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Albinojunge

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Uns-zwei gehen mit Cancy McKellar, dem Wangkummarra Song-Mann, die Traumpfade entlang. Das sind uralte Traumpfade, die in Gesang und Geschichten in die Landschaft geätzt und in unseren Köpfen und Körpern und Beziehungen mit allem, was uns umgibt, kartiert sind: Wissen, das in jedem Gewässer und jedem Fels gespeichert ist. Wir wandern durch das Corner Country, wo Queensland, South Australia und New South Wales zusammentreffen. Cancy macht meine Ahnenlinien ausfindig und zeigt mir, wo sich deren Geschichten mit den seinen verbinden.

Keiner von uns ist besonders dunkelhäutig, und vielleicht deshalb streicht er die Albino-Charaktere in seinen Überlieferungen besonders heraus. Eine weiße Eulenfrau mit heller Haut und blondem Haar, die eine Gubbiwarlga wird, eine weise Frau, und sich schließlich in einen Quarzbrocken verwandelt. Ein Albinojunge, der in seiner Gemeinschaft durch ihm übel Gesinnte erst geächtet und schließlich verbannt wird. Als wir an die Stelle mit Steinen kommen, die von dem Albinojungen aufgestellt wurden, verschlägt es mir den Atem. In seiner Verbannung ließ er den Kopf nicht hängen, sondern arbeitete hart und mutete sich einiges zu.

Überall sind massive, behauene und glatt geschliffene Felsbrocken zu sehen, die der Junge auf aufrecht stehenden Steinen platziert und ausbalanciert hat, zu losen Pulks gestapelt oder zu Prozessionen aufgereiht. An dieser gewaltigen Stätte, zu der auch ein die Jahreszeiten und die Bewegungen der Himmelskörper anzeigender Sonnenuhrkalender gehört, stehen mehr Steine, als uns-zwei zählen können. Es ist mir unverständlich, warum ich bislang noch nie von diesem Ort gehört habe, warum er nicht so berühmt ist wie Stonehenge. Als ich meine Hand auf einen der Steine lege, spüre ich ein tiefes duum aus ihm aufsteigen, das, aus dem Boden kommend, durch meine Schulter bis hinunter in meine Eingeweide nachdröhnt, und denke, damit eine Antwort auf meine Frage erhalten zu haben.

Dies ist keine archäologische Stätte, an der Grabungen und Forschungen vorgenommen werden. Der Ort ist immer noch bewohnt. Der Junge ist nach wie vor da, und er wird keinen Wert auf uneingeladene Besucher legen. Der Ort ist kein Monument. Er lebt. Jeder Stein ist lebendig, ein fühlendes Wesen – in unserer Weltsicht gilt dies freilich für alle Steine. Weit weg von hier gibt es eine geheime Höhle, auf deren Boden eine Miniaturreplik dieser Stätte nachgebaut ist. Menschen, die wissen, wie man mit den Steinen dort umgeht, können angeblich in der Zeit eines Wimpernschlags zwischen den beiden Stätten hin- und herreisen. Zudem stehen die beiden Orte mit Steinformationen auf dem ganzen Kontinent in Verbindung.

Später, während der Tagundnachtgleiche, stehe ich am Wurdi Youang in Victoria: eine C-förmige Steinformation, die die Bewegung der Sonne im Laufe des Jahres nachzeichnet. Ich schaue von dem hangabwärts liegenden Aussichtsstein zu, wie die Sonne am höchsten Punkt der Formationen hinter einem Zeigerstein untergeht, wie der Mond genau hinter mir aufgeht und sich Venus, Jupiter, Saturn und Mars entlang derselben Achse reihen. Es geht hier nicht nur um den Augenblick, an dem die Himmelskörper eine ordentliche Schlange bilden, sondern auch um Tausende verschiedene Geschichten, die zusammenlaufen, sowie um das Muster, das sie in einem Dialog zwischen Erde und Himmel und mir kreieren. Die Art, in der eine Person diese Geschichten kennt, ist subjektiv – wie sie zu dieser Zeit und an diesem Ort von dieser Person gewusst werden, stellt einen einzigartigen Blickpunkt dar, der heilig ist, eine Kommunikation zwischen dem Erdcamp und dem Himmelscamp, zwischen den Menschen und einem fühlenden Kosmos. Uns-zwei sind beide zugegen, aber wir sehen verschiedene Geschichten.

Die über mir fliegenden Vögel sind in diesem Augenblick Teil des Schöpfungsgesangs. Ein Satellit. Ein Flugzeug. Im Norden zwei Wolken, die sich wie Schlangen in seltsamen Spiralen ringeln. Wir nennen das »Etwas«, ein Zeichen oder eine Botschaft von unseren Ahnen. Ich denke an die Zwei-Schlangen-Geschichte und wo ich sie zum ersten Mal gehört habe, als ich von Gundabooka im Nordwesten von North South Wales an die Küste reiste. Über mir sehe ich Mars und Venus und kenne sie als die Augen des Schöpfers, der in vielen Gebieten im Süden tagsüber durch die Augen des Adlers und nachts durch diese Planeten sieht.

Nahe der Grenze zwischen New South Wales und Queensland werden regelmäßig Zeremonien abgehalten. Dorthin bringen Murris roten Opal aus Quilpie und blauen Opal aus Lightning Ridge, einen aus dem Norden und einen aus dem Süden, um Mars und Venus als Augen des Schöpfers zu vereinen. Daran denke ich und an die Stelle weiter südlich, in der Nähe von Walgett, wo die Adleraugen zwei tiefe Löcher im Fels sind. Ich denke an die totemistische Beziehung, in der meine Frau zum Adler steht, und wie sie diese Verbindung verkörpert. Dieses Netz aus Verbindungen zwischen Gemeinschaften auf der Erde und dem Land im Himmel erweitere ich Zug um Zug. Lebende Felsen gibt es dort oben wie hier unten, und die dunklen Gebiete zwischen den Sternen sind kein Vakuum, sondern festes Land, das Masse besitzt und empfindungsfähig ist und in dem sich Orte und Zeiten auf der Erde widerspiegeln. Ich erkenne das Muster – bis zu dem Moment, da ich es aufzuschreiben versuche und es sich in Rauch auflöst.

Oberflächlich betrachtet ist das alles von geringem Nutzen. Wir können uns sagen: »Seht doch, wir sind schon seit Tausenden von Jahren Astronomen, das heißt, unser Wissen ist etwas wert. Und ihr, ihr Bastarde, habt alles kaputt gemacht.« Aber welches Wissen haben wir sonst noch zu bieten, das in Sachen Nachhaltigkeit und anderen komplexen Fragen erhellend wäre? Juma Fejo sagt, dass in der Schöpfung alles mit der Traumzeit verbunden sei, sogar Scheibenwischer und Mobiltelefone, warum aber sollte dann unser Schöpfungswissen als Artefakt in der Zeit eingefroren werden?

Steine auf der Erde und im Himmel, all diese Geschichten und ihre Verbindungen haben uns mehr mitzuteilen als die bloße Tatsache, dass sie bereits soundso viele Jahrtausende existieren. Sie können uns sagen, wie wir mit den Komplikationen und der Zerbrechlichkeit menschlicher Gesellschaften verfahren sollen, wie wir zerstörerische Exzesse in diesen Systemen eingrenzen und vor allem wie wir mit Idioten umgehen sollen. Um dieses Wissen aufzuspüren, müssen wir praktisch vorgehen. Versuchen wir es vielleicht mit einem Sand Talk und betrachten zunächst eines von Oldman Jumas Symbolen.


Die beiden Symbole innerhalb des Hexagons haben unterschiedliche Bedeutungen, die über ihre heutige mathematische Bedeutung hinausgehen. Getrennt betrachtet, handelt es sich jeweils um ein Zeichen für Beuteltiere (<) und eines für Vögel (>) als verschiedene totemistische Kategorien für Fleisch. Die Zeichen erklären sich aus der Richtung, in der diese Tiere am Knie ihre Beine abwinkeln. Zusammengenommen (<>) stehen sie für die beiden einzigen auf dem Kontinent heimischen Plazentatiere, Menschen und Dingos. Sie ergeben eine Form, die die Heiratsregeln in einem Verwandtschaftssystem aufzeigt; aus einem anderen Winkel gesehen, können sie als Zeichen für die Angelegenheiten der Männer gelesen werden. Sie zeigen zudem einen Einschlagpunkt, einen Schöpfungsmoment im Zusammenhang mit dem Sternbild des Orion (der immer und überall auf der Welt ein Jäger oder Krieger ist), einen Urknall, der aus einem Kampf zwischen dem Ameisenigel und der Schildkröte hervorgegangen war. Das traumatische Ereignis führte dazu, dass sich das Erdcamp und das Himmelscamp trennten und das Universum sich in tiefen Zyklen auszudehnen und wieder zusammenzuziehen begann wie ein Atmen und in einem Muster, das allem Gestalt gab.

Das Muster des Urknalls, dieses anfänglichen Einschlagpunkts, tritt nicht nur in der gewaltigen Größenordnung des Universums auf, sondern wiederholt sich unendlich in all dessen Ländern und Teilen. Auf diesen Einschlagpunkt, der häufig mit einem Stein im Zentrum von Ort und Geschichte bezeichnet wird, beziehen sich zahlreiche Schöpfungsgeschichten. Uluru ist der Stein im Zentrum der diesem Kontinent innewohnenden Geschichte, ein Muster, das sich in den miteinander verknüpften und unterschiedlichen Geschichten vieler kleinerer Gebiete wiederholt, sich in unseren Körpern am Nabel und dann in immer kleineren Teilen bis hinunter auf die Quantenebene unserer Kosmologie reflektiert findet. In dieser Form des Wissens gibt es keinen Unterschied zwischen einem selbst, einem Stein, einem Baum oder einer Verkehrsampel. All diese Elemente enthalten Wissen, Erzählung, Muster. Wenn wir uns auf diese Erzählung einlassen, wenn wir das Muster erkennen wollen, müssen wir uns zunächst der Untersuchung von Gesteinen widmen.

Die Aussage »Granit ist ein kristalliner, aus Quarz, Glimmer und Feldspat bestehender Mix magmatischen Ursprungs« wäre dabei kaum hilfreich. Ebenso wenig hilfreich wäre es, mit einem Batikhemd angetan, Felsen zu umarmen und sie zu bitten, ihre Geheimnisse auszuplaudern, indem sie mit uns über unsere Bauchnabelpiercings kommunizieren. Man muss schon Geduld und Respekt aufbringen, sich nicht frontal annähern, eine Weile dasitzen und warten, dass man eingeladen wird. Bevor wir uns also den Angelegenheiten der Steine zuwenden und den Fragen, wem das Wissen über sie gestattet ist und wie dieses Wissen uns heute das Überleben sichern könnte, sollten wir uns vielleicht zu einem weiteren Sand Talk einfinden:

Ich habe viel Zeit damit verbracht, immer wieder das Vogel-Beuteltier-Symbol zu zeichnen, habe mich mit anderen darüber unterhalten und schließlich eine Steinaxt angefertigt, um meine Einsichten festzuhalten. Ein Jahr habe ich gebraucht. Es hat deshalb so lange gedauert, weil ich immer wieder auf die beiden Arten von Beinen zurückgekommen bin, die in meinem Kopf das Bild von Emu und Känguru ergaben, immer wieder von Neuem – als ein Traumzeitbild, aber auch als Australiens Wappen. Die Siedler müssen seine Bedeutung erkannt haben, als sie es als Symbol für ihre Kolonie übernahmen. Ich habe so meine Probleme mit Emu, mit seiner Rolle in der Schöpfung und den daraus entspringenden Verhaltensmustern, die der Menschengesellschaft und im Weiteren der ganzen Schöpfung Probleme bereiten.

Emus Problem zeigt sich in der mathematischen »Größer als, kleiner als«-Interpretation des Symbols. Emu ist ein Unruhestifter, der die denkbar zerstörerischste Vorstellung in die Welt gebracht hat: »Ich bin besser als du; du bist weniger wert als ich.« Das ist der Ursprung allen menschlichen Elends. Über Tausende von Jahren hat sich die Aborigines-Gesellschaft bemüht, mit diesem Problem fertigzuwerden. Manche Menschen sind einfach Idioten – und jeder ist mal für eine Zeit lang ein kleiner Idiot, wenn etwas von tief innen kommt und flüstert: »Du bist was Besonderes. Du bist besser als die anderen Menschen und was noch um dich herum ist. Du bist wichtiger als alles andere und alle anderen. Du kannst über alles, was es gibt, und alle anderen Menschen verfügen.« Dieses Verhalten muss kontrolliert und gezügelt werden, um den Schaden, den es verursachen mag, einzudämmen.

Es gibt eine Menge Geschichten, die erklären, wie das Ganze seinen Anfang nahm, und als ein Brolga-Junge (traditionell ein Feind von Emu) kenne ich sie alle. Meine Lieblingsgeschichte stammt von dem Nyoongar-Ältesten Noel Nannup aus Perth. Er erzählt die Traumzeitgeschichte einer Zusammenkunft, bei der sich alle Spezies zu einem Yarn niederließen, um zu entscheiden, welches Tier zum Hüter über die gesamte Schöpfung ernannt werden sollte. Emu veranstaltete ein riesiges Tohuwabohu, rannte durch die Gegend, um mit seiner Schnelligkeit anzugeben und seine Vorrangstellung einzufordern, er beanspruchte, der Boss zu sein, und schrie alle anderen nieder. Die dunkle Gestalt von Emu ist in der Milchstraße zu sehen. Känguru, dessen Kopf das Kreuz des Südens ist, hält ihn nieder, Echidna packt von hinten zu, und die große Schlange hat sich um seine Beine geringelt. Nur in der Gruppe gelingt es, die Exzesse bösartigen Narzissmus zu zügeln.

Heute bedeutet die Kombination aus sozialer Fragmentierung und blitzschneller Kommunikation, dass wir allein, als Individuen, mit diesen verrückten Menschen umzugehen haben, uns in einem rechtsfreien Leerraum mit diesen Narzissten herumschlagen müssen. Und sie gedeihen in solchen Umgebungen ungezügelt. Sich allein mit ihnen auseinanderzusetzen, ist vergeblich: Versuche nie, mit einem Schwein zu ringen, besagt ein altes Sprichwort, denn am Schluss seid ihr beide besudelt, aber das Schwein fühlt sich wohl dabei. Für Narzissten gelten die grundlegenden Regeln des zwischenmenschlichen Handelns nicht, obwohl sie sie gegen alle anderen ausspielen.

Wie in den meisten Gesellschaften gehören auch in der Aborigines-Gesellschaft Respekt und das Anhören aller Standpunkte während eines Yarn zu den grundlegenden Verhaltensregeln. Narzissten fordern dieses Recht ein, erlauben aber keine anderen Standpunkte mit der Begründung, dass jede abweichende Meinung irgendwie gegen ihre Redefreiheit verstoße oder beleidigend sei. Sie zerstören die grundlegenden auf Wechselseitigkeit beruhenden gesellschaftlichen Vereinbarungen (die es ermöglichen, ein auf der Großzügigkeit des Miteinander-Teilens beruhendes Ansehen zu gewinnen, um sich anhaltender Verbundenheit und Unterstützung zu versichern), indem sie diese der Harmonie geltenden Rahmenbedingungen mit wenigen Worten hässlichen Geredes zertrümmern. Sie pflegen eine Doppelmoral und reißen Systeme des Gebens und Nehmens so lange ein, bis alle Angehörigen einer sozialen Gruppe nur noch isoliert sind und sich in darwinistischen Kämpfen nach Macht und schrumpfenden Ressourcen aufreiben, die alles zerstören. Dann gehen sie an den nächsten Ort, zur nächsten Gruppe. Es dürfte nicht schwerfallen, dieses Muster auf globale und historische Verhältnisse zu übertragen.

Wir besitzen Geschichten über dieses Verhalten, Gedenksteine, die in der Landschaft entlang der Traumpfade verstreut sind, Opfer und Missetäter, nach epischen Kämpfen in Steine verwandelt, die nun für alle Zeiten als warnende Legenden dienen. Clancy McKellar brachte mich an eine Stelle, wo drei Brüder, die Frauen entführt hatten, bestraft und in Steine verwandelt worden waren. Die überall in Tibooburra stehenden roten Felsen sind Menschen, die in Steine verwandelt wurden, weil sie das Gesetz gebrochen oder mit Ritualen zur Wetterbeeinflussung zu viel Chaos angerichtet hatten. In den Steinen ist Gesetz und Wissen über das Gesetz. Jeder Gesetzesbruch rührt aus diesem ersten bösen Gedanken, aus der Ursünde, sich über das Land und über andere Menschen zu stellen.

In unseren traditionellen Gesetzessystemen bedenken wir jedoch, dass von Zeit zu Zeit jeder einmal ein Idiot ist. Die Bestrafung ist hart und erfolgt umgehend, aber danach gibt es kein Strafregister, keinen Groll gegen den Missetäter. Gesetzesübertreter sind nur Kriminelle, solange sie nicht bestraft sind; danach können sie wieder Respekt erlangen und von Neuem beginnen, zum Wohl der Gruppe beizutragen. So wird verhindert, dass die Menschen lügen oder die Schuld anderen zuschieben oder der Bestrafung zu entgehen versuchen, indem sie die Regeln verdrehen, um sich ihrer Verantwortung zu entziehen. Sie dürfen einen Neuanfang erwarten und sind deshalb bereitwillige und gleichberechtigte Teilnehmer ihrer eigenen Bestrafung und Verwandlung, die vor allem ein Lernprozess ist.

Vielleicht ist dies ein Aspekt, der sich lohnt, aus unseren Stein-Geschichten übernommen zu werden, um heutige Justizsysteme effektiver und nachhaltiger zu machen. Jene alten, über das ganze Land verteilten und in Steinen verewigten Kriminellen sind keine verwerflichen Figuren, sondern respektierte Wesen, die ihre Bestrafung erhalten haben und nun in ihrer Rolle als Gesetzeshüter verehrt werden. Wenn wir sie respektieren und ihre Geschichten anhören, haben sie uns einiges über das Wie eines besseren Zusammenlebens zu sagen.

Wirklich viel aber weiß ich nicht über Felsen. Ich fühle mich eher in der offenen Savanne und den trockenen Hartlaubwäldern zu Hause, und mein Geschichtsort (Story Place) besitzt nur einen einzigen Stein, der sich nach eigenem Gutdünken bewegt und sich bei jedem Besuch an einer anderen Stelle befindet. Er kam, von einem Zyklon hierher verfrachtet, aus Asien und ist nie so richtig zur Ruhe gekommen; er lebt nicht das langsame Leben anderer Steine. Ich muss mich also mit jemanden austauschen, der wirklich versteht, wie Steine funktionieren. Wie üblich finde ich das einsichtigste Wissen in den randständigsten Betrachtungsweisen. Ich spreche mit einem jungen tasmanischen Aborigine-Jungen namens Max.

Max hat silbriges weißes Haar und alabasterfarbene Haut. Er sieht aus und spricht, als wolle er anstelle eines australischen Arbeitspferds einen Drachen reiten. Er ist ein echter Nerd, der einfach so Hunderte Nachkommastellen von Pi auswendig lernt, glaubt, seine Kampfkünste seien besser, als sie es wirklich sind, und ein enzyklopädisches Wissen über Elfen, Hobbits und Superhelden mit sich herumträgt. Zudem schreibt er Lieder in der Sprache seiner Vorfahren, die mich zum Weinen bringen.

Wir haben viel Zeit damit verbracht, uns im traditionellen Kämpfen zu üben, das früher mit Steinmessern ausgetragen wurde. Die Regeln sind so, dass man seinem Gegner nur an den Armen, Schultern oder am Rücken (sehr schwierig) Schnitte zufügen darf – und der Clou des Ganzen: Wenn der Kampf zu Ende ist, müssen dem Gewinner die gleichen Schnitte zugefügt werden wie dem Verlierer, sodass keiner der beiden mit einem Groll aus der Kampfbahn geht. Es ist schon äußerst schwierig, seinem Gegner in den Rücken zu schneiden, wenn er dir das Gleiche antun will, aber noch schwieriger ist es, wenn man weiß, dass man bei jedem Schnitt, den man ihm zufügt, sich letztlich selbst schneidet. In den Yarns, die solchen Übungsrunden folgten, sind wir uns einig geworden, dass diese Art der Auseinandersetzung einen zwingt, sich in den Widersacher hineinzuversetzen, und es am Ende unmöglich ist, sich als Gegner zu betrachten, weil man durch gegenseitigen Respekt und wechselseitiges Verständnis miteinander verbunden ist. Weitere Lektionen, die einem die Steine erteilen – aber wie sie heute in die Praxis umsetzen? Klingt doch ganz nach einer guten Gelegenheit, ein Gedankenexperiment durchzuführen.

Ich denke, wenn man sich eine aktuelle, auf permanenten Krieg ausgerichtete Wirtschaftsweise vornehmen und versuchen wollte, sie nachhaltig zu gestalten, könnte man ähnliche Wettkampfregeln anwenden. In dem Steinmesser-Modell allerdings sind die Feinde keine erneuerbare Ressource, und irgendwann würde es keine mehr geben. Für die Kriegsmaschine wäre es deshalb alles andere als nachhaltig, würden sich alle Seiten in ihren Betrachtungsweisen gegenseitig respektieren. Die übertragbare Weisheit besteht hier wohl einfach darin, dass die meisten jungen Männer, um den schrecklichen Narzissmus zu beschneiden, der sie überfällt, wenn ihre Schamhaare zu sprießen beginnen, etwas Herzhafteres als Achtsamkeitskurse benötigen. Vielleicht würden sie dann gar nicht in die Verlegenheit kommen, zu Männern heranzuwachsen, die Kriege anzetteln.

Dies bringt uns zurück auf den Grundfehler, auf die luziferische Lüge: »Ich bin besser als du; du bist schlechter als ich«. Weil sein Aussehen nicht der Vorstellung entspricht, die manche Leute mit seiner kulturellen Identität verbinden, ist Max täglich mit auf diesem Denkfehler beruhenden Beleidigungen konfrontiert. Aufgrund dieses grundsätzlichen Mankos wird seine Identität sowohl von Aborigines als auch von Nichtaborigines angezweifelt; sie stellen sich selbst in eine Besser- als-Position und ziehen aus der Beurteilung seiner Existenz einen kleinen Kick. Max macht sich Gedanken über diese Begegnungen und kommt meist zu dem Schluss, dass diesen Leuten eine eigene authentische Identität fehlt und sie deshalb Trost darin finden, die seine anzugreifen.

Max weiß vielleicht nicht alles über seine Abstammungslinie oder seine Kultur, die von einem katastrophalen Genozid zerstört wurde, aber er weiß, wer er ist, und die Bruchstücke kulturellen Wissens, die ihn prägen, sind unverfälscht und haben ihren Wert. Er wendet die in diesen Fragmenten aufscheinenden Muster auf alle Aspekte des Alltagslebens an.

»Ich weiß nicht, was ich ohne meine Identität wäre, denn ich kenne eigentlich kein Leben ohne sie. Ich kann keinen Unterschied machen zwischen dem, was in mir indigen und was nicht-indigen ist, denn alles, was ich tue, ist indigen geprägt – die Art, wie ich mich durch die Welt bewege, mich gegenüber anderen verhalte, die Art, wie ich über alles nachdenke. Egal bei welcher Gelegenheit, es dringt dir aus allen Poren.«

Max tritt nicht aus seiner Identität heraus, wenn er hundert Nachkommastellen von Pi aufsagt; er singt ein Schöpfungsmuster von Norden nach Süden. Und er muss, um dies zu tun, nicht den Wissensstand eines Ältesten haben. Er muss einfach nur das Muster erkennen in dem, was er weiß. Wissensbewahrer sehen, wie er sich verhält, und wissen, dass er so weit ist, Verantwortung für neu hinzukommendes Wissen zu übernehmen. Also geben sie Wissensstoff an ihn weiter. Genau so funktioniert Indigenes Wissen.

Ich behaupte nicht, Max sei perfekt. Auch er ist anfällig für Momente, in denen die Besser-als/schlechter-als-Täuschung zuschlägt. Manchmal bringt er mich damit fast um den Verstand. Einmal habe ich ihn so heftig angeschrien, dass ich für ein oder zwei Tage keine Stimme mehr hatte, aber meine Reaktion auf sein Verhalten war letztlich genauso schlimm, weshalb ich Abbitte leisten musste. Ich habe Max eine Menge beigebracht, aber auch er lehrt mich einiges, etwa wie ich aus fehlerhaftem Verhalten herauskomme. Ich habe von ihm viel über Steine gelernt, denn Tasmanier haben eine besondere Beziehung zu ihnen.

»Für mich sind Steine diejenigen Gegenstände, die das ganze Leben widerspiegeln, mehr noch als Bäume oder andere sterbliche Dinge, denn Steine sind beinahe unsterblich. Sie wissen Dinge, die sie sich über sehr lange Zeiten angeeignet haben. Stein steht für Erde, Werkzeuge und Geist, vermittelt Sinn durch seinen Gebrauch und seine Widerstandsfähigkeit gegenüber den Elementen. Und doch altert er, bekommt, wenn ihn die Zeit angreift, Risse und erodiert.«

Wir sinnieren über die Empfindungsfähigkeit der Steine und den Fehler der alten Griechen, »tote Materie« lebender Materie gegenüberzustellen und damit über Jahrhunderte das westliche Denken in seiner Möglichkeit eingeschränkt zu haben, Dinge wie Bewusstsein und selbstorganisierende Systeme, etwa Galaxien, zu fassen zu bekommen. Sie betrachteten das Weltall zwischen den Sternen als leblos und leer; unsere eigenen Geschichten stellten diese dunklen Gegenden, basierend auf der Beobachtung, dass sie Himmelskörper anziehen, als lebendes Land vor. Die Theorien über tote Materie und leeren Raum hatten zur Folge, dass die westliche Wissenschaft erst spät dazu kam, die sogenannte »dunkle Materie« zu entdecken und festzustellen, dass die Gebiete »toten und leeren« Raums den überwiegenden Teil der Materie im Universum enthalten.

Dies bringt uns zurück zu Uncle Noel Nannups Schöpfungsgeschichte, als Emu durchdrehte. In dieser Geschichte war der Raum, wie er vor der Schöpfung existierte, fest: Er saß schwer auf dem Boden und zerdrückte mit seinem Gewicht alles, was ins Sein zu kommen versuchte. Erde und Himmel mussten geteilt werden, indem die Ahnen die Himmelstriche mit ihrer Körperkraft nach oben stemmten. In unseren Geschichten sind die Länder des Himmels fassbar, sie besitzen Masse, und zwar auf eine Weise, die ein Wissen um die dunkle Materie offenbart. Dieses ganze Himmelsterritorium steht fortwährend in Kommunikation mit uns, übt Kräfte auf uns aus und tauscht sogar – in der Form von Felsgestein, das durch unsere Atmosphäre stürzt – Materie mit uns aus. Unsere Geschichten zeigen unser uraltes Wissen darüber, wie Asteroiden Krater bilden, eine Erkenntnis, die erst vor wenigen Jahrzehnten Eingang in das wissenschaftliche Wissen gefunden hat.

Max und ich sprechen darüber, dass unser Wissen über diese Dinge nicht immer auf unsere Kultur beschränkt gewesen sein kann, sind doch die alten Namen für die Sternbilder oft weltweit den unseren gleichbedeutend – die sieben Schwestern (Siebengestirn), die zwei Brüder (Zwillinge), der Adler, der Jäger (Orion). Dies sind weltweite Geschichten und Wissenssysteme, die einmal allen Menschen gemeinsam gewesen sein müssen. Im Norden muss etwas Schreckliches geschehen sein, so unser Gedanke, dass die Menschen all das vergessen haben und die Wissenschaft, anstatt auf schon bestehendes Wissen aufzubauen, wieder bei null anfangen musste. Worin mag diese Katastrophe bestanden haben? Ich stelle mir vor, dass der Schwarze Tod daran seinen Anteil hatte, vermute aber, dass es schon viel früher begann. Ich denke, Emus Schwindel ist irgendwann außer Kontrolle geraten und hat sich ausgebreitet, sodass immer mehr Menschen sich für besser hielten als das Land, besser als die anderen, besser als die Frauen, die unser Leben in ihren Händen und Bäuchen halten. Was immer es auch gewesen sein mag, die Katastrophe wird schlimmer, und ich frage mich, wie wir sie aufhalten können.

Max antwortet:

Der Stein lehrt uns, dass wir, trotz allem, was uns zum Zerspringen bringen oder uns mürbe machen will, stark sein und mithilfe unserer Kultur und unseres Glaubens einen unzerbrechlichen Kern bewahren sollen. Der Großteil der Erde besteht aus Gestein, und obwohl Wasser und Pflanzen die Oberfläche bilden, besteht der Körper der Erde, der Teil, der alles zusammenhält, aus Gestein. Leben und Schöpfung, das ist alles da, aber ohne eine solide Basis wird es zerbröseln, das gilt auch für die Gesellschaft, für Firmen, Beziehungen, Identitäten, Wissen, für fast alles, sei es materiell oder nicht. Wie diese Wälder und Bäume, die wie eine Haut auf dem Felsgestein der Erde sitzen – ohne die Stärke im Inneren, ohne den Stein, würde alles zerbröseln.

Die von Max beschriebene Gestalt der Welt und die Haut auf ihr vor Augen, denke ich über die Physik unserer Schöpfungsgeschichten nach und darüber, wie das Felsgestein mit der Zeit zu runden Körpern erodiert. Ich erkenne ein Muster im Universum, wonach die Kugel die effektivste Form darstellt, Materie zusammenzuhalten. Der wachsenden Zahl der Flache-Erde-Anhänger da draußen möchte ich deshalb sagen: »Blast mir eine abgeflachte Blase, und ich denke gerne über eure Theorie nach.« Aber dies würde mich in eine Besser-als-Position rücken. Ich sollte also in mich gehen, ihnen Beachtung schenken und daran denken, dass sich auch in randständigen Auffassungen immer etwas Wertvolles verbirgt.

Ich höre ihnen also online zu und entdecke, dass die Kugel nicht die endgültige Form dieses Schöpfungsprozesses ist. Unsere Galaxie war am Anfang eine Kugel und flachte zu einer Scheibe ab; und auch die Erde wird wie ein Lehmklumpen auf einer Drehscheibe nach und nach flacher. Bislang hat sie sich an den Polen zwar bloß um etwa zwanzig Kilometer abgeflacht, aber sie ist auf dem besten Weg. Gut also, dass ich die Flache-Erde-Anhängerinnen nicht kurzerhand beiseitegewischt habe, denn sonst hätte ich diese Sache kaum je richtig verstanden.

Aber inwiefern könnte dieses Denken nützlich sein? Nun ja, mit einem Gedankenexperiment lassen sich vielleicht ein paar Anwendungsbereiche ausmachen. Beim Verpacken zum Beispiel ließen sich Platz und Ressourcen weit wirksamer ausschöpfen, wenn man berücksichtigte, dass man viel mehr in eine kleine Kugel als in eine große Kiste packen kann. Was aber würde solche Kugeln daran hindern, von den Regalen zu rollen? Die Flache-Erde-Anhänger haben eine Lösung dafür: Man muss die Kugeln nur etwas flach drücken. Danke, Flach-Erdlinge. Diese Neuerung könnte uns ein paar Mülldeponien ersparen und uns ein bisschen Aufschub gewähren.

Max glaubt, es brauche eine größere Veränderung im Denken, um die Zerstörung des Planeten abzuwenden, und dass wir von den Steinen mehr über Respekt lernen müssten. Ich stimme ihm zu – die Einsicht, dass wir weder besser noch schlechter als ein Fels sind, würde, wenn sie denn die Menschen in genügend hoher Zahl gleichzeitig überfiele, Veränderungen bewirken. Wer glaubt, besser als ein Felsbrocken zu sein, sollte in einen verwandelt werden – dann würde man feststellen, dass man gar nicht so besonders ist, und könnte endlich glücklich sein. Max meint, dass in den letzten Jahrzehnten ein größeres Bewusstsein für den Geist der Steine entstanden sei, und erinnert mich an die Ereignisse rund um den Uluru.

Dort gibt es einen Schuppen voller Steine. Über lange Zeit haben Touristen Felsbrocken von der heiligen Stätte als Souvenir mitgenommen, doch dann, vor ein paar Jahrzehnten, geschah plötzlich etwas Seltsames. Die Touristen fingen an, die Steine zurückzuschicken, und berichteten voller Panik von seltsamen Ereignissen, Schlafstörungen, Schicksalsschlägen, Heimsuchungen durch Geister und fürchterlichen Unfällen. Irgendwie ahnten sie, dass dies an den Steinen liegen musste, und schickten sie mit verzweifelten Entschuldigungen zurück. So viele wurden zurückgegeben, dass ein großer Schuppen für ihre Aufbewahrung gebaut werden musste.

In unserem Gesetz wissen wir, dass Felsen fühlende Wesen und beseelt sind. Man kann sie nicht einfach aufheben und mit nach Hause nehmen, da man so ihren Geist stört und dieser im Gegenzug einen selbst stören würde. Egal, wo man auf diesem Kontinent mit Aborigines an einem Lagerfeuer sitzt und Geschichten erzählt, man wird mit Sicherheit eine abschreckende Anekdote über einen Verwandten zu hören bekommen, der so unklug war, einen Stein vom Boden aufzuheben und mit nach Hause zu nehmen, und der dann krank, heimgesucht, umgebracht oder verrückt wurde. Viele Steine sind gutwillig und freuen sich, wenn sie verwendet oder gehandelt werden, es gilt aber, dem Rat der Alten zu folgen, wenn man wissen will, welche man in Gebrauch nehmen darf. Steine müssen respektiert werden.

Vielleicht muss noch weiter ergründet werden, was Bewusstsein ausmacht und was Leben. Wenn die Definition dieser beiden Dinge auch die Steine als fühlende Wesen mit einschlösse, würde das erheblich dazu beitragen, die Emu-haften Verhaltensweisen, die derzeit auf der Erde und im Cyberspace grassieren, einzudämmen. Entweder das, oder wir könnten dazu übergehen, Uluru-Steine an all die Narzissten der Welt zu verschicken, um ihnen eine Lektion in Sachen Respekt für andere zu erteilen.

Ich hoffe, ich konnte bereits einige Vorstellungen davon vermitteln, was Indigenes Wissen ist, welche indigenen Menschen über es verfügen und wo es Anwendung finden könnte. Falls es doch entgangen sein sollte, die Antworten lauten: in allem, wir alle und alles. Wer aber ist indigen? Im Rahmen der in diesem Buch behandelten Gedankenexperimente über Nachhaltigkeit handelt es sich bei einer indigene Person um ein Mitglied einer Gemeinschaft, die Erinnerungen an ein nachhaltig gelebtes Leben auf Grundlage des Landes bewahrt und sich selbst als Teil des Landes betrachtet. Indigenes Wissen ist jede Anwendung dieser Erinnerungen als lebendiges Wissen zur Verbesserung gegenwärtiger und zukünftiger Umstände.

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