Читать книгу Herr Doktor, tut das weh? - U. S. Levin - Страница 8
Ruhe sanft!
ОглавлениеWas haben Krankenhäuser und Friedhöfe gemeinsam? – Viel Kundschaft, aber wenig Personal. Es gibt allerdings noch eine zweite Übereinstimmung. Die Besuchszeiten sind freizügig geregelt und tagsüber fast uneingeschränkt möglich. Und noch eine weitere Gemeinsamkeit lässt sich nicht von der Hand weisen. Die Besuchsopfer können sich nicht wehren, egal, ob sie über oder unter der Erde liegen.
In Kliniken gelten starre Besuchszeiten als Relikt der Vergangenheit. Leider, denn die Patienten konnten sich seelisch und moralisch auf die Verwandtenbesuche einstellen, die mit billigen Schnittblumen und seifig schmeckendem Konfekt vom Discounter vor ihren Krankenlagern aufkreuzten. Zähneknirschend duldeten alte Klinikärzte früher lediglich zwei Besuchsnachmittage, meist Mittwoch und Sonntag – allerhöchstens zwei Stunden. Ihrer Auffassung nach konnte die Aufregung eines Krankenbesuches binnen kürzester Zeit tagelange Heilungserfolge zunichtemachen.
Die ärztliche Meinung über Krankenbesuche hat sich gewandelt, spätestens seit die Gesundheitspsychologie, ein noch junger Spross der klassischen Psychologie, auf den Plan getreten ist. Diese behauptet nämlich: Alles Unsinn! Besuche mit ihrer sozialen Bindung und der damit verbundene Kontakt zur Außenwelt hellen den tristen Klinikalltag auf und sind dem Heilungsprozess zuträglich. Zudem darf die Besuchszeit nicht vorgeschrieben werden. Der Kranke befinde sich schließlich nicht in einem Hochsicherheitstrakt und hat als freier Bürger das Recht, Besucher zu empfangen, so oft und so lange es seine Gäste nur wollen.
Ich kann mich für diese Auffassung nicht erwärmen, plädiere vehement für die Ansicht der alten Ärztegeneration. Die postmoderne Meinung dieser neuromuskulären Synapsenfuzzis kostete nämlich meinem Kumpel Hans-Peter sein einziges Leben. Hätte er sich nach seiner Herzklappen-OP nur eine einzige Woche in Ruhe von den Strapazen des chirurgischen Eingriffs erholen können, würde er noch unsere mit Feinstaub und Stickoxid angereicherte Luft atmen können.
Stattdessen wurde, den Forschungsergebnissen dieser Hirnakrobaten geschuldet, Brigitte, oder wie wir sie nannten Gitte, zu ihrem Gatten vorgelassen. Gerade Gitte mit ihrer diplomatischen Grobmotorik. Als hochrangige Politikerin wäre sie imstande, ganze Weltkriege vom Zaun zu brechen. Sie ist wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen, vor allem körperlich. Wo sie hintritt, wächst kein Gras mehr, in das ihre Opfer beißen könnten.
Als Hans-Peter, ausgemergelt wie ein Triathlet am Morgen nach dem Ironman, im Türrahmen die unverkennbare Silhouette seiner Witwe in spe erblickte, begann sein rechter Herzmuskel zu zucken, wie ein an Land gespülter Fisch nach Luft schnappt. Letztendlich hatte er sein koronares Leiden auch der barbarischen Brutalität seiner sadistisch veranlagten Frau zu verdanken. Seine Ehe ähnelte der Menschheitsgeschichte eines prähistorischen Frühstadiums – körperliche Gewaltexzesse, sexuelle Übergriffe, die immer von Gitte ausgingen, und psychische Unterdrückung gehörten zu ihrem Ehealltag.
Die Herzklappen kamen gerade recht, um nicht abzuklappen und Abstand in sein standesamtlich reglementiertes Martyrium zu bringen. Seine flüchtigen Gedanken kreisten nur um eines, der Flucht vor dieser gewaltigen, vor allem aber gewaltbereiten Matrone, die nicht nur mehr als das Doppelte von ihm wog, sondern nach dem Betreten des Patientenzimmers mit dem verschmitzten Lächeln einer überlegenen Mörderin an sein Bett trat – mit dem rechten Fuß.
„He“, rief Gitte höhnisch, „aufwachen, Schlafmütze!“
Hans-Peter kostete es unglaublich viel Kraft, seine Augen zu öffnen, und noch mehr Mühe, sie offen zu halten. Er hauchte ein energieloses: „Haaallooo!“
„Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht“, begann Gitte, ohne Rücksicht auf seinen instabilen Zustand. „Die alte, morsche Mauer brauchst du nicht mehr einzureißen.“
In dieser Sekunde brachen wohl tausend Gedanken über Hans-Peter herein: „Was … was ist … ist dann … dann die schlechte?“
„Das war die schlechte.“ Und mit mütterlichem Stolz fügte Gitte hinzu: „Und die gute: Daniel kann schon Auto fahren.“
„Aber er ist … ist erst zwölf!“
„Nun reg dich nicht so auf! Er ist ja nicht weit gekommen.“
„Und die … die Mauer?“
„Stand im Weg.“
„Mein Wagen, … mein schöner … neuer Wagen“, jammerte der frisch Operierte.
„Nach Daniel fragst du wohl gar nicht!“
„Was ist … ist mit ihm …?“
„Nächste Woche wollen ihn die Ärzte aus dem Koma holen … Hans-Peter, Hans-Peter! Was ist … was ist mit dir? Ein Arzt! Schnell, ein Arzt!“
Mit einem weinenden Auge verließ Gitte die Klinik. Mit einem lachenden eilte sie zur Lebensversicherung. Hans-Peter hinterließ ein hübsches Sümmchen.
Als ich Gitte wenige Wochen nach der Beerdigung traf, konnte ich unmöglich ihre Einladung zu einer Tasse Kaffee abschlagen. Während ich meinen Espresso schlürfte, erzählte Gitte schweren Herzens von der Leere, die Hans-Peter hinterlassen hatte, und dass sie unbedingt wieder jemanden an ihrer großflächigen Seite haben möchte. Dabei presste sie meine zarten Beine zwischen ihre feisten Oberschenkel wie in einen Schraubstock.
„ Guten Abend, Herr Müller, ich möchte Ihnen die Möglichkeit der Kondolenz zum Ableben meines Gatten einräumen.“
Und dann fragte sie mich allen Ernstes, ob wir zwei süßen Turteltäubchen es nicht einmal versuchen könnten. Mit einem gewaltigen Ruck, die Angst verlieh mir plötzlich Bärenkräfte, befreite ich mich aus ihrem Klammergriff und stürzte aus dem Café. Wie ein von der Mafia Gejagter rannte ich mehrere Kilometer, ohne mich umzudrehen. In einem kleinen Park ließ ich mich erschöpft auf eine Parkbank fallen.
Herr Doktor, tut das …?
Gitte? – Niemals! Ich bin doch nicht lebensmüde. Und dann fiel mir plötzlich ein, und auch ein Stein vom Herzen: Gitte konnte mich gar nicht ehelichen. Ich bin nämlich schon verheiratet. „Puh!“, stöhnte ich erleichtert. Manchmal hat eine Ehe auch sein Gutes.