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ОглавлениеDie fünf Tore der Liebe
Predigt über Hoheslied 3,1-5 in der katholischen Kirche St. Stephan in Freiburg-Munzingen zum Abschluss der ökumenischen Bibelwoche am Freitag, 23. Februar 2018
Das Hohelied kann man nicht predigen! Man kann es singen, lesen, meditieren und tanzen. Aber predigen, erklären, deuten, interpretieren – das geht nicht. Das führt bestenfalls zu Missverständnissen. Die Geschichte des Umgangs mit diesem biblischen Text ist darum immer schon auch eine Geschichte des Missverstehens gewesen.
Biblische Texte handeln nicht einfach von der Liebe zwischen Menschen. Sie handeln von Gott, so höre ich die Altvorderen im Glauben sagen. Sie handeln von der Beziehung zwischen Gott und den Menschen. Ganz gleich, um welche Art von Texten es sich handelt.
Keine Frage: Diese poetische Liedsammlung, die wir Hoheslied nennen, hat sich unserem normalen Umgang mit biblischen Texten widersetzt. Das eine Mal ist dieses Lied eingeebnet und über den gleichen Leisten geschlagen worden wie alle anderen Texte auch. Oder es ist gleich ganz in der Versenkung verschwunden. Nur gepredigt – gepredigt wird das Hohelied eher selten. Bis heute.
Wie gut, dass die Ökumenische Bibelwoche sich in diesem Jahr dieses Textes annimmt! Wie gut, dass dieses Hohelied auch in den Gottesdiensten zum Abschluss der Ökumenischen Bibelwoche zum Thema wird! Und darum soll in der Predigt das Unmögliche möglich werden. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es geht, das Hohelied zu predigen. Und natürlich hoffe ich, dass sie am Ende dieselbe Erfahrung machen.
Eine gottesdienstliche Annäherung an das Hohelied also – wie kann das gehen? Mir hat sich folgender Weg aufgetan. Manchmal stelle ich mir die Bibel nämlich wie eine Landschaft vor. Die gewichtigen fünf Bücher Mose ragen wie ein Hoch- gebirge aus der Landschaft heraus, so wie das gewaltige Gebirgsmassiv der Alpen Mittel-Europa durchzieht. Das Thema der Gerechtigkeit gründet sich tief in den Seen der Schriften der Propheten. Die Geschichtsbücher, Chronik, Könige - sie beschreiben Wege, die sich durch die ganze Landschaft bahnen.
Die Evangelien markieren vier Quellen, aus denen sich die ganze Lebendigkeit der Schöpfung in die Natur ergießt. Die Briefe des Paulus legen sich wie ein Netz aus Wäldern und Auen über die Landschaft.
Das Hohelied findet sich mitten in der Landschaft wie ein anmutiges mittelalterliches Städtchen. Die einzelnen Häuser sind bemalt und schön saniert. Ansammlungen mehrerer Häuser bilden Quartiere, die sich wunderschön zu einem einheitlichen Ortsbild verbinden. Hier ein Brunnen, da ein kleines Straßencafé, daneben Galerien und Geschäfte. Aus einem Pavillon klingt Musik. Ein Thermalbad lädt zum Genießen ein.
Einen Ort stelle ich mir vor, der sich mit seiner Schönheit und seinem Gepräge deutlich von seiner Umgebung abhebt. Irritiert ob der eigenwilligen Schönheit des Ortes schauen die einen, neidisch die anderen. Die einen wenden sich ab, weil sie die Postkartenidylle nicht aushalten. Die anderen wollen einfach nur ihre Ruhe haben und genießen.
Neugierig geworden will ich mich in diesen Ort des Hohenliedes hineinwagen. Aber so einfach geht das nicht. Fünf Tore gilt es zu durchschreiten, um hineinzukommen. Fünf Tore, hintereinander gelegen wie der überdachte Marktweg einer orientalischen Stadt.
Ich nähere mich dem ersten Tor. Es ist das „Tor der Liebe zur Poesie“. Ich gehe in das Tor hinein und höre Worte wie Musik:
Leg mich wie ein Siegel auf dein Herz,
wie ein Siegel auf deinen Arm,
denn stark wie der Tod ist die Liebe,
die Leidenschaft ist hart wie die Unterwelt!
Ihre Gluten sind Feuergluten, gewaltige Flammen.
Mächtige Wasser können die Liebe nicht löschen,
auch Ströme schwemmen sie nicht hinweg.
Böte einer für die Liebe den ganzen Reichtum seines Hauses,
nur verachten würde man ihn.
Ich höre und mir wird klar: Zugang muss ich finden zu dieser so ganz anderen Sprache. Sie erzählt nicht einfach nüchtern wie in den Texten des Josuabuchs und den zwei Bänden der Chronik der Könige Israels. Sie legt keine logischen Gedankengänge offen wie die Briefe des Apostels Paulus. Sie will mein Herz öffnen. Und meine Seele zum Singen bringen.
Die Gitter öffnen sich wie von allein. Ohne hässliches Klirren. Ihr Klang wirkt befreiend und wohltuend. Und beglückt öffnen sich die Pforten und locken mich ins zweite Tor. Tor der „Liebe zu den schönen Bildern“ lese ich und bin sogleich in den Bildertaumel hineingezogen. Mal geht mir der eine Satz ins Ohr, und dann der andere ins Herz. Meine Seele kommt kaum hinterher.
Salomo besaß einen Weinberg in Baal-Hamon;
den Weinberg übergab er Hütern.
Für seine Frucht wird jeder tausend Silberstücke bezahlen.
Mein eigener Weinberg liegt vor mir.
Und weiter:
Meine Taube in den Felsklüften, im Versteck der Klippe,
dein Gesicht lass mich sehen, deine Stimme hören!
Und weiter:
Die Quelle des Gartens bist du,
ein Brunnen lebendigen Wassers, das vom Libanon fließt.
Nordwind, erwache!
Südwind, herbei!
Durchweht meinen Garten,
lasst strömen die Balsamdüfte!
Ich ahne: Vieles, was ich sage, ist viel mehr als ich sage. Sprache verhüllt, um zu enthüllen. Sprache verwendet Bilder, um von der Wirklichkeit zu sprechen. Sprache reiht Wörter aneinander. Und erschafft eine ganze Welt. Sprache nutzt den Klang der Stimme. Und lässt Lieder des Himmels erklingen.
Neugierig geworden schreite ich weiter. Wage mich in das dritte Tor. Es ist das „Tor der Liebe zur erotischen Sprache“. Ich gehe in das Tor hinein und bin von den gesungenen Klängen wie betört, mit denen der eine von der anderen singt:
Siehe, schön bist du, meine Freundin,
Hinter dem Schleier deine Augen wie Tauben.
Wie ein purpurrotes Band sind deine Lippen und dein Mund ist reizend.
Dem Riss eines Granatapfels gleich deine Wange.
Wie der Turm Davids ist dein Hals.
Deine Brüste sind wie zwei Kitzlein,
die Zwillinge einer Gazelle, die unter Lilien weiden.
Alles an dir ist schön, meine Freundin,kein Makel haftet dir an.
Und indem ich weitergehe, höre ich, gehen die Worte mit mir:
Mein Geliebter ist weiß und rot,
ausgezeichnet vor Tausenden.
Sein Haupt ist reines Gold,
seine Locken sind Rispen, rabenschwarz.
Seine Augen sind wie Tauben an Wasserbächen,
gebadet in Milch, sitzend am Wasser.
Seine Wangen sind wie Balsambeete,
darin Gewürzkräuter sprießen.
Seine Hände sind Rollen aus Gold, mit Steinen aus Tarschisch besetzt.
Sein Gaumen ist Süße,
alles ist Wonne an ihm.
Nein, vertraute Kirchensprache ist das nicht, denke ich. Aber eben doch: Bibelsprache! Wohltuend, dass sich solche Lieder im Alten Testament, in der Hebräischen Bibel finden. Gottes Schöpfung ernstnehmend. Und rühmend. Sprache voller Erotik, die nicht verschämt ist und nicht lüstern und zur Schau stellend wie viele Magazine heute, mit denen viele zu viel Geld verdienen.
Und beglückt öffnen sich die Pforten und locken mich ins vierte Tor. Tor der „Liebe zur Suche ohne Unterlass“ ist zu lesen. Ich werde von einer nie geahnten Sehnsucht ergriffen. Und indem ich weitergehe, höre ich vertraute Worte:
Des Nachts auf meinem Lager suchte ich ihn, den meine Seele liebt.
Ich suchte ihn und fand ihn nicht.
Aufstehen will ich, die Stadt durchstreifen,
die Gassen und Plätze,
ihn suchen, den meine Seele liebt.
Ich suchte ihn und fand ihn nicht.
Mich fanden die Wächter
bei ihrer Runde durch die Stadt.
Habt ihr ihn gesehen, den meine Seele liebt?
Kaum war ich an ihnen vorüber,
fand ich ihn, den meine Seele liebt.
Ich packte ihn,
ließ ihn nicht mehr los,
bis ich ihn ins Haus meiner Mutter brachte,
in die Kammer derer, die mich geboren hat.
Bei den Gazellen und Hinden der Flur beschwöre ich euch,
Jerusalems Töchter: Stört die Liebe nicht auf,
weckt sie nicht, bis es ihr selbst gefällt!
So möchte ich suchen können! Nicht allein den Menschen, den meine Seele liebt. Ja, den auch, immer neu. So möchte ich suchen können, was meinem Leben Grund gibt und Halt. So möchte ich suchen können nach Frieden und Gerechtigkeit in dieser so geschundenen Welt – in Syrien. Im Jemen. Wo auch immer. So möchte ich suchen können nach Auswegen aus festgefahrenen Situationen. So möchte ich suchen können, um zu verstehen, was meinen Glauben ausmacht.
So möchte ich suchen können - auch nach Gott. Und ehe ich mit meinen Gedanken am Ziel bin, stehe ich im fünften Tor. Klänge umgeben mich und Farben. Wie betört bin ich von den Düften der Wahrheit und erfrischt von den Wassern erneuerten Lebens. Ich finde mich wieder mitten im „Tor der Gottesliebe“. Ich ahne, ja ich weiß: Wo immer von der Liebe die Rede ist, die Menschen verbindet, ist die Gottesliebe nicht außen vor.
Es gibt kein Leben ohne Liebe. Auch wenn viele die Liebe entbehren müssen. Und zeitlebens auf der Suche nach Liebe bleiben. Und immer stärker sind die Chöre jenes anderen Hohen Liedes:
Wenn ich in den Sprachen
der Menschen und Engel redete,
hätte aber die Liebe nicht,
wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke.
Und wenn ich prophetisch reden könnte
und alle Geheimnisse wüsste
und alle Erkenntnis hätte,
wenn ich alle Glaubenskraft besäße
und Berge damit versetzen könnte,
hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts.
Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte
und wenn ich meinen Leib opferte,
um mich zu rühmen,
hätte aber die Liebe nicht,
nützte es mir nichts.
Die Liebe hört niemals auf.
Prophetisches Reden hat ein Ende,
Zungenrede verstummt,
Erkenntnis vergeht.
Jetzt schauen wir in einen Spiegel
und sehen nur rätselhafte Umrisse,
dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht.
Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk,
dann aber werde ich durch und durch erkennen,
so wie ich auch durch und durch
erkannt worden bin.
Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe,
diese drei;
doch am größten unter ihnen ist die Liebe.
Durchschritten habe ich den Weg vom Hohenlied der Liebe zwischen Menschen zum Hohen Lied der Liebe von mir zu Gott und von Gott zu mir. Und ich verlasse das fünfte Tor und finde mich mitten in jenem schönen Städtchen wieder, mitten in jener Landschaft. Viel mehr ist diese Stadt als nur eine Oase. Viel mehr als ein fremder, lieblicher Ort inmitten einer unwirtlichen Welt.
Viel mehr ist das Hohelied Salomos als ein biblisches Buch, das seinen Platz in der Bibel einem Irrtum verdankt. Nicht um Menschenliebe soll es gehen. Vielmehr um Gottesliebe. Wie kann es um Gottesliebe gehen – und die Menschen bleiben außen vor? Wie kann es um Menschenliebe gehen – und Gott hätte keinen Raum in ihr?
Ein Glücksfall, dass dieses Hohelied, dieses „Lied der Lieder“ wie es eigentlich heißt, den Weg in die Bücher der Bibel gefunden hat. Ob das wirklich im Jahr 90 nach Christus geschehen ist - auf einer Synode in der Stadt Jamnia, ganz nah bei Tel Aviv gelegen - oder in einem allmählichen Prozess der Auswahl dieser Bücher – Hauptsache, dieses Hohelied wird in der Bibel gesungen. Hauptsache, wir bringen es nicht zum Verstummen, weil wir seinen Klang für unbiblisch halten.
Gut ist es, dass wir diesen einzigartigen Text haben.
Und wenn wir dieses Hohelied heute schon nicht so einfach singen können, mag es selber in uns singen.
Und wenn wir es so einfach nicht tanzen können, mag es unsere Seele zum Tanzen bringen.
Und wenn wir dieses Lied so einfach nicht zum Schweigen bringen wollen, dann wird es ihm nicht schaden, wenn es denn ab und an dann doch gepredigt wird.
Und wer weiß, auf dem Nachhauseweg singt es in dir und in mir einfach weiter.
Beglückend. Atemberaubend. Einfach schön.