Читать книгу Bung I - Vampire, Vampire! - Tuja Tiira - Страница 7
– Kapitel 2 'Kolja' –
ОглавлениеAls Ka am nächsten Nachmittag die schmale Treppe zum Dachboden hochstieg, waren die beiden anderen schon da. Lisa saß auf einem alten, verstaubten Tisch und schlenkerte mit den Beinen. Sie trug ein neues altes Kleid, das aber auch schon wieder recht staubig war. Sara saß an der Luke und wirkte halb desinteressiert. Aber Ka wusste genau, dass auch sie neugierig war. Lisa ließ sich vom Tisch gleiten und kam Ka entgegen. "Hat deine Mutter Zeit gehabt? Hat sie die Fehler gefunden?"
"Sie war total neugierig und hat bis spät nachts daran herum gebastelt. Sie hat mich bestimmt zehn Mal gefragt, was das eigentlich messen würde, dann musste ich ins Bett. Heute morgen hat sie mich noch mal gefragt. Ich wusste schon nicht mehr, was ich ihr antworten sollte. Zum Glück hat sie dann die Fragerei aufgegeben."
Ka seufzte. "Aber dafür muss ich jetzt das Unkraut zwischen dem Gemüse herausziehen. Ihr könnt mir dabei helfen."
Besonders begeistert sahen auch Sara und Lisa nicht aus beim Gedanken ans Unkrautjäten.
Sara blickte auf den Apparat in Kas Hand. "Hat deine Mutter ihn repariert?"
Ka nickte. "Ich glaube, ja. Sie hat einige Kupferdrähte wieder befestigt, einen neuen Draht eingezogen, zwischen zwei Kontakten, die nicht mehr verbunden waren, und die Mechanik überprüft und geschmiert. Zum Schluss war sie überzeugt, dass das Gerät jetzt fast wieder im Originalzustand ist, nur mit dem Draht war sie sich nicht sicher, wie dick er sein muss und ob sie das richtige Material verwendet hat." Nachdenklich fügte sie hinzu: "Elektrisch macht das wohl einen Unterschied. Weil alle anderen Kontakte verbunden waren, ist meine Mutter davon ausgegangen, dass auch die beiden nicht verbundenen Kontakte ursprünglich verbunden waren. Ganz im Inneren des Apparates hatte sie mir dann noch einen Bergkristall gezeigt, der halb in einen Stein eingeschlossenen war."
Nach einer kurzen Pause fuhr Ka grinsend fort: "Wozu das alles gut sein soll, hatte sie aber nicht entschlüsseln können. Am liebsten hätte sie wohl selber noch mit dem Apparat experimentiert, aber ich habe darauf bestanden, ihn heute wieder mitzunehmen."
"Und funktioniert er?" Lisa konnte es kaum erwarten, den Apparat zu benutzen.
"Bisher passiert gar nichts." Ka hatte den Apparat erst auf Lisa und dann auf Sara gerichtet. "Ihr beide seid zumindest ganz normal lebendig, aber vielleicht funktioniert der Apparat auch nur nicht. Hier unten am Apparat sind übrigens noch zwei kleine Rädchen, mit denen können wir wahrscheinlich die Feineinstellung des Detektors vornehmen. Jedenfalls meint das meine Mutter."
Sara sah sich den Apparat noch einmal genau an, und drehte ihn in alle Richtungen. Aber der Zeiger schlug nicht aus. Ka war enttäuscht. Nur Lisas Gesichtsausdruck wirkte fast erleichtert, da sie hinter den beiden stand, konnten Sara und Ka das aber nicht sehen. Etwas unsicher zupfte sie sich am Kleid.
"Lasst uns erst mal einen Kakao trinken, ich lade euch ein."
Gemeinsam gingen sie nach unten in die Küche und Lisa schenkte allen Kakao ein. Sie hatte eine große Menge in einer Karaffe im Kühlschrank stehen. Ka glaubte wieder etwas Blassgrünes unter dem Schrank zu sehen und ihr war, als ob kurz der Zeiger ausgeschlagen hätte, außerdem hatte sie ein Rascheln gehört. Sie wollte gerade dazu etwas sagen, als Sara ihre Gedanken unterbrach: "Ich muss noch Gemüse einkaufen auf dem Markt am Kanal, wir können da genauso gut mit der Suche anfangen wie irgendwo anders."
Ka vergaß das Rascheln; zwar war sie nicht ganz überzeugt, sie konnte sich keine Nachtgeschöpfe auf dem Markt vorstellen, aber was machte das schon? Das Wetter war immer noch schön und draußen war es angenehm warm. "Dann lasst uns gehen."
Lisa nickte. "Gut"
Lisa war zwar froh, das Haus zu verlassen, aber von der Idee, auf dem Markt zu suchen, war sie nicht begeistert. In ihren Gedanken formte sich wieder das Bild kleiner, blassgrüner Geschöpfe, aber das war ihr Geheimnis, zumindest noch. Doch sie ließ sich nichts anmerken. Da sie nicht wusste, was sie sagen sollte, hatte sie zugestimmt. Ka und Sara bemerkten nur, dass sie etwas unsicher lächelte, dachten darüber aber nicht weiter nach.
Sie stellten die Gläser in die Spüle und liefen den Weg ums Haus herum zum Vordereingang, von da führte ein Pfad zur Straße.
Keine von ihnen bemerkte die dunkelrot glühenden Augen, die ihnen aus dem schwarzen Dunkel eines großen Busches heraus nachsahen, als sie den Garten durchquerten.
Auf der Straße war niemand zu sehen. Ka fand es fast unheimlich still für einen Nachmittag in der Stadt.
Nur der Wind war zu hören.
Ein Eichhörnchen lief über den schwarzen Asphalt und sah sie kurz an. Als sie sich näherten, rümpfte es die Nase und verschwand in einem Vorgarten. Sie lachten.
Lisa war die ganze Zeit so aufgeregt, dass sie mehr hüpfte als ging.
Der Markt war nicht weit. An einer Straßenecke begegnete ihnen ein junges Paar mit Kinderwagen. Ka überprüfte sie unauffällig mit dem Untot-Detektor. Die drei waren aber alle lebendig, auch das Kleine im Kinderwagen.
Lisa blickte dem Kinderwagen nach. "Ganz kleine Kinder sehen fast aus wie Marsmenschen."
Sara verdrehte die Augen: "Sicher."
Lisa ließ sich davon aber nicht abschrecken. "Ich habe einmal eine Fernsehdokumentation darüber gesehen."
Sara grinste. "Über Kinder?"
"Nein, über Marsmenschen, die haben auch so einen großen Kopf."
Sara schüttelte den Kopf. "Es gibt keine Marsmenschen."
Lisa sah Sara mit großen Augen an. "Ich weiß, aber wieso sehen dann nicht-existente Marsmenschen aus wie kleine Kinder?"
Darauf wussten weder Ka noch Sara eine Antwort.
Einen Augenblick lang schwiegen alle.
Dann kamen sie zum Markt.
Ein Auto hupte sie an, als sie die Straße überquerten. Ka verlangsamte bewusst ihr Schritttempo. Lisa war das sichtbar unangenehm, doch sie wollte auf keinen Fall vor ihren neuen Freundinnen als feige dastehen. Also ging auch sie langsamer, was aber dazu führte, dass sich ihre Füße irgendwie ineinander verhedderten. Sie musste sich auf dem Kühlerblech abstützen, um nicht hinzufallen. Ka und Sara lachten. Der Autofahrer hupte jetzt wie wild. Schnell zogen Ka und Sara Lisa zum Bürgersteig und tauchten in der Menge unter.
Der Markt, der sich am Kanalufer entlang zog, war überfüllt, der Lärm der Menge übertönte alle anderen Geräusche. Ka mochte den Geruch von Käse und Fisch vermischt mit dem Geruch des Kanals.
Sara hasste Menschenmengen, sie versuchte möglichst zwischen den Leuten durchzutauchen, ohne jemanden zu berühren um den nächsten Gemüsestand zu erreichen. Ka und Lisa störte das Gedränge nicht.
Das Gemüse sah einfach fürchterlich aus, ein großer Teil war völlig verschrumpelt. Normalerweise war das Gemüse hier frisch.
Sara war gerade dabei, sich einige gut erhaltene Gurken und Paprika zwischen den Vertrockneten und Verfaulten herauszusuchen, als Ka sie anstieß. "Der Detektor spielt völlig verrückt."
Ka drehte sich mit dem Gerät mehrfach um die eigene Achse, seitdem sie hier waren, schlug der Zeiger die ganze Zeit aus, egal in welche Richtung sie ihn hielt. Sara griff schnell noch nach einer letzten Gurke und ließ sie fallen. Irgendetwas hatte gefiept und sich unter den Gurken bewegt. "Ratten", Sara spannte ihren Körper an, einen Augenblick lang sah es so aus, als wolle sie den Ratten nachsetzen.
Doch Ka war nicht davon überzeugt, dass dies Ratten waren, sie glaubte wieder etwas Blassgrünes gesehen zu haben. Langsam wurde das zu einer fixen Idee, wahrscheinlich bildete sie sich alles nur ein. Sie wollte das gerade genauer untersuchen, als Lisa sich zu ihr umwandte, auch ihr schien der Aufenthalt auf dem Markt auf einmal unangenehm zu sein: "Lass uns doch etwas Abstand vom Markt halten, vielleicht funktioniert das Gerät dann besser." Ka fiel auf, dass Lisas Stimme zitterte. Sara, der es immer noch viel zu voll war auf dem Markt, trotz der Ratten, die sie scheinbar als interessante Ablenkung ansah, war Lisas Vorschlag natürlich recht. Ka wurde überstimmt.
Sara bezahlte schnell ihr Gemüse und zog Ka dann mit in Richtung der Brücke über den Kanal.
Etwas abseits in der Nähe der Brücke am Kanalufer blieben sie stehen, hier war es ruhiger und Ka konnte in Ruhe den Detektor überprüfen. Der Detektor schlug nur aus, wenn sie die Antenne auf den Markt ausrichtete. Sie fluchte: „Gemüse-Detektor."
Lisa wurde leicht rot. Sie war nahe daran, etwas zu sagen, dann biss sie sich aber auf die Lippe. Sie hatte die Geschöpfe entdeckt und es den anderen verschwiegen, wie konnte sie jetzt etwas sagen? Sicher würden Ka und Sara nicht mehr ihre Freundinnen sein wollen, sobald sie herausbekamen, dass sie es ihnen verheimlicht hatte.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte.
An einer alten Häuserwand hinter dem Markt fiel Ka ein großer gesprayter Schriftzug ins Auge, VVP. Der Schriftzug befand sich in mindestens vier Metern Höhe. Ka überlegte kurz, wie die Sprayerin das wohl gemacht hatte. Nun fiel ihr auf, dass VVP auch auf diverse Mülltonnen und Laternenpfähle gesprayt worden war. Lisa und Sara hatten das auch bemerkt.
Ka sah die beiden an: "Wisst ihr, wofür das steht?" Doch beide schüttelten nur den Kopf.
Aufmerksam prüfte Ka nun alle Richtungen mit dem Detektor, sie hatte den Eindruck, dass er auch noch an einer anderen Stelle leicht ausschlug. Sie drehte an den Stellrädern, vielleicht hatte sie ihn nicht richtig eingestellt. Jetzt wurde der Ausschlag deutlicher, die Antenne zeigte in Richtung einer Hofeinfahrt. Dort im Schatten standen zwei Männer. Sie hatte sie zuerst übersehen.
Sara und Lisa schauten jetzt auch. Der Schatten trennte die Hofeinfahrt scharf vom Markt, der im hellen Sonnenschein lag, nicht ein Lichtstrahl fiel in die Einfahrt. Sie konnten das Dunkel nur langsam mit ihren Augen durchdringen.
"Vorsicht, nicht so auffällig." Ka stupste Lisa an, die regelrecht hypnotisiert zur Einfahrt hinüber starrte.
"Die sehen schon aus wie Zombies", flüsterte Lisa, ihr wurde doch etwas mulmig.
"Das könnten auch Lehrer sein", erwiderte Sara. "Die stehen da rum, als hätten sie hier die Pausenaufsicht."
"Zombies oder Lehrer, auf jeden Fall schlägt der Detektor aus und das sollten wir untersuchen." Ka sah die anderen beiden an. "Dafür sind wir doch hier." Ka betrachte die beiden Männer unauffällig genauer.
Die zwei Männer trugen Trenchcoats, Hüte, teure Schuhe und Sonnenbrillen. Die Haare waren kurz geschnitten. Die Männer waren kräftig gebaut. Auf den ersten Blick sahen sie absolut durchschnittlich aus Gleichzeitig wirkten sie irgendwie gemein. Beide waren seltsam bleich, selbst im Schatten, und ihre Mundwinkel waren dünnlippig nach unten gezogen. Für die Mäntel und Hüte war das Wetter außerdem eindeutig zu warm. Sie schienen etwas zu suchen.
"Wollen wir rüber gehen?" Ka wollte gerade los, da fiel ihr auf, dass der Detektor noch an einer anderen Stelle ausschlug. Etwas weiter abseits am Kanal, nicht weit von ihnen, saß im Schatten der Bäume am Ufer auf einem Steinpfosten ein Junge, der ungefähr in ihrem Alter sein musste, und las ein Buch. Ab und zu blinkten die Lichtstrahlen durch die Zweige, trafen den Jungen und zeichneten sich bewegende Muster auf die Erde, die Büsche und das Wasser des Kanals.
Auch der Junge trug einen Hut, was für einen Jungen in seinem Alter zwar etwas seltsam wirkte, ihm aber ein cool- melancholisches Aussehen verlieh. Ka war sich sicher, dass er genau das beabsichtigt hatte. Dazu passten auch das weiße, etwas altmodische, aristokratische Hemd und die perfekt sitzende schwarze Hose mit Schlag. Die schwa
rzen Sneaker, die er trug, wirkten zwar etwas unpassend, insgesamt erhöhten sie aber den Ausdruck von Coolness.
Für einen Ausflug auf den Markt sah der Junge eigentlich zu schick aus. Er trug außerdem ein schwarzes Armband. Ka meinte kurz, ein dunkelgrünes Leuchten zu sehen, das vom Armband ausging.
Sara hatte den Jungen auch bemerkt: "Lass uns zuerst zu dem Jungen gehen, der sieht harmloser aus. Bei den Männern wissen wir nicht, was sie tun werden."
Sie entschieden sich, unauffällig an dem Jungen vorbeizugehen.
So einfach war das aber nicht. Lisa lief aufgeregt zwischen Ka und Sara hin und her und löcherte sie flüsternd mit Fragen: "Was meint ihr, ist das ein Zombie? Oder ein Werwolf? Vielleicht ist er doch gefährlich!" Zwischendurch starrte sie dabei immer wieder den Jungen an. Selbst einem Menschen im Tiefschlaf musste das auffallen.
Der Junge sah sie auch, beachtete sie aber zum Glück nicht weiter. Er war ganz in das Buch vertieft, nur ab und zu sah er zum Markt hinüber. Ka schien es, als würde er unauffällig die Männer in der Einfahrt beobachten, die ihrerseits wiederum die ganze Zeit irgendetwas auf dem Markt suchten. Sie schienen sich zu bemühen, insbesondere die Gemüsestände im Blick zu behalten.
Ihr fiel dort aber nichts auf.
Dann erreichten die drei Mädchen den Schatten der Bäume. Im Dunkel der Baumwipfel war es kühl.
Das Stimmengewirr des Marktes trat in den Hintergrund. Ka hörte ihre eigenen Atemgeräusche und das Rascheln von Lisas Kleid. Sie spürte den Lufthauch der Bewegung ihrer Freundinnen. Einen kurzen Moment lang kam ihr die Situation unwirklich vor, wie ein Traum.
Der Junge war wirklich nicht älter als sie und sah nicht gefährlich aus, sondern eher etwas verträumt. Auch sein Haarschnitt schien aus einer anderen Zeit zu sein, die etwas längeren schwarzen Haare betonten noch das schmale blasse Gesicht und die dunklen Augen. Ka und Sara schauten unauffällig über den Jungen hinweg, als sie an ihm vorbeigingen.
Lisa hatte die ganze Zeit darüber nachgedacht, was sie tun sollte, der Junge sah wirklich harmlos aus, sie hätte ihn am liebsten angesprochen. Ihr fiel aber nichts ein. Sie wollte unbedingt wissen, was der Junge war, vielleicht ein Geist oder ein Zombie, außerdem hatte sie ihre eigenen Gründe, aus denen sie nicht wieder zum Markt wollte. Als sie den Jungen erreichte, rutschte ihr die Frage einfach heraus. "Bist du ein Zombie?"
Sara und Ka verdrehten die Augen, das hatten sie sich unter ‚unauffällig’ nicht vorgestellt. Doch der Junge reagierte anders, als erwartet. Einen Augenblick lang sah er Lisa, Ka und Sara nur still an, er schien über etwas nachzudenken, dann wandte er sich an Lisa. "Sehe ich so aus? Zombies sind widerlich. Ich bin ein Vampir, das siehst du doch."
Lisa fragte einfach weiter: "Und die da drüben?"
"Aufsichtsbehörde für jugendliche Vampire."
"Sind die wegen dir hier?"
"Dann würde ich hier nicht mehr sitzen. Die suchen was. Ich habe aber auch noch nicht herausbekommen, was sie suchen und ich beobachte sie schon eine ganze Weile. Sie beobachten die Gemüsestände. Ich weiß nicht was, aber die Aufsichtsbehörde hasst alles, was ungewöhnlich ist.
Und sie hassen Menschen, die zu viele Fragen stellen. Ich dürfte über all das gar nicht mit euch reden."
Ka unterbrach ihn: "Wieso redest du dann mit uns?"
Der Junge senkte den Blick. Ka hatte kurz den Eindruck, dass er etwas sagen wollte und es dann doch unterließ.
Lisa sah beunruhigt zu den Männern hinüber, die ihr nun Angst machten. "Wie angeekelt die gucken."
Der Junge rutschte vom Pfahl herunter und zuckte mit den Schultern. "Die Vampire der Aufsichtsbehörde schauen immer so." Dann klappte er das Buch zu. Lisa sah, dass es mindestens so alt war wie die Bücher in ihrer Bibliothek. Ka sah ihn an. "Und du gehorchst ihnen?"
"Nein", der Junge schüttelte den Kopf.
"Dann kannst du doch ruhig weiter mit uns reden." Sie stellte sich und die anderen vor. "Ich bin Ka, dies ist Sara und das Lisa."
Ein kurzen Moment lang zögerte der Junge erneut, dann nickte er. "Ich bin Kolja."
Ka grinste innerlich. Sie glaubte Kolja nicht – 'Vampir' – so wie er hier am hellen Tag saß, musste das eine Lüge sein. Und sie hatte sich vorgenommen, ihn als Lügner zu entlarven, trotz Zeigerausschlag des Untot-Detektors. Außerdem war Kolja kleiner als sie, nicht viel, aber kleiner, und er wirkte, als ob er viel Zeit mit Träumen verbringen würde.
Kolja sah die Mädchen an. "Habt ihr gar keine Angst?"
"Nein." Ka war das Ganze langsam zu dumm, Kolja hatte nicht einmal Vampirzähne. Lisa hätte nicht so klar mit einem ‚Nein’ geantwortet, sie schwankte die ganze Zeit zwischen Angst und Neugier, überließ aber Ka das Sprechen. Sara wirkte, wie fast immer, unbeteiligt.
Kolja sah Ka überrascht an. "Die meisten Menschen sind nicht so vernünftig, und glauben, dass Vampire sie aussaugen". Einen kurzen Moment lang schwieg er und blickte Ka in die Augen, dann fuhr er fort: "Übrigens treten die Vampirzähne bei Vampiren nur kurz bevor sie zubeißen hervor, bei Hunger und Wut, falls du, nur weil du meine Zähne nicht siehst denkst, ich wäre kein echter Vampir."
Ka zuckte leicht zusammen. Es war, als hätte Kolja ihre Gedanken gelesen. Trotzdem gab sie sich bewusst selbstsicher, selbstsicherer als sie war. In gewollt lockerem Tonfall antwortete sie: "Das habe ich mir schon gedacht." Trotzig wagte sie sich noch einen Schritt vor. "Lass uns doch wo anders hingehen. Wohnst du hier in der Nähe?"
Kolja überlegte kurz. "Ja, aber wieso sollte ich euch vertrauen?"
"Wieso nicht?" Ka grinste, "hast du Angst vor uns?"
Der Junge, der sich als Kolja vorgestellt hatte, zögerte wieder einen Augenblick lang. Sie hatte wieder den Eindruck, dass er nicht alles sagte. Irgendetwas schien ihn an Sara, Lisa und ihr zu interessieren. Sie hoffte, dass er sie nicht als Mittagsmahlzeit ansah. Sie fühlte sich etwas unwohl. Doch dann schob sie das Gefühl beiseite, schließlich glaubte sie Kolja nicht, dass er ein Vampir war. Trotzig sah sie ihn an. Kolja erwiderte ihren Blick. "Nein, ich habe keine Angst vor euch, ihr könnt mitkommen, wenn ihr wollt. Unser Schloss ist vier Straßen weiter. Meine Eltern sind zurzeit auf einem Kongress. Und meine Mutter will sowieso immer, dass ich mehr mit anderen unternehme und nicht die ganze Zeit nur drinnen hocke, Filme anschaue und lese." Leise fügte er hinzu: "Obwohl sie dabei wohl nicht an Menschen gedacht hat." Mehr zu sich selbst als zu Ka, Sara und Lisa ergänzte er dann noch: "Und Urgroßmutter hat sicher nichts dagegen. Diese modernen Trennungsregeln der Vampiraufsicht hält sie eh für Unsinn. Früher gab es das nicht." Er blickte die Mädchen an. "Sie ist eine uralte Vampirfürstin und sie hält ohnehin nicht viel von Regeln, vielleicht schläft sie aber auch." Dann wurde seine Stimme leise und eindringlich. "Ihr müsst aber versprechen, niemandem etwas darüber zu erzählen."
Kolja ließ sich das Versprechen von jeder einzeln geben. Ka war aber nicht bei der Sache, sie war sich jetzt sicher, dass Kolja log. Hier gab es kein Schloss. Sie sah Kolja an. "Dann lass uns gehen."
Kolja schritt voran, Ka, Sara und Lisa folgten ihm. Ka tat so als wäre sie gelangweilt, und doch war sie unsicher
Sara bemerkte dass ihre beste Freundin die Hände in ihren Taschen vergrub, ein Zeichen dafür, dass sie angespannt war. Sie selbst wusste auch nicht, was sie von Kolja halten sollte.
Lisa lief aufgeregt neben Kolja her und fragte ihn noch dies und das zum Leben als Vampir.
"Ist das Sonnenlicht für dich gar nicht gefährlich? Ich dachte, Vampire zerfallen im Sonnenlicht."
Kolja beantwortete scheinbar unbeteiligt alle Fragen: "Zerfällst du, weil du einen Sonnenbrand hast? Sicher, für Vampire ist das gefährlicher, weil unsere Haut empfindlicher ist, aber heute gibt es Sonnenschutzkreme mit hohem Lichtschutzfaktor. Außerdem ist das nicht bei allen Vampiren gleich, ich muss mich nur im Schatten aufhalten, das reicht."
"Und Knoblauch?"
"Auf Knoblauch reagieren viele Vampire allergisch und der Gestank ist für uns fast unerträglich, das kann auch richtig unangenehm sein, aber bei den meisten führt er nur zu leichten Hautreizungen und Knoblauchschnupfen."
"Und Kreuze, sind Kreuze gefährlich für Vampire?"
"Nein, das haben nur irgendwelche Priester erfunden, um sich wichtig zu machen."
Ka war sich sicher, dass Kolja Lisas Aufmerksamkeit trotz seiner Zurückhaltung genoss.
Vier Straßen weiter hätte sich Ka fast totgelacht. Sie standen vor einer Reihenhaussiedlung. Kolja zeigte auf das mittlere Haus. Lisa schien nun auch enttäuscht. Sara konnte man nur schwer ansehen, was sie dachte. Der Detektor schlug aber immer noch aus, wenn Ka ihn auf Kolja richtete. Und er schlug noch viel heftiger aus, als sie ihn auf das mittlere Reihenhaus richtete.
Aber sie konnten jetzt unmöglich kneifen.
Als sie durch die Eingangstür eingetreten waren, sah erst einmal nichts besonders ungewöhnlich aus. Nur wirkte das Haus seltsam überfrachtet und gleichzeitig unbewohnt. Tote Tiere starrten sie von Wänden herab an, überall hingen ausgestopfte Tierköpfe und durch einen Türspalt sah sie in einem der hinteren Räume die Umrisse eines ausgestopften Bären. Die schweren, dunklen Möbel und die alten Vorhänge ließen alles wie im Dämmerlicht erscheinen. In einer Vase stand ein Strauß vertrockneter Blumen. Die Luft roch muffig und nach Staub. Teppiche dämpften die Schrittgeräusche. Zu hören waren nur Geräusche von draußen. Lisa fröstelte, auch Ka sah etwas bleich aus.
Doch Kolja schien das Haus gar nicht zu interessieren. Er ging geradewegs zur Garderobe und drehte an einigen der Kleiderhaken. Die Garderobe klappte zur Seite und dahinter wurde eine große weiße Holztür sichtbar. Die Mädchen schluckten, aber keine wollte die Erste sein, die Angst zeigte, also folgten sie Kolja durch die Tür. Hinter ihnen schloss sich die Tür wieder.
Die Tür führte in eine große Halle, die Eingangshalle eines Schlosses. In der Halle war es ruhig und trotz der großen Fenster irgendwie leicht schummerig. Vielleicht lag das an den schweren Vorhängen und den Gardinen oder an den Wänden, die wirkten, als wären sie aus meterdicken Steinen. Auch die Decke war aus Stein und bildete ein Gewölbe. Alte Ritterrüstungen, große leere Vasen, einige Waffen, die an der Wand hingen, ein langer alter Tisch, schwere Teppiche auf dem Steinfußboden, Leuchter, ein großer Kamin, eine Bildergalerie am anderen Ende der Halle, viele Türen und eine Treppe nach oben fingen ihre Blicke ein. Die Luft legte sich kühl auf die Mädchen, Sara fröstelte es nun auch. Ka lief zu den Fenstern. Tatsächlich sah sie die Straße, aber alles war seltsam verzerrt, so dass ihr schnell die Augen weh taten.
Sie wandte sich fragend an Kolja. "Wie kann das sein?"
"Genau verstehe ich das auch nicht. Mein Großonkel war ein berühmter Paraphysiker und hat irgendwelche Raumverzerrungen genutzt um das Schloss und den Park hier unauffällig verschwinden zu lassen."
"Wie soll das funktionieren?"
"Wie bei einer Kaugummiblase, jedenfalls hat es mir meine Urgroßmutter so zu erklären versucht. Stell’ dir vor, du würdest auf einem Kaugummistreifen leben und an einer Stelle des Kaugummistreifens würde jemand das Kaugummi weich kauen und eine Blase produzieren. An dieser Stelle würde sich die Oberfläche massiv vergrößern und so die Blase bilden. Du könntest dort viel mehr als vorher draufstellen, also auf die Außenhülle der Blase. So ähnlich funktioniert das hier auch, eine Art Blase in der Raumstruktur. Aber ganz verstanden habe ich das auch nicht."
Ka nickte; wenn ihre Mutter wieder einmal versuchte, ihrer Tochter die Grundlagen der Allgemeinen Relativitätstheorie nahe zu bringen und von gekrümmten und nicht rechtwinkligen Räumen erzählte, verstand sie das auch nie. So ähnlich musste das hier auch sein.
"Leider haben wir inzwischen Probleme, weil an einigen Stellen weitere kleinere Blasen entstanden sind und einige Falten. Dadurch ist zurzeit eine der Badezimmertüren oben an der Decke."
"Das hört sich nicht gut an." Ka sah erst nach oben, schüttelte den Kopf und schaute dann etwas beunruhigt umher. Auch die anderen blickten zur Decke. Tatsächlich war dort mitten zwischen zwei Gewölbebogen eine Tür, die sie bisher übersehen hatten. Doch Kolja schien das alles ganz normal zu finden: "Ach, so schlimm ist das nicht, manchmal sind Räume nur plötzlich ganz woanders als vorher."
"Hm." Richtig beruhigt wirkten die Mädchen nicht. Sara sah ihn an: "Wieso repariert dein Großonkel das nicht?"
"Er schläft. Vampire werden in realen Jahren nur unwesentlich älter als Menschen.
Die älteste Vampirin in realen Lebensjahren, die ich kenne, ist 151 Jahre alt und schon einige Jahre bettlägerig. Das hohe Alter von Vampiren ergibt sich aus den langen Schlafphasen.
Meine Urgroßmutter ist zum Beispiel real 117 Jahre alt aber geboren wurde sie vor über 1200 Jahren. Nur ganz wenige andere lebende Vampirinnen und Vampire auf der Welt sind vor so langer Zeit geboren worden. Die meisten Vampire sprechen von ihr nur als 'Fürstin Irina'" Kolja machte eine kurze Pause und seine Stimme sank kurz zu einem unsicheren Flüstern herab: "Viele Vampire haben Angst vor ihr." Dann sprach er wieder lauter. "Mein Großonkel hat sich kurz nachdem er das Schloss hat verschwinden lassen, für 500 Jahre schlafen gelegt. Er wird erst in 70 Jahren wieder aufstehen.
Vampire verabreden sich langfristig in der Zeit. Er hat eine Verabredung mit einer Freundin." Kolja zuckte mit den Schultern. "So lange müssen wir warten."
Ka überlegte: "Aber es muss doch aufgefallen sein, als das Schloss verschwunden ist?"
"Ach, das ist unendlich lange her und damals haben die Menschen noch an den Teufel geglaubt."
Sara und Lisa gingen zu der langen Reihe mit Bildern von Frauen, Männern und einigen Kindern am anderen Ende der Halle. "Sind das alles Verwandte von dir?" Lisas Neugier hatte inzwischen ihre Furcht besiegt. Die Bilder hatten alle den Charme uralter, nachgedunkelter Ölgemälde.
Ein Bild fiel Lisa auf, weil der Vampir darauf neben einer Obstschale mit verschrumpeltem Obst abgebildet war, außerdem hielt er einen saftigen Apfel in der Hand. Der Vampir war dunkel und streng gekleidet, das Bild zeigte ihn im Halbdunkel, alles wirkte dunkel, ein alter Holztisch im Bild sah aus wie ein schwarzer Abgrund, nur die Vampirzähne des Vampirs leuchteten und der Apfel in seiner Hand. Im Hintergrund des Bildes fielen ihr noch eine kleine Statue und einige seltsame Schriftzeichen auf, welche sich aber kaum vom Dunkel des Bildhintergrundes abhoben. Sara, die ihrem Blick gefolgt war, zeigte mit dem Finger auf die Statue: "Das ist eine Buddha-Figur." Lisa fragte sich, was das wohl bedeuten sollte.
Kolja war inzwischen zu ihnen gekommen. "Ja, das sind alles Verwandte, ich kenne aber die wenigsten davon und ich kann mir die Namen nie merken.
Kommt, ich zeige euch das Schloss."
Sie liefen durch Gänge, Zimmer und Säle, über Treppen rauf und runter, das Schloss schien kein Ende zu nehmen. Die meisten Räume wurden aber scheinbar nur selten genutzt. Überall standen alte Sachen herum, Sextanten, alte Fernrohre, Kleiderpuppen mit uralten Kleidern, geheimnisvolle Kisten, alte Uhren, Tische, Stühle, Himmelbetten, riesige Schränke und Bücher. Schwere Vorhänge ließen nur schummriges Licht herein. Einmal durchquerten sie einige halb verfallene Räume, in denen der Staub aufwirbelte, als sie hindurchgingen und über herabgefallene Balken und herausgebrochene Steine kletterten. Ka sah etwas beunruhigt auf die brüchige Decke. Kolja, der ihren Blick bemerkte, beruhigte sie: "Dieser verfallene Flügel des Schlosses ist schon seit vielen Jahrhunderten im selben Zustand."
Es roch nach Stein und Staub. Nur ihre eigenen Schritte hallten durch das Gemäuer.
Dann kamen sie wieder in besser erhaltene Teile des Schlosses. In einem Gang schraken die Mädchen zusammen, eine Rüstung vor ihnen bewegte sich scheppernd, sie kam auf sie zu. Doch dann musste Ka lachen, die leere Rüstung fegte mit einem großen Besen den Gang vor ihnen. Besonders bedrohlich wirkte das nicht. "Was ist denn das?"
Kolja sah sie erstaunt an, dann besann er sich. "Ach so, ihr benutzt wahrscheinlich Staubsauger. Meine Urgroßmutter will solche Sachen nicht, also haben wir immer noch animierte Rüstungen, die putzen."
"Wie funktioniert das?"
"Keine Ahnung, weißt du wie ein Staubsauger funktioniert?"
"Du steckst ihn in die Steckdose und stellst ihn an."
"Einer animierten Rüstung musst du dreimal auf den Brustpanzer klopfen, ihr einen Besen oder Staubwedel in die Hand drücken und laut 'Verre!' rufen."
Sie betrachteten die animierte Rüstung eine Weile bei ihrer Arbeit. Weiter hinten im Gang war noch eine weitere animierte Rüstung mit einem Staubwedel dabei, andere Rüstungen abzustauben.
Lisa lief zu ihr hin und stellte sich vorwitzig zwischen die Rüstungen. Folgsam staubte die animierte Rüstung sie ebenfalls ab, was dazu führte, dass sie laut losprusten musste. Ka und Sara lachten und ließen sich auch abstauben.
Dann liefen sie weiter. Wieder ging es durch Gänge, über Treppen und durch Hallen. Kolja erzählte noch einiges über sein Leben hier im Schloss und seine Urgroßmutter. Und doch schien es Ka weiterhin so, als ob er ihnen etwas verschwieg. Wieso hatte er sie überhaupt eingeladen?
Sara war einmal, als ob sie ein tiefes Rasseln gehört hätte, doch sie war sich nicht sicher. Die anderen schienen nichts gehört zu haben. Also sagte sie nichts.
Auf einmal deutete Lisa nach oben. Ein Mauersegler saß dort, der kleine Vogel beobachtete sie vorsichtig.
Kolja war nicht überrascht. "Die Vögel finden immer wieder eine Lücke, um hereinzuschlüpfen."
Sie gingen weiter, vorbei an staubigen Truhen, Wandteppichen mit Abbildungen seltsamer Tiere und unendlich vielen Zimmern und Sälen.
Langsam wurde es langweilig.
Einmal landeten sie aus Versehen im Folterkeller, mit diversen Instrumenten, bei denen sie sich lieber nicht vorstellten, wie sie früher verwendet wurden. Hier war es finster und eiskalt, nur ein ganz kleines Erkerfenster weit oben ließ ein bisschen Licht hereinfallen. In der Mitte des Raumes war ein vergittertes schwarzes Loch. Irgendwo von weit unten war ein seltsames Glucksen zu hören. Ein Gestank nach altem, faulem Wasser erfüllte den Raum.
Lisa fiel beinahe auf das Gitter. Sie hatte kurz den Eindruck, als würde ein langer, schwarzer Finger nach ihr greifen. Sie versuchte, weiter zu gehen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht sofort. Die Kälte kroch ihr unter die Haut.
Niemand sagte etwas, auch ihr Atmen war kaum noch zu hören.
Doch dann stieß Kolja sich an einer Streckbank und fauchte das Ding wütend an. Es war das erste Mal, dass die anderen seine Vampirzähne sahen.
Lisa erschrak jetzt richtig, selbst ihre Worte durchdrang ein Zittern, doch der Bann war gewichen. Sie sah die anderen im Dunkel an. "Lasst uns doch irgendwo hingehen, wo es wärmer ist."
Kolja nickte und zeigte auf eine kleine Holztür. "Wir können die Turmtreppe benutzen, falls ihr nichts gegen Haustiere habt."
Lisa stürmte sofort die Treppe hinauf. Kolja kam kaum hinterher. Sara und Ka folgten mit einem Grinsen. Von Oben hörten sie Lisa. "Oh, sind die niedlich, darf ich sie streicheln?"
"Klar, wenn du möchtest."
Die Stimme von Kolja klang überrascht. Die beiden mussten zwei, drei Stockwerke über ihnen sein. Der Turm war leicht feucht und riesige Spinnweben hingen überall im Weg. Ka versuchte, ihnen so weit wie möglich auszuweichen. Irgendwo krabbelte etwas, und Ka zuckte zurück. Für eine Spinne war das viel zu groß gewesen. Sara hinter ihr schien aber nicht beunruhigt zu sein, also wollte Ka sich auch nichts anmerken lassen.
Endlich oben im Turmzimmer angekommen entdeckte sie Lisa, schluckte trocken und wich mit dem Rücken zur Wand zurück, so weit weg von Lisa, wie möglich. Lisa hockte freudestrahlend auf dem Steinfußboden und streichelte hingebungsvoll zwei kokosnussgroße, stark behaarte Spinnen, die sie sich auf den Schoß gesetzt hatte.
Das Turmzimmer wurde von den Strahlen der Nachmittagssonne in leichtes Licht getaucht. Die Spinnennetze, die überall von der Decke hingen, flirrten, dort wo sie von den Strahlen erreicht wurden und blinkten silbern, ein Webstuhl stand verstaubt in einer Ecke. Draußen waren der blaue Himmel und helle Wolken zu sehen. Lisa saß in einem Streifen von Licht und umsorgte glücklich ihre Spinnen. Sie blickte begeistert zu Ka. "Sind die nicht süß?"
Ka nickte gezwungen und presste ein kurzes "Sicher" hervor. Lisa erschien alles verzaubert.
Sara bewunderte die Aussicht.
Ka sah dies alles, hatte aber dafür keinen Blick, sie versuchte an Lisa vorbei aus dem Fenster zu schauen, und an irgendetwas anderes zu denken als an die Spinnen, als sich plötzlich eine weitere ähnlich große Spinne direkt vor ihr von der Decke herabließ. Zum Glück lief die Spinne auch zu Lisa welche sie mit Begeisterung in ihren Streichelzoo aufnahm.
Kurz glaubte Ka zu sehen, wie sie alle eingesponnen an der Decke hingen, hilflos darauf wartend, von den Spinnen verschlungen zu werden. Sie wischte den Alptraum beiseite, doch ihre Hand zitterte, obwohl es hier warm war.
Sara, die am wenigsten von all dem beeindruckt war, bemerkte, dass ihre Freundin wie gelähmt stocksteif an der Wand stand, und sich nur mit Mühe zusammenriss. Sie wusste, dass Ka, die sonst kaum etwas einschüchtern konnte, Spinnen fürchtete, obwohl Ka dies niemals eingestanden hätte. Sie drehte sich zu Kolja um: "Ich glaube, wir haben genug gesehen."
Lisa wollte protestieren, doch auch Kolja schien Saras Meinung zu sein. "Wollt ihr was trinken?"
Ka nickte sofort. Lisa zögerte etwas. "Was hast du denn zu trinken?" Ihrer Frage war Unsicherheit anzuhören. In Gedanken sah sie sich schon vor einem großen Glas dunklen Blutes sitzen und meinte die Schreie der Opfer zu hören. Sie wollte lieber weiter die Spinnen streicheln.
Doch Kolja war völlig unbekümmert.
"Meine Eltern haben öfter Menschen zu Gast, insofern steht im Kühlschrank alles was ihr wollt."
"Was machen denn deine Eltern?"
"Sie sind Diplomaten, sie gehören zur UNO-Vertretung der Vampire. Die meiste Zeit sind sie auf Kongressen und irgendwelchen wichtigen Treffen. Ab und zu sind aber auch hier im Schloss größere Empfänge. An sich sind meine Eltern ganz in Ordnung, aber sie sind halt selten da. Die meiste Zeit lebt nur meine Urgroßmutter hier mit mir und die diversen Dienstgeister und natürlich Tii", bei diesem Namen verzog Kolja das Gesicht, "ein Katzendämon, meine Urgroßmutter hat ihn schon vor langer Zeit aufgenommen."
Ka sah ihn überrascht an. "Ich habe noch nie von Vampiren in der UNO gehört".
"Das ist auch geheim, obwohl eine Reihe von Vampiren dafür ist, das Geheimnis zu lüften. Aber die Mehrheit der Vampire will, dass es geheim bleibt. Und die Vampiraufsicht würde am liebsten jeden Kontakt mit Menschen unterbinden.
Sie achten sorgsam darauf, dass die Existenz von Vampiren und anderen Nachtwesen unter Menschen nicht allgemein bekannt wird. Dabei gibt es in der Realität immer mehr Zusammenarbeit.
Urgroßmutter hält diese Geheimnistuerei für Schwachsinn und legt sich regelmäßig mit ihnen an. Meine Eltern meinen, das müsste diplomatisch gelöst werden."
Ka sah etwas besorgt aus: "Ist es dann nicht verboten, uns das alles zu zeigen und zu erzählen?"
Kolja überlegte kurz: "Ich finde, meine Urgroßmutter hat Recht. Und zu einzelnen Menschen ist der Kontakt auch nicht verboten, wenn sie zusagen, das Geheimnis zu wahren."
Ka fragte lieber nicht, was die Vampiraufsicht mit ihnen machen würde, falls sie ihr Versprechen brechen würden.
Kolja hatte sie inzwischen zur Küche geführt.
Von hier aus hatten sie einen guten Blick in den Park, alte Bäume beschatteten das Schloss. Ka war immer noch etwas verwirrt. "Aber hier hinter dem Haus stehen doch weitere Reihenhäuser".
"Das beginnt alles wieder hinter der Parkmauer, die Parkmauer endet im Hinterhof des Reihenhauses. Ihr könnt euch das nachher noch ansehen."
Irgendwie führte bei Ka der Versuch sich das vorzustellen zu einem Knoten im Gehirn. Dies war nur die kleinere Küche, die alltäglich benutzt wurde, hatte Kolja gerade gesagt. Zumindest war es hier ganz gemütlich, der Raum war auch etwas wärmer und der Duft einiger alter Äpfel lag in der Luft.
Am alten Holztisch ließ es sich bequem sitzen. Durch die großen Fenster fiel das Licht, nur gebrochen durch die alten Bäume im Park. Doch einige helle Strahlen spiegelten sich in den Töpfen und Pfannen, die von der Decke hingen, und tanzten als helle Flecken durch die Küche. An einer Schnur hingen Kräuter und auf einem Regal standen Flaschen. Weiter hinten in einer Ecke brummte der Kühlschrank. Der Apfelgeruch kam von einigen verschrumpelten Äpfeln, die in einer Schale lagen.
Ka sah sich um. "Wo sind eigentlich eure Dienstgeister?"
"Die arbeiten nur nachts. Jetzt schlafen sie, falls ich sie wecken würde, wäre um diese Zeit nichts mit ihnen anzufangen. Deshalb sind die Empfänge meiner Eltern immer erst um Mitternacht. Tagsüber müssen wir uns selbst um alles kümmern, aber den Abwasch lasse ich einfach stehen. Außer mir ist hier sowieso niemand am Tag wach.
Ich kann einfach morgens häufig schlecht einschlafen und dann stehe ich lieber auf, als wach im Sarg zu liegen. In der Nacht bin ich dann müde und muss mir das Generve meiner Lehrer anhören: 'Du sollst tagsüber nicht immer so lange aufbleiben', 'Kein Wunder wenn du dich nicht konzentrieren kannst.' 'Meinem Kind würde ich das nicht erlauben.' Na, und so weiter."
Kolja verzog das Gesicht zu einer Grimasse und zuckte mit den Schultern. Dann stellte er ihnen einige Flaschen und Gläser auf den Tisch, so dass sie sich selbst bedienen konnten. Für sich holte er ein blutrotes, sprudelndes Getränk aus dem Kühlschrank und schenkte sich ein großes Glas ein. Das Getränk roch nach Holunder. Lisa starrte fasziniert auf das sprudelnde Glas, sie nahm allen Mut zusammen, um ihre Frage zu stellen. "Hm, Kolja, darf ich dich was fragen?"
"Klar!"
"Was trinken und essen Vampire denn?"
Kolja schien Lisas Befangenheit gar nicht zu bemerken und zeigte auf sein Getränk. "Na, Blutoka zum Beispiel. Obwohl meine Eltern regelmäßig sagen, das sei zu ungesund und ich solle auch mal was anderes trinken."
"Und was ist da drin?"
"Kunstblut, Wasser, Eisen und ungesunde Zusatzstoffe, wie meine Mutter sagen würde. Außerdem ist zu viel Eisen ungesund."
"Und wie bekommt ihr das?"
"Das bringt der Tiefkühl-Lieferservice."
Sara musste lachen. "Ich glaube, es ging Lisa darum, dass in vielen Büchern Vampire menschliches Blut trinken."
"Nicht ohne Einwilligung der Menschen, das ist seit über 500 Jahren verboten. Das finde ich auch richtig.
Aber viele Vampire wollen inzwischen das Blutsaugen ganz verbieten, nur weil sie sich vor warmem, frischem Blut ekeln. Sie trinken nur noch Kunstblut, wegen übertragbarer Krankheiten und so. Das ist völlig absurd. Sie haben alle möglichen albernen Regeln erlassen. Viele haben einen richtig absurden Hass auf das Blutsaugen entwickelt.
Außerdem haben viele Vampire Angst, dadurch könnte unsere Existenz allgemein bekannt werden.
Und Blutoka würden sie am liebsten auch verbieten, weil es ungesund ist. Die schlimmsten sind die von der Aufsichtsbehörde."
"Ach so". Sie schwiegen einen Augenblick lang.
Nach einer Weile sah Lisa Kolja etwas verunsichert an: "Und du findest es richtig, menschliches Blut zu trinken?"
"Wieso nicht, wenn die Menschen zustimmen. Obwohl die Aufsichtsvampire das nicht gerne sehen.
Und manche möchten ja auch Vampire werden."
"Hast du schon menschliches Blut getrunken?"
Kolja sah sie gleichgültig an. "Ja, ich finde, es schmeckt etwas streng."
Lisa schluckte: "Du hast einen Menschen gebissen?"
Kolja schüttelte den Kopf. "Nein, dass du Milch trinkst, heißt doch auch nicht, dass du schon mal eine Kuh gemolken hast."
Ka trat Kolja unter dem Tisch. "Ich bin keine Kuh!"
Kolja hob abwehrend die Hände. "Das war nicht so gemeint. Es gibt Menschen, die für Vampire Blut spenden und gut dafür bezahlt werden, abhängig von der Qualität.
Der Geschmack des Blutes wird stark durch die Ernährung beeinflusst. Urgroßmutter sagt immer, die heutigen Blutspenden würden nach nichts mehr schmecken als nach Zucker, früher wäre das Blut viel schmackhafter und vollmundiger gewesen, bitter und säuerlich. Ich glaube, dass bildet sie sich nur ein. Sie hat auch noch den ganzen Keller voller alter vergorener Blutjahrgänge."
Ka blickte immer noch etwas sauer drein. "Aber da braucht ihr doch Unmengen an Blut!"
"Nein, die meisten Vampire trinken menschliches Blut nur zu besonderen Anlässen und ansonsten Kunstblut.
Nur Vampire aus der Bewegung für natürliche Ernährung versuchen, ausschließlich von Menschen- und Tierblut zu leben."
Lisa blickte Kolja entsetzt an, ihre Stimme war kaum zu hören. "Hast du schon ein Tier ausgesaugt?"
Kolja nickte. "Klar, natürlich, mit elf Jahren. Wenn wir Vampire und Vampirinnen elf Jahre alt werden, feiern wir ein Fest, vergleichbar dem, was ihr Kommunion oder Jugendweihe nennt. Als elfjähriger Vampir bekommst du ein weißes Kaninchen geschenkt und ein Höhepunkt des Festes ist, dass du es aussaugst.
Meine Eltern haben eine Pfote des Kaninchens in ihrem Schlafzimmer hängen." Er verzog das Gesicht. "Sie glauben, das bringt Glück und sie erzählen bei allen unpassenden Gelegenheiten, wie niedlich ich beim Aussaugen ausgesehen habe."
Lisa war sprachlos, ihre Lippen zitterten leicht. Auch Ka wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Doch Sara lachte: "Ich esse auch gerne Kaninchen."
Selbst Lisa musste zugeben, dass da kein großer Unterschied war und sie war zwar Vegetarierin, aber schließlich aßen auch ihr Vater und ihre Schwester Fleisch.
Als sie Kolja dann Blutoka trinken sahen und dabei seine Vampirzähne sichtbar wurden, mussten sie alle lachen, auch Lisa.
Kolja blickte erstaunt auf. "Was ist denn?"
Ka lachte. "Das sieht lustig aus, wie du die Blutoka schlürfst."
Sie alberten noch eine Weile herum, bis Ka sie unterbrach. Sie sah Kolja an. "Wieso hast du uns eingeladen?"
Kolja zögerte einen Moment lang, dann raffte er sich auf: "Ich will Filmemacher werden."
Ka sah ihn verdutzt an. "Und was hat das mit uns zu tun?"
Kolja schluckte. "Vampire finden Filme und Fotos widerlich. Zu Fotografieren gilt als krankhaft. Ein Vampir macht keine Filme. Wenn ich als Vampir andere Vampire fotografieren würde, würde niemand mehr etwas mit mir zu tun haben wollen. Die Vampiraufsicht würde mich vermutlich in ein Erziehungslager stecken." Kolja seufzte. "Ich hatte schon große Mühe, meine Eltern zu überzeugen, mir das Ansehen von Filmen zu gestatten." Er sah bedrückt aus dem Fenster. "Nur Urgroßmutter sieht das lockerer. Sie meint, dann müsste ich halt mit Menschen filmen." Er blickte die Mädchen schüchtern an.
Lisa strahlte, sie sah sich schon in einem von Koljas Filmen als Piratenkapitänin. Sara schien nicht sehr begeistert zu sein. Ka runzelte die Stirn. "Aber wieso finden Vampire Fotografieren widerlich?"
Kolja zuckte mit den Schultern. "Das weiß niemand so recht. Meine Eltern meinen, das hinge damit zusammen, dass die Magnesiumblitze der frühen Fotoapparate teilweise die Augen von Vampiren verletzt haben. Vampire sind gegen bestimmte Lichtblitze sehr empfindlich und die Augenverletzungen sind extrem schmerzhaft." Kolja fuhr grummelnd fort. "Aber heute wird so etwas ja gar nicht mehr verwendet und lichtempfindliche Kameras schaden auch Vampiren nicht." Einen Augenblick lang schwieg er, dann seufzte er. "Urgroßmutter meint, Vampire wären einfach konservativ, intolerant und würden alles Neue ablehnen. Die meisten heute lebenden Vampire sind im elisabethanischen Zeitalter vor mehr als 300 Jahren geboren. Da gab es noch keine Fotografie. Sie ist überzeugt, dass viele Vampire insgeheim Angst haben, dass Fotos ihnen ihr innerstes Ich stehlen würden."
Sara grinste: "Bei Menschen ist das nicht anders." Sie dachte an ihre Großmutter und Diskussionen über kurze Haare bei Mädchen.
Lisa wollte Kolja gerade noch weiter über seine Filmideen ausfragen, als auf einmal ein Glockenklang zu vernehmen war. Kolja horchte auf. "Meine Urgroßmutter muss uns bemerkt haben. Ich denke, sie will, dass wir zu ihr kommen."
Begeistert schauten die Mädchen nicht, aus den Erzählungen Koljas waren sie nicht sicher, ob es ratsam war, dieser uralten Vampirin gegenüber zu treten und außerdem waren sie schon so viele Treppen gelaufen. Ka sah Kolja an. "Gibt es keine Abkürzung?"
Kolja zögerte: "Wir könnten einen der Rutschtunnel benutzen."
"Was?"
"Das hängt wieder mit der Raumverzerrung zusammen. Mein Onkel hat damals in die Kaugummiblase einige Trichter gebohrt und sie verbunden. Wir können also statt außen rum auch quer durch rutschen."
So ganz verstanden hatten das Lisa, Sara und Ka wieder nicht, aber es hörte sich besser an, als zu laufen.
Ka stand auf. "Dann lass uns das doch machen."
Kolja deutete auf eine kleine Klapptür in der hinteren Wand. Ka hatte gedacht es wäre ein Speiseaufzug, aber als Kolja sie öffnete wurde dahinter ein Tunnel mit Rutsche sichtbar.
"Damit müssten wir direkt im Flur vor dem Zimmer meiner Urgroßmutter landen."
"Müssten?"
"Die Raumverzerrung ist manchmal unzuverlässig."
"Ach, lasst es uns probieren." Lisa war einfach zu müde. Kolja rutschte als Erster. Lisa folgte ihm, dann Sara und zum Schluss Ka. Nur am Anfang fühlte sich das Ganze wie die Bewegung auf einer Rutsche an, dann wurde es immer schneller, sehen konnte sie nichts, nur die Schreie der anderen waren zu hören, nun hatte sie den Eindruck, in einer Achterbahn zu sitzen, sie wurde in Kurven gepresst und zeitweilig schien sie verkehrt herum zu rutschen. Endlich plumpste sie hinter den anderen auf einige Kissen in einem halbdunklen Flur. Kolja fluchte laut: "Mist, wir sind falsch. Na ja, es hätte schlimmer kommen können."
"Wieso schlimmer?"
"Meine Urgroßmutter meint, es könnten sich Risse ausbilden in der Blase, durch die man durchfallen würde."
"Wohin?"
Kolja zuckte nur mit den Schultern. Ka massierte sich ihren Arm, auf dem sie etwas unglücklich gelandet war. "Lasst uns lieber zu Fuß gehen."
Es ging weiter durch immer weitere Flure und Zimmer, vorbei an Dutzenden von Türen über Treppen immer weiter hinauf und hinab, bis sie in einen dunklen Gang kamen. Das Tageslicht war nur noch als schwacher Schimmer zu sehen, die schweren Vorhänge waren hier alle zugezogen.
Als Ka sie berührte, fühlten sie sich kühl und sanft an. Alle Geräusche wurden vom Stoff gedämpft. In der Luft lag ein erdiger Geruch wie von frischer Rote Bete.
Für Vampire war es Schlafenszeit, nur Kolja hatte wieder mal den Tag zur Nacht gemacht. Aber die Fürstin hatte einen leichten Schlaf und sie deswegen gehört.
Koljas Urgroßmutter saß in einem abgedunkelten Zimmer inmitten eines großen, düsteren Himmelbetts.
Nur mühsam konnte Ka sie erkennen. Ka hatte einen Sarg erwartet, aber dieses Bett sah irgendwie noch unheimlicher aus als ein Sarg. Schwere schwarze Vorhänge umgaben das alte Bett aus dunklem, fast schwarzem Holz, in welches unheimliche Fratzen als Verzierungen geschnitzt waren. Die Vorhänge waren hochgeschlagen, der feuchte, dumpfe Geruch nach Rote Bete war hier im Zimmer noch stärker.
Kolja stellte sie vor und sie begrüßten die alte Frau schüchtern. Die Fürstin erwiderte die Begrüßungen nur mit einem leichten Kopfnicken und winkte sie heran, sie hielten aber alle vorsichtig Abstand. Dann griff die Fürstin nach einer Art flachem, bauchigem silbernen Fläschchen und schüttelte sich etwas metallisch schwarz schimmerndes Pulver auf die Hand. Sie sog es mit der Nase in zwei dunkle Nasenlöcher und nieste, eine gespenstische, dunkel schimmernde Wolke erhob sich aus ihrer Nase und verteilte sich im Zimmer. Ein stechender bitterer Geruch stand mit einem Mal in der Luft. Ka, Lisa und Sara versuchten dem Geruch auszuweichen. Lisa spürte das Bedürfnis wegzulaufen, doch auch dafür hatte sie zu große Angst. Ihr Herzschlag schien ihren Hals zu verstopfen.
Die uralte Vampirin betrachtete ihre Furcht mit einem leicht spöttischen Lächeln. Dann blickte sie sie durchdringend an und schwieg. Keine traute sich etwas zu sagen. Nervös traten sie von einem Fuß auf den anderen.
Die Fürstin sah auf den ersten Blick aus wie eine uralte Frau. Ihnen fielen vor allem die dunklen Haare auf, die aus ihrer Nase hervorlugten und die faltige und fleckige Haut ihrer Hände. Doch ihre Augen waren sehr wach, selbst im Nachtgewand wirkte sie, als wäre es nicht sinnvoll, ihr zu widersprechen. Von ihrem Bett wehte ihnen ein kalter Hauch entgegen, der sich schwer auf sie legte. Einen Moment lang hatte Ka das Gefühl, als würde es noch dunkler im Zimmer werden als es ohnehin war.
Kolja hatte sie noch gewarnt. Seine Urgroßmutter sei zwar Kindern gegenüber in der Regel nachsichtig, aber eine der mächtigsten existierenden Vampirinnen. Und falls Kinder nicht gehorchten, konnte sie sehr ungemütlich werden. Ka glaubte das sofort, als sie den Blick der Fürstin auf sich ruhen fühlte.
Dieser Blick schien in ihr Innerstes zu sehen, kühl und distanziert. Sie fühlte sich wie bei einer Prüfung, für die sie sich nicht ausreichend vorbereitet hatte und wünschte sich, in diesem Moment irgendwo draußen an der Sonne zu sein.
Doch die Fürstin schwieg immer noch.
Auf ihrer Bettdecke lag ein großer, fetter schwarzer Kater. Auch dieses Tier schien durch sie hindurch zu sehen.
Ka bemerkte ihn erst jetzt richtig, sie hatte kurz das Gefühl, als würde sich der schwarze Schatten einer riesigen Katze auf ihre Brust legen, aber da war nur der fette Kater. Sein dunkles Schnurren und ihr eigenes Atmen, das der anderen und das der alten Frau waren die einzigen Geräusche im Zimmer.
Kolja schien nicht nur vor seiner Urgroßmutter, sondern auch vor dem Kater einen Höllenrespekt zu haben. Er versuchte offensichtlich, möglichst viel Abstand zu dem Tier zu halten und wirkte völlig verkrampft. Ka stieß ihn an und fragte ihn leise flüsternd, "Ich dachte Vampire haben keine Angst. Und du hast Angst vor Katzen?"
Kolja flüsterte zurück: "Das ist keine Katze, das ist Tii der Katzendämon meiner Urgroßmutter."
Die Fürstin blickte Ka und Kolja nun direkt an. "Wolltet ihr etwas sagen?" Ka fühlte sich als wäre sie steif gefroren. Sie schüttelte mühsam den Kopf.
Tii sprang vom Bett und näherte sich ihnen. Die Fürstin beobachtete ruhig ihre Reaktion. Ka hatte den Eindruck, dass Kolja noch etwas blasser wurde, als er ohnehin schon war, sie spürte, wie ihre Hände feucht wurden und selbst Lisa, die sonst jedes Tier sofort in ihr Herz schloss, zog sich zusammen und machte sich klein. Ka war sich diesmal sicher, dass das Tier Dunkelheit und Kälte um sich herum verbreitete.
Sie wichen alle vor dem Tier zurück.
Nur Sara tat das Gegenteil, sie hockte sich hin und lockte das Tier. Der Dämon lief direkt zu ihr. Dann streichelte Sara das Tier auch noch.
Ka spürte einen kalten Schauer auf der Haut, sie hatte den Eindruck als ob der Dämon grinsen würde, Sara nahm ihn nun sogar auf ihren Schoß. Ka wollte zu ihr, sie warnen, vielleicht hatte der Dämon Sara verhext. Aber Ka war immer noch wie erstarrt und schaffte es nicht, sich zu Sara hinzubewegen. Sara musste das, was Kolja geflüstert hatte, doch auch gehört haben und die Kälte und Gefahr spüren, die von dieser Katze ausging.
Doch Sara war völlig unbekümmert, sie blickte kurz zu Ka hinüber und wirkte total gelöst. Und auch der Katzendämon wirkte auf einmal wie eine Schoßkatze. Sara streichelte ihn einen Augenblick lang und setzte ihn dann behutsam auf die Erde. Der Katzendämon blieb bei ihr und strich weiter um Saras Beine. Langsam löste sich Kas Erstarrung wieder. Aber sie versuchte vorsichtshalber, weiterhin Abstand zu dem Tier zu halten.
Die Fürstin hatte das Ganze aufmerksam beobachtet und blickte Sara nun fast liebevoll an. Dann richtete sie sich auf und sah sie alle ernst an. Ihre Stimme traf sie wie ein kalter Lufthauch. "So, Kolja hat sich also dazu entschieden, euch zu vertrauen. Ich rate euch dringend, euch dieses Vertrauens würdig zu erweisen. Die meisten Vampire mögen es nicht, wenn Menschen die Nase in ihre Angelegenheiten stecken. Ich wäre gezwungen", hier wurde ihre Stimme schärfer, "geeignete Maßnahmen zu ergreifen, falls ihr sein Vertrauen missbrauchen würdet." Dann wurde ihr Blick etwas freundlicher. "Vergesst das nicht, denn ich wäre andernfalls noch euer geringstes Problem." Auf ihrem Gesicht erschien ein schwer zu deutendes Lächeln. "Ihr werdet auch so schon manche Überraschung erleben.
Ich muss jetzt etwas schlafen. Und Kolja, du hast heute Nacht noch Unterricht bei deinem Privatlehrer Herrn Nolling."
Die Mädchen blickten fragend zu Kolja hin. "Mathe, Herr Nolling ist mein Privatlehrer für Mathematik. Ich erhalte zu Hause Unterricht" sagte er unwillig. Kolja nickte seiner Urgroßmutter zu.
Er war sich dessen bewusst, aber er konnte seine neuen Freundinnen ja nicht einfach im Stich lassen. Er würde eben wieder einmal völlig übermüdet sein. Den Ärger war er schon gewöhnt. Um 23 Uhr nachts zu lernen war ganz einfach nicht seine Zeit, obwohl das als Vampir von ihm erwartet wurde.
Die Fürstin sah Kolja, Ka und Lisa an und verabschiedete sie, ihre Worte füllten klar und dunkel den Raum: "Ihr könnt jetzt gehen, wir sehen uns sicher noch einmal wieder. Ich wünsche euch noch einen interessanten Nachmittag." Ein undurchschaubares Lächeln huschte über ihr Gesicht. Dann wandte sie sich mit einem Tonfall, der keinen Widerspruch zuließ, Sara zu: "Du bleibst bitte noch hier."
Ka sah, dass Sara zusammenschrak. Sie wollte protestieren, doch Sara gab ihr mit einem Kopfschütteln zu verstehen, dass sie das nicht sollte. Also ließ Ka Sara mit der Fürstin allein.
Sie ließ die Tür einen Spaltbreit offen stehen. Zuerst hörte sie gar nichts, dann schnappte sie einen Satzfetzen auf, die Stimme der Fürstin, fast sanft und doch bestimmt, "... Sara, du musst mir versprechen, den anderen niemals etwas zu tun". Aus den Augenwinkeln blickte Ka durch den Spalt, sie konnte nur Sara sehen, wie sie zitternd nickte. Dann fiel die Tür zu und sie konnte nichts mehr von dem Gespräch im Zimmer verstehen.
Der Satz gab keinen Sinn, sie musste sich verhört haben.
Draußen auf dem Flur standen Lisa und Kolja und sahen Ka fragend an. Kolja wirkte sichtlich überrascht. "Weißt du, wieso meine Urgroßmutter mit Sara sprechen will?"
Doch Ka konnte auch nur mit den Schultern zucken. Als Sara endlich das Zimmer der Fürstin verließ, bestürmten Kolja und Lisa sie mit Fragen. "Hattest du gar keine Angst vor Tii?", "Wieso solltest du noch dableiben?", "Was wollte sie denn noch von dir?" Doch Sara schüttelte den Kopf und wehrte alle Fragen mit abweisendem Blick ab: "Nichts." Alle weiteren Nachfragen wurden von Sara ignoriert. Lisa zappelte aber weiter um sie herum.
Ka nahm Lisa zur Seite. "Lass sie in Ruhe. Niemand wird hier gezwungen, etwas zu erzählen." Lisa sah erst Ka und dann Sara an und biss sich auf die Lippen. "Entschuldigung."
Ka wusste, dass ihre beste Freundin etwas verbarg. Sie sah, dass Sara bleich und nachdenklich wirkte. Ka musste immer wieder an den Satzfetzen denken, den sie gehört oder vielleicht auch missverstanden hatte. Aber sie wollte Sara nicht verraten, also sagte sie nichts.
Außerdem war Sara ihre beste Freundin, es war völlig absurd zu denken, dass Sara in irgendeiner Weise eine Gefahr für sie oder die anderen darstellen könnte.
Dann machten sie sich durch Säle und Gänge und über viele Treppen zurück auf den Weg zur Eingangshalle.
Lisa zupfte Kolja am Ärmel. "Was tut ein Dämon?"
"Dämonen leben von der Freude und dem Leid anderer Wesen. Sie saugen dir alle Gefühle aus, bis dir alles gleichgültig ist und sie haben spezielle Kräfte." Kolja ließ seine Stimme zu einem dunklen Flüstern absinken. "Tii ist ein Katzendämon. Er jagt und frisst vor allem Gespenster. Ihm wachsen dann riesige, mit Krallen bewehrte Klauen aus dem Leib und am liebsten spielt er erst eine Weile mit seinen Opfern. Aber falls du ihn daran zu hindern versuchst, ..." Kolja brach ab, machte eine Geste mit seinen Händen, als wären es drohende Klauen und verzog das Gesicht zur Fratze. Ka lachte. "Als Katzendämon bist du nicht sehr glaubwürdig." Lisa starrte Kolja entsetzt an, sie musste an das niedliche Gespenst auf dem Bild ihrer Ururgroßtante denken. Kolja schien ihre Gedanken zu erraten. "Ich habe einmal versucht, eins der Gespenster zu retten. Daraufhin hat Tii mich durch das halbe Schloss gejagt, da war ich zehn Jahre alt. Als ich irgendwann nicht mehr konnte, hat er mit seinen Klauen nach mir gegriffen. Ich habe versucht, mich zu wehren, aber ich konnte nicht. Alles fühlte sich auf einmal sinnlos, leer und kalt an.
Irgendwann, nach unendlicher langer Zeit, mir kam das zumindest so lange vor, kam meine Urgroßmutter und hat Tii beiseite genommen. Ich zitterte am ganzen Leib. Aber das Einzige, was sie sagte, war, dass es die Aufgabe von Tii sei, die Gespenster zu jagen, sie würden hier sonst überhand nehmen. Und ich solle ihn nicht ärgern.
Und dann hat sie mich allein im Dunkeln sitzen gelassen."
Den Rest des Weges dachte Lisa darüber nach, wie sie die kleinen Gespenster retten könnte. Sie nahm sich vor, die ganze Bibliothek ihrer Ururgroßtante nach einer Lösung zu durchsuchen.
Sara schwieg die ganze Zeit und hielt etwas Abstand, sie schien mit ihren Gedanken weit weg zu sein. Ka bemerkte, dass Sara ihren Anhänger berührte, der an einem Lederband verborgen unter ihrer Bluse hing. Sie hatte ihn ihr einmal gezeigt, ein blauer Halbedelstein mit dem Abbild eines schwarzen Panthers. Sie hatte ihn nur ihr gezeigt, niemanden sonst. Ka wollte Saras Vertrauen nicht enttäuschen, also sagte sie nichts. Doch sie machte sich um sie Sorgen, wusste aber nicht, was sie tun sollte. Dann dachte sie noch einmal über die Begegnung mit Koljas Urgroßmutter nach. "Was war das für ein Pulver, das sie in die Nase eingesogen hat?"
Kolja verzog das Gesicht. "Vampirtabak, wahnsinnig ungesund, die Vampiraufsicht würde den Genuss am liebsten untersagen. Aber Urgroßmutter meint, die letzten 1200 Jahre hätte sie ja trotz Tabak überlebt, da würde sie sich das jetzt auch nicht mehr verbieten lassen.
Einmal, als ich ein kleines Kind von sieben Jahren war, habe ich ihr Tabaksfläschchen versteckt. Sie hat mich mit ihrem Blick an die Decke geklebt und 24 Stunden dort hängen lassen." Kolja sah Kas fragenden Gesichtsausdruck und ergänzte: "Viele erwachsene Vampire haben telekinetische Fähigkeiten, sie können allein mit der Kraft ihrer Gedanken Dinge bewegen".
Sie hatten gerade wieder die Eingangshalle erreicht, als auf einmal ein Handy klingelt.
Ka, Sara und Lisa sahen sich gegenseitig an, aber es war Kolja, der ein Handy aus seiner Tasche zog. Seine Mutter war am Apparat. Die Konferenz war in einer anderen Zeitzone in den USA, dort war es gerade kurz nach Mitternacht und sie bat Kolja, ihr noch bis morgen ein Dokument per E-Mail zu schicken, das sie vergessen hatte. Dann ermahnte sie ihn noch – wie eigentlich immer – auch einmal etwas Vernünftiges zu trinken, ausreichend zu schlafen und tagsüber nicht immer so lange aufzubleiben und Kuss und bis bald.
Ka sah Kolja erstaunt an: "Du hast ein Handy?"
"Na klar, wie sollen mich meine Eltern denn sonst erreichen?"
Auch die anderen waren überrascht, irgendwie hatten sie sich Vampire anders vorgestellt.
Lisa stupste Kolja an: "Du hast uns gar nicht dein Zimmer gezeigt."
Kolja sah scheinbar unbeteiligt an ihr vorbei. "Das nächste mal." Aber Ka hatte den Eindruck, dass er ihnen absichtlich sein Zimmer vorenthalten hatte, wahrscheinlich hing es voller Filmplakate und vielleicht war ihm das als Vampir peinlich. Sie dachte nun wieder über Koljas Wunsch nach, Filmemacher zu werden. Die Glocke der Fürstin hatte sie vorhin unterbrochen und dann war so viel anderes passiert.
Lisa schaute sich inzwischen zum zweiten Mal begeistert die Ahnenreihe von Kolja an. "Ach, ich hätte auch gerne eine berühmte Familie."
Kolja sah nur aus dem Fenster. "Ich finde das unwichtig, obwohl ein bis zwei wirklich widerwärtige Verbrecher darunter waren." Lisa schluckte, auch ihr fiel nun wieder Koljas Wunsch ein, Filmemacher zu werden.
Ka dachte einen kurzen Moment lang nach, dann flüsterte sie mit Sara und Lisa. Alle drei gingen sie zu Kolja. "Du könntest bei uns mitmachen."
Lisa lächelte. "Wir könnten deine Freundinnen sein. Wir haben gerade den Bund zum Schutz der Unterweltbewohner, Nachtwesen und Geister gegründet."
Sara ergänzte: "BUNG."
Ka setzte sich auf den großen Tisch. "Machst du mit?"
Kolja sah die drei unsicher an. "Glaubt ihr, das wäre gut?"
Lisa blickte ihn an: "Klar, mach doch mit, das wird sicher lustig. Und du weißt vieles, was wir nicht wissen."
Kolja zögerte: "Aber eigentlich will ich Filme machen."
Ka nickte. "Wenn du mitmachst, drehen wir auch mal einen Film mit dir."
Lisa stimmte begeistert ein. "Ja."
Sara sah weniger begeistert aus, nickte aber auch.
Ka hielt Kolja die Hand hin und Kolja schlug ein. "Gut, ich bin dabei". Einen Moment lang zögerte er, dann ergänzte er noch: "Stört es euch, wenn ich zeichne?"
"Was willst du zeichnen?"
"Comics, über uns, Ausschnitte von dem, was passiert und was ich sehe. Das ist eine Art Tagebuch und hilft mir, bildliche Vorstellungen für meine Filme zu entwickeln."
Sara schwang sich neben Ka auf den Tisch. "Kein Problem, solange ich darauf nicht zu erkennen bin."
Kolja schnaubte trocken. "So schlecht zeichne ich nicht."
Ka ließ sich vom Tisch gleiten und richtete sich auf. "Dann ist ja alles klar."
Sara nickte. Lisa war sowieso von Kolja, dem Schloss und der Idee, einen Film zu drehen, begeistert. Das Kaninchen hatte sie inzwischen schon fast vergessen.
Kolja sah die drei an. "Gut."
Ka nickte. "Also gehörst du jetzt zu uns." Vier Stimmen vereinigten sich zu einem gemeinsamen, lauten: "BUNG!"
Im Reihenhaus sah es, nachdem sich die Garderobe wieder geschlossen hatte, genauso verlassen aus wie bei ihrer Ankunft. Nur die ausgestopften Tiere schienen sie nun noch bösartiger anzustarren.
Lisa betrachtete mit Widerwillen den Kopf eines toten Ebers. "Wieso hängen die ganzen toten Tiere hier?"
Kolja sah sie an. "Die sind nicht tot. Das sind Schutzgeister gegen Einbrecher. Sobald die Sonne untergegangen ist, erwachen die Tiere zum Leben und sorgen dafür dass niemand ins Schloss eindringt. Sie können das Haus aber nicht verlassen. Außerhalb erstarren sie sofort wieder."
Lisas Stimme stockte, als sie sich die Geistertiere vorstellte. Einen kurzen Moment lang hatte sie den Eindruck, der Eberkopf hätte sich bewegt. "Aber wie kommst du dann rein und raus?"
"Mir tun sie nichts, aber ihr müsst aufpassen, falls ihr jemals nachts hier durch müsst."
Lisa nahm sich vor, niemals nachts durch dieses Haus zu gehen. Sie hätte das Haus gerne umgehend verlassen. Aber Ka wollte unbedingt noch die Fläche hinter dem Haus sehen, sie wollte wissen, wo der Park geblieben war. Sie sah Kolja an: "Du wolltest uns noch die Rückseite des Hauses zeigen."
Doch Kolja schüttelte den Kopf. "Nein, heute wird es zu spät. Ich dachte, wir gehen noch mal zum Markt, um zu schauen, was die Vampiraufsicht da sucht."
Ka und Sara waren damit einverstanden.
Sie verließen das Reihenhaus.
Nur Lisa war bei der Erwähnung des Marktes unmerklich zusammengezuckt. Sie zögerte auf dem Fußweg und blieb fast stehen. Ka, Sara und Kolja drehten sich zu ihr um. Lisa biss sich auf die Lippen, nur zögerlich presste sie unsicher einige Worte hervor: "Äh", sie wurde rot und gleichzeitig blass, "ich muss euch was sagen. Ich meine ..."
Alle schauten sie an.
"Ich habe euch was verschwiegen, ich ...", sie verhaspelte sich, "zuerst war es mein Geheimnis und ich konnte ja nicht wissen, dass wir uns anfreunden, und dann habe ich mich nicht mehr getraut, es euch zu sagen, weil ich doch irgendwie nicht die Wahrheit gesagt hatte." Niedergeschlagen sah sie die anderen an. "Ihr vertraut mir sicher nicht mehr, sobald ihr es wisst. Ich weiß, was den Detektor in der Umgebung der Gemüsestände zum Ausschlagen bringt. Aber ...", Lisa fand keine Worte, in ihren Gedanken suchten kleine, blassgrüne feuchte Wesen bei ihr Schutz. Sie waren so niedlich. Lisa schüttelte sich. Ka sah, dass ihr die Tränen kamen. Sie ging zu ihr hin. "Zeig’ es uns doch einfach."
Lisa nickte.
Sie ließen das Reihenhaus hinter sich und folgten Lisa zurück zum Markt. Lisa lief mit hängendem Kopf voraus und schaute nur einmal kurz zu den anderen zurück. "Ich habe mir schon immer Haustiere gewünscht."
Aus dieser Bemerkung Lisas wurden sie aber auch nicht schlau.
Auf dem Markt, der inzwischen abgebaut wurde, obwohl noch einige Passanten einkauften, lief Lisa zielstrebig zu einem großen Gemüsekarren und hockte sich dann hin, so dass sie unter den Karren schauen konnte. Ka stieg ein intensiver Geruch nach verfaultem Gemüse in die Nase. Lisa suchte irgendetwas, nur kurz, dann hatte sie offensichtlich gefunden, was sie suchte, vorsichtig, aber schnell griff sie zu und zog ein kleines, blassgrünes Etwas unter dem Karren hervor, das in ihrer Hand jämmerlich fiepte. Vorsichtig nahm sie es in beide Hände und bildete eine kleine Höhle. Sorgsam achtete Lisa darauf, dass kein Sonnenstrahl das Geschöpf traf und streichelte es. Ka, Sara und Kolja sahen eine noch ganz kleine sich bewegende Gurke, die etwas verschrumpelt und bleich aussah. Die kleine, blassgrüne Gurke schlängelte sich in die dunkelste Ecke von Lisas Händen und versuchte, sich dort zu verstecken. Große Augen sahen sie ängstlich an, dann erstarrte das kleine Wesen plötzlich und sah aus wie eine vergammelte Gurke.
Ka berührte das Ding ganz sanft, es fiepte leise. Sie zuckte zurück. "Es stellt sich nur tot." Das Wesen fühlte sich wie eine Gurke mit Pelz an, aber gleichzeitig leicht matschig und nass. Ein Teil des Fäulnisgeruches ging von dem kleinen Lebewesen aus. "Was ist das?"
Lisa ließ das Ding los. Ka sah ihm nach, wie es unter dem Wagen verschwand. Es bewegte sich wie ein grüner Molch an Land und kroch zielstrebig auf eine heruntergefallene Gurke zu, die im tiefen Dunkel eines der Räder lag und saugte sich an ihr fest beziehungsweise saugte sie aus. Auf seinem Weg hinterließ das kleine Geschöpf eine grüne Schleimspur. Jetzt fielen Ka auch die parallelen Bissstellen am restlichen Gemüse auf, das überall auf der Erde lag. Kaum zu erkennen unter der hinteren Wagenachse turnten einige weitere kleine, nasse, blassgrüne Gurkengeschöpfe übereinander und schnupperten neugierig an altem Obst, bevor sie sich daran festsaugten.
Im dunklen Licht des Schattens unter dem Wagen sah Ka erst nur wenig. Erst nach einer Weile hatten sich ihre Augen an das Licht gewöhnt. Der Markt und seine Hektik im grellen Sonnenlicht traten zurück. Das dunkle Licht entspannte ihre Augen und ihr fielen nun immer mehr Einzelheiten auf. Auch die Geräusche des Marktes verschwammen zu einem Hintergrundrauschen. Die kleinen Gurkenwesen waren ganz mit der Suche nach Futter beschäftigt.
Kolja klappte den Mund auf und wieder zu: "Vampirgurken."
Lisa nickte.
Ka schaute sich um. "Betrifft es noch anderes Gemüse?"
"Nur den Sellerie" flüsterte Lisa, und doch war ihr die Begeisterung anzuhören. Sie zeigte auf einen Punkt kurz vor Ka unter dem Karren.
Ka sprang fast einen Meter zurück. Unter dem Karren direkt vor ihr hing eine dicke fette wachsbleiche Sellerieknolle und bewegte sich wie eine riesige Vogelspinne. Jetzt sah sie auch noch zwei weitere Vampirsellerieknollen, die kunstvoll wie Hochseilartisten an der Unterseite des Karrens herumturnten. Ihre Wurzelbeine waren feucht und schmutzig. Auch sie verströmten einen süßlichen Geruch nach Moder und Fäulnis.
Doch als sie bemerkten, dass sie beobachtet wurden, versteckten sie sich an der Unterseite des Karrens oder stellten sich tot und waren nicht mehr von faulem, altem Gemüse zu unterscheiden. Auch die Vampirgurken sahen auf einmal nur noch wie normale überlagerte Gurken aus, die überall auf dem Boden lagen.
Nur weiter weg, auf der anderen Seite, kroch noch eine kleine Vampirgurke im dunklen Schatten des Karrens auf der Suche nach Futter umher.
Lisa kroch weiter unter den Karren und strich vorsichtig und sanft einem der nun leblosen Vampirselleries mit den Fingerspitzen über den haarigen Pelz. Der Vampirsellerie reagierte erst gar nicht und stellte sich tot, doch nach einer Weile rollte er vorsichtig einige Wurzelhaare aus und um Lisas Finger und rieb sich an ihrer Hand. Er sonderte dabei reichlich schwarzgrünen Schleim ab, offensichtlich mochte er es, gekrault zu werden. Doch als Lisa sich einmal zu schnell bewegte, stellte er sich sofort wieder tot.
Kolja konnte es immer noch nicht fassen, davon hatte auch er noch nie gehört, er schüttelte den Kopf. "Vampirgurken und Vampirsellerie, das gibt es nicht." Fasziniert schaute er wie gebannt auf die kleinen Wesen.
Und sie schienen sich auch untereinander zu verstehen. Nachdem sich die Augen von Ka an das Dunkel unter dem Karren gewöhnt hatten, sah sie nun auch in einem der Radkästen einen Vampirsellerie und eine Vampirgurke, die dort fast unsichtbar waren, friedlich aneinander gekuschelt liegen und schlafen. Nur ab und zu zuckte der Sellerie, als träumte er.
Ka musste lächeln und selbst Sara war begeistert. Sie hatten nur noch Augen für die kleinen Geschöpfe. Ohne sich zu rühren warteten sie darauf, dass die Geschöpfe sich wieder zeigen würden.
Bis plötzlich ein Schuh eine kleine Vampirgurke, die gerade ihr Molchgesicht hochreckte, zertrat. Das Fiepen der kleinen Vampirgurke im Todeskampf ließ Ka einen Moment lang erstarren dann schreckte sie hoch.
Ein Geruch nach Rasierwasser und verfaultem Fisch schlug ihr entgegen. Das helle Sonnenlicht blendete sie. Ihr gegenüber auf der anderen Seite des Gemüsekarrens standen die beiden Vampire der Aufsichtsbehörde. Die glattrasierten kalten Gesichter schauten angeekelt auf die Vampirgurken, die beiden Vampire zertraten so viele wie möglich. Sie traten immer wieder zu. Ein eisiges Lachen stand in ihrem Gesicht. Ka war mit einem Mal so kalt, als säße sie in einem Kühlschrank.
Sie und die anderen hatten die beiden Aufsichtsvampire nach der Entdeckung der Vampirgurken und -sellerie völlig vergessen. Zwischen den schmalen Lippen der Vampire glaubte sie einen Moment lang Kadaverreste zu erkennen, obwohl alles an den beiden Männern sorgsam gepflegt wirkte, auch die Zähne.
Dann wandten sich die Vampire der Aufsichtsbehörde mit ihren kalt lachenden Gesichtern ihnen zu. Die Vampire versuchten sie zu greifen. Doch Ka und auch Sara und Kolja waren viel zu schnell.
Aber Lisa erwischten sie am Kleid, da sie erst noch eine der kleinen Vampirgurken in einer Falte ihres Kleides in Sicherheit brachte.
Die beiden beugten sich über Lisa um ihr die kleine Vampirgurke abzunehmen. Lisa war sich nicht sicher, ob sie nicht auch sie verspeisen wollten. Obwohl Kolja erzählt hatte, dass sich die Vampire der Aufsichtsbehörde vor menschlichem Blut ekelten, wollte Lisa es doch nicht darauf ankommen lassen, das auszuprobieren. Der nach verfaultem Fisch und Aas stinkende Atem der beiden Vampire nahm ihr die Luft.
Einer der Aufsichtsvampire hauchte ihr direkt ins Gesicht: "Du solltest dich nicht in Sachen einmischen, die dich nichts angehen, Mädchen. Du glaubst wohl, nur weil du so jung bist, würden wir dich nicht bestrafen." Der Aufsichtsvampir zog sie näher zu sich heran und grinste, Lisa fröstelte es. "Da irrst du dich. Denn siehst du, wir wissen, dass es wichtig ist, jede Form von Renitenz gleich im Keim zu ersticken.
Wir wollen doch nicht, dass aus dir einmal eine Erwachsene wird die keine Angst mehr vor Vampiren und Nachtwesen hat! Oder, Kleine, das wollen wir doch nicht?" Mit diesen Worten griff der Aufsichtsvampir nach der Vampirgurke, die Lisa in ihrem Rock verborgen hatte. Sie spürte die kalte Dunkelheit, die von diesem Griff ausging. Zuerst war Lisa vor Angst erstarrt, ihr liefen wieder die Tränen übers Gesicht doch dann dachte sie an die kleine hilflose Vampirgurke. Und die Angst machte sie nur umso wütender.
Ohne weiter nachzudenken, trat sie dem Aufsichtsvampir gegen das Schienbein und schlug auf ihn ein. Sie versuchte loszukommen, doch der kalte Griff des Vampirs war unerbittlich. Sie fing lautstark an zu brüllen: "Mörder! Lasst mich los! Loslassen, Fischgesichter, Gurkenmörder, Vampirzombies!
Hilfe! Hilfe!
Ihr stinkt!"
Immer mehr Leute wurden aufmerksam, den Vampiren war das äußerst unangenehm und sie trauten sich nicht mehr fester zuzugreifen, dadurch gelang es ihr, sich loszureißen. Die Vampire hielten nur noch einen Fetzen ihres Kleides in der Hand.
Lisa tauchte unter der Deichsel des Karrens weg und rannte im Zickzack zwischen den mit dem Abbau der Stände beschäftigten Marktstandbesitzerinnen und -besitzern hindurch.
Eine kräftige Frau, die Lisas Schreien gehört hatte und nun sah, wie zwei unangenehm fischig stinkende Männer in Trenchcoats ein kleines Mädchen verfolgten, hielt einen von ihnen am Mantel fest und verprügelte ihn mit einer Zucchini. Doch in diesem Moment verlor Lisa das Gleichgewicht und fiel über einen Blumenkohl. Alles schien umsonst gewesen zu sein. Gleich würde der zweite Vampir sie erreichen und ihr die kleine Vampirgurke entwinden und sie töten und danach, Lisa wagte sich nicht vorzustellen, was er mit ihr tun würde.
Doch inzwischen hatten die anderen sich gesammelt, Ka, Sara und Kolja bewarfen den Vampir mit altem Obst. Eine faule Birne traf ihn genau im Gesicht und er konnte einen kurzen Augenblick lang nicht richtig sehen. Der Vampir übersah eine alte Banane und rutschte mit Wucht in einen Abfallhaufen aus Altgemüse am Kanalufer, der ihn unter sich begrub. Noch bevor er wieder auf den Beinen war, wurde der ganze Abfall mitsamt dem Vampir über eine Rutsche auf ein Abfallschiff im Kanal geschoben. Lisa dachte einen kurzen Moment lang, dass dadurch der Geruch des Vampirs nur besser werden konnte, seine Kleidung würde aber wohl etwas leiden.
Sie nutzte den Moment um sich aufzurappeln. Hinter sich hörte sie noch die Stimme des zweiten Vampirs, den immer noch die Marktfrau festhielt. Ein zischender kalter Hauch in ihren Ohren. "Wir sehen uns wieder! Glaub’ nicht, dass wir dich vergessen."
Blitzschnell verschwand sie hinter einigen Marktständen. Sie zitterte und es fröstelte sie trotz des Sonnenscheins. Aber wo waren die anderen?
"Pst!" Das war Sara.
Sara, Ka und Kolja hatten sich genau hier versteckt und von dort aus mit dem alten Obst geworfen. Ka zog Lisa mit sich. Schnell rannten sie weiter in eine Seitenstraße, bis der Markt nicht mehr zu sehen war. Alle waren außer Atem. Lisa war völlig erschöpft und so außer sich, dass sie immer noch weinte. "Diese Fischgesichter, sie töten sie, wir müssen sie retten."
Ka berührte Lisa sanft am Arm. "Klar. Aber du hättest es uns ruhig früher sagen können."
Lisa schluchzte jetzt. "Es war doch mein Geheimnis und ich wollte so gerne Haustiere. Und dann wusste ich nicht mehr, wie ich es euch sagen sollte, weil ich es doch zuerst verschwiegen hatte."
Ka begriff langsam. "Du hast auch welche bei dir zu Hause?"
"Ja, aber es geht ihnen nicht gut. Ich habe ihnen im Keller in einer Kiste einen Unterschlupf gebaut."
Ka erinnerte sich an das faule Gemüse und die blassgrüne Bewegung, die sie im Keller gesehen hatte. Lisa schniefte. "Aber der Keller ist zu trocken. Und irgendwie schaffen sie es immer wieder aus dem Keller heraus nach oben ins Haus zu kommen. Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Und auf dem Markt werden sie zerquetscht und wenn sie an die Sonne kommen, sterben sie. Und jetzt werden sie auch noch von diesen Fischgesichtern ermordet."
Lisa schluchzte nun noch mehr. Noch immer hielt sie die kleine Vampirgurke in einer Falte ihres Kleides verborgen. Sie hatte sie die ganze Flucht über nicht fallen lassen. Ka nahm Lisa in den Arm und versuchte sie zu beruhigen. Sara half ihr, die kleine Vampirgurke sicher zu verstauen. Dann gingen sie langsam zurück zu ihrem Hauptquartier, das Kolja ja noch gar nicht kannte. Sara und Ka ließen Lisa in ihrer Mitte gehen. Als sie den Dachboden erreichten, war Lisa wieder etwas ruhiger.
"Vertraut ihr mir trotzdem noch?"
"Ja, klar." Ka legte Lisa einen Arm um die Schulter und Kolja nickte, sein Blick wanderte über den Dachboden. Auch ihm gefiel die Villa.
Vorsichtig holte Lisa die kleine Vampirgurke hervor. Hier auf dem Dachboden war der Geruch nach vergammelndem Gemüse, den sie ausströmte, nur ganz leicht wahrnehmbar.
"Sie braucht frisches Gemüse."
Zum Glück hatte Sara ja Gurken eingekauft; die Tasche hatte sie die ganze Zeit mitgeschleppt. Jetzt bekam die kleine Vampirgurke eine der Gurken zum Aussaugen. Sie machte dabei kleine glucksende Geräusche und blickte sich immer wieder ängstlich mit großen Augen nach ihnen um. Das sah wirklich niedlich aus. Der Dachboden war durch den Baumschatten halbwegs kühl und dunkel. Trotzdem schien es der Kleinen nicht gut zu gehen.
Ka bemerkte als erste die Verletzung. Das musste im Kampf mit den Aufsichtsvampiren passiert sein. Sie verlor immer mehr Flüssigkeit. Sie wussten nicht, was sie tun sollten. Bis Sara die Idee mit dem Pflaster hatte. Sorgsam schloss Lisa die Wunde.
Nach einer halben Stunde ging es der kleinen Vampirgurke etwas besser. Sie kuschelte sich im Dunkel unter einem Schrank zusammen und schlief.
Lisa schniefte. Ka ballte die Fäuste. "Wir müssten mehr herausfinden. Irgendwie müssen wir die Kleinen vor den Vampiren der Aufsichtsbehörde schützen."
Eine Weile schwiegen sie alle und hingen aufgebracht ihren Gedanken nach. Selbst am Himmel zogen dunkle Wolken auf.
Ka ließ sich alles noch einmal durch den Kopf gehen. "Stinken eigentlich alle Vampire so?"
Kolja schaffte es irgendwie, obwohl er etwas kleiner als Ka war und auf einer alten Matratze saß, sie von oben herab anzusehen. "Stinke ich so?"
"Nein."
"Also."
Ka überlegte, sie hatte sich in ihrer Fantasie ja etwas Größeres, Eindrucksvolleres vorgestellt, das sie mit BUNG retten würden. Aber für den Anfang waren Vampirgurken und Vampirsellerie vielleicht gar keine schlechte Übung. Abe
r was wussten sie darüber? "Ob das Vampirgemüse Menschen gefährlich werden kann?"
Kolja schüttelte den Kopf: "Das glaube ich nicht, die ernähren sich doch vegetarisch."
Ka war nicht ganz überzeugt: "Hoffen wir das mal. Dir als Vampir kann ja nichts passieren."
Lisa hatte auch schon in der Bibliothek nach Informationen gesucht, ihre Stimme war leise. "Im Folianten stehen weder Vampirgurken noch Vampirsellerie verzeichnet."
Ka sah sie an. "Wie viele Vampirgurken hast du bereits früher hierhergebracht?"
Lisa sah bedrückt aus der Luke. "Etwa ein Dutzend, aber sie büxen immer aus und sind dann überall im Haus. Ihr glaubt gar nicht, wo sie überall hinkommen. Eine saß irgendwann in der Soßenterrine. Und sobald sie Sonnenlicht ausgesetzt sind, sterben sie. Die Hälfte ist inzwischen tot", ihr versagte die Stimme, "ich schade ihnen nur." Sie schniefte. "Ich wusste doch gar nichts über sie."
Dann wandte sie sich zu Kolja. "Wieso haben die Vampire von der Aufsichtsbehörde die Kleinen zertreten?"
Kolja zuckte mit den Schultern. "Sie hassen alle Grenzübertretungen und alle Mischwesen. Jede Vermischung von Vampirwesen mit Nichtvampiren lehnen sie ab. Und sie hassen alles, was unnormal ist, alles muss seine Ordnung haben. Vampirgurken finden sie sicher besonders ekelerregend. Sie haben alle möglichen Bestimmungen zur Unterbindung von ungenehmigtem Vampirismus und gegen Mischlinge und Artveränderungen erlassen.
Und außerdem hatte ich doch gesagt, dass sich viele Vampire heute vor dem Blutsaugen ekeln. Alles Flüssige, was nicht künstlich ist, flößt ihnen Furcht ein, ob Schweiß, Blut oder Gemüsesaft. Sie können einfach die Vorstellung nicht ertragen, dass andere Vampire in etwas hinein beißen, um es auszusaugen. Meine Urgroßmutter macht sich immer über diese modernen Vampire lustig.
Aber leider ist das nicht nur lustig, die Vampiraufsicht kann ziemlich gemein werden. Jugendliche Vampire können aufgrund von Blutsaugen richtig viel Ärger bekommen. Und", einen Augenblick lang schwieg Kolja, dann fuhr er fort: "sie werden wahrscheinlich versuchen, alle Vampirgurken zu töten, falls sie sie finden. Nichts ist ihnen wichtiger, als die Geheimhaltung dessen, dass es uns gibt, und Vampirgemüse auf dem Markt ist nun wirklich ein Risiko für die Geheimhaltung.
Mich wundert sowieso, dass es noch niemandem aufgefallen ist."
Ka zuckte mit den Schultern. "Ach, die Erwachsenen würden an die Existenz von Vampirgemüse selbst dann nicht glauben, wenn das Gemüse direkt vor ihren Augen einen Stepptanz aufführen würde. Ihnen würde immer irgendeine, scheinbar rationale Ausrede einfallen. Da glauben die eher, dass sie selbst verrückt sind und halluzinieren. Und die Kleinen stellen sich doch sofort tot und sind dann nicht mehr von vergammeltem Gemüse zu unterscheiden."
Sara nickte und sah in die Runde. "Was wollen wir jetzt machen?"
Alle dachten nach. Ka konnte nicht stillsitzen, sie ging zur Luke und schaute hinaus. "Vermutlich sind Vampirsellerie und Vampirgurken nachtaktiv. Wir müssten nachts ihre Spur aufnehmen und schauen, woher sie kommen."
Die anderen stimmten ihr zu, aber wie sollten sie das organisieren?
Lisa klatschte in die Hände. Sie hatte wieder Mut gefasst, vielleicht konnten sie die Vampirgurken und -sellerie ja doch retten. "Morgen ist doch Freitag Samstag und Sonntag sind frei. Übernachtet doch morgen und übermorgen bei mir, mein Vater hat sicher nichts dagegen. Wir brechen dann von hier aus in der Nacht auf und suchen mit dem Detektor nach Spuren."
Alle stimmten zu. Koljas Eltern würden sicher begrüßen, dass er mal wieder nachts wach blieb und nicht immer nur tagsüber. Und Sara würde ihrer Großmutter sagen, dass sie bei Ka eingeladen sei.
"Gut, dann kommt um 21 Uhr hier vorbei und bringt Schlafsäcke mit."
Da Kolja keinen Schlafsack hatte, versprach Ka, zwei mitzubringen.
Zum Abschied streichelten alle noch einmal die kleine, nassfeuchte Vampirgurke. Das war wie ein Schwur: Wir werden sie retten.
Dann trug Lisa sie zu den anderen Vampirgurken in den Keller.
Von draußen unter den Büschen beobachteten zwei blutrote Augen all ihre Bewegungen und wie sie das Haus verließen. Keine von ihnen ahnte davon etwas, nur Sara war einmal kurz irritiert, doch sie schob das auf ihre allgemeine Unruhe.
Sie dachte an das Gespräch mit Koljas Urgroßmutter.
Auf dem Rückweg bemerkte sie, dass Ka sie ansah. Sie wusste, dass Ka etwas ahnte, doch sie wusste auch, dass ihre Freundin sie nicht bedrängen würde.
Irgendwann würde sie ihr alles sagen, irgendwann.
Aber sie hatte Angst davor.
Sie verabschiedete sich von Ka, ohne Koljas Urgroßmutter und das geheimnisvolle Gespräch noch einmal anzusprechen.