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Erstes Gesetz

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»Warum siehst du denn die Blumen nicht?«, sagte das junge Mädchen. Ich war dabei, ihr das Bild im Sand zu erklären, erzählte ihr etwas über Zeit und Tiefenzeit, und sie beschämte mich, brachte mich dazu, die Dinge anders zu sehen. Auf eine schöne Art, die gerade richtig war, wo die Jetztzeit alle Zeit und mit Freude erfüllt war. Auch Oldman Juma zwang mich, es anders zu sehen, als er meine Wange auf den Boden drückte, damit ich in der »Ameisenperspektive« eine Land-Topografie in dem in Sand gemalten Bild sah, all die Täler und Höhenzüge. Zeit und Ort dasselbe. Bloß die drei Kreise, von der Schöpfungszeit zur Ahnenzeit zur gegenwärtigen Zeit; das Muster wiederholt sich im Kleinen, mit drei Generationen, Lebensstadien und sogar mit den drei Abschnitten eines Tages, einer Aufgabe, eines Moments.

Es kommt dir aus dem Boden entgegen, dieses Bild, in 3-D, und es ist ein bewegtes, wirbelndes Energiesystem. Und, ganz außen, ein neuer Kreis, der eigentlich nichts anderes ist, als der in der Mitte, denn alles kehrt zurück, speist sich in Zeit und Ort in dieses System ein, endlose Zyklen von Wachstum und Erneuerung. Wir sterben nicht, wir gehen zurück ins Land, kommen dann ein drittes Mal wieder. Schöpfung ist kein »Lang, lang her«-Ereignis, denn die Schöpfung entfaltet sich auch heute noch und wird es auch weiterhin tun, wenn wir das Wie des Wissens wissen.

Alles geht aus diesem zentralen Einschlagpunkt hervor, diesem Urknall, der sich ausdehnt und zusammenzieht, ein- und ausatmet, der ohne Anfang und Ende, sondern ein Dauerzustand ist, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eins sind, eine Zeit, ein Ort. Jeder jemals gemachte Atemzug ist noch in der Luft zum Atmen. Ich atme die Atemzüge der Ahnen und aller anderen auch. War immer, ist immer, wird immer sein. Es gibt Blumen hier, und sie lassen mich lächeln.

Manchmal ist es schwierig, auf Englisch zu schreiben, wenn man gerade mit seiner Urgroßmutter am Telefon gesprochen hat und sie auch deine Nichte ist und es in ihrer Sprache keine unterschiedlichen Wörter für Zeit und Ort gibt. In ihrem Verwandtschaftssystem findet alle drei Generationen ein Reset statt, bei dem die Eltern deiner Großeltern in einem ewigen Kreislauf der Erneuerung als deine Kinder eingeordnet werden. In ihrer traditionellen Sprache fragt sie dich etwas, das sich ins Englische unmittelbar als »an welchem Ort« übersetzt, aber eigentlich »zu welcher Zeit« bedeutet, und du begibst dich nur zögerlich in dieses Paradigma, denn du weißt genau, wie verdammt schwer es dir fallen wird, sich aus ihm zu lösen, wenn du wieder weiterarbeiten möchtest. Verwandtschaft bewegt sich in Zyklen, das Land bewegt sich in saisonalen Zyklen, der Himmel bewegt sich in Sternenzyklen, und die Zeit ist in diese Dinge so sehr eingebunden, dass sie sich begrifflich nicht vom Raum unterscheidet. Wir erleben Zeit ganz anders als Menschen, die in flachen Terminplänen und geschichtenlosen Oberflächen versunken sind. In unseren Existenzblasen verläuft die Zeit nicht in einer geraden Linie, und sie ist so spürbar wie der Boden, auf dem wir stehen.

In dem Sand-Talk-Bild oben ist der Einschlagpunkt im Zentrum der Schöpfungsmoment, der Zeit/Raum in Bewegung setzte. Es zeigt drei große Zeitalter der Tiefenzeit in konzentrischen Kreisen, die alle im gleichen Moment entstehen. Das Symbol bildet eine dreidimensionale apfelförmige Gestalt des Universums, wenn man sein »Schauen« in ein »Starren« verändert und es auf sich wirken lässt. Die Kugel ist in Bewegung, weil sich die drei Zeitalter fortwährend von außen nach innen und wieder zurück bewegen, sich ausdehnen und zusammenziehen, sich in einer rollenden Bewegung überblenden und sich endlos in einem stabilen Muster reproduzieren. Das ist ein nachhaltiges System.

Nichts wird geschaffen oder zerstört; es bewegt und verändert sich nur, und das ist das Erste Gesetz. Schöpfung befindet sich fortwährend in einem Zustand der Bewegung, und als Hüterart müssen wir uns mit ihr bewegen, denn sonst fügen wir dem System Schaden zu und weihen uns dem Untergang. Nichts kann festgehalten, angehäuft oder aufbewahrt werden. Jede Einheit braucht in einem stabilen System Geschwindigkeit und Austausch, oder sie stagniert – dies gilt für Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme ebenso wie für natürliche Systeme. Sie folgen alle den gleichen Gesetzen.

Um den inneren Kreis verlaufen drei Bögen (oder Blütenblätter, für die ich sie nun halte), die versinnbildlichen, wie unser Gesellschaftssystem in das Schöpfungssystem eingeschrieben ist, mit drei Generationen starker Frauen um jedes Kind – Schwestern/Cousinen, Mütter/Tanten und Omas. Die Mutter der Großmutter geht zurück ins Zentrum und wird zum Kind, und alle zusammen kreisen auf ewig durch diese Rollen, der Geist des Kindes wiedergeboren durch das Land. Eine jede nimmt auch alle Rollen zugleich ein – so ist die Schwester auch eine Tante von jemand anderem sowie Großmutter der Tochter ihrer Nichte.

So zeigt sich das System je nach dem Beziehungskontext einer Person, die es zu einem gegebenen Moment betrachtet, in unterschiedlicher Weise. Wenn du das Kind im Zentrum bist, siehst du einen Fächer von Beziehungen, aber vom Standpunkt deines eigenen Kinds aus siehst du einen anderen. Auch die Tante des Kindes ist, im Zentrum ihres eigenen Systems, jemandes Kind. Jedes Mal, wenn man jemandem begegnet und eine Beziehung herstellt, bringt man multiple Universen zusammen. Es besteht keine Möglichkeit, dieses System von außen zu betrachten – man muss sich in es hineinbegeben, um es dreidimensional sehen zu können, und man muss sich in ihm bewegen und Verbindungen herstellen, um weitere mannigfache Dimensionen zu erkennen. Von außen ist es lediglich ein flaches Bild.

In der modernen Wissenschaft und Forschung müssen die Forschenden Objektivität behaupten, eine unmögliche und gottähnliche (Besser-als) Position, die im leeren Raum schwebt und das Feld beobachtet, ohne ihm anzugehören. In der Quantenphysik ist diese Illusion der Allwissenheit auf Schranken gestoßen. Sosehr man sich auch von der Realität abzusetzen versucht, es wird immer Beobachtereffekte geben, da die Realität sich je nach Standpunkt verschiebt. Die Wissenschaft bezeichnet dies als Unschärferelation.

Ich bin ein Novize in Bezug auf diese Art von Physik, verstehe sie aber so, dass ein subatomares Teilchen, nach dessen Position man sucht, ein Partikel wird, hingegen eine Welle, wenn man seine Bewegung messen möchte. Und deshalb verändert sich seine physikalische Wirklichkeit je nachdem, wie man auf es blickt. Das Alltagsdenken hat daraus Folgendes gemacht: »Wenn ich mit meinen Gedanken die Wirklichkeit verändern kann, möchte ich, dass mir das Universum einen Lamborghini schenkt.«

So funktioniert es nicht, meint Percy Paul, ein First Nations-Mann und theoretischer Physiker am kanadischen Perimeter Institute, als wir uns miteinander austauschen. Er hat offenbar das Gefühl, dass die komplizierten Gleichungen der Unschärferelation nur wenig Einfluss auf seine Lebenswirklichkeit als indigene Person haben. Ich höre ihm zu, wie er seine Art zu leben und sein Verständnis des Universums erklärt, und versuche, seinen Standpunkt nachzuvollziehen: Ich stelle mir vor, dass ein Elektron zu jedem gegebenen Zeitpunkt ein Wahrscheinlichkeitsfeld für seinen potenziellen Ort bildet und nicht auf einen einzelnen Punkt in der linearen Zeit festgelegt werden kann, es sich also wie ein Strand verhält, an dem jedes Sandkorn die Möglichkeit für dessen Vorhandensein darstellt. Für mich heißt das, dass die konkrete Wirklichkeit nur trotz der linearen Zeit existiert.

Ihm gegenüber dies vorzubringen, fühle ich mich zu dumm, mein Ego verhindert also, dass wir uns darüber austauschen. Egos stehen einem guten Yarn immer im Wege. Stattdessen spreche ich mit Percy über den ersten und zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, und er lässt mich an einigen erstaunlichen Ideen teilhaben, doch dann laufen unsere Denkwege auseinander, der Austausch ist zu Ende, und wir finden auch nicht mehr richtig zu ihm zurück. In der indigenen Welt kannst du niemanden zwingen, Wissen mitzuteilen – du akzeptierst einfach, was man dir mitzuteilen für richtig hält. Meistens ziehen sich die Wissensbewahrer zurück, wenn sie in ihrem Gegenüber Narzissmus zu spüren vermeinen, und ich weiß, dass ich diesen Yarn in einem falschen Bewusstseinszustand angegangen habe. Die Körner, die mir Percy überlässt, picke ich freilich dankbar auf.

Meine Yarns mit Percy veranlassen mich, mich noch einmal mit Schrödingers Katze zu beschäftigen, der beste Weg für Uneingeweihte, die Unschärferelation zu verstehen. In diesem berühmten Gedankenexperiment stellt man sich vor, eine Katze, die vergiftet wurde, in eine Kiste zu sperren. Da man sie nicht sehen kann, weiß man nie, ob sie schon gestorben ist, das heißt, die Katze ist gleichzeitig tot und lebendig. Der Vorgang der Beobachtung, dass die Katze atmet, macht sie gewissermaßen lebendig, und der Vorgang, sie zu sehen, wie sie einen mit erloschenen Augen, erstarrt in einer von Todeskampf und Panik gemalten Maske, fixiert, macht sie tot. Jesus.

Aus der kosmologischen Sicht der Aborigines ist das Problem der Unschärfe gelöst, wenn man sich als Teil des Felds versteht und seine Subjektivität akzeptiert. Wenn du unbedingt wissen willst, was in der Kiste ist, nimm selbst das Gift und klettere hinein. Nach meinen Yarns mit Percy verstehe ich die Unschärferelation nicht mehr als Gesetz, sondern als Ausdruck der Frustration, nicht zu einer gottähnlichen wissenschaftlichen Objektivität gelangen zu können.

Heutzutage müssen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sämtliche Spuren von sich aus den Experimenten entfernen, denn sonst gelten ihre Daten als kontaminiert. Kontaminiert womit? Mit der schmutzigen Realität des Dazugehörens? Der toxischen Erkenntnis, dass wir, wenn wir uns nicht außerhalb eines Feldes befinden, es nicht besitzen können? Ich sehe nicht, dass sich die Wissenschaft so bald indigener Forschungsmethoden annehmen wird, denn Indigenes Wissen ist nicht wegen des Wie, sondern wegen des Was, nicht als Quelle eines Wissensprozesses, sondern als Ressource, die geplündert werden kann, gefragt. Zeige mir ein paar Pflanzen, damit ich ein Präparat daraus herstellen und zu Arznei verarbeiten kann!

Ich kann in Gedankenexperimenten mit Katzen in Kisten keine Nachhaltigkeitslösungen erkennen, sehe aber Möglichkeiten in dem oben erwähnten, aus drei Frauengenerationen geschaffenen Muster. Es zeigt mir, dass man sich in einem System, das sich in einem andauernden Zustand der Bewegung und Anpassung befindet, bewegen und anpassen muss. Und damit auch, wie uns-zwei das System auf nachhaltige Weise beeinflussen können – jeder Versuch, das System von einem außerhalb befindlichen, festen Standpunkt kontrollieren zu wollen, ist ein fehlgeleiteter Eingriff, der scheitern wird. Wie also kann beispielsweise eine Gesellschaft auf eine weltweit instabile Finanzlage reagieren? Uns-zwei könnten aus der Urgroßmutter-Nichten-Geschichte ein Gedankenexperiment ableiten – in einer Simulation des Universums, wie es von diesen drei Generationen starker und das tragende Sozialgefüge einer erweiterten Familie bildenden Frauen erlebt wird.

Durch ihre Augen können wir vielleicht in all den großen ökonomischen Turbulenzen der letzten Jahrzehnte ein paar kleine Inseln der Nachhaltigkeit und des stabilen Wachstums erkennen, die letztlich auf einer Sache beruhen. Nein, nicht auf Gold. Auf der erweiterten Familie. Die Geldüberweisungsökonomie der Dritten Welt – also das Geld, das von den Leuten, die in die Erste Welt ausgewandert sind, nach Hause geschickt wird und in der Gesamtsumme nahezu den internationalen Hilfeleistungen entspricht – ist während der letzten Finanzkrise nicht zusammengebrochen. Sie ist, was viele Ökonomen verblüfft hat, in mancherlei Hinsicht sogar gewachsen. Die Massen verzweifelt armer Menschen, die in der Fremde arbeiten, schicken auch weiterhin Milliarden Dollar an ihre erweiterten Familien und Gemeinschaften nach Hause, und dieser ökonomische Vorgang stellt sich als schrumpfungsresistent heraus.

Auch in Frankreich und Deutschland sind in dieser Zeit – wie in zwei Weltkriegen zuvor und ungeachtet des Zusammenbruchs europäischer Imperien – wirtschaftliche Aspekte, die mit der erweiterten Familie zu tun haben, stabil geblieben. Das verdankt sich gemeinschaftlicher Eigentumsgesetze, die es in dem globalisierenden System der Anglosphäre nicht gibt. Französischen und deutschen erweiterten Familien steht die Möglichkeit offen, Kapital kollektiv zu besitzen und mittelgroße Familienunternehmen zu führen, ohne dass dies alles nominell Eigentum einer Einzelperson ist oder von dieser kontrolliert wird. Damit lassen sich generationenübergreifende Besitzstände bilden. Diese Familienkreise verfügen über unterschiedliche Portfolios, arbeiten aber zusammen und bündeln mehrere Einkommen, womit sichergestellt ist, dass ihr Risiko gut verteilt ist. Sie bieten ein internes soziales Sicherheitsnetz und schützten sich somit untereinander gegen zufällig auftretende Austeritätsphasen und andere Turbulenzen.

Australien würde vielleicht gut damit fahren, seine Wirtschaft gegen Einbrüche zu schützen, indem es Familieneigentumsgesetze und entsprechende Anreize einführte – dies kann, ein Nebeneffekt, auch die Sozialausgaben mindern und die Arbeitslosigkeit abbauen. Für den Fall, dass wir uns nicht ganz sicher sind, wie ein derartiges Modell aussieht, könnten wir uns von Australiens asiatischer Gemeinschaft beraten lassen, die offenbar bereits eine auf dem Modell der erweiterten Familie basierende informelle Ökonomie betreibt. Oder wir fragen einfach meine Omas.

Dieses Kapitel sollte sich eigentlich um Physik drehen, ich weiß, aber heute lassen sich die einzelnen Felder ebenso wenig voneinander trennen, wie man sich selbst von einem Feld absondern kann. Unabhängig davon, in welchem Feld man sich gerade befindet, alles ist Natur und folgt deshalb denselben Naturgesetzen, derselben Physik. Aus deiner Sicht mag sich das Universum von jenem anderer Betrachtungsweisen unterscheiden, aber alle folgen sie den gleichen Gesetzen.

Zwischen den Ersten Völkern und den Zweiten Völkern scheint jedoch, was das Wesen der Realität und die grundlegenden Seinsgesetze anbelangt, eine fundamentale Uneinigkeit zu bestehen. Das Gesetz der Ersten Völker besagt, dass aufgrund der unendlichen und sich erneuernden Verbindungen zwischen Systemen nichts geschaffen oder zerstört wird. Deshalb ist die Zeit nichtlinear und erneuert die Schöpfung in unendlichen Kreisläufen. Das Gesetz der Zweiten Völker besagt, dass die Systeme voneinander isoliert werden müssen und in einem Vakuum individueller Schöpfung existieren, dass sie zwar komplex begonnen, aber vereinfacht und heruntergebrochen werden müssen, bis sie ihr Ende finden. Weil alle Dinge demnach einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben, ist Zeit linear.

Erfunden wurde diese Idee von Aristoteles. Für ihn ist das Ende (telos) das Prinzip allen Wandels. Es handelt sich um einen merkwürdigen Fluch, der auf der Grundlage unvermeidlicher Abnahme und Vernichtung eine Illusion unendlichen Wachstums verlangt. Um das Erste Gesetz außer Acht lassen und Zeit geradlinig erleben zu können, sind die Zweiten Völker und ihre »Gefangenen« genötigt, rückhaltlos an dieses Paradox, das nur aufgrund des Ich-bin-besser-Trugschlusses möglich ist, zu glauben.

Uns-zwei können Aristoteles jedoch dafür nicht die Schuld in die Schuhe schieben. Die Idee lag bereits in Form einer zivilisierenden Gründungsmythologie des Uroboros vor. Uroboros ist eine Metapher für Unendlichkeit – eine zu einem Ring gebogene Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt. Sie enthielt jedoch bereits den gleichen Fluch, den gleichen Widerspruch: Wie kann diese Schlange ein Symbol der Unendlichkeit sein, wenn sie sich letztlich selbst auffrisst?

Ich habe dieses Kapitel komponiert, indem ich aus einem Mulga-Baum einen boondi geschnitzt habe, eine hölzerne Keule, die wir in meinem Clan allerdings eher als yuk puuyngk oder Gesetzesstock bezeichnen. Das ist meiner Ansicht nach ein geeignetes Mittel, um zu erforschen, wie sich die Gesetze für Raum und Zeit zwischen den Ersten und Zweiten Völkern unterscheiden. Ich studierte die Gesetze der Thermodynamik und tauschte mich darüber (sowie über einige alte tote weiße Typen) mit Ältesten und mit Percy Paul aus, speicherte dieses Wissen in meiner inneren Karte der Great Dividing Range ab, des Großen Australischen Scheidegebirges, das den Körper der Regenbogenschlange darstellt. Es trennt übrigens gar nichts, sondern verbindet Systeme entlang eines gewaltigen Traumpfads. Parallel dazu verläuft eine andere Schlange in Form einer Teppichpython, das Great Barrier Reef, das im Übrigen keine Barriere ist, sondern eine weitere unendlich verbindende Erzählung. Mit Ältesten und Wissensbewahrern bin ich diesen Traumpfad von Caboolture nach Hinchinbrook Island entlanggereist. Auf solchen Traumpfaden wird Indigenes Wissen bewahrt, also legte ich dort auch das oben genannte Wissensmaterial ab, das ich zudem als Erinnerungshilfe in die Keule geschnitzt hatte.

Um den Keulenkopf gravierte ich ein Bild des Uroboros, das für das Gesetz der Zweiten Völker und den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik steht. Die Dreidimensionalität der Keule verleiht dem zweidimensionalen Bild aber noch eine weitere Bedeutungsschicht, eine Wahrheit, die sich enthüllt, wenn man den Stock auf Lehm abrollt. Das Bild einer endlosen Schlangenprozession erscheint, Kopf an Schwanz, das das Gesetz der Ersten Völker und den Ersten thermodynamischen Hauptsatz darstellt.

Laut dem Ersten Hauptsatz der Thermodynamik wird Energie weder geschaffen noch zerstört – sie ändert sich nur und bewegt sich zwischen den Systemen. Laut dem Zweiten nimmt die Entropie oder der Zerfall in einem komplexen, zwangsläufig auseinanderfallenden System zu. Dadurch entsteht – jedoch nur in einem geschlossenen System –, was Physiker als »Zeitpfeil« bezeichnen. Vielleicht ist der Wunsch, geschlossene Systeme zu schaffen und die Zeit in einer geraden Linie verlaufen zu lassen, der Grund dafür, dass die Zweiten Völker so obsessiv damit beschäftigt sind, Zäune und Mauern, Grenzen, große Trennungen und große Barrieren zu schaffen. In der Wirklichkeit bewohnen wir keine geschlossenen Systeme, warum sich also für euer Zeitmodell auf den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik verlegen?

Wenn uns-zwei diesen Bogen im Himmel sehen, diese Regenbogenschlange, sehen wir nur einen Teil davon, und dieser ist subjektiv: nur für uns. Wenn wir uns bewegen, bewegt sich auch der Regenbogen, sein Aussehen ist abhängig von unserem Standpunkt. Steigst du auf den nächsten Hügel, siehst du ihn in einer anderen Position als ich von dem Ort, an dem ich stehe. Die Mondschwestern sind einem ähnlichen Phänomen in die Falle gegangen, als sie auf der Oberfläche des nächtlichen Meeres den Mond jagten und glaubten, sein Spiegelbild sei ein Fisch, den sie harpunieren könnten. Aber dieses Bild bewegt sich wie der Regenbogen, je nachdem, wo man sich gerade befindet, also waren sie außerstande, es zu fangen. Nun sind ihre Schatten auf dem Mond zu sehen, wo sie bis auf den heutigen Tag gefangen sind, eine Warnung all denen, die Illusionen nachjagen, die sich aus festen Standpunkten ergeben.

Die Schlange liebt das Wasser, denn das Wasser macht es uns möglich, sie zu sehen, und so kommuniziert sie mit jedem Einzelnen von uns, aber sie ist nicht nur ein Wasserwesen. Sie ist ein Lichtwesen. Der Teil, den wir im nassen Himmel sehen oder in der feinen Gischt, die vom Bug eines schnell fahrenden Dingis aufspritzt, ist nur eine Linie über dem Rand einer Kugel. Die Linie bewegt sich über mehrere Kugeln, die sich endlos überlappen, sich in Spiralen einwärts und auswärts bewegen, sich überallhin erstrecken, wo dieses Licht hingelangt (oder hingelangt ist oder hingelangen wird), und die Regenbogenschlange schlängelt sich durch diese Lichtbildgewebe der Schöpfung. Sie gelangt auch unter die Erde, denn dort war das Licht in der Vergangenheit, und die lineare Zeit setzt ihr keine Schranken.

Aha, aber ist sie eine Welle oder ein Teilchen? Ich nehme an, das hängt davon ab, wie du sie anschaust, wir werden sie aber als eine Welle, eine Schlange erblicken, denn sie bewegt sich unentwegt durch Systeme, die fortwährend in Bewegung und mit allem, was ist, war und sein wird, verflochten sind. Von ihr existieren auf der ganzen Welt zahllose Varianten in allen Formen und Größen – Wyrm, Drache, Uräus und je nach Region viele verschiedene weitere Namen –, die die Gestalt des jeweiligen Ortsgeistes annehmen. Sie war immer da und wird immer da sein, außer die Menschen versuchen weiterhin, sie dazu zu bewegen, sich selbst in den Schwanz zu beißen.

Ich kann sie allerdings nicht richtig sehen, denn ich bin farbenblind. (Optometristen meinen, das liege daran, dass ich kein »Vollblut-Aborigine« bin – offenbar gilt, je schwarzer du bist, desto weniger wahrscheinlich bist du farbenblind.) Ich sehe die Schlange nur als vagen, dünnen Streifen am Himmel. Doch meine Farbenblindheit lässt sie mich an anderen Orten suchen, und so finde ich Wissen an unerwarteten Stellen. Meine Beeinträchtigung lässt mich auch die getarnte Schlange im Gras vor uns erkennen, wenn wir gehen und uns unterhalten; es handelt sich also um eine nützliche Behinderung. Jede Perspektive ist nützlich, und jede Gruppe ist auf eine große Bandbreite von Sichtweisen angewiesen, will sie sich durch dieses Universum navigieren oder gar als sein Hüter auftreten. Ich stehe in dieser Schlucht und sehe den Regenbogen an einer bestimmten Stelle, du stehst auf dem Hügel und siehst ihn an einer anderen, er schickt uns verschiedene Botschaften, die wir nach Möglichkeiten einander mitteilen sollen.

Mein subjektiver Blick auf die Regenbogenschlange hilft mir, Probleme mit den Zeitschienen zu erkennen, die wir heute alle erzwungenermaßen bewohnen (auch wenn ich dadurch Verabredungen verpasse und in logischen Reihen schreibe, denen nicht leicht zu folgen ist). Der Zeitpfeil, wie er in der Physik vorgeschrieben wird, funktioniert in Laborexperimenten und ist ein reales, beobachtbares Phänomen innerhalb geschlossener Systeme. Er ist ein richtiges Gesetz. Er ist nur das falsche Gesetz, wenn man es auf Wesen anwenden will, die in offenen und miteinander verflochtenen Systemen leben. Es ist in etwa so, als ob man die Theorie, dass eine Wirtschaft floriert, wenn die Aktienmärkte boomen, anpreisen würde – die Bewohner dieser Wirtschaft selbst aber sagen: Klar, die Aktienkurse stehen hoch, aber wir hungern trotzdem!

Die selektive Anwendung verschiedener Gesetze und Theorien ist der Grund für die Krise der Zivilisation, die wir auf diesem Planeten erleben werden, bis wir Aristoteles’ telos, das unvermeidliche Ende, erreichen. Es handelt sich um eine Metapher, die auf Täuschung basiert, und in der Weltsicht der Aborigines ist dies die Art, in der Flüche funktionieren. Man nimmt einen Teil eines Systems (etwa das Haar einer Person) und beobachtet in diesem Fragment das Muster des Gesamtsystems (etwa ihren Körper, ihren Geist und ihre Seele), dann singt man ein falsches Muster aus dem Teil (etwa: Du wirst sterben) in das Ganze, und führt ihm mit einem anderen, in ständiger Bewegung befindlichen System (etwa fließendem Wasser) Energie zu. Der Fluch ist eine wahr gemachte Täuschung – entweder eine absolute Lüge oder ein richtiges Gesetz, ein Muster, das an falscher Stelle angewendet wird. Es ist wie ein Computervirus, eine hinterhältige Programmzeile, die das ganze System zum Absturz bringt. Den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik auf offene, miteinander verflochtene Systeme anzuwenden hat die gleiche Wirkung. Es ist ein Fluch.

Um die Krise der Zivilisation in dieser Art zu verstehen, müssen wir zuerst bestimmen, was Zivilisation aus der Perspektive des Gesetzes der Ersten Völker bedeutet. Die meisten würden wohl sagen, es sei eine Kultur, die Wissen, Technologie, Gesetze und Kunst hervorbringt, aber dies ließe sich über jede andere auf der Welt existierende Gemeinschaft sagen. Indigene Menschen behaupten häufig: »Wir hatten all diese Dinge auch, also waren wir eine Zivilisation.« Eine Zivilisation ist jedoch etwas anderes. Ein Dorf oder eine Hirtengemeinschaft oder eine umherziehende Gruppe, die zeitweise das Land ihrer Ahnen bewirtschaftet, ist keine Zivilisation, denn Zivilisationen bauen Städte. Wakanda in den Black Panther-Comics von Marvel ist eine afrikanische Zivilisation, weil sie Städte hervorbringt. In der wirklichen Welt wiederum lebten die Menschen Simbabwes, die einst Städte aus Stein bauten, in einer Zivilisation, bis diese unweigerlich zusammenbrach. Dies war keine indigene Kultur, nur weil ihre Bewohner eine dunkle Haut hatten. Zivilisationen sind Kulturen, die Städte erschaffen, Gemeinschaften, die erst alles in ihrer Umgebung und dann sich selbst aufzehren. Sie können keine indigenen Kulturen sein, solange sie nicht ihre städtebauenden Zivilisationen hinter sich lassen – eine Lektion, die die Ältesten von Simbabwe aus bitterer Erfahrung durch alle Zeiten bis heute überliefert haben.

Eine Stadt ist eine auf einem Zeitpfeil angesiedelte Gemeinschaft, ein nach oben weisender Zeitpfeil, der ständiges Wachstum verlangt. Wachstum ist die Maschine der Stadt: Wenn der Zuwachs aufhört, geht die Stadt unter. Aus diesem Grund sind die lokalen Ressourcen schnell verbraucht, und das Land in der Umgebung der Stadt stirbt. Erst wird es aller Biota beraubt, dann verschwindet der Mutterboden, dann das Wasser. Es ist kein Zufall, dass heute die Ruinen der ältesten Zivilisationen meistens in Wüsten liegen. Zuvor gab es dort keine Wüste. Die Stadt sagt sich, sie sei ein geschlossenes System, das ewiges Wachstum verlangt und zugleich zerfallen muss, damit die Zeit geradlinig verläuft. Das bedeutet, sie muss ihren Zerfall so lange wie möglich nach außen verlagern.

Deshalb ist eine Stadt darauf angewiesen, Ressourcen aus miteinander verflochtenen Systemen jenseits ihrer Grenzen zu importieren. Die Stadt platziert sich selbst in der Mitte dieser Systeme und plündert sie aus, um ihr Wachstum zu füttern, wobei sie die Kreisläufe der Zeit, des Landes, des Wetters, des Wassers und des ökologischen Austauschs zwischen den Systemen unterbricht. Der Austausch erfolgt jetzt nur noch in einer Richtung. Materie und Energie werden auch in dieser Reaktion nicht geschaffen oder zerstört; anstatt den Systemen wieder zugeführt zu werden und sie zu durchlaufen, werden sie zu stationären Massen aufgehäuft.

Die von den Städten ausgehende exponentielle Zerstörung speist das exponentielle Wachstum von Infrastruktur und Bevölkerung. Damit dies geschehen kann, werden Gesetze wie das von Angebot und Nachfrage falsch angewendet: Damit Wirtschaftswachstum stattfinden kann, muss es mehr Nachfrage als Angebot geben. Grob übersetzt heißt dies, es muss mehr Menschen geben, die Grundgüter und lebenswichtige Dienstleistungen benötigen, als es an Gütern und Dienstleistungen gibt. Anders formuliert: Damit die Wirtschaft wachsen kann oder damit etwas einen Wert bekommt, müssen viele Menschen auf eigentlich überlebenswichtige Dinge verzichten. Da das Wachstum exponentiell zunimmt, nimmt auch die Zahl der Menschen exponentiell zu, denen etwas fehlt. So kann sich kein Gleichgewicht einstellen.

Die von diesen elenden Massen ausgehenden Störungen gilt es, mit Brot und Spielen, Fußball und Facebook abzuwehren. Man muss sie fragmentieren, damit sie sich nicht in Gemeinschaften oder erweiterten Familien gegenseitig unterstützen, denn sonst wird die Nachfrage sinken. Vor allem muss man sie sich wie die Karnickel vermehren lassen, denn so stellt man sicher, dass ihr einziges Gut das energetische Potenzial ihrer Kinder ist.

Ich glaube nicht, dass viele Menschen meiner Definition der Nachhaltigkeit zustimmen. Ich höre sie über nachhaltiges exponentielles Wachstum reden, wobei sie außer Acht lassen, dass ein Großteil des Mutterbodens mittlerweile auf dem Boden der Ozeane angekommen ist. Es ist schwierig, mit den Leuten über die unmögliche Physik der Zivilisation zu sprechen, besonders wenn man Aborigine ist: Du führst die Farben und Federn vor, die hübschen Dinge deiner Kultur und sprichst über deine einzigartige Verbindung mit dem Land, während die Leute in Vitrinen blicken und dir zuschauen, aber dass du in ihre Richtung blickst oder beschreibst, was du siehst, ist nicht vorgesehen.

Aber es gibt es noch das Erste Gesetz. Wir müssen mutig genug sein, es auf unsere Realität unendlich miteinander verflochtener, selbst organisierender, selbst erneuernder Systeme anzuwenden. Wir sind die Hüter dieser Realität, und für eine Hüterspezies ist der Zeitpfeil kein angemessenes Modell, von dem aus sich operieren ließe. Wenn ich jetzt über all die Großmütter und Nichten und Schwestern nachdenke, frage ich mich, ob ich nicht den falschen Weg gegangen bin, indem ich all die Wurmlöcher der Physik abgefangen und jedes negative Teilchen angestupst habe. Diese Frauen machen in aller Ruhe weiter und halten die Schöpfungssysteme durch verwandtschaftliche Beziehungen in Gang; sie machen sich keine großen Gedanken, fragen sich höchstens, welches Chaos ich als Nächstes anrichten werde. Vielleicht haben sie es kapiert. In einer Lebenswelt, in der deine Urenkel deine Eltern werden, hat man ein berechtigtes Interesse daran, an der Erschaffung eines stabilen Systems mitzuwirken, in dem diese agieren können, und auch, für ein bisschen Gerechtigkeit zwischen den Generationen zu sorgen. In ruhigen Momenten sitze ich daher gerne auf dem Land in der wohligen Umarmung dieses weiblichen Schöpfergeistes. Ich höre noch, wie die Bulldozer kommen und höre keine Frösche mehr. Aber ich sehe die Blumen.

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