Читать книгу Leben. Nehmen. - Tullio Forgiarini - Страница 5
VIER
ОглавлениеChicago! Mein Name ist Johnny Chicago! … heut hast du keinen Bock aufzustehen, was?
»Nee. Nich wirklich …«
Bleib doch liegen, du Arsch! Du bist ja schon drei Tage in die Auszeit gegangen und fast nie zu spät gekommen. Mach heut halt blau. Sag einfach, dass dir schlecht ist.
»Mir ist auch schlecht.«
Siehste!
»Wegen diesem verdammten Kerschemeyer … Er ist mir massiv auf den Sack gegangen. Normalerweise mag ich Mathe mit Kerschemeyer, er kann wenigstens erklären. Er ist eben cool und Sänger in einer Band, weißt du? Singt auf Englisch … Aber gestern ist er mir auf den Sack gegangen. Ich soll schöner schreiben, die Überschriften unterstreichen, einen Rand lassen! Nur so ’n Scheiß … Und dann …«
… hast du ihm gesagt, er geht dir auf den Sack!
»Normalerweise sagst DU so was. Dieses Mal war ich es, glaub ich …«
Und der Kerschemeyer? Was hat er gemacht?
»Überhaupt nichts. Vielleicht war er ein bisschen baff. Er hat mir eine Strafe gegeben und dann war er wieder nett. Als wär nichts gewesen …«
Und es war ja auch nichts, oder …?
»Überhaupt nichts.«
Und Shirley?
»Was ist mit Shirley?«
Hast du vielleicht nur auf großen Macker gemacht, um deine Tussi zu beeindrucken?
»Gar nicht! Sie war nicht mal da …«
Bingo! Da haben wir es doch …
»Ja … nein … ich weiß nicht … Eine Sekretärin hat sie abgeholt. Sie musste zur Molitor ins Büro. Bestimmt wegen der Sache mit Tamara …«
Tamara? Was war denn …?
»Verarschen kann ich mich auch allein. Du weißt genau, was da war. Du weißt alles, was ich weiß. Ich bin es, der nicht immer alles weiß, was du weißt … Das ist auch der Grund … der Grund, warum du mein Freund bist …«
Dein einziger Freund! Erzähl es mir trotzdem … Das wird dir guttun.
»Okay. Also … Shirley und Tamara haben sich letzte Woche geprügelt. Erst ging rum, dass Shirley allen Typen einen bläst, für 20 Mäuse auf dem Jungsklo. Ich hab auch eine SMS bekommen …«
Und? Hast du angerufen?
»Haha … natürlich nicht, aber bestimmt ein paar andere. Anfangs hat Shirley noch gelacht. Sie fand es bestimmt irgendwie ganz cool, dass sie von so vielen Typen angerufen wird. Dann hat sie rausgefunden, dass Tamara dahintersteckt, und fand es gar nicht mehr so cool. In der Mittagspause hat sie ihr den Nasenring rausgerissen und Tamara hat ihr das Gesicht blutig gekratzt. Also sind beide bei der Molitor gelandet. Da hat wahrscheinlich keiner von ihnen was gesagt, weil Shirley war später wieder in der Klasse. Sie war wütend, krass wütend … so wütend … wie du es auch manchmal wirst.«
So wütend, dass du jemanden kaputt schlagen könntest? Also wirklich, ja? Nicht nur so gesagt …
»Ja, so wütend.«
Krass! Deine Freundin fängt an, mir zu gefallen …
»Sie ist nicht meine Freundin.«
Schade, oder? Und dann?
»Nichts. Eine ganze Woche lang ist nichts passiert, bis gestern, als es in der Mittagspause hieß, dass Tamara im Krankenhaus ist. Einer der Pförtner hat sie hingebracht. Die Spitze von ’nem Zirkel hat in ihrem Bein festgesteckt. Ist irgendwie abgebrochen oder so … War aber so tief drin, dass man sie nicht mehr rausbekommen hat. Später kam die Sekretärin, um Shirley zu holen … und dann hab ich Kerschemeyer gesagt, dass er mir auf den Sack geht … «
Shhhht! Halt mal die Fresse! Hörst du das? Da singt doch jemand … Klingelt da ein Handy? Deins?
»Haha, das ist doch dieser scheiß Robbie Williams! Muss Sandras Handy sein. Sie hat es wohl liegen lassen …«
Unsere Sandra? Nee, die würde bestimmt ohne Unterhose aus dem Haus gehen, aber nicht ohne Handy. Die pennt sicher noch …
»Du hast recht …«
Johnny Chicago hat immer recht!
»Ja, es war …«
Sag es: Johnny Chicago hat immer recht!
»Johnny Chicago hat immer recht. Zufrieden? Sandra muss wohl spät nach Hause gekommen sein. Sicher nach drei! Es war nämlich nach drei, als ich endlich das fünfte Level von Call of Duty geschafft hab …«
Scheißrobbiewilliams gibt endlich auf!
»Und noch immer kein Mucks von Sandra. Sie ist wohl …«
… wieder dicht! Voll originell …
…
Was? Du sagst nichts? Deine Mutter ist wieder dicht! Hörst du? Zugedröhnt wie jeden Tag!
»Aber nicht morgens … nie morgens! Und mittags … mittags nur selten …«
Dafür immer abends. Eine scheiß Alkoholikerin ist sie …
»Sie ist keine Alkoholikerin! Sie säuft keine harten Sachen oder so ’n Scheiß. Nur Bier. Ein Sixpack pro Tag, mehr oder weniger …«
Eher mehr …
»Wenn sie abends weggeht … dann ja …«
Sie geht jeden Abend weg! Und sie weiß, dass du die Flaschen zählst. Auch wenn du nie was sagst. Ab und zu lässt du auch mal eine Flasche verschwinden. Sie weiß …
»DU weißt das! Du weißt ja immer alles und alles besser. Johnny Chicago hat immer recht …«
Schlecht gelaunt, Knuffel?
»… aber San… meine Mutter ist keine Alkoholikerin. Oft merkt sie nicht mal, dass sie getrunken hat …«
Wenn du meinst … Komm, wir rauchen eine!
»Deine oder meine?«
Du machst ja richtig Fortschritte … bald wirst du voll witzig sein. Neues Zippo? Schön gold ist es …
»Nummer 32 in meiner Kollektion! Cool, oder?«
Gekauft oder geklaut?
»Geklaut! Da bin ich bei Nummer 15 und nicht ein einziges Mal erwischt worden!«
Ernsthaft? Und was war das dann damals im Auchan?
»Okay, da schon … aber eigentlich nicht so richtig. Ich bin weggelaufen … und keiner konnte mich einholen.«
Das war das zweite Mal! Das erste Mal hast du beim Marktleiter gesessen und geflennt. Sandra musste kommen und du hast Hausverbot gekriegt. Deswegen bist du beim zweiten Mal so schnell gerannt … und zwar ohne Zippo …
»Ich hab’s weggeschmissen … falls sie mich einholen … haben sie aber nicht! Und das ist die Hauptsache …«
Iiih, das ist ja gar kein Zippo! Nur eine goldene Schachtel … mit einer ranzigen Kippe drin! Was soll denn der Scheiß?
»Die gehört …«
… deiner Alten, schon klar! Johnny Chicago weiß alles!
»Gehört Shirley … ja.«
Hast du sie gefragt, bevor du sie genommen hast?
»Für wie blöd hältst du mich? Hab sie eingesteckt, als sie nicht hingeschaut hat. Und drin ist der Stummel, den sie … den sie mir …«
… in die Schulter gedrückt hat. Ja, das hab ich sofort kapiert. Du bist echt total krank! Mit dem ganzen Scheiß, den du in Köln …
»Köln? Köln hat nichts damit zu tun! Überhaupt nichts!«
Wenn du meinst, du Assi … Und was machst du mit dem Stummel? Lutschst du dran und rubbelst dir gleichzeitig einen?
Das Telefon klingelt wieder. Dieses Mal das Festnetz.
Du sagst nichts mehr, bist beleidigt. Dabei hab ich nicht übertrieben, ich nur hab Spaß gemacht, okay, so gar nicht schlimm. Du bist verliebt, du Arsch, und weißt es nicht mal.
Verliebt sein geht gar nicht. Männer vögeln alles, was ihnen über den Weg läuft … oder so … Und Shirley, die ist echt eine heiße Braut! Du wirst es sowieso nie hinkriegen, sie zu vögeln. Aber ich schau dir gern dabei zu, wie du dich mit deiner dummen Fresse zum Affen machst. Sammel doch weiter ihre Kippen und benutzten Taschentücher, mal Blümchen auf ihre Hefte und ritz dir ihren Namen in den Arm. Shirley wird dir voll ins Gesicht spucken … nein, noch besser … sie wird sich vor Lachen in die Hose machen!
Und das Beste ist: Du bist so was von allein mit deinen Scheißgefühlen. Wem würdest du das auch erzählen wollen? Rui? Haha! Nathalie? Die würde voll viel Verständnis für dich haben und sagen, wie wunderschön sie es findet … Grauenhaft! Sandra? Die würde nur wieder heulen … vor Freude bestimmt … und du würdest dir wieder wünschen, sie wär tot …
Aber wer bleibt am Ende? Johnny natürlich! Johnny Chicago, he’s the man! Du kannst es nur mir erzählen. Und auch das brauchst du nicht mal. Ich weiß es eh besser als du …
Jetzt kratzt du dir wieder die Brandwunde auf deiner Schulter auf. Mit einem Lineal, weil du mit den Fingern nicht drankommst. Schön gewissenhaft, bis du spürst, wie lauwarme Brühe deinen Rücken runterläuft. Und du frisst die Kruste, die am Lineal klebt.
Fast drei Wochen ist es schon her … Shirley hat nie wieder ein Wort drüber verloren. Und doch hast du dich blutig gekratzt. Immer wieder. Das machst du, bis eine Narbe bleibt, die so groß wie möglich werden soll … Du hast dir das Teil noch nicht angeschaut. Nicht, bevor Shirley es gesehen hat. Nicht, bevor sie ihre Fingerspitzen drübergleiten gelassen hat. Aber noch nie hat sie danach gefragt. Sie hat die Sache bestimmt schon vergessen …
Das Festnetztelefon klingelt, schon wieder. Gestern ist unsere Sandra vielleicht der Liebe ihres Lebens begegnet, was meinst du? Mal wieder … bestimmt irgendein Arsch. Euch rufen immer nur solche Kandidaten an … Manchmal stellst du dir vor, dein Vater wär dran. Nicht der aus Köln, ein anderer, der richtige. Stellst dir vor, er wär kein Arschloch. Sandra behauptet, er ist eins. Ein ganz großes. Der aus Köln halt. Gut möglich, dass das aber nur ihre Meinung ist, sagst du ihr dann immer. Ihre Sicht oder einfach nur eine Lüge.
Dein Vater, dein richtiger Vater, hat sich einfach aus dem Staub gemacht. Und dass er sich nie mehr gemeldet hat, hat bestimmt seine Gründe. Du erträgst deine Mutter ja auch nicht. Sandra ist wirklich eine dumme Kuh! Vielleicht kann sie nichts dafür, aber das entschuldigt eigentlich nichts … Und du? Vielleicht hast du deinen Vater ja auch genervt. Du hast immer stundenlang geheult, als du klein warst. Nur eine eiskalte Dusche konnte dich beruhigen, behauptet Sandra. Das war aber wirklich nicht deine Schuld. Und auch nicht, dass du geboren wurdest. Dann hätten sie beim Vögeln besser aufpassen sollen …
Ein Unfall! Das bist du. Wie oft hast du das schon gehört? Nur ein Unfall, der ihr das ganze Leben versaut hat. Das sagt deine Mutter, aber nur, wenn sie wütend ist. Nicht zwingend auf dich, sondern auf die Gesamtsituation. Was für ein Unfall es war, sagt sie nicht. Kein Gummi? Ein kaputtes? Oder schlecht gerechnet? Frag sie doch einfach beim nächsten Mal …
Ein Unfall … das kann schon sein. Vielleicht wär dein Vater bei ihr geblieben, wenn es dich nie gegeben hätte. Dann wär er aber auch nicht dein Vater, weil du ja nicht geboren worden wärst. Dann hätten sie vielleicht irgendeinen Steve, einen Robbie oder Jason. Irgend so ’n Arsch halt …
Jetzt klingelt Robbie Williams schon wieder. Der gibt ja wirklich alles, bis er Erfolg hat. Unsere Sandra ist endlich aufgewacht. Hörst du sie rumeiern? Natürlich findet sie ihr Handy nicht. Es wird auch geflucht, aber das ist nicht ihre Stimme. Nicht mal nach zwei Päckchen Kippen … Wär ja auch eine Seltenheit, wenn sie mal allein nach Hause gekommen wär. Und je später es wird, desto hässlicher sind die Typen …
»Was? Was?«, hör ich sie sagen.
Ich glaub, ich weiß, wer da am Telefon ist. Du hättest es kommen sehen müssen …
Und schon steht sie nackt in deinem Zimmer. Wie so oft. Warum du nicht in der Schule bist, will sie wissen. Jetzt aber schnell! Du sollst nicht rumdiskutieren! Das volle Elternprogramm eben …
Sie hat ihr Handy in der Hand, ganz sicher hat sie nicht aufgelegt. Jetzt gibt sie wieder alles, um der Molitor zu zeigen, was für eine verantwortungsbewusste Mutter sie ist. Konsequent und so.
Lass dich mal wieder so richtig durchnehmen und mich in Ruhe, sagst du nicht, aber du bist kurz davor. Du sagst überhaupt nichts.
Sandra ist einfach nur eine arme Sau … aber immerhin heiß … In der Grundschule warst du stolz, eine so heiße Mutter zu haben. Aber das ist lang her. Jetzt wünschst du dir, sie wär voll hässlich. Dann wären da nicht ständig diese Typen. Und du wahrscheinlich auch nicht …