Читать книгу Zwischen zwei Welten - Tyler Henry - Страница 8

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Der Beginn


»Mama, wir müssen uns von Oma verabschieden!«, rief ich. Überrascht von meinen eigenen Worten machte ich eine Pause, bevor ich fortfuhr: »Wir müssen sofort los. Sie wird heute Nacht sterben.«

Ich stolperte in die Küche und kam neben meiner Mutter zum Stehen. Ich empfand ein Gefühl von überwältigender Dringlichkeit und war gerade in der Gewissheit aufgewacht, dass meine Großmutter sterben würde. Es fühlte sich an wie eine Erinnerung, nur dass es noch nicht passiert war. Wortlos griff meine Mutter nach ihrem Telefon und ihrer Handtasche und eilte zur Tür. Als ich hinterherlief, schien sich die Zeit zu verlangsamen. Ich empfand ein Gefühl von Verlust, das in mir hochwallte und wieder verebbte, in lähmenden Wellen. Ich wusste, dass ich unbedingt Lebewohl zu meiner Großmutter sagen musste; ich wusste auch, dass uns nicht viel Zeit blieb.

Als wir zum Auto rannten, klingelte das Telefon meiner Mutter. Ein vertrautes Gefühl begann mich zu piesacken. Was als unerklärliche Gewissheit begonnen hatte, wurde jetzt vor meinen Augen zur Realität: Meine Mutter ging ans Telefon und hörte, dass meine Großmutter vor ein paar Augenblicken ihren letzten Atemzug getan hatte.

Damals, im Alter von zehn Jahren, machte ich meine erste Erfahrung mit etwas, was sich nur als »Wissenheit« beschreiben ließ. Dieses Gefühl war mehr als nur eine Ahnung. Es war eine Überzeugung, die nicht ins Wanken zu bringen war, auch wenn ich nicht begriff, woher sie kam. Ab diesem Tag sollte eine bizarre Wissenheit jeden Aspekt von Leben und Tod, wie ich sie bisher kannte, verändern. Da ich da noch nicht wusste, was Präkognition oder Intuition ist, war ich von dem Erlebten zutiefst verwirrt. Warum war ich in einem Zustand aufgewacht, der sich so sehr von allem unterschied, was ich bisher erlebt hatte – ausgestattet mit Informationen, die ich nicht wissen konnte, und dem dringenden Bedürfnis, sie zu kommunizieren?

Letztlich beeinflusste der Tod meiner Großmutter mein Leben mehr, als man sich damals hätte vorstellen können. Während meine Familie trauerte, war ich unfähig, das Gefühl, das ich in dieser Nacht erlebt hatte, zu vergessen. Die Leute um mich her weinten, aber ich konnte nicht genauso fühlen wie sie. Irgendwie hatte mein Vorherwissen um ihr Hinübergehen – auch wenn es nur um ein paar Momente zuvorgekommen war – die Art und Weise, wie ich ihren Tod verarbeitete, verändert. Da ich die Zukunft als Vergangenheit erfahren hatte, begriff ich auf einer tiefen Ebene, dass sich das Ergebnis nicht hätte verhindern lassen. Statt selbst irgendwelchen Trost zu brauchen, fand ich mich in der Rolle des Trösters meiner Eltern wieder.

Ich war nicht überrascht, dass meine Mutter meinem Vater nichts von meiner Vorahnung erzählte. Da ich die Erfahrung selbst nicht begriff, war es umso unwahrscheinlicher, dass meine Eltern sie würden einordnen können. Was mich überraschte, war eine Erinnerung, die ich immer wieder im Geist durchging, und zwar die, dass meine Mutter sich sofort ihre Sachen geschnappt hatte und zur Tür hinausgerauscht war – sie hatte meine Warnung ohne zu zögern beachtet. Verfügte auch sie über eine »Wissenheit«, die ihr sagte, dass ich die Wahrheit sprach?

Am nächsten Abend legte ich mich hin und schloss die Augen. Nach den kräftezehrenden vergangenen vierundzwanzig Stunden versuchte ich, meine Gefühle zu beruhigen. Beim Einnicken bemerkte ich, wie ein süßer Duft durch den Raum zog. Er war sehr vertraut. In meinem halb bewussten Zustand realisierte ich, dass dieser Duft derselbe war wie der des blumigen Parfüms meiner Großmutter, das sie getragen hatte, als ich noch ein kleiner Junge war.

Als ich so dalag, rief ich mir die glücklichen Erinnerungen ins Gedächtnis, die mich mit ihr verbanden, und die Eindringlichkeit des Dufts. Ich drückte die Augen fest zu. Ich hatte Angst, dass, wenn ich sie wieder öffne, diese kostbare Verbindung zu meiner Großmutter sich auflösen würde. Ich fühlte, wie ich in die Ausläufer eines Traums rutschte.

Plötzlich war ich hellwach: Ich war nicht allein im Zimmer. Gerade, als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, sah ich ein Licht. War es der Scheinwerfer eines Autos, der von der Straße hereinschien? Ich rieb mir die Augen. Am Fuß meines Betts war eine Gestalt erschienen. Sie sah wie eine beträchtlich jüngere Version meiner frisch verstorbenen, alten Großmutter aus. Bis heute bin ich verblüfft, wie ruhig mein zehnjähriges Selbst bei diesem Ereignis blieb. Meine tote Großmutter stand am Fuß meines Betts und lächelte, in goldenes Licht gehüllt. Obwohl sie vierzig Jahre jünger aussah, als ich sie kannte, war ihre Essenz unverwechselbar.

Ich war von ihrem Strahlen verzaubert. Vor ihrem Tod hatte sie monatelang mit Krebs gerungen, ihre Haare verloren und konnte nicht mehr aufstehen. So, wie ich sie jetzt sah, hatte sie wunderschönes, leicht gelocktes blondes Haar, jugendliche, rosige Wangen und gütige Augen. Ich sah sie so, wie sie sich selbst sah. Bevor ich verarbeiten konnte, was ich sah, wurden meine Gedanken von einer Stimme unterbrochen, die ich liebte.

»Es gibt nicht viel, aber die Halskette in dem braunen Kästchen gehört dir«, sagte sie. »Das ist nur Zeug. Wir sehen uns wieder.«

Ich starrte sie verblüfft an. Wie leger sie doch wirkte und ihr Verhalten war ganz so wie im Leben. Ihre Stimme hatte den gütigen, beruhigenden Klang, der mir so vertraut war. Das Licht um sie her dehnte sich aus und sie machte einen Schritt nach vorn. Ich fühlte, wie ihre warme Umarmung mich umgab und ihre wortlose Botschaft: Ihre Liebe zu mir transzendierte selbst den Tod.

Ich kannte meine Großmutter nur ein Jahrzehnt ihres Lebens und doch schien ihre Präsenz ein ganzes Leben an Erinnerungen zu kommunizieren. Es war eine Erfahrung, die ich bis heute wie ein Kleinod hüte. Nicht nur, dass ich sie so loslassen konnte, nein, ich gewann auch eine neue Perspektive. Ich sah sie auf eine Art und Weise, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Obwohl unsere Begegnung kurz war, blitzten so viele lebhafte Eindrücke auf, einfach nur, indem ich in ihrer Nähe war. Bis zu diesem Punkt hatte ich nie begriffen, dass Botschaften auch wortlos übermittelt werden konnten. Diese Botschaften kamen in Form von Bildern, die anfangs nur geringe persönliche Bedeutung für mich hatten: eine goldene Halskette in einem Holzkästchen, die sich in einen farbenfrohen Marienkäfer verwandelte und eine Explosion roter Rosen. Ich hatte keine Kontrolle über diese Bilder und verstand sie auch nicht. Sie tauchten in meinem Geist so lebhaft auf wie eine frische Erinnerung.

Meine Begegnung mit meiner Großmutter war scheinbar genauso schnell vorbei, wie sie begonnen hatte. Ich erlebte die Leere in meinem Zimmer – die vorige Wärme der erneuerten Verbindung, die es einen surrealen Moment lang erfüllt hatte, kam zu einem abrupten Ende. Diese Minuten hatten sich zeitlos angefühlt, als wäre ich direkt in die Ewigkeit transportiert worden. Jetzt stand das Licht, das mir so viel Freude gemacht hatte, in scharfem Kontrast zur Dunkelheit. Auf eine seltsame Art und Weise fühlte sich dieser Moment so an, als sei sie ein zweites Mal gestorben. Jahre später sollte ich lernen, dass einige Menschen, die hinübergehen, ihre Lieben nicht direkt nach dem Hinscheiden besuchen. Sie wollen nicht, dass einer ihrer Lieben, der nicht darauf vorbereitet ist, eine zweite Welle des Verlusts erlebt, wenn der Besuch endet. Ich glaube, dass die Verstorbenen wissen, wie weit wir in unserem Trauerprozess sind und ob wir bereit sind, ihre Signale zu empfangen. Andrerseits übermitteln sie manchmal Botschaften an ihre Lieben als Teil des Loslösungsprozesses der Seele, um auch selbst loslassen zu können.

Als ich so dalag und zu verarbeiten versuchte, was ich gerade erlebt hatte, überlegte ich, ob ich meinen Eltern von meiner Begegnung erzählen sollte. Ich wusste, dass ich in dieser sensiblen Zeit vorsichtig sein musste, und hatte keine Vorstellung, wie sie reagieren würden. Meine tote Großmutter hatte mich in einem Wachtraum besucht und ich hatte keinerlei Zweifel, dass es sich dabei um eine reale Interaktion gehandelt hatte. Das war mein erstes spirituelles Erwachen – von einem buchstäblichen Erwachen nicht zu reden. Ich wusste es zu schätzen, dass ich bei der ersten geliebten Person, die ich verlor, so eine starke Verbindung gespürt hatte und sie daher loslassen konnte. Und dennoch hatte ich nach ihrem Besuch weit mehr Fragen als Antworten.

In meiner Familie war es kein Thema, ob Seelen nach dem Tod zu einer Kommunikation mit uns in der Lage sind. Ich wusste daher nicht, ob meine Eltern meine Interaktion tröstlich oder verstörend finden würden, besonders in Hinblick darauf, dass ich den Tod meiner Großmutter vorhergesagt hatte. Meine Eltern gingen beide in die Kirche und die Leute in meinem weiteren Familienkreis waren tief religiös und hatten rigide Glaubenssätze. Daher hatte ich damit zu kämpfen, meine Erfahrung in den Überzeugungsrahmen meiner Familie einzuordnen. Wenn es nach dem Tod nur Himmel und Hölle gibt, wie konnte dann meine kürzlich verstorbene Großmutter plötzlich bei mir im Zimmer stehen?

Damals kam ich zu dem Schluss, es sei das Sicherste, meine Visionen für mich zu behalten. Ich begann, selbst nach Antworten zu suchen. Ich fragte mich, warum meine Großmutter bei all den Botschaften, die sie hätte schicken können, solches Gewicht auf eine Halskette legte. Und dann noch dazu eine, von der ich nicht einmal wusste, und in Form einer Botschaft, die wenig Sinn ergab. Wir hatten gemeinsame Erinnerungen, die sich über zehn Jahre erstreckten, aber sie hatte keine davon erwähnt. Stattdessen sagte sie, man solle sich nicht mit materiellem »Zeugs« aufhalten. Das war verwirrend, weil ich – mit meinen zehn Jahren und ohne große sentimentale Veranlagung – überhaupt kein Bedürfnis nach etwas hatte, wodurch ich mich an meine Großmutter erinnern konnte, und noch viel weniger nach etwas, um das viel Aufhebens gemacht werden würde.

Das war der erste Vorbote einer Lebenszeit von medialen Sitzungen, in denen Botschaften kamen, deren Inhalt ich einfach nicht verstand. Und immer wieder sollte ich erfahren, dass der Kontext nicht entscheidend dabei ist, wenn es darum geht, ein Leiter zu sein. Das Vertrauen darauf, dass das, was ich intuitiv interpretierte, auch ohne Analyse real war, war der erste Schritt, die Gültigkeit der Botschaften auf die Probe zu stellen.

Die nächsten paar Tage über bereitete meine Familie das Begräbnis meiner Großmutter vor. Ich wollte nicht in die Kirche zur Beerdigung. Nur ein paar Tage zuvor hatte ich die tiefste Art von Loslassen erfahren, die sich ein Mensch wünschen konnte. Obwohl ich nicht ganz begriff, was meine Erfahrung bedeutete, stellte ich nie ihre Realität in Frage. Den ganzen Gottesdienst über beobachtete ich Leute, die ich nicht kannte, dabei, wie sie von Herzen kommende Grabreden auf meine Großmutter hielten. Während ich zusah, wie die einzelnen Leute zum Podium gingen, verstand ich, dass meine beste Freundin, Anwältin und der Mensch, der mir am nächsten gestanden war, das Leben all der Leute verändert hatte, mit denen sie in Kontakt war. Deren Augen strahlten einen Verlust aus, dem Worte nicht gerecht werden konnten. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, es zu versuchen. Und der Geist meiner Großmutter? Der war nirgends zu sehen. In diesem Moment wurde mir klar, dass Beerdigungen in Wahrheit für die Lebenden sind.

Wir gingen zum Friedhof und meine Cousine stand neben mir. Kurz darauf landete ein Marienkäfer auf ihrem Finger und saß die ganze Zeremonie über dort. Als sie versuchte, ihn abzuschütteln, flog er stur zurück auf ihre Hand und dann auf meine. Wir achteten mehr auf diesen anhänglichen Käfer als auf den Prediger am Podium. Gegen Ende des Gottesdienstes bemerkte meine Tante, wie abgelenkt wir waren. Sie sagte, der Käfer könnte ein Zeichen von meiner Großmutter sein. Kaum hörte ich die Worte, lief es mir kalt den Rücken hinunter. Es ist dasselbe Gefühl, das ich heute bekomme, wenn eine Botschaft als korrekt bestätigt wird. Als wir den Friedhof verließen, lagen dutzendweise rote Rosen vor dem Sarg meiner Großmutter. Ich fühlte denselben Schauer wie zuvor. Zwei von drei meiner Visionen waren innerhalb weniger Minuten bestätigt worden. Was aber bedeutete der Rest der Botschaft? Wie passte das alles zusammen? Es war, als hätte ich es mit dem seltsamsten Puzzle zu tun, das jemals erfunden wurde.

Ein paar Tage vergingen und es war an der Zeit, zu der Wohnung meiner Großmutter zu fahren. Wir planten, ihren Besitz unter der engsten Verwandtschaft aufzuteilen. Obwohl sie nicht reich war, kümmerte sie sich doch gut um das, was sie hatte, und legte Wert darauf, es mit ihren Enkeln zu teilen. Ich ging dieselben Stufen der Veranda hinauf, auf denen ich laufen gelernt hatte, und erinnerte mich an die Sommer, die wir hier zusammen verbracht hatten. Wir saßen auf der Veranda und hatten Brettspiele gespielt oder Spaziergänge im Sonnenuntergang gemacht. Das war das erste Mal, dass die Familie seit ihrem Tod bei ihr zusammenkam. Wir fühlten uns unweigerlich nostalgisch, aber das hielt nur kurz an. Als wir die Haustür öffneten, stellten wir fest, dass fast alles, was sie besessen hatte, weg war. Später erfuhren wir, dass ein entfernter Verwandter und seine Frau alles aus dem Haus geschafft hatten, was zu finden war. Meine nahen Verwandten waren entsetzt, als sie feststellen mussten, dass abgesehen von den Dingen von materiellem Wert auch alles verschwunden war, was uns viel mehr bedeutete: die Sachen mit sentimentalem Wert, den man nicht mit Geld aufwiegen konnte. Mit einer Mischung aus Trauer, Kummer, Wut und Frustration sah sich meine Familie nach irgendwelchen Dingen von sentimentalem Wert um, die an meine Großmutter erinnern würden. Fotografien, mit denen wir aufgewachsen waren, standen auf einmal hoch im Kurs. Eine Aura der Verzweiflung zog sich durch das Haus. Als wir uns zum letzten Mal umsahen, verkündete meine Cousine, dass sie unter dem Bett ein hölzernes Schmuckkästchen gefunden hatte. Ich rannte in das Zimmer und öffnete das Kästchen. Darin war ein einzelnes Schmuckstück – ein goldener Anhänger mit einer Kette.

Als ich die Kette in der Hand hielt, von der meine Großmutter gesagt hatte, dass sie mir zugedacht war, überwältigten mich Gefühle. In einer Serie von Blitzen schossen mir die Bilder, die sie mir kommuniziert hatte, durch den Kopf. Jetzt begriff ich, was sie mir hatte sagen wollen. Die roten Rosen waren ihre Art anzuerkennen, dass sie geliebt wurde, weil sie zu Dutzenden von Leuten niedergelegt worden waren, die sie kannten und denen sie wichtig war. Der Marienkäfer war eine Erinnerung, dass sie immer bei uns sein würde. Und die tiefste Einsicht war, dass meine Großmutter darum gewusst hatte, dass bestimmte Familienmitglieder ihren Besitz zu ihrem Gewinn plündern würden, statt in einer Zeit des Verlusts als Familie zusammenzukommen. So ließ sie uns wissen, dass die enttäuschenden Entscheidungen der Lebenden ihren Frieden auf der anderen Seite nicht störten.

In dem Moment verstand ich, dass die Symbole und ihr Kontext oft viel tiefere Botschaften in sich bergen, als es zunächst den Anschein hat. Mehr als alles andere führte es mir vor Augen, dass mein verzweifelter Wunsch, mich in der Nacht ihres Todes von meiner Großmutter zu verabschieden – ein Gefühl, das wohl viele nachvollziehen können, die sich einem Verlust gegenübersehen – unnötig gewesen war. Der Tod bedeutet nicht, dass man Lebewohl sagen muss.

Erste Visionen

In den Jahren nach dem Tod meiner Großmutter änderte sich mein Leben stark. Ich machte meinen Tagesablauf durch und war mir der Welt um mich herum bewusst, aber ich begann auch, neue Eindrücke und Bilder zu erfahren. Sie unterschieden sich in ihrer Beständigkeit – manchmal kamen sie im Traum, manchmal im Wachen. Manchmal sah ich viele an einem Tag; zu anderen Zeiten konnten Wochen ohne bemerkenswerte Visionen oder Einsichten vergehen. Ich wusste irgendwie, was geschah, oder hatte doch eine Vermutung. Es war jedoch nur eine bizarre, scheinbar willkürliche Fähigkeit. Es gab kein Benutzerhandbuch, das mir gesagt hätte, worum es sich dabei handelte oder wie ich sie benutzen sollte.

Ich war dankbar, dass ich meine Großmutter hatte loslassen dürfen, aber ich war auch überrascht, dass sie keine Botschaften für meine Mutter oder meinen Vater geschickt hatte. Sie betrauerten ihren Verlust noch immer zutiefst. Wie ich später lernen sollte, machen manche Individuen nach ihrem Tod einen Prozess durch, bei dem sie »Funkstille« mit unserer Daseinsebene halten. Sie gehen ihr Leben noch einmal durch, um ein tieferes Verständnis der Wirkung, die sie hinterlassen haben, zu erlangen. Die Zeit, die dieser Prozess in Anspruch nimmt, ist bei jedem Individuum anders und davon abhängig, wie sie sich nach ihrem Hinübergehen auf den neuen Zustand einstellen. Ich habe erfahren, dass es nach dem Tod völlig normal sein kann, aus mehreren Gründen von seinen Lieben abgekoppelt zu fühlen. In anderen Fällen erleben Menschen Zeichen von ihren Lieben schon kurz nach deren Tod. Die Art, wie ein Individuum von der anderen Seite sich entscheidet, Kontakt aufzunehmen, kann variieren. Ich bin immer wieder überrascht, wie sehr die Verstorbenen das Wesen derer widerspiegeln, die sie im Leben waren.

Auch wenn ich nur wenige bekannte Gesichter in meinen medialen Sitzungen gesehen habe, kamen doch um so mehr Fremde durch. Sie versuchten, ihre Botschaften mit mir zu teilen, manchmal erfolglos. Die meisten dieser frühen Visionen kamen in einer Form, die wir alle kennen: in Träumen. Meine Jahre in der Mittelschule waren voll nächtlicher Schrecken und frustrierender Träume, die anstrengender waren als das Wachen, und zwar weil ich während der meisten innerlich wach war. An den wenigen Morgen, an denen ich mich nicht an die Träume der vergangenen Nacht erinnern konnte, fühlte ich mich kurz normal und erleichtert. Anfangs war es faszinierend, mit kristallklarem Bewusstsein in die unterschiedlichsten Situationen versetzt zu werden, aber bald fühlte es sich mehr wie eine Plage an statt wie eine nützliche Fähigkeit. Alles, was ich mir wünschte, war davon frei zu sein.

Eines Morgens wachte ich auf, nachdem mich eine Frau mit einer spezifischen Nachricht für meine Mutter besucht hatte. Ich war im Tiefschlaf und wie immer innerlich wach, als eine kurzhaarige Brünette vor mir auftauchte. Sie war nicht viel älter als meine Eltern. Anders als meine Großmutter, die in meiner ersten Version als Jugendliche auftrat, projizierte diese Frau das Alter, in dem sie gestorben war. Da ich mir nicht sicher war, ob sie mit mir reden würde, versuchte ich so viele Hinweise wie möglich über das Leben dieser Frau und die Ereignisse, die zu ihrem Tod geführt hatten, zu sammeln. Mir fielen ihre langen Ohrringe auf, die ihr fast bis auf die Schultern herabhingen. Sie trug Stoffe in den unterschiedlichsten Farben und es faszinierte mich, wie kompliziert und detailverliebt ihr Erscheinungsbild war. Besonders faszinierte mich die Tatsache, dass jene, die mich nachts besuchten, so gekleidet waren, als seien sie niemals gestorben. Von allen Fragen, die sich mir stellten, machte mich die Tatsache, dass Verstorbene bestimmte Kleidung trugen, am neugierigsten und verblüffte mich zugleich auch.

Nein, in der geistigen Welt wird kein Polyester hergestellt. Wie ich später herausfand, hängt das Erscheinungsbild eines Verstorbenen gegenüber einem Medium damit zusammen, wie er sich zu präsentieren entscheidet. Normalerweise zeigen sich die Seelen auf eine Art, mit der wir etwas anfangen können – ganz so wie im Leben, da das Erscheinungsbild eines Menschen uns intime Details seiner Persönlichkeit verraten kann.

Im Fall der Frau, die vor mir stand, konnte ich aufgrund der leuchtenden Farben, mit denen sie sich schmückte, sagen, dass es sich bei ihr um jemanden handelte, den man als »Charakter« bezeichnen würde. Mit rauer Stimme sagte sie: »Sag deiner Mutter, dass eine Blume für sie bei meiner Beerdigung bereitliegt. Sie wird sie erkennen.«

Bevor ich die Botschaft verarbeiten oder um zusätzliche Details bitten konnte, wachte ich plötzlich auf. Mein Gesicht war heiß und verschwitzt. Erschöpft öffnete ich die Augen und die Sonne schien zum Fenster herein. Meine Mutter stürmte ins Zimmer, wie so oft. Da ich meine Botschaft für sie nicht vergessen wollte, platzte ich, ohne nachzudenken, mit dem heraus, was ich vor nur einigen Augenblicken gesehen hatte. Was folgte, war einer der Wendepunkte unserer Beziehung, sie bekam eine Bestätigung auf die persönlichste Art, die man sich vorstellen kann.

Die Haare auf den Armen meiner Mutter richteten sich auf und sie sah auf einmal nicht länger geistesabwesend aus, sondern völlig aufmerksam. Unsicher, wie sie reagieren sollte, setzte sie sich still hin. Plötzlich rannte sie aus dem Zimmer und ein paar Sekunden später kam sie wieder – mit einer schwarzen Seidenblume und einem Foto. In diesem Moment erst bemerkte ich, dass meine Mutter ganz in Schwarz gekleidet war. Sie erklärte mir, dass sie gerade von der Beerdigung einer langjährigen Freundin nach Hause gekommen sei. Wir starrten einander an. Meine Mutter hatte niemandem erzählt, dass sie auf die Beerdigung einer Freundin ging, ganz zu schweigen davon, dass sie beim Nachhausegehen eine Blume mit einer Notiz bekommen hatte, die lautete: »Danke für deine Freundschaft.« Ich beschrieb ihr, dass die Frau eine rauchige Stimme und kurzes braunes Haar gehabt hatte und alle Skepsis, die meine Mutter vielleicht noch hätte hegen können, war dahin. Obwohl sie nicht begriff, wie ich wissen konnte, was ich wusste, war ihr anzusehen, dass die unbezweifelbare Nachricht von ihrer Freundin sie tröstete. Sie musste meine Fähigkeit nicht verstehen, um dank ihrer loslassen zu können. Ganz davon abgesehen gab es keine Erklärung für das, was ich durchmachte.

Dass ich diesen Teil meiner selbst nicht begriff, hielt mich nicht davon ab, Fragen zu stellen, und das tut es auch heute nicht. Ich stellte fest, dass sich aus jeder Antwort zahllose neue Fragen ergaben und es verlorene Liebesmüh war, alles bewusst herausfinden zu wollen. Ich würde diese blitzartigen Einsichten haben, ob ich sie nun begriff oder nicht, und konnte nicht umhin, es faszinierend zu finden, was die einzelnen Zeichen und Symbole bedeuteten, besonders dann, wenn sie sich wiederholten.

Mein Ringen im Traum holte mich später auch im Wachen ein. Der Unterschied bestand darin, dass es kein Erwachen gibt, wenn die Visionen am Tag kommen. Ich musste lernen, Haltung zu bewahren, wenn mich eine Welle von Visionen heimsuchte. Anfangs war es schwierig, meine Reaktion auf das, was ich sah, zu verbergen. Glücklicherweise achtete niemand wirklich auf meine Momente geistiger Abwesenheit, weil ich noch so jung war. Ich habe auch heute noch nicht gelernt, den Informationsfluss auszublenden, aber ich habe herausgefunden, wie ich ihn aufs geistige Abstellgleis schieben kann. So konnte ich mich in den meisten Fällen, ohne allzu abgelenkt zu sein, auf das konzentrieren, was in meinem täglichen Leben geschah. Wie man sich denken kann, war das nicht notwendigerweise ein reibungsloser Prozess – es gab oft Zeiten in der Schule, da ich mit jemandem redete und plötzlich völlig den Faden verlor. Ich konzentrierte mich auf das, was ich um die Person her sah, statt auf das, was sie sagte. Ich bin mir sicher, dass ich den Leuten wie ein ziemlicher Luftikus vorkam.

Gleichzeitig waren die Visionen unvermeidbar und es war unwiderstehlich, ihrer Bedeutung nachzugehen. Es wurde meine Leidenschaft, sie zu interpretieren, und ich arbeitete daran, wann immer ich Gelegenheit dazu hatte. Ich füllte ganze Tagebücher mit den Symbolen und Visionen, die ich täglich sah. Zu diesem Zeitpunkt trat ein Wendepunkt ein: Statt die Botschaften nur willkürlich zu empfangen, lernte ich es, die Kommunikation selbst einzuleiten. Es war eine der nützlichsten Lektionen meines Lebens, es zu meistern, »wie gerufen« zu kommen. Ich gewöhnte es mir an, mich bewusst zu öffnen, mich einzustimmen und die Information zu überbringen. Es führte auch dazu, dass ich mir schnell der verborgenen Aspekte von Menschen bewusst wurde, die ich nie erwartet hätte. Ich meine damit, dass all meine Beziehungen letztlich unter den Einfluss meiner Gabe gerieten. Ich stellte fest, dass ich meinen Visionen und Instinkten mehr vertraute als dem, was die Leute sagten. Das führte zu vielen enttäuschenden Ahnungen, die sich immer wieder als treffend herausstellten, egal wie sehr ich den Leuten einen Vertrauensbonus zukommen lassen wollte. Ich war es gewohnt, der Adressat von Skepsis zu sein, und nun wurde ich anderen gegenüber skeptisch. Ich überwand meine zynische Frustration mit dem Heranwachsen, aber sie war der Vorbote eines inneren Konflikts, der stets mit diesem Territorium einherging. Worauf gebe ich mehr: auf die Worte anderer Leute oder auf meine eigene Intuition? Keine leichte Frage, wenn es um Menschen geht, die man liebt.

Im Teenageralter machte ich alle obligatorischen Riten des Heranwachsens mit, jedoch stets begleitet von einem Gefühl der Angst und Entfremdung. Obwohl ich mich so anders fühlte, versuchte ich doch, die Tatsache im Auge zu behalten, dass wir alle unseren Platz als Menschen zu finden versuchen. Ich war nicht der Einzige, der radikale Veränderungen durchmachte. Das war eine Gemeinsamkeit, die einige meiner freigeistigeren Freunde glaubten, mit mir teilen zu können, und ich wusste es stets zu schätzen.

Vorsichtige Antworten

Einer dieser Freunde war Nolan, ein kleiner, schüchterner Junge in meiner Sportklasse. Mehr als alles andere verband uns unsere gemeinsame Leidenschaft für Computerspiele, was nicht weiter überraschend ist, wir waren schließlich dreizehn Jahre alt. Nach einer Weile entschied ich mich, mein Geheimnis mit ihm zu teilen. Ich beschrieb ihm die andere Seite der Realität, in die ich die letzten drei Jahre über ein paar Blicke hatte werfen dürfen. Es ist ihm hoch anzurechnen, dass er bei dieser Eröffnung cool blieb. Nolan fand meine »Absonderlichkeit« dank seiner technischen Denkweise vielmehr faszinierend und war entschlossen, einen Namen dafür zu finden. Er war mir eine entscheidende Hilfe bei meinen Nachforschungen durch Bücher und Websites zu der Frage, was es bedeutete, ein hellseherisch begabtes Medium zu sein. Als ich das erste Mal all die unterschiedlichen Definitionen des Wortes Empathie las, hatte ich das Gefühl, eine Liste von Symptomen meines Lebens zu lesen. Wir verbrachten Stunden in Bibliotheken und vor Computerbildschirmen, lasen die Geschichten anderer, die ähnliche Phänomene erlebt hatten. Mit diesen Forschungen stellte sich die überraschende Einsicht ein, dass es andere gab. Wie sich erwarten lässt, richtete sich mein Interesse bald auf Religion und Spiritualität – zwei Gebiete, die ganz offensichtlich mit der Kommunikation mit Verstorbenen in Verbindung stehen, über die ich jedoch nie viel nachgedacht hatte.

Obwohl ich einen Namen für meine Gabe gefunden hatte, war ich nicht in der Lage, eine Verbindung zu den vielen anderen Gebieten zu sehen, mit denen Medialität oft in einen Topf geworfen wird. Alles zog sich in mir zusammen, wenn ich die Worte »paranormal«, »übernatürlich« und – ganz unten auf meiner Liste – »okkult« las. Mein natürlicher Zustand war mein »Normalzustand«, mein »Naturzustand«, und keineswegs von der geheimnisvollen Aura umgeben, die das Wort »okkult« implizierte. Ich war eingetaucht in eine Welt, die mich sowohl eins sein ließ als auch zweiteilte – jetzt wusste ich, was ich war und auch, was ich nicht war. Ich fand die Gimmicks, die mit der New-Age-Spiritualität einhergehen, abstoßend und hoffte in diesen frühen Jahren, dass ich irgendwie dabei mithelfen könnte, neu zu definieren, was es mit diesem zusätzlichen Sinn auf sich hat.

Ich vertiefte mich in alle möglichen Theologien und Ideologien; ich ging für fast ein Jahr in die presbyterianische Kirche und fing an, viel über Buddhismus zu lesen, versuchte meinen Geist für Philosophie und alternative Denkweisen zu öffnen. Ich wusste nicht, was ich glauben sollte – die Visionen aus der geistigen Welt, die ich erfuhr, ließen sich durch viele Philosophien stützen. Ohne jeden Zweifel geht das Leben nach dem Tod weiter und Menschen in diesem Zustand konnten mit unserem interagieren. Darüber hinaus war ich für viele, wenn nicht alle Möglichkeiten offen. Ich sah mir Bücher aus der Bibliothek für Religion und Philosophie an, verbrachte die gesamten Sommerferien mit Lesen und versuchte, so viel davon zu behalten wie nur möglich.

Und dennoch gelang es mir immer noch nicht, herauszufinden, wo ich hingehörte. Meine Suche führte mich an viele Orte und ich vermutete, dass, wenn jemand die definitiven Antworten zum Leben nach dem Tod besaß, es andere mit meiner Gabe sein würden. Ich suchte andere Medien, war entschlossen, jemanden wie mich zu treffen, der mir Antworten auf meinen Fragenkatalog geben konnte, der täglich wuchs. Zuerst waren die einzigen Medien, die mir etwas sagten, Berühmtheiten – John Edward und James van Praagh waren zwei extrem hilfreiche Quellen. Sie wiesen mir den Weg in die Welt der Medien unserer Zeit. Ich las ihre Bücher, sah mir ihre Sitzungen an und sparte Geld, in der Hoffnung, sie persönlich zu treffen. Ich durchforstete das Internet und spirituelle Buchhandlungen und hielt Ausschau nach jemandem, der mit mir eine persönliche Sitzung machen würde, aber damals hatte ich wenig Erfolg.

Dank dieser Forschungen erlangte ich jedoch ein beträchtliches Verständnis für den Prozess, den ich durchmachte. Ich lernte, was es bedeutet, Feedback von anderen zu bekommen (Bestätigung), was es mir ermöglichte, die Zeitspanne, in der ich die Eindrücke festhalten musste, zu minimieren. Das war ein Wendepunkt für mich, da es mich in die Lage versetzte, zumindest die Dauer der Erfahrung zu kontrollieren, indem ich mitteilte, was ich fühlte oder nicht, statt nur wie bisher ein offenes Gefäß für jede Energie um mich herum zu sein. Normalerweise verging die Vision oder das Gefühl, nachdem ich darüber gesprochen hatte, und es stellte sich sofortige Erleichterung ein, die allerdings kurzlebig war und nur währte, bis eine neue Botschaft ihren Platz einnahm.

Einer der wenigen Menschen, von dem es sich gut anfühlte, Bestätigung zu bekommen, war Nolan. Wir machten zahlreiche »Tests«, um das Potenzial und Ausmaß dieses einzigartigen Teils meiner selbst zu verstehen. Wir hingen in Parks und Cafés herum, lasen, schrieben und erforschten die Tiefe meines Potenzials. Meine Fähigkeit war nicht annähernd ausgereift genug, um sie willkürlich wachzurufen, aber mit wachsender Übung wurde ich besser darin, sie auf einzelne Individuen einzustellen. Das wurde zu einer entscheidenden Fähigkeit bei meiner Arbeit. Anfangs machten wir unsere Experimente aus Spaß und ein wenig Hals über Kopf – ich las die Leute in der Öffentlichkeit, schrieb meine Eindrücke auf und ging manchmal sogar auf sie zu und fragte, ob sie offen dafür wären, potenzielle Nachrichten von ihren Lieben in der geistigen Welt zu hören. Dabei entwickelte ich mich weiter, war nicht länger nur ein passiver Empfänger meiner Gabe, sondern begann, ihr tieferes Potenzial anzuzapfen.

Anfangs fühlte es sich seltsam an, auf wildfremde Leute zuzugehen, und die Reaktionen fielen auch sehr unterschiedlich aus. Aber je wohler ich mich damit fühlte, die Botschaften zu empfangen und die Verbindung herzustellen, desto mehr Botschaften kamen durch. Die Monate verstrichen und die Themen dieser Eindrücke begannen, sich zu verändern. Ich fing nicht länger nur kurze, blitzartige Eindrücke einer verstorbenen Großmutter auf, die erste Initiale eines Namens oder eine sentimentale Erinnerung, sondern bekam direktere Eindrücke von den Lebenden, die ich las. Beziehungsprobleme, gesundheitliche Schwierigkeiten und Karrierewechsel tauchten in meinen Lesungen auf. Noch bizarrer war die Menge trivialer Informationen, die ich empfing – zufällige Farben, unwichtige Erinnerungen und relativ viel, was sich als gehaltloser Lärm ausnahm. Durch Übungen und Versuch und Irrtum lernte ich, diese Eindrücke zu navigieren, eine Bestätigung der wichtigsten Botschaften zu bekommen und andere Informationen zu ignorieren, die sich als irrelevant herausstellten.

Das versetzte mich in eine Position, die ihre Herausforderungen mit sich brachte. Wer war ich, dass ich entscheiden konnte, welche Botschaft wichtig genug war, um sie zu überbringen, und welche nicht? Dürfen Postboten entscheiden, welche Briefe sie überbringen und welche nicht? Es schien unfair, das zu zensieren, aber ich war nicht weit genug in meiner Entwicklung, um den Zeichen und Symbolen, die vage waren und einer tieferen Interpretation bedurft hätten, eine Bedeutung beizumessen. Nolan verstand sowohl den Nutzen als auch die Schwierigkeiten einer so großen Sensibilität. Bei einer unserer ersten Begegnungen gingen wir über den Schulhof und er erzählte mir von einem engen Freund, der im Nachbarstaat wohnte. Während er sprach, blitzten in meinem Geist die Zahl »2« und der Name »Jennifer« auf. Besagter Freund hatte zwei Schwestern, von denen die jüngere Jennifer hieß. Sobald ich die Worte laut aussprach, verschwand die Vision und es wurde zeitweise ruhig in meinem Geist. Was auch immer es mit dieser Fähigkeit auf sich hatte, sie war nicht auf Zeit und Raum beschränkt; ich konnte Menschen durch andere Leute lesen. Ich konnte allein durch meine Intention willentlich eine Verbindung herstellen. Als Dreizehnjähriger fühlte sich das für mich an, als ob ich Superkräfte hätte. Es war eine Gabe, die ich weiterentwickeln wollte; ich wünschte mir, ich hätte einen Mentor, der mir den Weg zeigen konnte.

Diese Zeit war bestimmend für meine Herangehensweise an meine Arbeit als Medium und ich entdeckte damals viel von dem, was ich heute mache. Als ich eines Tages mit einem Freund telefonierte, kritzelte ich auf einem Notizzettel herum. Ich spürte, wie der Kugelschreiber hin und her glitt und die Information begann, in Wellen durchzukommen. Ich hatte gelernt, Informationen zu leiten, indem ich Skizzen machte. Ich initiierte eine Kommunikation, statt Träumen und zufälligen Visionen ausgeliefert zu sein. Zumindest auf gewisse Weise erlaubt mir das Kritzeln, ein Gefühl von Kontrolle über den Fluss dessen, was durchkommt, zu entwickeln. Die resultierenden Kritzeleien sind normalerweise sinnlos. Es ist der tatsächliche Prozess des Kritzelns, der mich in den meditativen Geisteszustand versetzt, der nötig ist, um eine bewusste Kommunikation herbeizuführen.

Tim

Meine Fähigkeiten zu entdecken, war aufregend, aber es gab definitiv Tage, an denen ich mir gewünscht hätte, normal zu sein. Die Tatsache, dass ich von Leuten umgeben war, die mich unterstützten, machte viel aus, aber das änderte nichts daran, dass meine lebhaften Visionen und Vorahnungen mich stark verunsicherten. In mindestens einem Fall war das regelrecht traumatisch.

Mein ältester Freund aus der Kindheit sah fast genauso aus wie ich, war aber viel extrovertierter. Wir waren mehr Brüder als Freunde, es machte mir also zutiefst zu schaffen, als ich miterleben musste, wie er in der Kindheit mit einem Gehirntumor zu kämpfen hatte. Eine Behandlung jagte die nächste, aber schließlich brachte die Strahlung, die seine Stimmbänder zerstörte, seinen Krebs zum Zurückgehen. Ich hatte stets das Gefühl, dass unsere Verbindung einzigartig war, da wir beide begriffen, was die Nähe zur anderen Seite bedeutete, jedoch jeder auf seine eigene Art. Tim begriff schon in jungen Jahren, wie ungeheuer wertvoll das Leben ist, und er war so eifrig auf Alltägliches aus, dass es eine Freude war, in seiner Nähe zu sein. Er sah mich nicht als Tyler, das Medium. Er wusste einfach nur meine Persönlichkeit und Freundschaft zu schätzen. Damals war ich sehr versessen darauf, meine Gabe zu begreifen, aber Tims Lage gemahnte mich daran, den gegenwärtigen Moment zu würdigen. Wir brachten Stunden damit zu, Fahrrad zu fahren, an den Strand zu gehen und Spiele zu erfinden.

Als ich etwa fünfzehn war, zog meine Familie um, fast dreihundert Kilometer von Tims Familie weg, aber ich besuchte ihn trotzdem an den Wochenenden, wann immer es mir möglich war. Als ich ihn ein paar Monate lang nicht gesehen hatte, überraschte mich mein Vater mit einer spontanen Fahrt an die Küste, um meinen besten Freund zu besuchen. Es war ein wunderbarer Tag, um am Strand zu sein, und ich freute mich darauf, Fahrrad zu fahren. Als ich losging, um Tim am Kai zu treffen, konnte ich schon sein Lächeln sehen. Ich hörte seine sanfte, wacklige Stimme, die von Weitem meinen Namen rief. Als ich nah genug war, um ihn zu umarmen, erwartete ich etwas Warmes, fand aber nur frostige Kälte. Er lachte und lächelte, aber als wir einander umarmten, brandeten pfeifende Geräusche wie bei einem Herzstillstand im Krankenhaus über mich her, so als ob ich sie laut mit eigenen Ohren hören würde. Tief in mir spürte ich den Strudel der Leere; ich fühlte in einer Vision den Tod meines besten Freundes voraus. Es gab keinen Zweifel, da war kein Platz für die Interpretation dieser Symbole, nur die kalte Wahrheit, der ich mich in diesem jungen Alter nicht stellen wollte. Ich konnte es nicht verbergen, dass etwas massiv nicht stimmte. Weil ich mir nicht sicher war, was ich sagen sollte, sagte ich ihm, dass ich mich nicht gut fühlte, und unterbrach unsere Fahrt.

Hätte ich gewusst, dass das unsere letzte Begegnung sein würde, so sage ich mir heute, hätte ich es anders gemacht. Aber damals war ich unfähig, mit dem zurechtzukommen, was ich gesehen hatte, von dem ich wusste, dass es kommen würde, sodass ich nach und nach den Kontakt zu meinem besten Freund verlor, bis drei Wochen vor seinem Tod im Alter von siebzehn Jahren. Der Krebs kam heimlich, still und leise zurück, aber heimtückischer, als er angefangen hatte. Drei Wochen vor seinem Tod nahm Tim Kontakt zu mir auf und bat, mich zum letzten Mal in der physischen Welt zu treffen. Obwohl er gerade erst ins junge Erwachsenenalter eingetreten war, ging sein Leben dem Ende zu. Wir vereinbarten, eine Kurzreise mit dem Auto zu machen, um die verlorene Zeit nachzuholen.

Es kam nie dazu. Tims Zustand verschlechterte sich so schnell, dass er nicht länger mobil war. Kurz darauf erfuhr ich, dass hunderte Meilen entfernt mein bester Freund seinen letzten Atemzug getan hatte. Ich hatte keine Vorwarnung bekommen, was den genauen Zeitpunkt betraf. Es war eine ernüchternde Erinnerung daran, dass auch ich, obwohl ein Medium, den Geheimnissen des Universums unterworfen bin, so wie alle anderen auch. Ich war wütend und frustriert. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich ertappte mich, wie ich um Führung betete, zu einem Gott, dessen Namen ich nicht kannte und von dem ich nichts wusste – ich hoffte einfach nur, dass jemand mich hörte. Ich wusste, dass zumindest Tim zuhörte. In den Tagen nach seinem Tod wurden meine Gebete in einer Reihe von Träumen erhört, in denen er mich zufrieden und glücklich an dem Kai traf, an den wir so viele gemeinsame irdische Erinnerungen hatten. Mit klarer, unbeschwerter Stimme rief er mir zu, dass er »es geschafft« hatte.

Ich glaube, Tim verstand, warum ich mich von ihm zurückgezogen hatte: Ich wurde mit der Bürde meines Wissens nicht fertig. Und dennoch trauerte ich. Es schien eine Verschwendung, so jung zu sterben. Ich hatte so viele Gelegenheiten verpasst, mehr Erinnerungen mit ihm zu schaffen. Diese Erfahrung war bereits eine Ankündigung, dass die Konturen zwischen meiner Fähigkeit und meiner Identität verschwimmen würden. Jede persönliche Interaktion, die ich erlebte, würde von diesem zusätzlichen und nicht immer willkommenen zweiten Gesicht begleitet werden. Auch wenn ich mehr Zutrauen in meine Fähigkeit, Verbindung aufzunehmen, gewann, fühlte ich mich doch zunehmend allein.

In den darauffolgenden Jahren gewann ich zwar vielleicht ein tieferes Verständnis meiner selbst, aber das Leben, in das ich mich geworfen sah, war stets eine Reihe von Fragezeichen. Wenn mein Geist von Eindrücken überflutet wird, die die Leben und Gefühle der Leute um mich her widerspiegeln, ist es eine Herausforderung, das Gefühl meiner eigenen Identität zu bewahren. Trotz meines inneren Kampfes stelle ich fest, dass jede mediale Lesung mir ein tieferes Verständnis für die Menschen gibt, die meinen Pfad kreuzen, und letztlich auch für meine Rolle. Ich glaube, dass ich mich über diese Rolle definierte habe, weil es von allem, was ich je gefühlt habe, am meisten einem Identitätsgefühl ähnelt. Wenn ich meine Gabe mit denen teile, die sie am meisten brauchen, definiere ich mich über meine Fähigkeit, ihnen zu helfen. Das machte mich wohl oder übel zum Perfektionisten. Ich war entschlossen, meine Fähigkeit durch Versuch und Irrtum zu verfeinern. Medium ist ja nun kein Job, um den ich mich beworben hätte – es ist eine Verantwortung, die den gewöhnlichen Höhen und Tiefen des Heranwachsens und jungen Erwachsenenalters eine Extraportion Absonderlichkeit hinzufügt.

Die profunden Botschaften der Verstorbenen zu hören, hat meine Perspektive auf das Leben geformt. Ich lerne aus ihren Fehlern, finde Trost in ihrer Weisheit und kann würdigen, wie sehr der Tod unsere Art und Weise, das Leben zu betrachten, beeinflusst. Diese Lektionen hatten vor allem auf mich als jungen Erwachsenen, der gerade damit anfing, sich in seinem Leben zurechtzufinden, eine große Wirkung.

Zwischen zwei Welten

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