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Nicht verscherzen mit den Schmerzen!
ОглавлениеSo sinnvoll Schmerzen auch sind, sie haben einen entscheidenden Nachteil: Sie tun weh! Ein weiteres Handicap: Schmerzen sind lästig und kommen unangemeldet wie die GEZ oder die Steuerfahndung.
Als Hypochonder bin ich ein schwer zu therapierender Patient, fern aller schulmedizinischen Behandlungsmöglichkeiten. Unentwegt geißeln mich die fürchterlichsten Beschwerden. Keiner weiß, woher sie kommen. Bereits bei dem Gedanken, mir könnte etwas wehtun, leide ich unter unerträglichen Qualen. Meine Hausärztin Frau Dr. Hupffeld erklärte mir: Das Schmerzempfinden der Menschen sei verschieden, außer bei Patienten, die bereits verschieden sind.
Oft sitze ich, zu einem jämmerlichen Bündel gekrümmt, vor ihr. Ein wenig tut sie mir ja leid, denn sie findet zu meinen Symptomen keine passende Krankheit. Resigniert jammerte sie bei meiner letzten Sitzung: „Ich weiß nicht, wie ich Ihnen noch helfen könnte. Ich bin am Ende mit meinem Latein.“
„Vielleicht mit einem passenden Schmerzmittel.“
„Es gibt kein Mittel“, war sie den Tränen nahe, „was ich Ihnen nicht schon verschrieben hätte.“
„Und wenn wir’s mal mit Morphium versuchen?“
Entsetzt starrte sie mich an, als wäre sie beim ärztlichen Abrechnungsbetrug erwischt worden.
„Sind Sie wahnsinnig geworden!?“, wurde sie laut, danach ganz still und in sich gekehrt. Um ihre Mundwinkel zuckte es plötzlich: „Genau, das ist es. Sie sind wahnsinnig, verrückt, durchgedreht. Ich überweise Sie zu einem Psychiater.“
So landete ich bei Prof. Dr. Unglaube, einer weltweit anerkannten Kapazität auf dem Gebiet der Psychoanalyse.
„Beginnen wir in der Kindheit“, begann der Nervenspezialist.
„In Ihrer oder in meiner?“
„Bleiben Sie bitte ernst!“
Da ich nichts erwiderte, fuhr er fort: „Und nun schließen Sie bitte die Augen und entspannen sich!“
Ich schloss die Augen und entspannte mich.
„Atmen Sie ruhig und gleichmäßig!“
Ich atmete ruhig und gleichmäßig.
„Wurden Sie als Kind geschlagen?“
„Ja, einmal.“
„Wann?“
„Montags einmal, dienstags einmal, mittwochs …“
„Gut, gut – hören Sie auf! Sie wurden also misshandelt?“
„Besser als gar nicht behandelt zu werden.“
„Ich warne Sie zum letzten Mal!“
Und dann bat er mich, vom Trauma meiner Kindheit zu erzählen, und mit tränenerstickter Stimme begann ich zu berichten: In unserem Haus mit acht Mietparteien gab es siebzehn Halbwüchsige. Ich war nicht nur der Kleinste, sondern auch der Schmächtigste. Ich war schlaksig und glänzte mit der körperlichen Haltung einer schief gewachsenen Krüppelkiefer. Bei den Jungen war ich sehr beliebt. Sie drückten mich furchtbar gern, allerdings nur in ihre feuchten Achselhöhlen. Wenn ich Rotz und Wasser heulend nach Hause kam, setzte es ein paar saftige Ohrfeigen, weil ich mich nicht tapfer wie ein Apachenkrieger gewehrt hatte. Vater war Winnetou-Fan.
„Ein deutscher Junge schlägt zurück!“, brüllte er und pfefferte mir noch eine.
Ein anderer Vorfall ist mir ebenfalls noch in lebhafter Erinnerung. Ich war fünf oder sechs Jahre alt. Mitten in der Nacht erwachte ich durch tierische Bauchschmerzen. Ich habe das ganze Haus zusammengebrüllt. Mutter saß am Bettrand und versuchte, mich zu beruhigen.
„Nun unternimm doch endlich etwas!“, fauchte sie Vater an.
Das war zu einer Zeit, als die analoge Telefondichte einem Maisfeld in Simbabwe ähnelte. Wer damals den Notdienst brauchte, schrieb eine Postkarte oder wenigstens ein Telegramm. Natürlich konnte man auch zum nächsten Münzfernsprecher gehen. Doch entweder litten die Dinger unter Verstopfung, oder die Hörer waren abgeschnitten. Vater blieb also nichts anderes übrig, als mich mit dem Fahrrad ins nächste Krankenhaus zu bringen.
Der diensthabende Arzt, ein glatzköpfiger Herr mit dünnem Haarkranz, streichelte neidisch über meinen dichten Bürstenschnitt und fragte: „Bauchschmerzen, was?“
Eingeschüchtert nickte ich und musste mich danach auf eine Pritsche legen. Der Doktor horchte mich ab, wobei er mein zartes Handgelenk hielt und leise zählte. Zwischendurch lächelte er beruhigend, als wäre die Sache halb so schlimm. Dann tastete er behutsam mit Zeige- und Mittelfinger meinen Oberbauch ab.
„Tut das weh?“, fragte er.
„Hhhmmm“, wimmerte ich.
Der Doktor drückte eine Handbreit unterm Nabel auf die Bauchdecke, als plötzlich ein ohrenbetäubender Lärm losbrach. Ein lang anhaltendes und flatterndes Geräusch hallte durch das Arztzimmer, als würde aus einem prall gefüllten Luftballon klamme Luft entweichen.
„Oho“, rief der Arzt erleichtert, „der war ja nicht von schlechten Eltern.“
Vater rümpfte die Nase und warf mir einen wütenden Blick zu. Der Arzt lachte aufmunternd und sagte: „Seien Sie froh, dass es nur heiße Luft war!“
Auf dem Heimweg tobte Vater, dass Anwohner ihre Fenster schlossen. „Eine Blamage, was für eine Blamage“, wetterte er. „Da opfert man die halbe Nacht – für einen einzigen Furz.“
„ Heute kommen nur Schmerzpatienten in die Aufnahme!“
„Vati, bitte nicht böse sein!“, winselte ich. „Einen hätte ich noch.“
Später, als ich mit vierzehn zur ersten Zigarette griff, schlug mir die Qualmerei sofort auf den Magen, vielmehr tat es Vater. Er hatte mich im Keller erwischt, als ich am Glimmstängel zutschte wie an einem Strohhalm. Dass Rauchen so schädlich ist, hätte ich dann doch nicht vermutet.
Mit achtzehn erlitt ich den nächsten Nachtkrampf: Fürchterliche Unterleibsbeschwerden, die an die Amplitude von Geburtswehen heranreichten. Da mir Vater die verklemmten Nachtwinde noch immer nicht verziehen hatte, musste Mutter zur Telefonzelle eilen, die ausnahmsweise funktionierte. Der Notarzt diagnostizierte eine akute Blinddarmreizung und nahm mich gleich mit ins Krankenhaus. Unter gar keinen Umständen wollte ich mich aufschlitzen lassen.
„Das ist kein entzündeter Blinddarm“, versuchte ich den Chirurgen, der bereits genüsslich das Skalpell wetzte, zu überzeugen.
„Woher wollen Sie das wissen?“, fragte er mit forscher Stimme.
„Ich bin Hobbymediziner.“
Schon als Jugendlicher, als Gleichaltrige den Mädchen nachstellten, habe ich mich mit der menschlichen Anatomie beschäftigt. Und da ich mich hartnäckig weigerte, musste ich ein Formular unterschreiben und wurde anschließend in ein Patientenzimmer gebracht. Am nächsten Morgen waren die Schmerzen weg, völlig grundlos. Der Stationsarzt kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf und behielt mich noch drei Tage zur Beobachtung. Nach diversen Laboruntersuchungen meiner Körperflüssigkeiten, einer Koloskopie sowie einer Sonografie tippte er auf harmlose Nabelkoliken.
Viele, viele Jahre später, wieder mitten in der Nacht, bekam ich krampfartige Unterleibsschmerzen, dass ich dachte, mein letztes Stündlein hätte geschlagen. Die Notärztin spritzte mir ein krampflösendes Mittel und ließ mir, falls neue Krämpfe auftreten sollten, ein paar Zäpfchen da. Am Morgen schleppte ich mich, von weiteren Krämpfen gezeichnet, zu einem Internisten. Im Handumdrehen fand er die Ursache: Gallenkoliken.
„In Ihrer Galle ist Grieß“, erklärte er mir. „Setzt sich dieser vor den Gallenausgang, kann das Koliken auslösen.“
„Und was kann man dagegen tun?“
„Erst einmal abwarten! Wenn sich die Koliken häufen, würde ich zu einer operativen Entfernung raten.“
„Koliken kann man operativ entfernen?“
„Nein“, lachte er, „die Galle.“
Bevor ich mich verabschiedete, legte ich das Päckchen mit den restlichen Zäpfchen auf seinen Schreibtisch und sagte: „Die brauche ich jetzt nicht mehr.“
„Sagen Sie das nicht! Wenn die nächsten Koliken kommen, werden Sie froh sein, diese Zäpfchen zu haben.“
„Die Dinger haben überhaupt nicht gewirkt“, sagte ich und fügte hinzu, „außerdem schmecken sie scheußlich.“
Entsetzt sah er mich an: „Sie haben doch nicht etwa die Zäpfchen oral eingenommen?“
„Na, dachten Sie, ich steck die mir in den Hintern?“