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Оглавление2) Evolution der Virodiversität – eine unaufhaltsame Erfolgsgeschichte
Da die Evolutionsgeschichte der Viren sich über einen extrem langen Zeitraum erstreckt – je nach Modell könnte ihre Entstehungszeit mehrere Milliarden Jahre zurückliegen – ist es wenig überraschend, dass sich eine beachtliche Vielfalt ausgebildet hat. Trotzdem kann man diese «Virodiversität», also Mannigfaltigkeit der Viren, in relativ einfache Haupttypen unterteilen. Einmal ist dies anhand der Erbsubstanz möglich: Viren können entweder DNA oder RNA als Erbmaterial verwenden – zwei Sorten von Nukleinsäuren, wie sie auch in Zellen zum Einsatz kommen –, um die genetische Information auf geordnetem Wege (nämlich von genomischer DNA via «abgeschickter» Boten-RNA) in Proteinbausteine zu übertragen. Eine andere simple Möglichkeit der Klassifizierung liefert die Frage, wie diese virale Erbsubstanz, also das Virengenom, «verpackt» ist. Normalerweise befindet sich das virale Genom in einer oder mehreren «Umverpackungen», die aus Proteinen bestehen. Ein solcher Proteinmantel wird als Capsid bezeichnet. Das Capsid bildet in seinem Inneren einen Stauraum, der neben dem zwingend benötigten viralen Erbgut auch katalytisch wirksame Proteine (Enzyme) beherbergen kann: In der Regel helfen diese Enzyme dann bei der Erbgutvermehrung, sobald das Eindringen in eine Wirtszelle gelungen ist.
Trotz der Proteinumhüllung nennt man solche Viren aber nicht «Hüllviren». Ein Hüllvirus weist zusätzlich zum Capsid eine weitere Außenumgrenzung auf, die aus einer Lipiddoppelschicht besteht: einer feinen Membran aus Fettsäuren, die man genau so von der äußeren Umgrenzung sämtlicher Zellen kennt. Dieser Virentyp ist also, was man als sehr bemerkenswert bezeichnen muss, mit einer Zellmembran ausgestattet. Wie Hüllviren zu diesem charakteristischen Bestandteil kommen, werden wir in den beiden nächsten Kapiteln erfahren; vorerst sei festgehalten, dass die Übereinstimmung dieser «Virenmembran» mit einer Zellmembran sich auf weitere Details erstreckt. Vor allem sind spezielle Proteine (normalerweise Glykoproteine, also Eiweiße mit Zuckerseitenketten) in diese Lipiddoppelschicht integriert – es handelt sich um jene keulen- oder saugnapfähnlichen Fortsätze, wie man sie aus massenmedial verbreiteten Abbildungen bestimmter Hüllviren verinnerlicht hat (das in dieser Hinsicht lange Zeit populärste Virus, HIV1, wurde neuerdings von SARS-CoV2 überholt). Jene meist «Spikes» genannten Proteinfortsätze – der Fachbegriff lautet Peplomere – spielen bei der Interaktion mit der Wirtszelle eine entscheidende Rolle. Generell kann man sagen, dass beide Bautypen von Viren mittels Proteinbestandteilen den Kontakt zur Wirtszelle herstellen: die «einfachen» Viren mit Proteinen des Capsids (manchmal auch mittels spezieller Vertiefungen auf der Proteinaußenfläche), die Hüllviren mit den aus der Membran herausragenden Proteinspikes. Diese für die virale Invasionsstrategie entscheidenden Außenproteine und Oberflächenstrukturen hat man anschaulich als Türöffner bezeichnet, derer sich die Viren bedienen, um ins Zellinnere zu gelangen, und tatsächlich spielen Schlüssel-Schloss-Mechanismen eine Rolle: In der Zellmembran der Wirtszelle müssen bestimmte Rezeptorproteine auf die «Türöffner-Proteine» der angedockten Viren reagieren. Nur wenn dies der Fall ist, wird das Eindringen durch die Zellmembran möglich. Da die äußere Rezeptorzusammensetzung von Zellen insgesamt sehr verschieden ausfällt, wird auch verständlich, warum Viren nicht in jede beliebige Zelle gelangen können: Jede Virussorte ist auf bestimmte Zelltypen spezialisiert, in grundsätzlicher Abhängigkeit von den genannten Schlüssel-Schloss-Mechanismen (fachsprachlich Ligand-Rezeptor-Reaktionen). Nur bei Zielrezeptoren, die auf vielerlei Zelltypen anzutreffen sind, kann ein Virus sich eher unspezifisch verhalten und alle betreffenden Zelltypen invadieren.
Das AIDS-Virus HIV1 in modellhafter Darstellung. Das Erbgut in seinem Inneren (blaue Stränge) besteht aus zwei identischen einsträngigen RNA-Genomen. AIDS-Viren sind Retroviren: Sie lassen ihr RNA-Genom in DNA übersetzen, sobald sie in eine Wirtszelle eingedrungen sind. Hierfür bringen sie das Enzym Reverse Transkriptase mit (hellgrün im Modell), das in den Wirtszellen nicht vorhanden ist.
Wenn man vom enormen evolutiven Erfolg der Viren redet, ist einerseits ihre Befähigung zur «flexiblen Antwort» gemeint – sie können durch äußerst zahlreiche Variationen ihrer Außenproteine und ihrer eigenen Enzymausstattung immer wieder auf Abwehrmaßnahmen ihrer Wirte reagieren. Andererseits geht es bei ihrer evolutiven Erfolgsgeschichte natürlich auch um ihre Herkunft. Hierzu legte man verschiedenste Modelle vor; einige davon muten recht fantasievoll an: etwa die Vorstellung, dass sie von Kometen auf die Erde eingeschleppt wurden (was leider unerklärt lässt, ob oder wie sie im Kometenmaterial entstanden). Bevor wir einige grundsätzliche Gedanken zur höchst geheimnisvollen Evolutionsgeschichte der Viren vorstellen, sei noch kurz der Sammelbegriff «Virus» als solcher hinterfragt. Bisher haben wir nur festgehalten, dass Viren stoffwechselphysiologisch inaktive Partikel sind, die erst nach dem Eintreten in eine geeignete Wirtszelle ihr Erbgut vermehren und neue Viruspartikel erzeugen. Wenn man wollte, könnte man den Begriff Virus auch eingeschränkter gebrauchen und nur für solche zellparasitischen Partikel verwenden, die Eukaryoten befallen, also Zellen mit einem Zellkern. Eine andere bedeutende Gruppe von Zellparasiten wären dann die Bakteriophagen: Wie ihr Name schon sagt, attackieren diese ausschließlich Bakterien, also eine besondere Gruppe von Einzellern, die keinen Zellkern aufweisen (und daher als Prokaryoten klassifiziert werden). Es ist jedoch nicht unüblich, beide Typen als Viren zu bezeichnen (Spezielleres zu Bakteriophagen siehe in den beiden nächsten Kapiteln). Ihre Vermehrungsstrategie jedenfalls ist identisch, weshalb wir uns jetzt der Frage zuwenden wollen, wie es im Laufe der Evolution zur Entstehung solch seltsamer, «leblos» erscheinender Zellparasiten kommen konnte.
Zur Evolutionsgeschichte der Viren gibt es im Wesentlichen drei Erklärungen, die im Detail aber modifizierbar sind. Nach der einen Theorie handelt es sich um sehr alte, replikationsfähige Vorstufen zellulär organisierten Lebens beziehungsweise um einen «parallel» laufenden Evolutionszweig, in dem diese Replikationsfähigkeit vielleicht früher entstand als bei den direkten Vorläufern der ersten Zellen. Replikation bedeutet, dass diese Ur-Viren ihr Erbgut vermehren konnten und damit auch ihre Proteinbestandteile, deren Information ja im Erbgut enthalten ist. Sie sollen demnach ein Genom aus RNA (das gebräuchliche, englische Kürzel für Ribonukleinsäure) oder DNA (Desoxyribonukleinsäure) gehabt haben und in der
Lage gewesen sein, diese Erbinformation für den Bau neuer
Viren einsetzen zu können, ohne hierfür Wirtszellen zu benötigen.
Gemessen am gegenwärtigen Befund, ist diese Theorie problematisch, da alle heute bekannten Viren ausnahmslos auf Zellen angewiesen sind, um deren Stoffwechsel in parasitischer Manier für ihre eigenen Vermehrungszwecke zu nutzen. Wenn Viren also vor den ersten Zellen entstanden, muss ihr damaliger Vermehrungszyklus vollkommen anders abgelaufen sein als in der Gegenwart. Ganz allgemein kann man diese Theorie so wiedergeben, dass in bestimmten Bereichen des damaligen «Urmeeres» – wohl eher ein kleiner und flacher Randbereich beziehungsweise dort befindliche poröse Gesteinsoberflächen – die Konzentration bestimmter Makromoleküle so stark anstieg, dass Nukleinsäuren und Proteine in ein ähnliches Wechselspiel traten, wie wir es heute noch aus dem Zellinneren kennen. Durch gegenseitigen Kontakt etablierten sich autokatalytische (von selbst ablaufende) Replikationsmechanismen, und die frühesten Viren gehörten zu solchen RNA- oder DNA-Molekülen, die sich mittels bestimmter Hilfsproteine zu vermehren begannen. Dann aber könnte, mit der Evolution der ersten Zellen, eine Verknappung jener Proteine eingetreten sein, die die Frühviren für ihren Vermehrungszyklus brauchten. Viren standen an diesem Punkt vor dem Aussterben, doch bestimmte Mutanten erlangten die Fähigkeit, in
Zellen einzudringen und dort ihre Vermehrungsaktivitäten weiterzuführen. Nur diese sich immer weiter spezialisierenden Zellparasiten überlebten; alle anderen Frühviren hingegen mussten mangels Erfolg von der Evolutionsbühne abtreten.
Solche und ähnliche Theorien, in denen Viren als eine Art «Proto-Leben» betrachtet werden, das sich später an den Erfolg «echter» Lebensformen anhängte, erfahren heute mehrheitlich Ablehnung. Das deutlich favorisierte Evolutionsmodell lautet, dass es sich bei Viren um Ausgliederungs- beziehungsweise Verlustphänomene handelt, also um ehemalige Bestandteile von Zellen, die sich schrittweise aus dem Stoffwechselgeschehen emanzipierten. Aber auch ein drittes Erklärungsmodell steht schon längere Zeit im Raum: Komplette Zellen könnten eine so starke evolutive Vereinfachung erfahren haben, dass sie am Ende dieser vielen «Abbaustufen» die gegenwärtig anzutreffende Organisationsform der Viren erreichten. Alle drei Erklärungsmodelle sind schon seit den 1940er-Jahren in der Fachliteratur präsent.
Die kleinsten bekannten Viren kann man als die kleinsten replizierbaren Einheiten betrachten, die die natürliche Evolution hervorgebracht hat – also als «maximal-ökonomische» Replikatoren. Doch möglicherweise waren auch ihre evolutiven Vorläufer nicht viel größer, etwa wenn es sich um kleine RNA- oder DNA-Bestandteile handelte, wie man sie bis heute aus dem ganz normalen Zellstoffwechsel kennt. Freie RNA zum Beispiel vermittelt als obligates Botenmolekül zwischen der DNA-Erbinformation und den Ribosomen, also den Stätten der Proteinsynthese. Diese Boten-RNA ist nur einer von mehreren Kandidaten, die hinsichtlich der Ursprünge eines späteren Zellparasitismus auf der Verdächtigenliste der Evolutionsbiologen stehen. Beispielsweise werden aus der Boten-RNA höherer Organismen unbrauchbare Bestandteile (sogenannte Introns) herausgeschnitten; sie könnten ebenfalls eine Vorläuferrolle gespielt haben, speziell für sogenannte Viroide (einen bestimmten Typ von Pflanzenviren, vergleiche das nächste Kapitel).
Unter den kurzen DNA-Bestandteilen des Zellinneren wären einerseits Transposons zu nennen, also Abschnitte des Erbgutes von Bakterien und höheren Lebewesen, die ihre räumliche Position im Genom ändern und während dieser «Verschiebungen» nicht nur als freie DNA vorliegen, sondern sogar abgelesen werden und auf diesem Wege weitere «Springer» erzeugen können. Noch bessere Kandidaten könnten aber sogenannte Plasmide sein, also ringförmige, kurze DNA-Abschnitte, die besonders von Bakterien bekannt sind und neben deren eigentlichem Erbgut eine Art «Zellgast» bilden, der sich über die Teilungsschritte des Bakteriums von einer Generation zur nächsten verbreiten lässt. Plasmide können zwar mit dem Erbgut des Bakteriums interagieren, gelten aber trotzdem nicht als eigentlicher Bestandteil der Bakterienzelle. Vielmehr werden sie zwischen Bakterien ausgetauscht, wenn diese direkten Kontakt haben, und können deshalb innerhalb einer Bakterienart in größerer Variationsbreite vorkommen. Genau diese Austauschvorgänge machen sie aber zu möglichen Vorläufern von Viren, etwa solchen, die zunächst ein Capsid, also die schon erläuterte Verpackung aus Proteinen, entwickelten. Ein vorgeschlagenes Szenario lautet, dass bestimmte Plasmide Gene enthielten, mit denen sie eine Art Proteintunnel zwischen zwei Bakterien aufbauten. Über diesen konnten die Plasmide dann ausgetauscht werden, was generell für die genetische Flexibilität von Bakterien von Vorteil ist – etwa bei der Entwicklung von Resistenzen. Aus diesem Proteintunnel könnte dann in einem weiteren Spezialisierungsschritt das erste Capsid entstanden sein, also das erste von Zellen entkoppelte Proteinkleid mit einer darin enthaltenen Erbinformation. Möglicherweise blieben Plasmide in diesem Frühstadium noch kooperative, «freie» Boten zwischen Bakterien, bis sie sich dann zu aggressiven Bakteriophagen wandelten, also Viren, wie wir sie bis heute als die größten natürlichen Feinde von Bakterien kennen. Dass Plasmide die Vorläufer von Viren sein könnten, ist erst seit kurzem wieder eine der anerkanntesten Theorien, denn es wurden erstmals Plasmide beschrieben, die nicht nur über Membranvesikel (membranumgrenzte Bläschen) von einem Bakterium zum nächsten wechseln, sondern in diese Membran auch eigene, also von der Plasmid-DNA codierte Proteine einbauen. Als Membranvesikel mit Außenproteinen und innerem Erbmaterial wären sie Viren rein organisatorisch schon sehr nahe.
Bei all diesen Vorschlägen muss man berücksichtigen, dass es bei ihnen nicht um den einen Ursprung der Viren geht, sondern dass sie – ihrem Variantenreichtum entsprechend – wohl eher mehrfach unabhängig entstanden. So gesehen, könnten alle bisherigen Theorien zu ihrer Herkunft zutreffend sein, was bereits der britische Physiologe Gerald A. Kerkut (1927–2004) im Jahr 1960 festhielt. Viren stellen wahrscheinlich keine Abstammungsgemeinschaft (englisch clade), sondern einen Organisationsgrad (englisch grade) dar, der im Laufe der Erdgeschichte mehrfach und vor allem von verschiedenen Vorstufen aus erreicht wurde. Spätestens mit der Entdeckung sogenannter Riesenviren im Jahr 2003 wurde auch das dritte Evolutionsmodell nochmals relevant, sprich die Vorstellung stark reduzierter «ganzer» Zellen. Diese könnten Einzeller gewesen sein, die entweder von Anfang an ein aggressives Verhalten gegenüber anderen einzelligen Organismen zeigten oder aber von diesen zunächst symbiontisch (beziehungsweise in ähnlicher Manier als «Gastzellen») beherbergt wurden, bevor sie begannen, gegenüber ihren Wirten destruktiv zu werden.
Auch wenn sich all diese Evolutionstheorien heute gut auf bestimmte Virentypen anwenden lassen, muss vor einem möglichen Denkfehler gewarnt werden. Viren werden in den oben skizzierten Rekonstruktionen stets als pathogene oder destruktive zellparasitäre Spezialisten vorgestellt. Es verhalten sich jedoch längst nicht alle Viren schädlich gegenüber ihren Wirtszellen. In vielen Fällen können sie in diesen auch als latente Erreger verbleiben, sich also etwa durch Zellteilungen von Generation zu Generation weitergeben lassen, ohne Schaden anzurichten (in der Art, wie gerade für die Plasmide der Bakterien geschildert). Noch interessanter sind Beobachtungen, nach denen im Ozean lebende Viren den genetischen Apparat bereits absterbender Einzeller nutzen können. Solche moribunden Zellen – normalerweise Algen – können quasi schon «tot» sein, aber einzelne Bereiche in ihrem sich auflösenden Zellplasma reichen im Meerwasser befindlichen Viren aus, um sich in diesen «Zelltrümmern» noch vermehren zu können! Vor diesem Hintergrund werden verfeinerte Evolutionsszenarien für Viren denkbar; sie könnten primär die großen Mengen absterbenden Zellmaterials, wie sie der Ozean zu bieten hat, für ihre Vermehrungszwecke genutzt haben. Ausgehend von solchen «resteverwertenden» Vorstufen, war das Eindringen in vitale, gesunde Zellen vielleicht erst ein zweiter
Schritt.
Doch nicht nur im Hinblick auf nicht-pathogene Viren ergibt sich ein ungewohnter Blick auf diese seltsamen Akteure des Naturgeschehens. Auch die «rein zerstörerischen» Formen, die ihre Wirtszellen ausnahmslos töten, müssen gerade im Ökosystem der Ozeane differenzierter betrachtet werden. Vor allem kommt es in den Weltmeeren immer wieder zu gewaltigen Massenvermehrungen bestimmter Organismen, angefangen mit einzelligen Algen, die auf diese Weise zur Gefahr für andere Meeresbewohner werden (besonders wenn es sich um Giftstoffe produzierende Algen handelt – solche gesundheitsgefährdenden Algenblüten kennt man auch aus Süßwasserbiotopen, etwa von gesperrten Badeseen). Einige dieser Meeresalgen, wie etwa Emiliania huxleyi, bilden derartig riesige Wachstumsteppiche aus, dass sie am ehesten mit Satellitenfotos darstellbar sind. Diese riesigen Algenwolken können aber auch sehr schnell wieder verschwinden, und hierfür sind bestimmte, auf Algen spezialisierte Viren wie etwa die Phycodnaviren verantwortlich (eine besondere Virengruppe mit doppelsträngigem DNA-Erbgut, bei denen die Umhüllung von den normalen Bautypen abweichen kann). Es wäre folglich zu kurz gedacht, Viren als bloße «Zerstörer» aufzufassen. Gerade in dieser Eigenschaft können sie die Rolle unersetzlicher Regulatoren einnehmen, womit sie das dringend erforderliche Gegengewicht zu schädlichen Massenvermehrungen anderer Organismen bilden. Weitere Beispiele hierfür
werden wir im zwölften Kapitel (»Viren als Helfer«) kennenlernen.
Die frühe Evolutionsgeschichte der Viren spielte sich mit einiger Sicherheit in den Ozeanen ab, und ihre zum Teil erhebliche Bedeutung in den dortigen ökologischen Netzwerken, die wir gerade erst zu verstehen beginnen, bildete sich parallel mit der Ausbreitung des Lebens in den Urmeeren aus. Als sich verschiedene Organismentypen im Laufe der Evolution vom Wasser aufs Land vorkämpften – die Pflanzen vor etwa 470 Millionen Jahren, Tiere vermutlich erstmals vor 425 Millionen Jahren – nahmen sie die Viren wahrscheinlich mit, so dass auch in der Tier- und Pflanzenwelt des Festlandes der ständige evolutive Virus-Wirt-Antagonismus persistierte. In einigen Fällen führten diese wechselseitigen Anpassungen von Angriff und Abwehr zu «toleranten» Lösungen, in denen Viren ihre Wirte nicht mehr zwingend schädigten, in anderen blieben sie in der uns geläufigeren «Killer»-Rolle, aber dann wohl eher für Organismengruppen, die zu saisonalen Massenvermehrungen tendierten. Aus dieser tiefen Einbettung in ökologische Netzwerke wurde an Land wie zuvor im Ozean eine Vielfalt viraler Strategien herangezüchtet, und genau dieser Prozess hält bis heute an. Die Biosphäre wandelt sich, und Viren können dank ihrer Mutabilität auf die meisten Veränderungen rechtzeitig reagieren, indem sie sich zum Beispiel die Option erhalten, von einem bevorzugten Wirt auf neue Neben- und Zwischenwirte überzugehen und diese weiter zu benutzen, wenn der ehemalige Hauptwirt sich als ineffizienter Verbreiter erweist oder gar ausstirbt. Dabei wird alles «angetestet», was in Reichweite ist, und so konnte es geschehen, dass zum Beispiel Influenzaviren (also Grippeviren), die sich an bestimmte Vögel als Hauptwirte angepasst hatten, auf Säugetiere übergingen: von Landsäugern und Robben bis hin zu den Walen der Hochsee. Um ihre enorme Flexibilität und den dadurch gesicherten evolutiven Erfolg bildhaft auszudrücken, könnte man sagen, dass Viren «die Kleinsten» sind, denen es möglich ist, die «Größten» zu besiegen. Sie repräsentieren, wenn man so will, die Hackerzunft der Lebewelt.