und brach den Augenkontakt ab.
»Aber über die Industrie der Nebula Convicto würde ich schon gerne etwas hören«, sagte er brummig. »Besitz ist in jeder Welt ein Motiv, ob mundan oder magisch, und die Grundzüge sollte ich kennen.«
Morgan tippte sich nachdenklich mit einem Finger an die Wange und stimmte schließlich mit einem Nicken zu. »Sie haben damit nicht ganz Unrecht«, gab er zu. »In London sind wir dem Rat so nahe, dass dessen politischer Einfluss alles andere furchtbar klein erscheinen lässt.«
Er hob eine Hand und knickte die Finger ab, während er die einzelnen Bereiche aufzählte. »Da wäre zunächst einmal die Agrarwirtschaft. Viele Wesen haben spezielle Ernährungsbedürfnisse, und nicht wenige davon kollidieren mit dem Überleben ihrer menschlichen Nachbarn. Also gibt es einen großen Bedarf an genug nichtmenschlicher Nahrung, der die Übergriffe auf nächtliche Spaziergänger gegen null gehen lässt.« Grayson dachte an Vampire, Ghule oder Trolle, dann fielen ihm noch Yetis, Zornzähne und Halbseelen ein sowie über zwei Dutzend weitere Spezies, die gerne mal einen Menschen kosten würden, wenn ihnen eine Alternative verwehrt wäre.
»Der zweite große Industriezweig ist tatsächlich die Tarnung durch magische und weltliche Mittel. Eine Nixe möchte zum Beispiel gemütlich in ihrem Teich oder Fluss leben können, ohne sich ständig in Unsichtbarkeit hüllen zu müssen oder Angst zu haben, dass jemand Altöl in ihrem Zuhause verklappt. Das gilt für viele Spezies, und neben dauerhaften Illusionen gibt es auch rein mechanische Lösungen wie Geheimgänge, Klapptüren, unterirdische Bunker und vieles mehr.«
Grayson schluckte schwer. Wie durchzogen war die normale Welt eigentlich von magischen Mitbewohnern? Er hatte sich nie die Frage nach der Populationsdichte der Nebula Convicto gestellt, und nun hatte er tatsächlich Angst vor der Antwort.
»Der letzte und wichtigste Aspekt ist aber der Handel mit magischen Artefakten, die das Leben aller magischen Kreaturen erleichtern oder uns Magiern bei der Zauberei helfen. Die Magische Hanse ist auf den sicheren Transport dieser Waren spezialisiert und ein seit vielen Jahrhunderten gewachsenes Netzwerk aus magischen Wegen und Handelsbeziehungen.«
Grayson stutzte. »Hanse? Wie in ›Die Hanse‹?«
Morgan nickte. »Einige deutsche Kaufmannsfamilien, die damals in die Magische Hanse involviert waren, beschlossen, das Konzept auf den normalen Handel mit weltlichen Waren auszudehnen. Der Verhangene Rat stimmte – gegen weitreichende Beteiligungen an den Unternehmungen – zu und konnte so seinen wirtschaftlichen Einfluss über Europa hinaus ausdehnen. Einer der Gründe für die heutige weltweite politische Stabilität des Rates ist die Tatsache, dass die Magische Hanse damals die Grundlage für spätere Gespräche bildete.«
Der Magus seufzte. »Ohne die Magische Hanse würde es noch immer viel mehr magische Stadtstaaten geben, denke ich.«
Grayson rollte mit den Augen. Viel mehr Stadtstaaten hat er gesagt, dachte er. Also gab es noch immer welche! Er beschloss, dass er für heute genug Neues gehört hatte und stellte keine weitere Frage.
Morgan nickte ihm mitfühlend zu und genehmigte sich noch einen Drink. Grübelnd starrte Grayson aus dem Fenster des Flugzeugs und blickte auf die verschwommen erscheinende Welt hinab, die um so vieles komplizierter war, als er noch vor einem Jahr je erwartet hätte.
Irgendetwas hatte ihn geweckt. Ob es nun ein ungutes Gefühl war oder eine Luftturbulenz, konnte er nicht sagen, aber Grayson schreckte in seinem gepolsterten Ledersessel hoch, den er in die Schlafposition ausgefahren hatte, um den Rest des Fluges ein wenig Kraft zu tanken und den Scotch zu verdauen. Er orientierte sich und stellte fest, dass alles ruhig zu sein schien. In der luxuriösen Kabine des Jets war nur das leise Summen der Turbinen zu hören und das Tippen von Morgans Fingern auf der Tastatur seines Laptops. Der Magus hatte sich auf die andere Seite des Flugzeugs gesetzt, um Grayson nicht zu stören und nickte ihm nun gedankenverloren zu, bevor er weiter an dem Rechner arbeitete.
Zweifellos tippt er gerade einen Bericht über den Basilisken, dachte Grayson und beschloss, den Magus nicht davon abzuhalten. Der Ermittler war froh, dass Morgan ihm den bürokratischen Teil der Arbeit abnahm und würde einen Teufel tun, sich da einzumischen.
Unruhig trommelte Grayson mit seinen Fingern auf der Lehne des breiten Passagiersitzes. Er war sich sicher, von etwas geweckt worden zu sein, also stand er auf und sah sich genauer um. Er entdeckte nichts Auffälliges, und so trat er an die offenstehende Tür des Pilotencockpits. Er spähte zu Richard hinüber, der kerzengerade dasaß und mit gelassenen Bewegungen die Instrumente bediente, die den Jet in der Luft hielten. Der Custos spürte wohl Graysons Blick, denn er drehte den Kopf ein wenig in seine Richtung und lächelte ihm zu. »Wollen Sie sichergehen, dass ich uns nicht abstürzen lasse?«, fragte er gelassen.
Grayson schüttelte den Kopf und blickte an ihm vorbei hinaus in den wolkigen Himmel. »Ich habe so ein merkwürdiges Gefühl. Das hat mich wohl auch geweckt. Irgendetwas stimmt nicht.«
Eigentlich hatte der Ermittler nun ein paar beruhigende Worte des Kreuzritters erwartet, aber der legte einige Schalter um und blickte auf das Radar hinab, das sich mitten in der Front des Cockpits wie ein geisterhaftes Auge aus den übrigen Anzeigetafeln hervorhob. »Ich kann hier nichts erkennen, aber die meisten Quaestoren entwickeln eine hervorragende Intuition oder sterben früh. Also schauen Sie sich ruhig ein wenig um, schaden kann das nicht«, sagte Richard ernst.
Grayson wollte sich gerade bedanken, als ein leises Piepen von der Instrumententafel ertönte und ein winziger Fleck auf dem Radar auftauchte, der sofort wieder verschwand. Richard runzelte die Stirn und drehte sich dann vollends zu Grayson um. »Das war gerade ein Kontakt auf sieben Uhr«, sagte er angespannt. »Schauen Sie bitte mal aus einem der hinteren Seitenfenster, ob Sie etwas erkennen können.«
Graysons Puls schoss in die Höhe. Hier in dieser fliegenden Dose in mehreren tausend Metern Höhe war er vollkommen wehrlos, und wenn die Verschwörer sie aufgespürt und eine Rakete auf sie abgeschossen hatten …
Er stürzte an das hinterste Fenster der linken Seite, den überraschten Morgan ignorierend, und presste sein Gesicht an das kühle Glas, um möglichst weit hinter sie spähen zu können.
Dichte Wolkenbänder zogen sich über den Himmel, und die schier unendliche Weite des Horizonts lag ruhig und verlassen da.
»Sehen Sie was, Grayson?«, erscholl Richards Ruf aus dem Cockpit. »Das Signal ist immer noch da und kommt in einer unregelmäßigen Flugbahn näher.« Echte Sorge lag in der Stimme des Custos, und Grayson erkannte auch, warum. Raketen oder andere Flugzeuge hatten keine unregelmäßige Flugbahn. Nur Tiere.
Der Ermittler verdoppelte seine Anstrengungen und sah dann zwei dunkle Flecken in den Wolken hinter ihnen. Irgendetwas kam ihm an diesem Bild vertraut vor, und als die Umrisse in verspielten Bögen durch die weißen Bänder glitten, erkannte er auch, woher. Im Verhangenen Rat gab es eine magische Illusion, die einen solchen Anblick darstellte, über den Sitzen der Fraktion der Freien.
Eiswasser schien durch Graysons Adern zu fließen, als er sich klar machte, was diese Illusion genau zeigte: einen Drachen, der durch die Wolken fliegt.
In diesem Moment brachen die beiden echsenhaften, grazilen Körper mit den ledrigen Schwingen und den langen, geschwungenen Hälsen aus dem Wolkenband hervor und flogen in träge erscheinenden, eleganten Spiralen und Bögen weiter auf sie zu.
Grayson riss sich von dem Anblick los und drehte sich zu Morgan um, der mittlerweile mitbekommen hatte, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. »Da kommen zwei Drachen auf uns zu!«, rief der Quaestor laut, damit Richard ihn auf dem Pilotensitz ebenfalls hören konnte. »Können Sie sie irgendwie abschütteln?«
»Ich kann es versuchen«, erklang Richards zögerliche Antwort. Grayson hörte deutlich heraus, dass der Custos nicht daran glaubte, den beiden Wesen entkommen zu können.
Grayson rief sich die spielerische Leichtigkeit vor Augen, mit der die beiden Kreaturen durch die Wolken glitten und verglich dies mit der starren Geradlinigkeit ihres Jets.
Natürlich hatten sie keine Chance.
»Morgan, können Sie oder ich irgendetwas tun?« Während er fragte, machte das Flugzeug eine scharfe Linksdrehung, und der Ermittler fiel schwer in einen der Ledersessel. Schnell schnallte er sich an und Morgan folgte seinem Beispiel, den Laptop eng an seine Brust gepresst.
»Ich wüsste nicht, was wir unternehmen könnten, Sportsfreund«, sagte der Magus mit weit aufgerissenen Augen. »Drachen dürfen eigentlich nur nachts fliegen oder fernab der Luftfahrtrouten. Die beiden dort hinten brechen über ein Dutzend Gesetze der Lex Nebula. Für so etwas würde die Unendliche Legion ausgesandt werden, um die Missetäter zur Strecke zu bringen.«
Grayson rollte mit den Augen. Nur Morgan brachte es fertig, in einer solchen Situation von »Missetätern« zu sprechen. »Also was soll das dann?«, fragte er. »Haben uns die Verschwörer erwischt? Sind wir so gut wie tot?« Er wollte weniger fatalistisch klingen, aber die Hilflosigkeit der Situation brach sich in seinen Worten Bahn. Erstaunlicherweise spürte Grayson, dass er mit jeder Faser seines Herzens leben wollte. Dies war etwas, was er in den letzten Jahren nicht immer hätte unterschreiben können. Aber er mochte sein neues, skurriles Leben, und er wollte nicht im Magen eines Drachen enden!
Morgans Gesicht war zu einer Miene angespannter Konzentration verzogen. »Richard, halt die Maschine ruhig, ich muss mir die Drachen genauer ansehen!«, rief er nach vorne, und sofort hörten die heftigen Schlingerbewegungen auf. Der Magus schnallte sich ab und schritt rasch zu dem Fenster hinüber, durch das Grayson vorhin zuerst die magischen Kreaturen erblickt hatte. Der Quaestor konnte sich nicht zurückhalten, sondern befreite sich ebenfalls vom Sicherheitsgurt und drückte sich an die nächstgelegene Scheibe. Die Drachen flogen nun dicht hinter und leicht neben ihnen, sodass Grayson ihre riesigen Körper im strahlenden Glanz der Sonne eingehend bewundern konnte. Grüne Schuppen glitzerten irisierend bei jeder Bewegung der Kreaturen, und die mächtigen Schwingen trugen die echsenhaften Körper mit einer solchen Mühelosigkeit, dass Grayson den Atem anhielt. Alle drei Sekunden hoben und senkten sich die durchscheinenden Membranen der Flügel, und doch hielten die Drachen mühelos mit der Geschwindigkeit des Privatjets mit. Wenn der Quaestor je einen Beweis für die Magie der Drachen benötigt hatte, sah er ihn gerade dort draußen. Eines der Wesen drehte seinen schmalen Kopf auf dem langen Hals und starrte ihm direkt ins Gesicht. Die gelben Augen mit der geschlitzten Iris schienen ihn wiederzuerkennen, denn das Wesen deutete mit dem Kinn in einer seltsam menschlichen Geste in seine Richtung, und der zweite Drache schob sich mit zwei kräftigen Flügelschlägen über das Flugzeug. Grayson verdrehte den Kopf nach oben, als der schuppige Körper sich langsam immer weiter absenkte.
»Zurück in den Sitz und anschnallen!«, befahl Morgan, der anscheinend wusste, was dies zu bedeuten hatte. Zu verwirrt kam Grayson der Aufforderung sofort nach, und kaum hatte er die breite Schließe des Sicherheitsgurts geschlossen, als auch schon die Welt um ihn herum unterzugehen schien. Ein heftiger Ruck fuhr durch das gesamte Flugzeug, und eine Sekunde später hörte der Ermittler das schrille Kreischen protestierenden Metalls. Unterarmlange Krallen bohrten sich durch das Dach der Innenkabine, und ein wütendes Zischen und Fauchen setzte ein, als der Druck im Flugzeug sich deutlich absenkte. Kleinere Gegenstände flogen durch den Raum, als ein heftiger Sog einsetzte, der in den Löchern in der Decke seinen Ursprung hatte, durch die der Drache seine Krallen in den Leib des Flugzeugs gebohrt hatte. Die Turbinen des Jets heulten gequält auf, und im nächsten Moment rief Richard ihnen aus dem Cockpit zu: »Ich habe keine Kontrolle mehr über die Maschine. Was zur Hölle geht hier vor?« Noch nie hatte Grayson die Stimme des Custos so nahe am Rand einer Panik gehört, und als Morgan antwortete, traute er seinen Ohren nicht.
»Stell die Turbinen ab, und komm zu uns nach hinten«, rief er unglaublicherweise. »Anscheinend wurde uns eine Einladung überbracht, die wir nicht ausschlagen können.«
»Sie wissen, was gerade mit uns passiert?«, hakte Grayson über das Kreischen des Windes nach und fixierte gleichzeitig den zweiten Drachen, der nun dicht neben ihnen flog und mit seinem Kopf direkt vor einem der Fenster innehielt, um sie genauestens zu beobachten. Während Richard dem Ratschlag des Magus tatsächlich nachkam und Grayson mit wachsendem Entsetzen hörte, wie der Antrieb des Jets mit einem kläglichen Aufheulen erstarb, antworte ihm Morgan mit einem hilflosen Gesichtsausdruck. »Das dort draußen sind Leibdiener des europäischen Erzdrachen. Wir haben wohl eine dringliche Audienz, wie mir scheint.«
Grayson starrte den Magus an, als wäre der verrückt geworden, bis er sich klar machte, dass sie in einem Privatjet an den Klauen eines Drachen hingen, der sie wer weiß wohin verschleppte. Plötzlich wollte er den Worten des Magus glauben, während das stete Rauschen der mächtigen Schwingen durch die Löcher im Rumpf zu ihnen hereindrang und endlich die Sauerstoffmasken aus den Decken fielen, als der Bordcomputer auf den stetigen Druckabfall in der Kabine reagierte. Richard setzte sich mit einem schicksalsergebenen Gesicht zu ihnen in einen der Ledersessel, und Grayson war geradezu dankbar dafür, dass sie unter den Masken schweigen mussten. Noch mehr Offenbarungen durften gerne warten, bis sie dort gelandet waren, wo immer so ein Erzdrache sie auch empfangen wollte.