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DAS DUNKEL

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Hinter der russischen Kirche gibt es einen Abgrund. Das Moos und die Abfälle sind glitschig, tief unten leuchten gezackte Konservendosen. Im Laufe von Jahrhunderten sind sie in immer höheren Stapeln an der Wand eines dunkelroten, langen Gebäudes ohne Fenster hochgewachsen. Das rote Gebäude kriecht um den Berg herum, und die Tatsache, dass es keine Fenster hat, ist sehr bedeutungsvoll. Hinter diesem Haus liegt der Hafen, ein stiller Hafen ohne Schiffe. Die kleine Holztür im Fels unterhalb der Kirche ist stets verschlossen.

»Du musst die Luft anhalten, wenn du an der Tür vorbeirennst«, sagte ich zu Poju. »Sonst kommt die Fäulnis heraus und holt dich.« Poju hat andauernd Schnupfen. Er kann Klavier spielen und hält immer die Hände vor sich ausgestreckt, als fürchtete er sich davor, angegriffen zu werden, oder als wollte er sich entschuldigen. Ich mache ihm Angst, und er läuft stets hinter mir her, damit ich ihm Angst machen kann.

Bei Einbruch der Dämmerung beginnt ein großes graues Wesen vom Meer hinterm Hafen heranzukriechen. Das Wesen hat kein Gesicht, dafür aber sehr deutliche Hände, mit denen es eine Insel nach der anderen bedeckt, während es vorankriecht. Wenn keine Inseln mehr da sind, streckt es den Arm übers Wasser, einen sehr langen Arm, der leicht zittert, und beginnt nach Skatudden zu tasten. Die Finger erreichen die russische Kirche und berühren den Berg – oh! Eine große graue Hand! Ich weiß genau, was das Unheimlichste von allem ist. Das ist die Schlittschuhbahn. An meinem Pullover ist ein sechseckiges Schlittschuhabzeichen festgenäht. Der Schlittschuhschlüssel hängt mir an einem Schnürsenkel um den Hals. Wenn man sich aufs Eis hinunterbegibt, merkt man, dass die Eisbahn nur ein kleines Armband aus Licht weit draußen in der Dunkelheit ist. Der Hafen ist ein Meer aus blauem Schnee, Einsamkeit und melancholischer frischer Luft.

Poju kann nicht Schlittschuhlaufen, seine Füße knicken nämlich unter ihm ein, ich dagegen muss aufs Eis. Hinter der Bahn lauert das graue kriechende Wesen, und die ganze Bahn ist von einem Ring aus schwarzem Wasser eingefasst. Manchmal beginnt das Wasser am Eisrand zu atmen, es bewegt sich sacht, ab und zu steigt es in einem Seufzer hoch und überflutet das Eis. Wenn man sich erst einmal auf die Schlittschuhbahn hineingerettet hat, ist es nicht mehr gefährlich, aber melancholisch wird man trotzdem.

Hunderte von schwarzen Menschen fahren im Kreis herum, alle in dieselbe Richtung, entschlossen und sinnlos, und in der Mitte sitzen zwei frierende Männer unter einer Plane und machen Musik. Sie spielen »Ramona« und »Wenn meine Alte da ist, bleib ich weg«. Es ist kalt. Die Nase läuft, und wenn man sie abwischt, entstehen Eiszapfen an den Handschuhen. Die Schlittschuhe müssen am Absatz festgemacht werden. Im Absatz ist eine Mulde aus Eisen, und die ist jedes Mal voller Steinchen, die ich mit dem Schlittschuhschlüssel herauspule. Dann sind da die steifen Riemen, die in ihre Löcher hineinsollen. Und dann fahre ich mit den anderen im Kreis herum, weil es gesund ist, an der frischen Luft zu sein und weil das Schlittschuhabzeichen sehr teuer war. Hier ist niemand, dem man Angst machen kann, alle fahren schneller, knirschend und quietschend fahren fremde Schatten an einem vorbei. Die Lampen schaukeln im Wind. Wenn sie ausgingen, würden wir im Dunkeln weiterfahren, immer im Kreis herum, und die Musik würde weiterspielen, und allmählich würde die Eisrinne ringsum breiter werden, sie würde heftiger klaffen und atmen, und der ganze Hafen würde zu einem schwarzen Wasser werden mit einer einsamen Insel aus Eis in der Mitte, auf der wir weiterfahren würden, in alle Ewigkeit, Amen. Ramona ist bildschön, bleich wie die Donnerbraut, und hat Jugendverbot. Aber die Donnerbraut habe ich im Wachsfigurenkabinett gesehen. Papa und ich, wir lieben Wachsfigurenkabinette. Die Donnerbraut wurde ausgerechnet in dem Augenblick vom Blitz erschlagen, als sie heiraten sollte. Der Blitz schlug in ihren Myrtenkranz ein und fuhr zu ihren Füßen wieder hinaus. Daher steht die Donnerbraut auch barfuß da, an ihren Fußsohlen kann man deutlich eine Menge gezackter Linien erkennen, wo der Blitz wieder hinausfuhr.

In einem Wachsfigurenkabinett wird einem vor Augen geführt, wie leicht es ist, Menschen kaputt zu machen. Sie können zermalmt, auseinandergerissen und in Stücke gesägt werden. Davor ist niemand sicher, und daher ist es auch so wichtig, dass man rechtzeitig ein Versteck findet.

Ich sang Poju immer wieder das Trauerlied vor. Er hielt sich die Ohren zu, hörte es aber dennoch. Das Leben ist eine Insel der Trauer, mitten im Leben berührt uns der Todesschauer, und übrig bleibt nur Staub! Die Schlittschuhbahn war die Insel der Trauer. Wir lagen unterm Esstisch und zeichneten sie auf. Poju nahm zum Zeichnen ein Lineal und einen zu harten Bleistift, er zeichnete jedes einzelne Brett im Bretterzaun und sämtliche Lampen. Ich selbst zeichnete immer mit einem 4 B und ausschließlich schwarz – die Dunkelheit auf dem Eis oder die Eisrinne oder tausend schwarze Menschen, die auf knirschenden Schlittschuhen im Kreis herumflohen. Poju begriff nicht, was ich zeichnete, und da nahm ich einen Rotstift und flüsterte: »Blutspuren! Das ganze Eis ist voller Blutspuren!« Und Poju schrie, während ich die Grausamkeit auf das Papier bannte, um zu verhindern, dass sie an mich herankam.

Eines Sonntags brachte ich ihm bei, wie er sich vor den Schlangen retten konnte, die in dem großen Plüschteppich in Pojus Wohnung verborgen waren. Man musste dabei vor allem beachten, dass man nur die hellen Streifen betreten durfte, alle Farben, die hell waren. Wer danebentrat, ins Braune, war verloren. Dort unten wimmelte es von Schlangen, das ließ sich gar nicht beschreiben, das musste man sich ausmalen. Jeder musste sich seine eigenen Schlangen ausmalen, da die des anderen niemals so schrecklich werden konnten.

Poju balancierte mit winzigen Schritten und ausgestreckten Händen über den Teppich, und sein großes feuchtes Taschentuch flatterte kläglich in der einen Hand.

»Jetzt wird’s schmal«, sagte ich. »Pass jetzt gut auf und versuch, auf diese helle Blume in der Mitte zu hüpfen!«

Die Blume befand sich schräg hinter ihm, vorher lief das Muster in einer dünnen Schlinge aus. Poju versuchte verzweifelt, das Gleichgewicht zu halten, er flatterte mit dem Taschentuch und begann zu schreien, dann stürzte er ab, ins Braun hinunter. Er schrie und schrie und wälzte sich auf dem Teppich, er rollte auf den Boden hinaus und von dort unter einen Schrank. Ich schrie ebenfalls. Dann kroch ich hinterher und nahm ihn in die Arme und hielt ihn fest, bis er sich beruhigt hatte.

Plüschteppiche sind gefährlich. Da ist es viel besser, in einem Atelier mit Zementboden zu wohnen. Das ist auch der Grund, warum Poju immer so gern in unsere Wohnung kommt.

Poju und ich graben uns einen Geheimgang durch die Wand. Ich habe schon ein gutes Stück geschafft, obwohl ich nur arbeiten kann, wenn ich allein bin. Die Holzverschalung war nicht allzu schwierig, doch danach musste ich zum Marmorhammer greifen. Pojus Loch ist viel kleiner, aber sein Vater hat ja auch so schlechtes Werkzeug, dass es eine wahre Schande ist.

Jedes Mal wenn ich allein bin, hebe ich den Wandbehang hoch und klopfe weiter; bisher hat noch niemand bemerkt, was ich treibe. Der Wandbehang ist aus Sackleinen, und Mama hat ihn bemalt, als sie jung war. Er stellt einen Abend dar. Aus dem Moos steigen gerade Stämme auf, und hinter den Stämmen ist der Himmel rot, weil die Sonne untergeht. Bis auf den Himmel ist alles in unbestimmte, dunkle, graubraune Töne getaucht, doch die schmalen roten Streifen leuchten wie Feuer. Ich liebe Mamas Bild. Es führt einen tief in den Wald hinein, tiefer als mein Loch, tiefer als Pojus Wohnzimmer, es führt ins Unendliche, und man kommt nie an den Punkt, von wo aus man sehen könnte, wo die Sonne untergeht, das Rot aber wird immer leuchtender. Ich glaube, es brennt! Da hinten ist eine große schreckliche Feuersbrunst, genau so eine Feuersbrunst, wie sie Papa immer erwartet.

Als Papa mir zum ersten Mal eine seiner Feuersbrünste zeigte, war es Winter. Er ging voraus übers Eis, und Mama kam hinterher und zog mich auf einem Schlitten. Der Himmel war rot, schwarze Menschen rannten umher, und etwas Entsetzliches war geschehen. Das Eis war mit schwarzen, stachligen Sachen übersät. Papa sammelte sie ein und legte sie mir in die Arme, sie waren sehr schwer und drückten auf meinen Bauch.

Explosion ist ein schönes Wort, und sehr groß ist es auch. Später lernte ich noch andere Wörter kennen, die man nur vor sich hin flüstern kann, wenn man allein ist. Unerbittlich. Ornamentik. Profil. Katastrophal. Elektrisch. Kolonialwarenladen.

Wenn man sie häufig wiederholt, werden sie immer größer. Man flüstert und flüstert und lässt das Wort wachsen, bis außer dem Wort nichts mehr vorhanden ist.

Ich frage mich, warum die Feuersbrünste immer nachts ausbrechen. Vielleicht interessiert Papa sich nicht für Feuersbrünste, die tagsüber brennen, weil der Himmel da nicht rot ist.

Papa weckte uns jedes Mal, und wir hörten das Heulen der Feuerwehr, es war sehr eilig, wir rannten durch die Straßen, die ganz leer waren. Der Weg zu Papas Feuersbrunst war immer schrecklich weit. Alle Häuser schliefen schon und streckten ihre Schornsteine in den roten Himmel, der immer näher kam, und schließlich waren wir da, und Papa hob mich hoch und zeigte mir das Feuer. Aber manchmal war es auch nur ein mickriges kleines Feuer, das schon längst erloschen war, und dann war Papa so enttäuscht und niedergeschlagen, dass er getröstet werden musste.

Mama mag nur ganz kleine Feuersbrünste, die sie verstohlen im Aschenbecher anzündet. Und Kaminfeuer mag sie auch. Jeden Abend, wenn Papa ausgegangen ist, um Bekannte zu besuchen, macht sie im Atelier und im Flur ein Feuer im Kamin.

Wenn das Feuer brennt, zieht sie den großen Stuhl heran. Wir machen das Licht im Atelier aus und setzen uns vors Feuer, und sie beginnt: »Es war einmal ein kleines Mädchen, das war unglaublich schön, und ihre Mutter hatte sie so unglaublich lieb …« Jede Geschichte muss so anfangen, was dann folgt, ist nicht so wichtig. Eine milde, langsame Geschichte in einer warmen Dunkelheit, man starrt ins Feuer, und nichts ist gefährlich. Alles andere ist draußen und kann nicht hereinkommen. Jetzt nicht und auch in Zukunft nicht.

Meine Mama hat dichtes dunkles Haar, es hüllt einen ein wie eine Wolke, es riecht gut, die traurigen Königinnen im Buch haben solche Haare. Das schönste Bild im ganzen Buch ist eine ganze Seite groß. Es stellt eine Landschaft in der Dämmerung dar, eine mit Lilien bewachsene Ebene. Überall auf der Ebene wandeln blasse Königinnen umher, sie halten Gießkannen in den Händen. Die vorderste ist geradezu überirdisch schön. Ihr langes dunkles Haar ist weich wie eine Wolke, und der Zeichner hat es mit Pailletten bestreut, vermutlich hat er Deckfarbe genommen, nachdem alles andere fertig war. Das milde Profil der Königin ist ernst. Da wandelt sie nun ihr Leben lang und gießt und gießt, und niemand weiß, wie schön und traurig sie ist. Die Gießkannen sind mit echter Silberfarbe gemalt, und wie der Verlag sich so etwas leisten kann, das begreifen Mama und ich mit dem besten Willen nicht.

Mamas Erzählungen handeln oft von Moses, erst im Schilf, und dann später; von Isaak und von Leuten, die Heimweh nach ihrem eigenen Land haben oder die sich verirren und dann doch noch den richtigen Weg finden; von Eva und der Schlange im Paradies und von großen Stürmen, die sich schließlich beruhigen. Die meisten Personen in ihren Geschichten haben auf jeden Fall häufig Heimweh und sind oft einsam, sie verhüllen sich in ihrem Haar und werden in Blumen verwandelt.

Manchmal auch in Frösche, und Gott behält sie die ganze Zeit im Auge und vergibt ihnen, allerdings nur, wenn er nicht gerade zornig und gekränkt ist und ganze Städte zerstört, weil die Einwohner an andere Götter glauben.

Moses konnte ab und zu auch recht unbeherrscht sein. Die Frauen aber warteten und warteten und hatten Heimweh. Oh, ich werde dich in dein eigenes Land führen oder in welches Land du willst auf Erden und Pailletten in dein Haar malen und dir ein Schloss bauen, in dem wir leben werden, bis dass der Tod uns scheidet, und niemals werden wir auseinandergehen. Und in einem dunklen, unendlichen Wald, schwarze Wolken, der Donner hallt, ein kleines Kind ganz einsam geht, die Nacht so schwarz und grausig steht, das Kind so traurig weinet sehr, die Mutter seh ich nimmermehr, hier in Finsternis und Not, erleiden muss ich bittern Tod. Sehr befriedigend. Auf diese Art sperrten wir das Gefährliche aus.

Papas Figuren bewegten sich sachte im Schein des Feuers, seine melancholischen weißen Frauen, die einen vorsichtigen Schritt wagten, ständig fluchtbereit. Sie wussten Bescheid um das Gefährliche, das überall lauert, aber für sie gab es nur eine Rettung – sie mussten in Marmor gehauen und in einem Museum aufgestellt werden. Dort war man in Sicherheit. In einem Museum, auf einem Schoß oder unter einem Baum. Möglicherweise unter der Bettdecke. Aber das Beste war wohl doch, in einem hohen Baum zu sitzen, wenn man sich nicht zufällig noch im Bauch seiner Mutter befand.

Die Tochter des Bildhauers

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